Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 27 - Roy Palmer - Страница 4
2.
ОглавлениеEs war Nacht, aber Ben Brighton benötigte weder Licht noch Spektiv, um das Durcheinander verfolgen zu können, das sich da auf der Reede entwickelte. Mit bloßem Auge sah er, wie die ersten beiden Galeonen ineinander krachten, sich nicht mehr voneinander lösten und immer tiefer wegsackten. Er konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken. Die Dons befanden sich mal wieder in hellstem Aufruhr. Da wurden die lästerlichsten Flüche ausgestoßen, sämtliche Teufel der Hölle herbeizitiert, daß sie die am Drama Schuldigen vernichten sollten, und Gott angerufen, er möge den Schiffbrüchigen beistehen. Da klatschten Beiboote zu Wasser, da stöhnten und jammerten Verwundete, da erloschen schwankende Laternen, während auf den noch unversehrten Schiffen immer mehr Lichter aufflammten.
Inzwischen glitt die Pinasse zwischen den Galeonen dahin. Nicht einmal Ben Brighton konnte sie entdecken. Der erste Offizier und Bootsmann des Seewolfs erkannte aber bald, wie an Bord einer dritten Galeone mörderisches Geschrei losbrach und das Schiff in Bewegung geriet. Wieder grinste er. Ferris Tukker, Carberry und die anderen spukten wie die Kastenteufel auf der Reede umher und taten ihre Arbeit. Noch gab es keinen Grund, mit der „Isabella III.“ einzugreifen, und das sollte auf Hasards Anweisung hin auch nicht geschehen, solange es nicht unumgänglich wurde.
Die „Isabella III.“ sollte ihr Gesicht als „Valparaiso“ wahren – als spanisches Schiff, das im Geheimauftrag des Gouverneurs von Chile den berüchtigten „El Draque“, Francis Drake, jagte. Nur so hatte die Seewolf-Crew sich frech und gottesfürchtig unter die Schiffe auf der Reede des Hafens von Panama stehlen können, nur so war es gelungen, die drei bereits versenkten Galeonen wie fette alten Enten auszunehmen. Was inzwischen in der Stadt geschehen war, wußte Ben Brighton nicht, doch es war klar, daß zumindest die Besatzungen der spanischen Galeonen nach wie vor fest davon überzeugt waren, in der ehemaligen „Valparaiso“ einen der ihren unter sich zu haben.
Trotz allem hatte Ben natürlich gefechtsklar machen lassen. Die Männer kauerten auf der Kuhl hinter den schußbereiten Demi-Culverinen, auf Achterdeck und Back hinter den Drehbassen. Sie warteten nur darauf, den Dons mal wieder eins auf den Pelz zu brennen.
Ben trat neben Pete Ballie, den Rudergänger. „Wenn Ferris, der Profos und die anderen mit der Pinasse in der Nähe sind, gehen wir ankerauf. Es muß so aussehen, als ob wir auch zu den Leidtragenden gehören.“
„Aye, aye. Dan O’Flynn hockt im Vormars und wird die Pinasse rechtzeitig sehen. Bloß eins frage ich mich, Ben.“ Pete, der stämmige Mann mit den riesengroßen Fäusten, blickte Brighton an. „Was tun die acht, wenn sie von den Dons entdeckt werden?“
„Das ist kein Problem. Karl von Hutten spricht hervorragend Spanisch. Er kann sich damit herausreden, daß sie Schiffbrüchige von den ersten beiden sinkenden Galeonen sind.“
„Stimmt.“ Pete lachte leise. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“
Dan O’Flynn hockte hoch über ihnen im Vormars. Arwenack, der Schimpansenjunge, saß neben ihm auf der Segeltuchverkleidung. Jedesmal, wenn eine weitere spanische Galeone sich von ihrem Anker löste und sichtlich unkontrolliert in die Dunkelheit hinausdümpelte, klatschte er in die schwieligen Hände und gab gegrunzte Beifallslaute von sich. Dan hielt gespannt Ausschau und sichtete die Pinasse im entscheidenden Augenblick.
Er gab ein Zeichen. Batuti, der wie eine Art größerer Bruder von Arwenack in den Luvhauptwanten hing, leitete ihn an Ben Brighton weiter. Ben ließ den Anker lichten, und fortan spielte Pete Ballie am Kolderstock verrückt. Die „Isabella III.“ krängte mal nach Backbord, mal nach Steuerbord über, und es wirkte tatsächlich so, als „treibe“ sie infolge eines dreisten Überfalles der Pinassenbesatzung von der Reede ab.
