Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 92 - Roy Palmer - Страница 5

2.

Оглавление

Severa wäre lieber ertrunken, statt mit den Piraten zu schwimmen. Aber sie war ohnmächtig geworden, und dann hatte Brian O’Lear sie auf den Rücken gedreht und ohne großen Aufwand und Kraftverlust mitgeschleppt.

Nebelstreifen krochen flach über das Wasser. O’Lear und seine drei Begleiter konnten die nördlich der Insel postierten Schiffe nicht erkennen, aber sie entdeckten alsbald die Konturen eines Bootes. Es löste sich aus der Wand von Dunkelheit und Dunst und glitt gespenstisch leise auf sie zu. Sanft tauchten die Riemen ein und hoben sich wieder aus dem Wasser. Sechs Männer saßen auf den Duchten.

O’Lear spitzte die Lippen und ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen – wie vereinbart, zunächst hoch, dann in eine tiefere Lage abfallend.

Sofort hielten die Männer im Boot auf ihn zu. Wenig später holten sie die Riemen ein, gingen längsseits der Schwimmer und nahmen auf O’Lears Befehl hin zuerst das Mädchen an Bord.

Danach kletterte auch O’Lear in das Boot. Seine drei Kumpane im Wasser schickten sich an, ebenfalls aufzuentern.

„Vorsicht“, sagte einer der Piraten im Boot, „treibender Tang.“

O’Lear schaute sich um und sah nun auch die riesigen, schlangengleichen Gebilde, die auf das Boot zufächelten. Tang – er konnte ganze Boote umklammern und in die Tiefe reißen, ja, sogar Schiffe in Gefahr bringen.

„Verdammt“, zischte O’Lear. „Los, beeilt euch, wir müssen hier weg.“

Zwei Schwimmer klommen am Dollbord hoch und griffen nach den hilfreich ausgestreckten Händen ihrer Kumpane. Der dritte war nicht ganz so schnell. Er blieb ein Stück zurück und gestikulierte plötzlich verzweifelt.

Der Tang hatte ihn umschlungen und drohte ihn unter die Wasseroberfläche zu zerren.

Brian O’Lear riß eine unter den Duchten verstaute Pike hervor, eilte ganz nach achtern und streckte dem Mann das stumpfe Ende entgegen. Die Pike war länger als ein Bootsriemen, sie erreichte den Mann, und er konnte sie mit beiden Händen pakken.

O’Lear zerrte und holte den Mann Zug um Zug zu sich heran.

„Pullt!“ fuhr er die anderen an. „Los, pullt, so schnell ihr könnt, sonst bleiben wir alle stecken.“

Er zog den Mann aus dem Wasser und befreite ihn von einem großen, glitschigen Stück Tang, das seine Hüfte umspannt hielt. Der Mann sank neben ihm auf eine Ducht. Er war kreidebleich im Gesicht.

Ein großes Beet formte sich aus dem treibenden Riesentang, aber die Piraten schafften es, sich ihm zu entziehen, bevor es das Boot umwickelte und zum Stoppen brachte.

Kurz darauf wuchsen die Umrisse der Schiffe vor ihnen aus dem Nebel. Fast majestätisch wirkte die „Black Eagle“, O’Lears Führungsschiff. Sie war eine robust gebaute Galeone mit drei Masten und imposanter Armierung. In ihrem Großtopp wehte die Totenkopfflagge.

Nach den letzten Gefechten mit den Spaniern bestand O’Lears kleine, aber wehrhafte Flotte nun noch aus insgesamt vier Schiffen. Eine zweite, etwas kleinere Galeone dümpelte neben der „Black Eagle“ auf der Dünung. Eine halbe Kabellänge weiter nach Norden versetzt warteten die beiden Karavellen. Eine führte drei Masten, die andere zwei, beide waren lateingetakelt.

Wohlweislich hatte der Ire diesmal seine komplette Streitmacht aufgeboten. Den Fehler von der Vornacht wollte er nicht wiederholen. Allein hatte er sich mit der „Black Eagle“ bis zur Ankerbucht des Seewolfes begeben. Er hatte geglaubt, die Männer im Schlaf überraschen zu können und leichtes Spiel zu haben. Aber unversehens hatten sich die beiden Schiffe auf ihn zugeschoben, drohende Giganten in der Nacht – und dann war der Teufel los gewesen.

