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2.

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Der Sturm tobte den ganzen Tag und die halbe Nacht und flaute dann so plötzlich ab, als sei ihm die Luft ausgegangen.

In der Bucht hatte er der „Isabella“ nichts anhaben können. Längst waren eine neue Großmarsrah geriggt und die restlichen Schäden behoben worden. Ferris Tucker strich wie ein grollender Geist durchs Schiff, kontrollierte jede Luke, jede Planke und jeden Augbolzen. Al Conroy, der Stückmeister, prüfte mit der gleichen Gründlichkeit den Zustand der Geschütze. Ed Carberry fluchte mal wieder das Blaue vom Himmel, aber der einzige, der wirklich Grund zum Jammern hatte, war der Kutscher, der in seiner eigenen Kombüse fast einen Salto geschlagen und dabei ein Mehlsäckchen beschädigt hatte.

Jetzt sahen Kutscher und Kombüse wie gepudert aus, und zum Schaden hatte der Koch und Feldscher der „Isabella“ natürlich auch noch den Spott, letzteren in reichem Maße. Der Profos lüftete Blacky, Smoky und Bill an, um den „verdammten Saustall“ aufzuräumen. Die Zwillinge beteiligten sich an der Aktion, und der Kutscher, gerührt ob dieses freiwilligen Einsatzes, ließ sie besonders tief in den Sack mit den getrockneten Weinbeeren greifen, was für die beiden ja auch der Sinn der Übung gewesen war.

Früh am Morgen ging die „Isabella“ ankerauf und segelte aus der Bucht.

Der Wind war kein Wind mehr, sondern höchstens ein lächerliches Säuseln, aber da er raumschots einfiel, liefen sie trotzdem Fahrt. Bill kauerte im Großmars, suchte die Kimm ab und beobachtete die grüne, hügelige Küste. Der Himmel war klar bis auf ein paar weiße Schönwetter-Wolken, die Sonne strahlte, und die starke Dünung, die der Sturm zurückgelassen hatte, glänzte wie mit großen, gleißenden Flecken von Quecksilber besät.

Bill mußte zweimal hinschauen, ehe er die Umrisse des treibenden Bootes erkannte.

Eine Nußschale von Kahn. Eher noch das Beiboot eines Fischerei-Loggers, der mit ein paar Mann Besatzung auskam. Eines Loggers, der im Sturm gekentert sein mußte, wie sich Bill klarmachte.

„Deck!“ rief er. „Boot steuerbord querab! Treibt genau auf uns zu und – verdammt, da liegt einer drin!“

„Wirst du wohl das Fluchen lassen, zum Teufel!“ schrie Carberry mit Stentorstimme.

„Ja, ver …“ Bill schluckte den Rest, weil ihm einfiel, daß er schließlich irgendwann wieder abentern mußte. „Ein Schiffbrüchiger, glaube ich“, meldete er. „Muß wohl zu einem Logger gehören, den der Sturm umgelegt hat.“

Inzwischen war das Boot auch vom Achterkastell aus zu sehen.

Hasard kniff die Augen zusammen, aber die reglose Gestalt in der Nußschale konnte er erst Minuten später erkennen. Ein Mann, der bäuchlings über der Ducht zusammengebrochen war. Die Riemen hatte er verloren. Wenn er sich tatsächlich von einem sinkenden Logger gerettet hatte, dann mußte er schon seit Stunden so treiben: zuerst in der kochenden See und jetzt in der immer noch bedrohlich steilen Dünung – bedrohlich jedenfalls für diese Nußschale, bei der es an ein Wunder grenzte, daß sie nicht längst quergeschlagen und gekentert war.

„Beiboot klarmachen!“ befahl Hasard. „Ferris, Batuti, Blacky, Luke! Backbrassen die Rahen! Wir drehen bei!“

„Könnte das ein Spanier sein?“ fragte Ben Brighton neben ihm. „Jemand von den beiden Galeonen, die wir auf Tiefe geschickt haben?“

Hasard kniff die Augen zusammen. „Glaube ich nicht! Erstens könnte er nach menschlichem Ermessen nicht mehr hier herumschwimmen, zweitens kann ich mir nicht vorstellen, daß die Spanier ein so kleines Beiboot an Bord hatten.“

„Stimmt auch wieder. Wahrscheinlich hat Bill recht – irgendein Logger, der im Sturm gekentert ist.“

Die „Isabella“ hatte an Fahrt verloren, jetzt wurden die Segel aufgegeit, die an den gegengebraßten Rahen killten. Ferris Tucker, Blacky, Luke Morgan und Batuti, der hünenhafte Gambia-Neger, schwenkten das Beiboot aus und fierten es ab, bis der Kiel aufs Wasser klatschte.

