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Die „Novara“ begann am späten Nachmittag eines Donnerstags im April 1591 aus dem Ruder zu laufen und zu sinken, etwa so, als griffen die Klauen von Tiefseeungeheuern nach ihrem Rumpf, um sie mit Mann und Maus in die Schwärze und Erbarmungslosigkeit gähnender, alles zermalmender Schlünde zu zerren.

Der Beginn des Unglücks fiel zeitlich fast haargenau mit der Entdekkung einer ebenso rätselhaften wie unheimlichen Erscheinung zusammen. Dabei handelte es sich jedoch keineswegs – wie es anfangs den Anschein haben mochte – um einen Zufall.

Der Ausguck im Großmars der wuchtig gebauten, etwas schwer zu manövrierenden Dreimast-Galeone aus Genua hatte im Westen, dort, wo die Korallenriffe der Insel Martinique liegen mußten, im Wasser einen Trichter von beängstigenden Ausmaßen gesichtet, einen Strudel, der nach Meinung von Kapitän Fosco Sampiero nur durch das Aufeinandertreffen widriger Meeresströmungen entstanden sein konnte.

Die „Novara“ segelte mit Backstagsbrise aus Nordosten auf westlichem Kurs, über Backbordbug liegend also, auf den Dominica-Kanal zu, der Martinique von der weiter nördlich liegenden Insel Dominica trennte. Das Ziel des Schiffs war Neuspanien, wo der größte Teil der Besatzung abmustern und an Land gehen würde, um eine neue, vielverheißende Existenz aufzubauen und auf die Suche nach Bodenschätzen zu gehen.

Weder Sampiero noch seine Offiziere teilten die allzu optimistischen Vorstellungen und Zukunftspläne dieser Menschen, doch es lag ihnen fern, die Emigranten ihrer Träume zu berauben.

Die „Novara“ war ein Auswanderschiff mit einer Art „Zufallsbesatzung“, einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Männern, die die Bezahlung für die Überfahrt dadurch ableisteten, daß sie den schweren Decksdienst versahen. Sampiero hatte vor dem Auslaufen aus Genua ein ganz klares Abkommen mit ihnen getroffen, doch nicht in allen Punkten war diese Vereinbarung von der Mannschaft respektiert worden.

Es gärte an Bord der „Novara“, doch wie stark, wurde Sampiero und den anderen Achterdecksleuten erst vollends bewußt, als es bereits zu spät für entsprechende Gegenmaßnahmen war.

Sampiero und der Steuermann richteten zu diesem Zeitpunkt ihr Augenmerk zum einen auf die vor ihnen liegende Passage und zum anderen auf den Sog, den sie auf jeden Fall in einem weiten Bogen zu umsteuern gedachten. Sampiero, ein großer und kräftiger Mann mit schütterem dunkelblondem Haar, dachte voll Unbehagen daran, was geschehen mochte, wenn ein Segelschiff in solch einen Strudel geriet.

Erst der Ruf des Rudergängers alarmierte den Kapitän und den Steuermann und dann auch den Ersten und den Zweiten Offizier sowie den Bootsmann.

„Signor Capitano!“ schrie der Mann. „Das Ruder gehorcht nicht mehr! Hier – sehen Sie doch!“ Heftig bewegte er den Kolderstock hin und her, der zu einem nutzlosen Knüppel in seinen derben Händen geworden zu sein schien.

Fosco Sampiero und die Offiziere fuhren entsetzt zu ihm herum.

Der Profos an Bord eines Schiffes ist nicht nur der Zuchtmeister, der die Mannschaft notfalls mit dem Stock oder mit der Neunschwänzigen zur Ordnung ruft. Er ist auch der Vertrauensmann des Kapitäns und aller Achterdecksleute, der die Bordgesetze strengstens zu wahren hat, und der Crew die Einhaltung der Disziplin vorbildlich vorexerzieren sollte.

Roi Lodovisi, der Profos der „Novara“, hatte auf der Überfahrt von Genua zur Karibik all dies nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit war er ein geborener Intrigant und Aufwiegler, der nur den einen Zweck verfolgte: die „Novara“ an sich zu reißen.