Der Lärm auf der Reede nahm zu, denn Philip Hasard Killigrews Mannschaft beteiligte sich nun nach Kräften an dem Gebrüll – damit es so echt wie möglich wirkte. Ben Brighton ließ ellenlange Tiraden vom Stapel. Die anderen stimmten mit ein, so gut sie konnten. Einige deftige Ausdrücke wie „Maldido“ und „Mierda“ hatten sie immerhin schon gelernt. Dan O’Flynn kreischte im Vormars, als wolle man ihn abstechen. Arwenack quietschte vor Vergnügen. Batuti ließ sich auf Deck fallen und trampelte mit den nackten Füßen. Einige andere wie Blacky, Gary Andrews, Gordon Watts, Nils Larsen, Patrick O’Driscoll und Bob Grey schrien sich die Kehlen heiser. Der Kutscher beförderte einen prall gefüllten Sack mit Abfällen übers Schanzkleid. Als er ins Wasser plumpste, sah es wahrhaftig so aus, als sei jemand baden gegangen.
Ben ließ die Vorstellung andauern. Das Theater mußte solange dauern, bis sie in der Dunkelheit außer Sicht gerieten. Ben brauchte Pete keine Anweisungen mehr zu geben. Dieser wußte ja, daß ihr Ziel die Insel Chepillo war. Sie lag etwa dreizehn Seemeilen in ostsüdöstlicher Richtung von Panama, jedoch nur eine knappe Seemeile von der Küste entfernt. An ihrer Ostseite sollte sich die „Isabella“ verstecken und dort auf die acht Männer mit der Pinasse sowie auf den Seewolf und dessen Begleiter Jean Ribault warten.
Ben trat an die Heckgalerie und betrachtete das Durcheinander, für das Ferris, Carberry und die anderen aus der Pinasse gesorgt hatten. Die Verwirrung auf den Schiffen wurde noch dadurch gesteigert, daß sich die Kapitäne und die meisten Offiziere an Land befanden. Niemand wußte recht, was er tun sollte, kurzum, das Tohuwabohu war perfekt. Um Mitternacht hatte Tucker sechs der neun Schiffe auf die letzte Reise geschickt. Wrackstücke und Schiffbrüchige trieben auf der Reede, es herrschte ein heilloser Zustand.
Ben Brighton entging nicht, daß einige Schiffbrüchige plötzlich und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Etwas zerrte sie in die Tiefe. Ben lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Unwillkürlich schüttelte er sich und gab einen tiefen, unwilligen Laut von sich.
Blacky, der ganz in seiner Nähe an der einen Drehbasse stand, sagte: „Haie. Ist doch ein Ding, wie die immer zur Stelle sind, wenn es irgendwo einen fetten Happen zu holen gibt.“
Ben wollte etwas erwidern, wurde jedoch durch die Vorgänge am Hafen abgelenkt. Fackeln und andere Lichter wurden dort bewegt. Zweifellos trachtete man danach, Boote flottzukriegen und den Schiffbrüchigen zu Hilfe zu eilen. Ben Brighton wurde aber das Gefühl nicht los, daß es noch einen anderen Grund für die plötzlich entstandene Aufregung an der Mole gab, einen Grund, der unmittelbar mit Hasard und Jean Ribault zusammenhing.
„Verdammt und zugenäht!“
Hasard blickte entgeistert auf die Nebenpier, an der Jean Ribault und er ihr Boot vertäut hatten. Es war verschwunden. Irgend jemand hatte es sich unter den Nagel gerissen – wer, das war ganz egal, von Bedeutung war nur die Tatsache, daß die Lage nun wirklich prekär für sie wurde.
„Der Fall ist klar“, sagte Jean Ribault. „Ferris und die anderen haben zugeschlagen und lassen die neun spanischen Galeonen seewärts abtreiben und absaufen. Erste Schiffbrüchige sind hier eingetroffen, wir haben ja bruchstückweise gehört, was sie berichtet haben. Und jetzt? Jetzt wird jedes verfügbare Boot genommen, damit man die Besatzungen aus dem Wasser ziehen kann, bevor sie von den Haien aufgefressen werden.“ Er lächelte, wie das nur ein Franzose seines Kalibers konnte. „Mon ami, wir befinden uns gewissermaßen in einem aufgescheuchten Hornissennest!“
Hasard blickte sich um. Im Hafen herrschten Mordsgeschrei und ein Wirbel, als würde jeden Augenblick die ganze Stadt in die Luft fliegen. Schritte trappelten auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen und des freien Platzes vor der Mole, Männer brüllten und fluchten, Frauen, kreischten, irgendwo weinte ein Kind, bellte ein aufgescheuchter Hund.