Inzwischen waren auch die Zwillinge und der Kutscher aus der Kombüse aufgetaucht. Philip und Hasard kauten mit vollen Backen. Der Kutscher hielt eine Bratpfanne in der Hand, an der noch etwas Mehl haftete – dieselbe Bratpfanne, mit der er bei dem Kampf in Plymouth um sich geschlagen hatte.

Bei diesem Kampf hatte er endlich mal so gekonnt, wie er wollte, da hatten sie jede Hand gebraucht und ihm nicht mit dem Argument kommen können, daß sich der Feldscher, der die Verwundeten zu behandeln hatte, gefälligst aus der Schußlinie heraushalten müsse. Und eine solide eiserne Bratpfanne konnte es durchaus mit jeder anderen Waffe aufnehmen. Es war schon eine Schande, daß ihm anschließend dieses Mißgeschick mit dem Mehlsack hatte passieren müssen.

Ziemlich trübsinnig sah er zu, wie das Beiboot ablegte und die Männer auf die treibende Nußschale zupullten.

Die Zwillinge enterten in die Steuerbord-Wanten, wo bereits der Schimpanse Arwenack auf einer Webleine schaukelte. Er empfing ein paar getrocknete Weinbeeren, die ihm genauso gut schmeckten, wie den beiden Jungen, was Sir John, den roten Ara-Papagei, dazu veranlaßte, ziemlich ungehalten über ihren Köpfen herumzuflattern und sie in bester Carberry-Manier als Rübenschweine und Nachkommen triefäugiger Wassermänner zu beschimpfen.

Das Beiboot der „Isabella“ hatte inzwischen den treibenden Kahn erreicht und wendete.

Luke Morgan setzte in die Nußschale über, um die Vorleine wahrzunehmen und zu belegen. Das kleinere Boot wurde in Schlepp genommen: kein Problem für Ferris Tucker und Batuti mit ihren muskelbepackten Hünengestalten. Luke Morgan kauerte auf der Ducht und hob vorsichtig den Kopf des Mannes an. Bewußtlos war der Schiffbrüchige nicht. Er stöhnte leise, seine Augen flackerten. Unverständliche Laute drangen über seine Lippen, und Luke klopfte ihm beruhigend auf den Rücken.

„Ist ja schon gut, Junge! Gleich hast du’s überstanden. Ein verdammter Don bist du nicht, eh?“

Wieder bestand die Antwort aus unverständlichen Lauten. Aber es waren immerhin englisch klingende Laute, und auch Luke Morgan begrub den Verdacht, daß es sich bei dem Mann um einen Überlebenden von der „Marguerite“ oder der „Navarre“ handeln könne.

Einen Unterschied hätte es ohnehin nicht bedeutet.

Die Seewölfe kämpften für ihr Land, aber sie kämpften nicht gegen Wehrlose oder Gegner, die sich bereits ergeben hatten. Wenn ein Mensch in Not war und Hilfe brauchte, spielte es keine Rolle, ob er Engländer, Spanier oder was auch immer war. Und inzwischen gab es schon so manchen „verdammten Don“, der die Gerüchte über die angeblich so blutrünstigen Seewölfe nicht mehr glaubte, weil er es besser wußte.

Minuten später wurde der Schiffbrüchige mitsamt seinem kleinen Boot an Bord genommen.

Schlaff sank er auf die Planken, völlig erschöpft, mit geschlossenen Augen, und niemand zweifelte daran, daß er am Ende seiner Kraft war.

Die Spanier von „Marguerite“ und „Navarre“ und die englischen Banditen kampierten in einem Waldstück in Höhe der Insel Wight.