Kapitän Sampiero hatte Lodovisi jedoch eines Nachts dabei ertappt, wie dieser zu den Männern des Vordecks gesprochen hatte. Ganz überraschend war der Kapitän vorm Großmast aufgetaucht, und das wichtigste von dem, was der Profos gesagt hatte, hatte er mitgehört, obwohl Lodovisi das Gespräch sofort auf ein anderes Thema gebracht hatte.

Seitdem hatte Sampiero, der kaum ein Wort über die Angelegenheit verloren hatte, stets ein waches Auge auf seinen Profos gehabt – und Lodovisi hatte gewußt, daß er die Galeone auch durch einen kühnen Handstreich nicht in seinen Besitz bringen würde. Sampiero war gewarnt.

Da Lodovisi überdies sicher war, daß ihn der Kapitän in Nombre de Dios, ihrem Zielhafen, ohne Heuer davonjagen würde, hatte er beschlossen, sich für die Enthüllung seiner geheimen Pläne zu rächen und die „Novara“ zu versenken.

Acht Kerle hatte er auf seine Seite ziehen können, nicht genug für eine Meuterei, aber immerhin eine ausreichende Zahl für das Unternehmen, das jetzt seinen Lauf nahm.

Corrado Prevost und Mario Zorzo waren die übelsten Galgenstricke aus dieser Gruppe, und auch sie hatten wie der Profos allergrößtes Interesse daran, zum einen niemals in Nombre de Dios anzukommen und zum anderen dem Kapitän und seinen Getreuen einen mörderischen Streich zu spielen.

Emilio Venturi, der Erste Offizier, hatte Prevost und Zorzo vor einer Woche in einer lauen, scheinbar friedlichen Nacht dabei erwischt, wie sie ins Achterkastell eingedrungen waren. Allein das war für alle Decksleute ein strafbares Vergehen. Aber mehr noch, Prevost und Zorzo hatten sich bereits vor der Tür zur Kammer der Offiziersfrauen Tosca Venturi und Ivana Gori – der Frau des Zweiten – befunden. Zweifellos hatten sie in die Kammer eindringen wollen. Obwohl sie es anschließend mit einer Menge Ausreden bestritten hatten, war es auch Sampiero klar, daß der Sachverhalt nur eine Deutung zuließ.

Er hatte Bordgericht über die beiden gehalten und beschlossen, sie auspeitschen zu lassen. Diese Strafe wurde jedoch bis Nombre de Dios aufgespart, wo das zwischenzeitliche Verhalten von Prevost und Zorzo an Bord der „Novara“ endgültig entscheiden sollte, wie viele Hiebe sie erhielten. Danach sollten sie den spanischen Befehlshabern mit dem Hinweis, es handle sich um „gefährliche Individuen“, übergeben werden, und die Spanier würden sicherlich nicht zögern, sie gleich wieder mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa zu schicken.

So gesehen, hatte Kapitän Fosco Sampiero noch ein sehr menschliches Urteil gefällt. Doch Prevost und Zorzo hatten es ihm auf schlechte Weise gedankt: Corrado Prevost hatte sich mit zwei anderen Verschwörern hinunter in den Frachtraum begeben, wo Fässer mit weißem Pinot aus Ligurien und rotem Chianti aus der Toskana, Kisten mit Werkzeug und anderes Ladegut für Neuspanien festgezurrt waren. Hier hatten sie mit Brustleier, Handsäge, Dechsel, Schlegel und Kalfateisen mehrere Lecks in die Bordwände getrieben, ohne dabei allzuviel Geräusch zu verursachen.

Zorzo war unterdessen mit zwei Helfern in die unteren Decks des Achterschiffs vorgedrungen. Sie hatten die Ruderanlage beschädigt, indem sie den großen Balken, der die Pinne mit dem Kolderstock verband, durchgesägt hatten.