Er schüttelte sich, als er daran zurückdachte. Wieder flammte der Haß in ihm auf. Ein verfluchter Engländer hatte ihm, Brian O’Lear, zu trotzen gewagt! Das würde er büßen, zehnfach, hundertfach.

Das Boot schor längsseits der „Black Eagle“. O’Lear griff sich das immer noch bewußtlose Mädchen, legte es sich über die Schulter und enterte als erster an der Jakobsleiter auf. Auf der Kuhl ließ er sie auf die Planken sinken und trat grinsend seinen Männern entgegen.

Coleman, ein hagerer, hochaufgeschossener Mann aus Dublin, der auf der Galeone die Funktion des Bootsmannes wahrnahm, war O’Lears rechte Hand.

Er blickte auf Severa, schaute zu seinem Anführer und sagte: „Ich habe vorsorglich das Boot losgeschickt, um nach euch suchen zu lassen. Wir haben Schüsse gehört und uns gedacht, daß etwas danebengegangen ist.“

„Ja. Ich wollte euch ein Leuchtzeichen von dem höchsten Inselhügel aus geben, sobald ich das Schiff des Anführers in meine Gewalt gebracht hatte, aber soweit sind wir nicht gekommen.“ Er berichtete, was vorgefallen war.

„Zwei Tote“, sagte Coleman. „Zum Teufel auch, wir hätten mit den Schiffen doch die Bucht anlaufen sollen.“

„Damit der Seewolf uns mit seinen vollen Breitseiten empfangen konnte?“ O’Lear stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte seinen Bootsmann durchdringend an. „Wahnsinn.“

„Der Nebel verbirgt uns.“

„Der Seewolf hat ausgezeichnete Ausguckposten, vergiß das nicht.“

„Der Seewolf?“

„So nennen sie ihn, Coleman. Ich nehme an, er ist der Kerl, der den Spaniern schon seit Jahren einen erbitterten Krieg liefert. In den Kneipen von Tortuga und anderswo habe ich die wildesten Geschichten über diesen ‚Lobo del Mar‘ gehört. Aber er ist keiner von uns. Er bildet sich ein, als ‚Korsar der Königin‘ was Besseres als alle anderen Freibeuter zu sein.“ O’Lear grinste plötzlich wieder. „Ein harter Bursche, das muß ich ihm lassen. Wißt ihr, was ich glaube? Er wird uns verfolgen. Aber Maccallion ist auf der Insel zurückgeblieben und wird seine Mission erfüllen. Darauf baut mein weiterer Plan auf.“

„Das Mädchen“, sagte Coleman. „Sie ist keine Engländerin, wie du gesagt hast. Aber sie gehört zu ihnen, und der Seewolf wird es nicht zulassen, daß wir sie umbringen. Wir können alles von ihm fordern – alles.“

„Bestimmt hat er Schätze an Bord“, sagte ein anderer. „Wenn er mit Erfolg gegen die Spanier kämpft, muß er ihnen einiges abgenommen haben.“

„Wir werden ihn töten und seine Schiffe plündern“, erwiderte Brian O’Lear. „Das schwöre ich euch.“

Severa lag etwas abseits der Versammlung und war bereits wieder voll bei Sinnen. Gleich nachdem O’Lear sie auf die Planken gelegt hatte, war sie zu sich gekommen. Jetzt vernahm sie, wie der wüste Ire seinen Kerlen alle Einzelheiten des Planes auseinandersetzte. Darauf wartete sie nur noch.

Als er am Ende angelangt war, sprang sie auf. Sie lief zum Backbordschanzkleid. Sie bewegte sich – trotz ihrer Benommenheit – leichtfüßig wie eine Gazelle. Sogar dem Seewolf war sie auf der Insel fast davongerannt, als sie ihre erste Begegnung gehabt hatten.

„Haltet sie!“ schrie O’Lear.

„Das Weibsstück darf nicht entwischen!“ brüllte Coleman.