„Weg hier“, sagte Hasard. „Wir suchen uns woanders einen Kahn.“
Sie liefen von der Nebenpier und forschten nach einem Boot. Die Degen, die sie während des Banketts im Gouverneurspalast so erfolgreich zum Einsatz gebracht hatten, hielten sie nun wieder in den Fäusten. Denn jeden Moment konnten die Dons zur Stelle sein, die ihnen aus dem Gouverneurspalast gefolgt waren. Alfonso de Roja, der Hafenkommandant, den sie so hervorragend geblendet hatten, der Polizeipräfekt Miguel de Villanueva und der Gouverneur de Avila verspürten nicht übel Lust, ihnen eigenhändig die Köpfe abzureißen. Sicherlich würden ihre Leute nicht lange fackeln, wenn sie die Flüchtigen aufstöberten. Ganz gewiß hatten sie die Anweisung, sie auf der Stelle umzubringen.
Hasards Rolle als stolzer spanischer Capitan Diaz de Veloso war geplatzt. Er brauchte nicht länger zu schauspielern. Der Polizeipräfekt von Panama, de Villanueva, kannte den wirklichen Kapitän der ehemaligen „Valparaiso“ – den Mann, dem Hasard und seine Crew seinerzeit mittels dessen eigenem Schießpulver eine so schmähliche Niederlage beigebracht hatten. Der Seewolf und Jean Ribault hatten an dem Festbankett des Gouverneurs von Panama teilgenommen, da war de Villanueva auf der Szene erschienen und hatte Hasard sozusagen entlarvt.
Hasard und Jean hatten für Krach gesorgt, daß die Wände wackelten, dann hatten sie ihr Heil in der Flucht gesucht. Mit allem hatte der Seewolf gerechnet – nur nicht damit, daß ihnen der Weg auf diese Art abgeschnitten wurde! Alles Fluchen nutzte ihnen nichts. Sie fanden kein Boot, mit dem sie sich absetzen konnten. Sie stahlen sich von den Piers fort und schlüpften in eine winzige, unbeleuchtete Gasse. Hier drückten sie sich in einen Hauseingang und verschnauften erst einmal. Rundum tönten die Stimmen der Spanier, hallten Schritte. Aus irgendeinem Fenster über ihren Köpfen ertönte das monotone Gebet einer Frau, die allem Anschein nach glaubte, der Tag des Jüngsten Gerichtes sei gekommen.
„Parbleu, wir sitzen in der Falle“, stellte Jean Ribault so nüchtern fest, als spräche er über die tägliche Proviantverteilung an Bord der „Isabella“.
„Du fällst mir langsam auf die Nerven, Franzose“, gab Hasard zurück.
„Das ändert nichts an den Tatsachen.“
„Also schön. Was unternehmen wir?“
„Wir könnten zu Fuß gehen.“
„Deine blöden Witze sind wirklich unangebracht.“
Jean grinste. „Ich meine es todernst.“
Hasard verzog das Gesicht. „Wenn wir an der Küste entlangmarschieren, weißt du, wie lange wir da brauchen? Auf dem Wasserweg sind es dreizehn Seemeilen bis zur Insel Chepillo. Aber auf dem Landweg müssen wir Buchten hinter uns bringen und Flußmündungen umgehen oder durchschwimmen.“
„Kein erfreulicher Gedanke.“
„Eben. Ich schlage vor, wir verstekken uns. Ist der schlimmste Trubel vorüber, verdrücken wir uns in aller Gemütsruhe.“
„Hm.“
„Was soll das heißen – hm? Irgendwann müssen die Boote ja zurückkehren. Wir nehmen dann eins in Beschlag. Wahrscheinlich wird erst in der nächsten Nacht etwas daraus, aber so lange müssen wir uns eben gedulden.“
„Da liegt das Problem nicht“, erwiderte der Franzose leise. „Wir müssen ein geeignetes Versteck finden. Die Phillips werden doch alles nach uns absuchen, werden jeden Kistendeckel ein paarmal umdrehen, um ja keinen Platz auszulassen, an dem wir uns verkrochen haben könnten. Wir müssen hundertprozentig auf Nummer Sicher gehen. Aber wie? Wo? Kennst du dich so gut in Panama aus?“ Er blickte nach oben, um herauszufinden, hinter welchem Fenster die Frau betete.