Lodovisi und die übrigen zwei Mitglieder der Bande hatten derweil an Oberdeck ihren Dienst versehen und aufgepaßt, daß niemand ihre Kumpane bei der Sabotage störte. Lodovisi hatte sich eine Reihe von Ablenkungsmanövern einfallen lassen, die er bei drohender Gefahr vom Achterdeck anwenden wollte, doch keins davon brauchte er zum Einsatz zu bringen. Sampiero und seine Offiziere waren viel zu sehr mit der Beobachtung der Passage und des Strudels beschäftigt. Erst der Ruf des Rudergängers schreckte sie auf.

Lodovisi verkniff sich ein schadenfrohes Grinsen. Er tat vielmehr auch so, als sei er erschrocken. Deutlich genug schallten die Worte des Rudergängers über das Hauptdeck.

Die „Novara“ lief aus dem Ruder und trieb vor dem Nordostwind genau auf den Sog und die Korallenriffe vor Martinique zu. So hatte Roi Lodovisi es gewollt, so hatte er es berechnet, und aus diesem Grund hatte er seine Kerle in den Schiffsbauch hinuntergeschickt, als der Ausguck zuerst die Insel und dann den Trichter entdeckt hatte.

Es funktioniert hervorragend, dachte Lodovisi, während alles auf dem Hauptdeck zusammenlief, aber für uns wird es jetzt höchste Zeit, den elenden Kahn zu verlassen.

Er blickte zu Sampiero und sah, wie dieser den Steuermann, den Bootsmann und den Zimmermann losschickte, damit sie nach dem Rechten sahen.

Hoffentlich halten sich Prevost, Zorzo und die anderen genau an die Anweisungen, dachte Lodovisi. Sie dürfen auf keinen Fall den Kopf verlieren und zu früh abhauen, sonst werden die Lecks vorzeitig entdeckt und vielleicht noch gestopft.

Er betete zur Hölle, daß dies nicht geschehen möge.

Ihre Schritte trommelten die Stufen der Niedergänge hinunter. Sie erreichten das Schott, das den Weg zum Gebälk der Ruderanlage versperrte, und Vittorio Medola, der Bootsmann, riß es auf.

In diesem Augenblick, in dem sie vor dem Schott verharrten, glaubte Raoul Cavenago, der Steuermann, merkwürdige Geräusche hinter seinem Rücken zu vernehmen.

„Mein Gott“, sagte er. „Hört ihr das nicht? Da ist etwas – im Frachtraum. Das …“

„Wasser“, unterbrach ihn Alfredo Teson, der Zimmermann. „Ja, ich höre es auch. Jesus, das rauscht ja gewaltig. Wir müssen sofort nachsehen, was da los ist und wo das Leck … Hölle, wie kann denn da bloß ein Leck entstehen, zumal ich heute früh auf meiner üblichen Kontrollrunde alles überprüft habe?“

„Jetzt keine unnötigen Fragen stellen, Alfredo“, sagte Medola gepreßt. „Lauf in den Laderaum, es ist keine Zeit zu verlieren. Raoul, du kehrst sofort zu unserem Kapitän zurück und meldest ihm, daß wir ein Leck haben, dann kehrst du mit vier, fünf Mann wieder zurück, damit wir die Schäden beheben können.“

Teson war bereits verschwunden, seine Schritte pochten durch den Schiffsgang davon und auf dem nächsten Niedergang noch tiefer in den Schiffsleib hinunter.

Cavenago zögerte noch. Er sagte: „Wollen wir nicht erst feststellen, was an dem Ruder kaputt ist?“

„Ja, das ist vielleicht besser“, entgegnete Medola und tastete sich im Dunkeln voran. Er wollte eine Öllampe anzünden, die er sich an den Gürtel gehängt hatte, aber noch in der Finsternis fanden seine Hände den großen Balken, der zum unteren Ende des Kolderstocks führte. Betroffen registrierte er, daß dieser Balken sauber durchgesägt worden war.

Er bemerkte eine Gestalt hinter sich und nahm an, daß es sich um den Steuermann handelte. Er wollte etwas zu Cavenago sagen, doch plötzlich packte eine Hand seinen Mund und hielt ihn zu. Etwas fuhr ihm erstaunlich weich, jedoch heiß wie Feuer von hinten zwischen die Rippen.