Fluchend warfen die Piraten sich herum. Sie hetzten Severa nach, aber sie befand sich in diesem Augenblick bereits dicht vor dem Schanzkleid. Zwei Sätze noch, dann ein Sprung, und sie konnte sich über die breite Handleiste stürzen.

Aber jäh senkte sich ein großer Schatten auf sie.

Sie spürte ihn mehr über sich, als daß sie ihn fallen sah. Ausweichen konnte sie nicht mehr. Sie versuchte es, doch der Schatten, der die Form eines Mannes hatte, landete auf ihr und warf sie auf das Deck. Sie schrie auf. Unter der Wucht des Aufpralls glaubte sie zerquetscht zu werden. Brennender Schmerz durchfuhr ihren Körper.

„Auskneifen wolltest du, wie?“ schrillte eine Stimme über ihr. „Aber du hast die Rechnung ohne Fatboy gemacht.“

Der Mann war so beleibt, wie sein Name besagte. Er kniete über ihr und hielt sie fest. Sie konnte nicht einmal den Kopf wenden und in sein Gesicht sehen.

Die ganze Zeit über hatte er wie ein dickes Faultier in den Hauptwanten der Backbordseite gehangen und gelauscht, was gesprochen worden war. Severa hatte ihn übersehen. Jetzt bezahlte sie dafür.

O’Lear trat zu ihnen und klopfte dem dicken Mann auf die Schulter. „Gut aufgepaßt, Fatboy. Du kriegst eine Extraration Rum. Laß das Weibsbild jetzt los, ich will mich mit ihr unterhalten.“

Fatboy erhob sich und wich grinsend zur Seite. O’Lear bückte sich, packte Severa am Arm und riß sie zu sich hoch. Zweimal klatschte seine Hand in ihr Gesicht. Sie taumelte zurück, stieß mit den Waden gegen den Rand der Kuhlgräting und verlor das Gleichgewicht. Mit einem gequälten Laut sank sie auf die Gräting.

O’Lear war wieder bei ihr und hielt sie mit einer Hand fest.

„Du Luder“, sagte er. „Dachtest du wirklich, du könntest dich noch retten? An Land schwimmen wolltest du, wie? Das schaffst du nicht, nie und nimmer. Ich halte dich fest und tu mit dir, was ich will. Bald brauche ich dich nicht mehr als Faustpfand, bald benutze ich dich nur noch als Mätresse.“

„Lieber sterbe ich“, stieß sie hervor.

Er lachte wild, riß sie wieder hoch und schleuderte sie auf Coleman zu. „Sperrt sie in eine Kammer! Sorgt dafür, daß sie nicht ausrücken kann. Ich befasse mich später mit ihr, jetzt ist keine Zeit dafür.“ Er senkte die Stimme etwas. „Und noch etwas. Glaubt nicht, daß ihr sie vernaschen könnt. Sie gehört mir.“

Coleman wandte sich an die Umstehenden. „Habt ihr gehört? Denkt daran.“

„Natürlich“, entgegnete Fatboy. „Wir sind doch nicht lebensmüde.“

Die „Isabella“ verließ die Ankerbucht und nahm östlichen Kurs.

Dicht hinter ihr schob sich der schwarze Segler dahin. Sie gingen platt vor den Westwind und wirkten mit ihrem prall geblähten Vollzeug wie große, wütende Schwäne.

Hasard suchte kurz das Achterkastell auf, um sich weitere Waffen zuzustecken. Er bezweifelte nicht, daß O’Lears kompletter Schiffsverband vor dem Nordufer der Insel lag. Weiter nahm er an, daß sich die Piraten nach Westen wenden würden – erstens wegen der Windverhältnisse, zweitens, weil dort, irgendwo auf einer der rund zweihundert Inseln des Archipels, nach Euzko und Severa Guerazis Angaben das Versteck der Schufte lag.

Sie würden sich also treffen, und es mußte zur Auseinandersetzung kommen. Wenn O’Lear Severa auch als Geisel benutzte und sie zu töten drohte, Hasard würde versuchen, seine Galeone „Black Eagle“ zu entern. Irgendwie. Vielleicht mit einem Boot, vielleicht schwimmend. Er mußte es schaffen.