Hasard schüttelte den Kopf. „Da nicht. Das hat keinen Sinn. Sie würde schreien, ganz egal, was wir ihr androhen. Außerdem habe ich was dagegen, unschuldige Leute in diese Geschichte zu verwickeln.“
„Das ist edel.“
„Das ist normal“, entgegnete Hasard. „Los, komm jetzt, wir haben schon genug Zeit mit Sprücheklopferei verloren.“ Er lief voraus, tief in das Dunkel der Gasse hinein. Er wußte auch nicht, wie er die Bedenken des Franzosen zerstreuen sollte, aber er vertraute ganz einfach auf die glückliche Hand, die er in Aktionen wie dieser immer wieder bewiesen hatte. Kein Raid, war er auch noch so genau geplant, konnte ausschließlich aus kühl berechneten Zügen und nüchternem Kalkül bestehen, es gehörte schon eine gute Portion an Ungewißheit und tödlichem Risiko dazu, und letztere ließen sich nur durch Tollkühnheit und eine gewisse Selbstüberzeugung meistern. Hasard war nie überheblich gewesen, und er war es auch jetzt nicht. Aber im Gegensatz zu Jean, der mit einem Mal zu zweifeln begann, war er überzeugt, etwas Passendes zum Unterschlüpfen zu finden. Das Schicksal ergab sich nicht immer, es wollte bisweilen auch manipuliert werden.
Fast stießen sie mit einem Trupp bis an die Zähne bewaffneter spanischer Soldaten zusammen. Hasard sichtete sie, als er eine trübe beleuchtete Straßenecke passierte. Er bewies Kaltblütigkeit. Zurückziehen konnte er sich nicht mehr, sie hatten ihn gesehen. Zurückweichen, das war in diesem Moment gleichbedeutend mit einem selbstunterschriebenen Todesurteil.
Hasard lief weiter. Dem Franzosen, der hinter ihm aus der Gasse trat, rief er auf spanisch zu: „Nun, beeil dich endlich, hombre. Die beiden Ingleses, die Schweinehunde, die gesucht werden, sollen sich an den Hafenpiers versteckt haben!“
Ribault, alles andere als ein Langsamdenker, schaltete sofort. „Dann nichts wie hin, ich will dabeisein, wenn sie zusammengeschossen werden.“
Wie zwei Schatten huschten sie vor dem Trupp Soldaten vorüber. Der Anführer riß seinen Degen hoch und kommandierte: „Zum Hafen, zum Hafen, bewegt euch, Leute!“ Und während der Seewolf und Jean Ribault in der gegenüberliegenden Gasse untertauchten, trappelten die Schritte der Soldaten hinter ihnen vorbei und verloren sich in dem allgemeinen Lärm. Dem Anführer fiel es nicht weiter auf, daß die beiden Männer, die doch angeblich auch zum Hafen unterwegs waren, einen Umweg nahmen. Und auch sonst hegte er keinerlei Verdacht. Es war ihm eben nur gemeldet worden, daß zwei verwegene Burschen gesucht würden, die das Festbankett im Gouverneurspalast gestört hätten. Wie die aussahen, hatte man ihm offensichtlich noch nicht näher beschrieben. Eben dies war eine glückliche Fügung des Schicksals. Sie gewährte Hasard und Jean Ribault den zeitlichen Aufschub, den sie so dringend benötigten, um sich in Sicherheit zu bringen.
Sie überquerten einen winzigen Hinterhof und stahlen sich in einen Gang, der so schmal war, daß sie die beiderseits aufragenden Mauern mit den Schultern berührten. Eine Katze stob vor ihnen davon. Hasard pirschte bis an den Auslaß vor; er führte auf eine etwas breitere Straße. Hasard streckte den Kopf vor und konnte plötzlich bis zur Hafenmole gucken.