Verrat, dachte er, Meuterei, und dann sagte er sich: Sie haben dich gestochen, verflucht, sie haben dir meuchlings ein Messer in den Leib gejagt, und jetzt greifen sie sich auch Cavenago, das arme Schwein, und er ist viel zu überrascht, um schreien zu können. Danach ist Teson dran, der nichts ahnt, und keiner kann mehr ’rauf zum Kapitän und ihm Meldung erstatten von dieser Verschwörung, dieser hundsgemeinen Sauerei …

Er sank in den Knien zusammen und wollte sich am zerstörten Balken festhalten. Doch seine Hände glitten ab. Er fühlte alle Kraft aus seinem Körper entweichen. Das Feuer tobte wie ein Sturm durch seinen Leib und fraß sich in seinen Geist. Wie aus weiter Ferne hörte er noch den keuchenden Laut des Entsetzens, den Raoul Cavenago ausstieß, als Zorzo und dessen beide Kumpane aus dem Dunkel des Schiffsraums auf ihn zusprangen.

Zorzo stach mit dem Messer zu, wie er es bei Medola getan hatte, dann ließ er rasch von dem Steuermann ab und eilte auf leisen Sohlen Alfredo Teson nach, der mittlerweile den Frachtraum erreicht hatte und erschüttert feststellte, daß ihm das eintretende Seewasser bereits bis zu den Fußknöcheln stand.

Die Bucht hatte gewaltige Ausmaße. Sie grub sich tief in die westliche Küste der Insel Martinique. Im Süden der Bai befand sich ein winziges Eiland, etwa gerade so groß wie alle Decks der „Isabella VIII.“ zusammen. Nicht weit davon entfernt ankerte knapp zwei Kabellängen vorm Ufer die Galeone der Seewölfe. Ganz sanft fiel der weiße Sandstrand, über den spielerisch die Meeresbrandung leckte, ins Wasser ab. Philip Hasard Killigrew hatte sich mit dem Schiff nicht näher ans Land heranwagen können, ohne Gefahr zu laufen, mit dem Kiel auf Grund zu geraten.

Die Bucht, der Strand und die Palmen, das Eiland und das ankernde Schiff formten ein Bild der Harmonie und Beschaulichkeit, das von der kleinen Jolle, die sich jetzt auf das Ufer zubewegte, nicht gestört werden konnte, im Gegenteil, sie trug zur Vollkommenheit des Gemäldes bei.

Das Boot stoppte im weichen, weißen Sand und entließ acht Gestalten, die sich wie bunte Flecke auf den Grüngürtel zubewegten. Angeführt wurde der Trupp von Hasard. Er hatte diesmal Old O’Flynn, dessen Sohn, Shane, Carberry, Sam Roskill, Luke Morgan und Bill, den Moses, mitgenommen, um das Land zu erkunden.

Old Donegal Daniel O’Flynn blickte sich immer wieder mißtrauisch nach allen Seiten um, schien aber nichts zu entdecken, was seinen Argwohn nährte. Hier gab es keinen tükkischen Treibsand, keine Kannibalen und Kopfjäger, keine Raubtiere und keine Moskitos oder ähnliche Plagegeister. So gesehen, konnte man die Insel als das Paradies schlechthin betrachten.

Old O’Flynn trat zu seinem Kapitän und sagte: „Bist du sicher, daß es stimmt, was aus seinen Aufzeichnungen und den Karten hervorgeht?“

„Natürlich“, erwiderte der Seewolf. „Ich weiß, daß ich mich darauf verlassen kann. Außerdem ist dies ja nicht die erste Insel der Kleinen Antillen, die wir betreten.“

„Also, was den vulkanischen Ursprung betrifft, hast du ganz bestimmt recht“, meinte Big Old Shane. „Als wir die Insel anliefen, haben wir im Süden deutlich genug die schwarze Erde gesehen. Und schaut euch die Berge im Norden an! Die haben tatsächlich alle Ähnlichkeit mit feuerspeienden Kratern. He, Donegal, es könnte jeden Moment losgehen mit dem Zauber, was denkst du?“