Hasard wollte sich ein Entermesser holen, das er zusätzlich zu seinem Degen am Körper tragen konnte. Und zusätzlich zu der doppelläufigen Reiterpistole in seinem Gurt brauchte er eine zweite Pistole. In seiner Kammer befand sich ein kleines Arsenal, er brauchte nur die passenden Stücke auszuwählen.

Er öffnete die Tür und trat in seine Kammer. Und genau in diesem Augenblick nahm er ein winziges Geräusch wahr. Ein feines Schaben, kaum erwähnenswert. Und doch, es gehörte nicht zu den typischen Lauten auf der „Isabella“. Ein Mann, der sein Schiff kannte wie der Seewolf und überdies scharfe Sinne und einen geschulten Verstand hatte, mußte mißtrauisch werden.

Hasard ließ die Türklinke nicht los. Er verhielt, lehnte sich nach rechts und rammte die Tür mit voller Wucht gegen die Innenwand der Kammer. Nur gelangte sie nicht ganz bis dorthin. Sie traf schon vorher auf Widerstand, und der Widerstand gab einen unterdrückten Wehlaut von sich.

Hasard warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Diesmal glaubte er ein Knacken zu vernehmen – und ein verzweifeltes Ächzen.

Er wich wieder zurück. Die Tür schwang vor, als pendele sie in ihren Rahmen zurück, blieb dann aber doch auf halber Strecke stehen. Der Kerl, der sich hinter ihr versteckt hatte, wurde sichtbar.

Er war schlank, muskulös und schien rotblonde Haare zu haben, soweit sich das im hereinschimmernden Mondlicht feststellen ließ. Er neigte sich langsam mit Kopf und Oberkörper vor, dann kippte er der Länge nach Hasard entgegen.

Hasard rückte zur Seite.

Fast fiel der Kerl auf Euzko Guerazis aufgebahrten Leichnam. Nur ganz knapp neben ihm landete er mit dumpfem Laut auf dem Bauch, Hasard empfand die Szene als makaber und der Ruhe des toten Waljägers nicht würdig.

Langsam zog er den Toten zur rechten Kammerwand. Anschließend ging er zu dem Bewußtlosen.

Er hatte ihn fast zerquetscht und so hart mit der Tür getroffen, daß ihm die Sinne geschwunden waren. Da lag er nun vor ihm, pitschnaß, in Lumpenkleidung gehüllt, ein verwahrloster Galgenstrick. O’Lears Mordgeselle. Zu wem sollte er wohl sonst gehören?

Hasard bückte sich. Er wollte ihn entwaffnen und dann nach oben schleppen. Die Vorpiek war das richtige Gemach für einen gescheiterten Mörder, dort konnte er sich am stinkenden Bilgewasser erfreuen und Freundschaft mit den Ratten schließen.

Aber es kam anders.

Unversehens regte sich der Fremde. Er fuhr hoch, so überraschend, daß Hasard kaum reagieren konnte. Ein haßverzerrtes Gesicht, eine Faust, die auf seinen Kopf zuzuckte, das waren die bruchstückhaften Dinge, die er in diesem Augenblick wahrnahm.

Die Faust knallte gegen seine Schläfe. Hasard war für kurze Zeit benommen und wankte zurück. Der Fremde sprang auf, griff zur Hüfte und hielt plötzlich ein Messer in der Hand.

„Du englischer Hund“, zischte er. „Du dachtest, Maccallion sei bewußtlos, was? Aber so leicht kriegst du einen Iren nicht klein.“

Hasard zog in einer instinktiven Reaktion ebenfalls sein Messer. Er hätte auch die Pistole oder den Degen wählen können. Damit wäre er dem Kerl überlegen gewesen. Doch das entsprach nicht seinem Stil. Fairneß auch dem ärgsten Feind gegenüber, lautete seine Devise.