Jean war hinter ihm. „Nun? Was siehst du?“
„Eine Menge Leute“, raunte Hasard ihm zu. „An der Piers herrscht Wuhling, als sei ein Aufstand losgebrochen. Noch einen Schritt weiter, und wir werden garantiert entdeckt.“
Als hätte er es mit seinen Worten heraufbeschworen, näherten sich in diesem Augenblick harte Schritte – aus Richtung Hafen. Hasard und Jean wichen etwas zurück und drehten sich so, daß sie mit den Rücken zur Mauer standen. Sie hielten sich dagegengepreßt und wünschten sich inständig, so platt wie Schollen zu sein. Schätzungsweise ein Dutzend Soldaten marschierte vorüber. Die Kerle hatten grimmige Mienen und hielten die Waffen gezückt. Warf auch nur einer einen Blick in den schmalen, finsteren Gang, mußte er die wie gelähmt stehenden Gestalten zumindest schemenhaft erkennen.
Der Trupp eilte davon. Ribault, der die Atemluft angehalten hatte, stieß einen leicht pfeifenden Laut aus. „Fast wär’s soweit gewesen. Nichts wie weg hier.“ „Moment noch.“ Hasard riskierte noch einen Blick. Er hatte plötzlich ein Gebäude entdeckt, das ihrem Zweck zu entsprechen schien. Es erhob sich jenseits des gegenüberliegenden Straßenrandes – ein gemauerter, viereckiger Bau, ein ziemlich häßlicher Kasten mit weißgetünchtem Äußeren. Vorn wurde es von zwei Soldaten bewacht. Sie hielten ihre Musketen im Anschlag, und es gab nicht die geringste Möglichkeit, sich an sie heranzuschleichen.
Hasard drehte sich um und gab dem Franzosen ein Zeichen. Sie kehrten auf den winzigen, übelriechenden Hinterhof zurück, den sie soeben passiert hatten. Auf Umwegen gelangten sie schließlich über die Straße und erreichten die Rückseite des großen Gebäudes.
Hasard grinste. „Na bitte. Hier stehen keine Posten.“
„Noch nicht ...“
„Beeilen wir uns, Jean.“
Sie entdeckten einen Baum, dessen Konturen sich fast übergangslos mit der Schwärze der Nacht verbanden. Es war eine schlanke, hoch aufragende Zypresse. Die beiden fackelten nicht lange, sie kletterten daran empor. Die Zypresse befand sich so nahe an der Gebäudemauer, daß sie aus ihrem Wipfel mühelos übersteigen konnten. Hasard tat dies als erster. Er entdeckte einen simsartigen Vorsprung, stellte sich darauf und klammerte sich oben fest, so gut es ging. Er steckte einfach die Finger in eine Mauerritze.
Jean Ribault setzte ihm nach, aber er geriet plötzlich aus dem Gleichgewicht. Verzweifelt bewegte er die Arme und versuchte, die Balance wiederzugewinnen. Er drohte, aufs Pflaster zu stürzen und sich ein paar Knochen zu brechen oder gar den Schädel aufzustoßen. Der Seewolf packte ihn mit der linken Hand und zog ihn zu sich heran. Er konnte von Glück sagen, daß er dabei nicht selbst abrutschte.
„Mist, verfluchter“, zischte der Franzose.
Sie kletterten höher und gelangten an den Rand des flachen Giebeldaches. Hasard zog sich höher und preßte den Oberkörper auf die rauhen, mit großen Steinen beschwerten Schieferplatten des Daches. Er ließ die Beine baumeln, verschaffte sich durch eine heftige Bewegung Auftrieb und glitt vollends hinauf. Gleich darauf half er Jean über die Kante weg.
Der kriegte es mit der Angst zu tun, denn unten näherten sich hastige Schritte. Mehrere Männer fluchten. Jean lag auf dem Dach und zog die Beine ein. Da stürmten sie um die Gebäudeecke – mehr als zehn spanische Soldaten. Hasard spähte über die Kanten der Schieferplatten und meinte, einen der Burschen zu erkennen – es war der Anführer, den sie mit ihrem Scheingespräch zum Narren gehalten hatten.
„Diese Bastarde!“ schrie er. „Ich bringe sie eigenhändig um, wenn ich sie zu fassen kriege. Die werd ich lehren, was es heißt, einen Soldaten seiner Majestät zu verscheißern!“
Als sie vorüber waren, blickte Hasard den Franzosen an. Jean konnte sich das Lachen kaum verkneifen, sie grinsten beide.