Lorenzo und Ernesto, den Agenten Seiner Allerkatholischsten Majestät, war es gelungen, auch die beiden Kapitäne von Red Fox Killarneys Plan zu überzeugen. Pferde und Wagen, von einem Bauern für spanische Golddublonen erworben, wurden gegen Boote und Kleidungsstücke eingetauscht – gebrauchte Kleidungsstücke, die keinerlei Anspruch auf Eleganz erheben konnten. Aber auch die spanischen Offiziere hatten eingesehen, daß sie sowenig wie möglich auffallen durften. Und jetzt, in ausgefransten Kniehosen, verwaschenen Hemden und einfachen Wämsern, sahen sie überhaupt nicht mehr vornehm aus, sondern wie ganz normale Menschen.

Für die erfahrenen Seeleute war es trotz der steilen Dünung kein Problem, mit den kleinen Booten nach Wight überzusetzen.

Red Fox übernahm die Führung und lotste die ganze Horde in eine versteckte Bucht. Die Männer waren ausgehungert und durchgefroren, doch das würde sich rasch ändern. In dem kleinen Dorf mit seinen windschiefen, düsteren Steinhäusern, zu dem sich Red Fox mit einigen Kumpanen durchschlug, hatten noch bis vor kurzem die Strandräuber das Sagen gehabt. Killarney nahm auch nicht an, daß sich daran seit seinem letzten Besuch etwas geändert hatte, aber er hielt es für besser, vorsichtig zu sein und sicherzugehen.

Sein alter Kumpane Barnabas Ahab, Big Barnabas genannt, war der Wirt eines Gasthauses mit dem schönen Namen „Totenkiste“.

Die „Totenkiste“ lag am Rand des Dorfes auf einer Klippe: ein langgestreckter Steinbau mit Ställen, Anbauten und tiefen Kellern, der schon manchem Sturm getrotzt hatte und so zerzaust wirkte wie die wenigen Kiefern und die struppigen Riesendisteln ringsum.

Jetzt am hellen Tag herrschte wenig Betrieb. Ein paar finstere Gestalten schütteten Wein in sich hinein und würfelten.

Big Barnabas stand hinter dem Schanktisch: ein nicht besonders großer, aber ungeheuer breit gebauter Mann mit langen, baumelnden Gorilla-Armen, braunem Zottelhaar, buschigen Brauen und einer pockennarbigen Kraterlandschaft von Gesicht, das durch die plattgeschlagene Nase und den verbogenen Kiefer auch nicht mehr viel häßlicher werden konnte. Wenn er grinste, wandten sich zartbesaitete Gemüter zur Flucht.

Aber Red Fox Killarney war kein zartbesaitetes Gemüt und breitete theatralisch die Arme aus, als Big Barnabas Ahab strahlend auf ihn zuwalzte.

Die beiden Ober-Halunken umarmten sich, schüttelten sich die Hände, klopften sich auf die Schultern und versicherten sich gegenseitig wortreich ihre außerordentliche Wiedersehensfreude.

Danach floß Rum in tassengroße Zinnbecher und von dort in durstige Kehlen. Beide Seiten klagten ausgiebig über den miserablen Gang der Geschäfte – damit gleich klar war, daß es mit eventuell erwarteten freundschaftlichen Hilfeleistungen leider nichts werden würde. Dann kam man zum Geschäft, und es dauerte nicht mehr lange, bis Barnabas Ahabs tiefliegende Augen begierig funkelten.

Die Aussicht auf einen Anteil an den Schätzen der „Isabella“ ließ ihn in neuerliche Beteuerungen unverbrüchlicher Freundschaft ausbrechen. Die Würfelspieler wurden zu Rate gezogen, weiterer Rum floß, schließlich begaben sich zwei Abordnungen auf den Weg. Eine, die die restlichen Banditen und die Spanier zur „Totenkiste“ geleiten sollte, die zweite, die im Dorf für zwei schnelle, gut besegelte Boote sorgen würde.

Mit Hilfe von Barnabas Ahab und seinen Strandräubern wurden die notwendigen Vorbereitungen in Rekordzeit getroffen.

Schon eine knappe Stunde später legte das erste Boot ab. An Bord befanden sich Ernesto, der Agent, der Capitan der „Navarre“ und ein halbes Dutzend Spanier. Sie wußten ungefähr, wo sie die Verstärkung finden konnten, die sie brauchten, und sie wurden beflügelt von der Aussicht, endlich den gehaßten und gefürchteten El Lobo del Mar zu überwältigen.

Das zweite Boot, ein solider Logger, sollte erst gegen Abend in See gehen.