„Du bist verrückt, Maccallion“, murmelte er. Er lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Das Brausen und der Schmerz in seinem Kopf wichen etwas. „O’Lear hat dich geschickt, aber das, was du dir in den Kopf gesetzt hast, bringst du nicht fertig.“

„Killigrew“, sagte Maccallion. „Die Stunde der Abrechnung ist da. Erinnerst du dich an die Dungarvan-Bai?“

„Schwach, Maccallion.“

„Aber ich sehr genau!“

„Du warst damals bei den irischen Truppen?“ fragte Hasard verwundert. „Und dann hast du das Soldatenleben mit dem Piratendasein vertauscht – um dein Leben für einen Bastard wie O’Lear zu opfern? Du mußt wirklich ein Narr sein, Ire.“

„Ich töte dich, englischer Hurensohn“, flüsterte der Pirat. „Aber du hast Angst. Du rufst deine Freunde, weil du im Grunde deines Herzens ein Feigling bist. Das ist deine Stärke, Seewolf.“

Hasard streckte das rechte, Bein vor, erwischte mit dem Stiefelhakken die Türkante und riß den Fuß zurück. Die Tür fiel ins Schloß. „Wir sind allein, Maccallion. Leg los. Keiner sieht uns, keiner hört uns. Nur der tote Baske ist Zeuge, wie einer von uns daran glauben muß. Fang endlich an.“

Maccallion ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang vor. Federnd bewegte er sich mit gespreizten Beinen voran, duckte sich und stach zu.

Hasard hatte sich überhaupt nicht gerührt. Gerade das schien den jähzornigen Maccallion in zusätzliche Wut zu bringen. Er ließ sich zu vorschnellem Handeln verleiten, statt Hasard zuerst zu umtänzeln und aus der Reserve zu locken.

Hasard huschte von der Wand weg. Er war blitzschnell. Maccallion konnte seine Stoßrichtung nicht mehr korrigieren. Das Messer bohrte sich in die Wand. Mit einem Fluch riß der Ire es wieder heraus, aber in diesem Moment war der Seewolf neben ihm und trat ihm in die Seite. Das war kein simpler Tritt, sondern ein Rammstoß, wie von einem Klotz geführt. Maccallion segelte durch die Kapitänskammer, riß das Pult um und krachte schwer gegen Hasards Koje.

Hasard setzte nach und war über ihm, als er sich aufrappelte. Maccallion hob wieder das Messer. Aber bevor er zum Stoß ausholen konnte, hatte Hasard seinen Arm gepackt und umgedreht.

Der Ire keuchte entsetzt. Er versuchte mit aller Macht, die Waffe festzuhalten und Hasard in den Leib zu stoßen. Für Sekunden vibrierte die Spitze dicht vor Hasards Brust.

Hasard hebelte den Arm noch weiter herum, so weit, daß Maccallion eine Halblinksdrehung vollführte. Seine Armmuskeln waren gelähmt, die Finger wurden kraftlos. Das Messer entglitt ihm und polterte zu Boden.

Hasard ließ den Iren los. Er hätte ihn mit dem Messer töten können, aber das hatte er sich wieder in den Gurt geschoben. Nach wie vor hielt er an seinen Grundsätzen fest.

Maccallion dankte es ihm schlecht. Er ließ sich auf die Koje fallen und trat mit dem Fuß nach ihm. Er traf ihn gegen die Brust, dicht unter dem Halsansatz, und bremste seinen nächsten Angriff. Hasard hatte den Iren mit einem Fausthieb unters Kinn außer Gefecht setzen wollen, aber der Schwinger hatte nicht die nötige Reichweite.

Ehe sich Hasard wieder gefangen hatte, war Maccallion auf den Beinen und rannte gegen ihn an. Er duckte sich. Sein Kopf traf Hasards Magengegend.

Hasard stolperte zurück und prallte gegen die Wand. Es gab einen dumpfen Laut. Die Welt um ihn herum drehte sich, rote Schleier wallten vor seinen Augen, und er glaubte, sich übergeben zu müssen. Langsam sank er an der Wand zu Boden, fast an derselben Stelle, an der er den Iren bei seinem Eintreten überrascht hatte.

Maccallion ballte beide Hände, legte sie ineinander und bildete so eine einzige Faust. Er riß sie von unten herauf auf Hasards Kinn zu. Mit diesem vernichtenden Schlag wollte er ihn endgültig fällen.