„Ich denke, daß keiner von uns den Teufel an die Wand malen sollte“, antwortete der Alte. „Dazu haben wir nämlich keinen Grund – bei all dem Verdruß, den wir in der letzten Zeit wieder erlebt haben.“

„Verdruß, Verdruß“, sagte sein Sohn. „Wir haben jetzt aber auch ein paar hübsche Kisten voll Silber an Bord.“

„Das wiegt die Entbehrungen nicht auf.“

„Na, na“, sagte Carberry. „Nun übertreib aber nicht, Donegal. Wir sind auf dem ganzen verdammten Weg um Afrika rum und an der Küste der Neuen Welt hoch bis hierher nicht abgesoffen, sind nicht am Skorbut oder an der Lustseuche oder an was weiß ich sonst noch krepiert und können deswegen froh sein. Wir haben dich wegen deiner dunklen Sprüche auch nicht über Bord geworfen, und darum solltest du ebenfalls glücklich sein, du Stint, denn irgendwann landen wir jetzt auf der Schlangen-Insel, die nicht mehr fern ist, und ruhen dort ein wenig unsere müden Knochen aus.“

„Soll ich vor Begeisterung in die Luft hopsen?“ fragte der Alte grantig. „Mann, ich kann keine Inseln mehr sehen, ob sie nun Martinique oder sonstwie heißen. Eine sieht wie die andere aus, und überall gibt’s Ärger.“

„Hier lebt kein Mensch“, sagte Shane. „Hasard hat es uns doch erklärt: Weil es hier so viele Vulkanausbrüche gibt, haben auch die Spanier und Portugiesen davon abgesehen, die Insel zu besiedeln und hier nach Gold und Silber zu suchen.“

Old O’Flynn warf ihm einen schiefen Blick zu. „Wenn dieser verfluchte Flekken Erde wirklich unbewohnt ist, will ich den ganzen Sand fressen, der auf dem Strand hier rumliegt.“

Shane grinste. „Darauf komme ich noch zurück, mein guter, verlaß dich drauf.“

„Wir können nicht die ganze Insel auskundschaften“, sagte Hasard. „Deshalb wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Frage ungeklärt bleiben, ob hier Eingeborene leben oder nicht. Uns soll es egal sein, solange sie uns nicht behelligen. Wir suchen eine Süßwasserquelle, weil ein Wasserfaß mal wieder faulig geworden ist und der Kutscher ein zweites entdeckt hat, das leider ausgelaufen ist – und wir schießen ein wenig Wild, falls sich die Möglichkeit dazu bietet. Dann verschwinden wir wieder, und zwar spätestens morgen früh.“

„Aye, Sir“, sagte Carberry. „Übrigens scheint es mit dem einen Punkt, den du an Bord erwähntest, seine Richtigkeit zu haben: Die Westseite aller Inseln über dem Winde ist die beste zum Landen, denn im Osten lauern die tückischen Korallenriffe, und dort ist auch die Küste steiler und zerklüfteter. Das dürfte hier ja wohl nicht anders sein als weiter im Norden und weiter im Süden.“

Der Seewolf blieb neben dem mannsdicken Stamm einer Kokospalme stehen. „Genau, und aus diesem Grund habe ich ja auch gegen den Wind kreuzen wollen, um von dieser Seite her die Insel anzugehen. Im übrigen ist hier die Vegetation weniger üppig, es gibt keinen richtigen Dschungel wie im Osten, wo mit dem Nordost-Passat der meiste Niederschlag fällt.“

„Na, dem Himmel sei Dank“, sagte Old O’Flynn. „Wenigstens ein Lichtblick. Wir brauchen uns nicht durch Lianen und Mangroven zu hauen. Das haben wir ja auch wirklich oft genug geübt.“

„Luke“, sagte Sam Roskill. „Wenn du hier eine Festung bauen solltest, wo würdest du sie errichten?“