„Offenbar sind wir ihm inzwischen beschrieben worden“, meinte Jean Ribault. Sie krochen auf dem Dach entlang und erreichten eine alte, verrottete Luke. Jean wollte diesmal den Vortritt haben und die im ungewissen Dunkel lauernden Gefahren auf sich nehmen. Aber Hasard lehnte ab. Er steckte die Beine in die Luke, ließ sich abgleiten und hielt sich mit den Händen an der hölzernen Fassung fest. Sie knackte bedrohlich. Hasards Körper und Beine baumelten im Freien. Mit den Füßen suchte er nach einer Leiter, einer Stiege oder irgend etwas Ähnlichem – vergebens. Er blickte nach unten und strengte sich an, etwas im Inneren des Gebäudes zu erkennen. Aber es war so stockfinster, daß er nicht einmal seine Füße sah.
„Was jetzt?“ flüsterte Ribault.
Hasard erwiderte nichts, er ließ sich kurz entschlossen fallen. Er konnte sich etwas brechen, aber das nahm er in Kauf. Eile tat not. Wenn die Schergen des Polizeipräfekten oder Hafenkommandanten sie erst aufgespürt hatten, blühte ihnen das Allerschlimmste. In der Beziehung gab er sich überhaupt keinen falschen Hoffnungen hin.
Hasard fiel ins Dunkel und hatte ganz überraschend wieder Boden unter den Füßen. Er rollte sich geistesgegenwärtig ab, stieß sich aber dennoch die Knochen auf dem harten Untergrund. Unwillkürlich fragte er sich, ob er auf Eisenplatten gelandet sei. Unter ihm schien etwas zu wanken, es knarrte bedenklich. Er blieb liegen und rührte sich eine Weile nicht. Stille umfing ihn. Er befühlte den Untergrund, wirklich, der war kühl und hart wie Eisen.
Die Luke über ihm war ein blasses Rechteck. Mittendrin nahmen sich die Umrisse von Jean Ribaults Schädel aus.
„He!“ raunte der Seewolf. „Du kannst runterkommen!“
Wenig später kauerte der Franzose neben ihm und rieb sich die schmerzenden Gliedmaßen.
„Parbleu“, schimpfte er leise. „Du hättest mir ruhig sagen können, was mich hier erwartet.“
Hasard grinste. „Wußte ich doch selbst nicht. Warte mal.“ Er holte Lunte und Feuerstein hervor. Feuerstahl hatte er nicht, aber er benutzte die Fläche, auf der sie aufgesprungen waren, als solchen. Binnen kurzem flackerte schwaches Licht auf. Hasard wußte, daß er allerhand riskierte. Entdeckte auch nur ein verflixter Don den Feuerschein, dann waren sie geliefert. Andererseits mußten sie aber auch ihre neue Umgebung ergründen, sonst konnte es böse Überraschungen geben.
Plötzlich klappten sie die Münder auf – und sagten gar nichts mehr. Ihr Schweigen hatte etwas Ehrfürchtiges. Jean Ribault strich immer wieder mit den Händen über den plattformähnlichen Platz, auf dem sie gelandet waren. Der schimmerte matt und rötlich gelb und war alles anders als Eisen, wie Hasard anfangs vermutet hatte.
Aber Metall war es.
„Gold“, hauchte Jean Ribault. „Mir bleibt die Luft weg.“
Hasard kroch ein Stück weiter und orientierte sich.
„Wir sitzen auf einem richtigen Berg“, flüsterte er. „Auf gestapelten Goldbarren. Die Dinger sind verdammt schwer, sonst wären sie bei unserem Aufprall ins Rutschen geraten und der Stapel wäre auseinandergefallen.“
Ribault wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Himmel, hätte das einen Aufstand gegeben! Was meinst du, lagert das Gold hier bis zum Abtransport nach Portobello?“
„Bestimmt. Komm, ich habe was entdeckt!“
Hasard führte den Franzosen in eine Ecke des großen Gebäudes. Hier schichteten sie die Barren so, daß sie eine Art Höhle bildeten – eine richtige Grotte, die ihnen beiden genügend Platz bot und die sie vorn wiederum durch andere Barren fast ganz schließen konnten. Sie schlüpften hinein und mauerten sich selbst mit Barrengold ein.
„O Mann, o Mann“, sagte der Franzose verhalten. „Sag mir, daß das nicht wahr ist! Zwei Korsaren Ihrer Majestät, der Lissy, igeln sich in einem puren Goldhügel ein. Davon hab ich schon immer geträumt ...“
„Heute nacht schlafen wir auf Gold“, sagte Hasard. „Wenn wir das an Bord der ‚Isabella‘ erzählen, glaubt es uns keiner.“