Red Fox Killarney wählte eine Besatzung von zehn Mann aus, die er dazu verdonnerte, höchstens noch am Rum zu riechen. Der Gedanke an Gold, Perlen und Edelsteine erleichterte ihnen den Verzicht, außerdem gingen Red Fox, Big Barnabas und der Spanier Lorenzo mit gutem Beispiel voran – da sie einen klaren Kopf brauchten, um sich gegenseitig zu belauern.

Der Rest der Männer sorgte dafür, daß in der „Totenkiste“ die Wände wakkelten.

Sie feierten bereits den Sieg. Der Rum ließ sie sehr schnell vergessen, daß sie alle schon am eigenen Leib erfahren hatten, wie schwer es war, gegen die Crew der „Isabella“ einen Sieg zu erringen.

„Hm“, meinte der Kutscher.

Er hockte neben dem Schiffbrüchigen, der am Schanzkleid der Kuhl lehnte, und blickte ziemlich ratlos drein. Den blutigen Riß in der Kopfhaut des Mannes hatte er bereits mit Salzwasser und Salbe behandelt. Getrunken hatte der Bursche auch: erst Wasser, dann Rum, dann eine Schale kräftiger Fleischbrühe. Aber er wirkte immer noch verwirrt und apathisch, und der Koch und Feldscher der „Isabella“ wußte nicht mehr, was er noch mit dem Patienten aufstellen solle.

„Verrückt“, murmelte er. „Der hat höchstens ’ne Latte an den Kopf gekriegt. Davon kann ein kräftiger Kerl eigentlich nicht in so einen belämmerten Zustand geraten.“

„Vielleicht der Schock oder so was?“ fragte Ferris Tucker.

„Schock? Wegen eines gekenterten Loggers?“ brummte der Kutscher zweifelnd.

„Du mußt es ja wissen, du blöder Kombüsenhengst“, raunzte Old O’Flynn. „Du hast ja auch massenweise Erfahrung darin, wie einem zumute ist, wenn man stundenlang in so einer Nußschale treibt, wie? Ich kann euch sagen, das ist eine ganz verdammte Sache, ist das! Da können einem schon ganz schön die Mucks im Schapp durcheinandergeraten. Ich meine, ich spreche natürlich nicht von mir, aber …“

„Klar!“ Dan O’Flynn grinste. „Bei dir sind die Mucks im Schapp sowieso durcheinander.“

„Na warte, du grüner Hering! Gleich schnalle ich mein Holzbein ab, dann wollen wir mal sehen, ob du noch dein vorwitziges Mundwerk aufreißt. Und so was habe ich in die Welt gesetzt!“

Old Donegal schnaufte empört. Die anderen hatten interessiert zugehört, denn was den Zustand des Schiffbrüchigen betraf, da hatte der alte Mann tatsächlich entsprechende Erfahrung. Damals, als er auf die „Isabella“ kam, hatten ihn die Seewölfe halbtot aus einem treibenden Boot gefischt, und selbst bei diesem Mann aus Granit und Eisen hatte es eine Weile gedauert, bis er wieder fit gewesen war.

Ben Brighton kauerte sich neben dem Schiffbrüchigen auf die Fersen und blickte in das bärtige Gesicht.

„Jetzt hör mal zu, Junge“, sagte er ruhig. „Du bist hier in Sicherheit und brauchst dir keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Aber du wirst ja wohl nicht mit uns nach London segeln wollen, oder? Also mußt du uns schon erzählen, wer du bist und wo du herkommst, klar?“

Der Mann starrte ins Leere. Nur seine Lippen bewegten sich zuckend.

„Wight“, flüsterte er. „Jeremy – Wight …“

„Du heißt Jeremy und stammst von der Insel Wight?“

„Ja – Wight …“

„Möchtest du, daß wir dich dort an Land setzen?“

Keine Antwort.

Ben richtete sich auf, wandte sich dem Seewolf zu und hob ratlos die Schultern.

„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte Hasard. „Er dürfte zu den Fischern von Wight gehören. Da wir ohnehin an der Insel vorbeisegeln, können wir den Burschen auch dort an Land setzen.“

„Und jetzt? Was tun wir mit ihm?“

„Flößt ihm eine Muck Rum ein und bringt ihn ins Logis. Ich schätze, er kann eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.“

Keiner der Männer konnte ahnen, daß sie keinen bedauernswerten Schiffbrüchigen, sondern den Teufel an Bord genommen hatten.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 153

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