„Dämliche Frage“, brummte Luke Morgan. „Aber, na ja, mal sehen.“ Er hob den Kopf und rieb sich das Kinn. Nach einigem Überlegen wies er zu den Bergen, die sich hinter dem nördlichen Ufer der Bucht erhoben. „Da oben würde ich sie errichten. Von dort aus hat man bestimmt einen großartigen Überblick über die ganze Insel.“

„Ja, das glaube ich auch“, pflichtete der Seewolf ihm bei. „Aber ich schätze, dort wird nie etwas Derartiges entstehen. Seit Kolumbus die Insel im Jahre 1502 entdeckt hat, haben Seefahrer nur selten und höchst unwillig ihren Fuß auf diese Strände gesetzt. Um jetzt jedoch auf meine Unterlagen zurückzukommen: Sicher scheint zu sein, daß es hier ausgezeichnete Quellen gibt, Wasser in Hülle und Fülle.“

Der Profos grinste. „Also los, auf was warten wir noch? Bringen wir’s hinter uns. Ich glaube, ich höre die Quellen schon gluckern, Sir.“

„Ich höre was anderes“, sagte jetzt Bill. „Sir, ich bitte um Entschuldigung, aber – aber ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, da war so etwas wie – menschliche Schreie.“

„Bin mir nicht sicher, ich glaube“, äffte Carberry ihn nach. „Bill, du triefäugige Seegurke, wie oft soll ich dir noch sagen – drück dich gefälligst klar und deutlich aus!“

Hasard ging nicht auf die Worte seines Profos’ ein, er sah vielmehr Bill eindringlich an. Bill verfügte über ein wirklich ausgezeichnetes Gehör, das war jedem Mann an Bord der „Isabella“ bekannt.

„Aus welcher Richtung hörtest du die Schreie?“ fragte Hasard.

Bill deutete zum Inneren der Insel. „Aus Osten – nein, aus Nordosten, glaube ich.“

Carberry blickte immer grimmiger drein. „Glaube ich! Nun hör sich das einer an!“

„Der Wind trägt die Laute zu uns herüber“, sagte der Seewolf. Er lauschte selbst danach, vermochte jedoch außer einigen Geräuschen, die aus dem Dschungel im Zentrum der Insel herüberwehten und bestimmt von Tieren stammten, nichts herauszuhören.

„Suchen wir zuerst die Quelle“, sagte er deshalb. „Anschließend steigen wir auf einen der Berge und halten Umschau. Vielleicht sehen wir dann ja, was die Ursache für die Schreie war. Können das keine Affen oder Vögel gewesen sein, Bill?“

„Durchaus. Ich bin wirklich nicht sicher. Tut mir leid, Sir.“

„Schon gut, Bill.“

„Das nächste Mal hältst du am besten gleich deine Luke, du Dorsch“, sagte der Profos.

Old O’Flynn warf Big Old Shane einen Seitenblick zu und sagte leise: „Ich ahne es nicht nur, ich weiß jetzt, daß ich den Sand nicht fressen werde.“

Hasard drang als erster in das Gebüsch unter den Palmen ein, und seine sieben Begleiter folgten ihm rasch, um den Anschluß nicht zu verlieren.

Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der „Isabella“, und die anderen Männer, die an Bord der Galeone zurückgeblieben waren, sahen ihren Kameraden mit gemischten Gefühlen nach. War der Friede dieser Insel nicht trügerisch und unheilverkündend?

Keiner von ihnen vermochte sich auch nur auszumalen, was sich zu dieser Zeit vor dem Ostufer von Martinique bei den Korallenriffen abspielte.

Einen genauen Überblick über die Geschehnisse zu beiden Seiten der Insel hatte in diesem Moment praktisch nur ein Mann.

Dieser Mann hieß Regis La Menthe.

Weder der Seewolf noch sonst jemand von der „Isabella“ war diesem La Menthe je zuvor begegnet, und auch umgekehrt hatte La Menthe nicht die geringste Ahnung, wer die Männer sein mochten, die vom Strand der Westbucht her ins Innere der Insel vordrangen.

Dennoch sollte es zwischen ihnen zu einer Begegnung kommen, zu einem sehr unerfreulichen Treffen allerdings.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 224

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