Aber Hasard hatte den Gegner im Auge behalten. Er reagierte. Plötzlich war da, wo er eben noch halb gelehnt, halb gelegen hatte, nur noch die Wand. Maccallion stockte. Er hielt in der Bewegung inne, aber zum Staunen kam er nicht mehr richtig, weil Hasard ihn frontal attackierte.

Der Seewolf hatte sich durch einen Sprung aus der unmittelbaren Gefahrenzone gebracht, sich abgerollt und federte jetzt hoch und auf den Piraten zu. Die Übelkeit war noch da. Aber die drohende Ohnmacht war gewichen. Er fühlte sich wieder im Vollbesitz seiner Kräfte – Maccallion erhielt eine Kostprobe davon.

Hasards Faust knallte unter seine Kinnlade. Der zweite Hieb raste gegen seine Brust. Der Ire schoß wie vom Katapult geschnellt durch die Kammer, flog über das Pult und blieb vor Hasards Waffenschrank liegen.

Hasard schritt auf ihn zu.

Maccallion richtete sich auf, fuhr herum und griff nach der nächstbesten Waffe, die er erreichen konnte. Den Schrank vermochte er nicht zu öffnen. Aber gleich daneben hingen zwei gekreuzte Säbel an der Wand. Einen davon riß er an sich. Er wandte sich zu Hasard um, hob die Klinge und stieß eine lästerliche Verwünschung aus.

Hasard zog den Degen.

„Gib auf, Maccallion“, sagte er. „Noch hast du eine Chance, am Leben zu bleiben. Ich verspreche dir, dich zu schonen.“

Der Ire warf den Kopf zurück und lachte wild. „Eine Chance? Du bist aber gar nicht von dir eingenommen. Du Bastard, du glaubst doch wohl nicht im Ernst, mich besiegen zu können!“

„Haß blendet, Maccallion.“

„Schweig!“ Mit diesem Ruf schwang der Ire den Säbel, ein schweres Modell mit goldenem Handkorb, durch die Luft, als gelte es, etwas zu zerhacken. In wilder Parade stürmte er auf den Todfeind ein.

Aber Hasard verlor die Beherrschung nicht. Eiskalt berechnete er seine Möglichkeiten. Er tat zunächst so, als sei er von Maccallions Ausfall beeindruckt. Er wich zurück, aber nicht bis zur Tür. Weit vorher bremste er ab und ließ den Iren ganz aufrücken. Er hielt seinen Stand, fintierte, und Maccallion ging darauf ein.

Hasard brauchte nur zur Seite zu weichen, um dem scheinbar vernichtenden Klingenhieb zu entgehen. Während der Säbel wirkungslos die Luft zerschnitt, führte er die Degenspitze ruckartig auf die Waffenhand des Gegners zu.

Es gab einen ratschenden Laut. Maccallion schrie auf. Seine rechte, waffenführende Hand war von einem blutigen Mal gezeichnet. Das Blut schoß heraus, die Hand war nicht mehr zu gebrauchen.

Noch einmal sagte Hasard: „Gib auf, Maccallion. Streich die Flagge.“

Schritte trappelten heran. Die Seewölfe auf Deck waren durch den Kampflärm und die Rufe des Iren alarmiert worden und rückten an.

Maccallion brüllte wieder einen Fluch. Sein Säbel wechselte gedankenschnell von der rechten in die linke Hand über. Er streckte den Arm vor, schrie: „Tod allen englischen Bastarden!“ und rannte genau auf den Seewolf zu.

Hasard zuckte dieses Mal nicht zur Seite weg. Er nahm den Angriff direkt an. Sein Degen knallte gegen den Säbel und drückte ihn nach rechts. Hart rieben die Metalle aneinander, der Degen drohte zu brechen. Hasard ließ trotzdem nicht lokker. Er preßte den wutschnaubenden Maccallion zur Seite und von sich fort. Mit einem Geräusch, als würde eine Sense geschliffen, lösten sich die beiden Waffen voneinander.

Die Tür flog auf. Ben Brighton und Ferris Tucker erschienen als erste in der Kammer, hinter ihnen drängten sich die anderen.

„Stehenbleiben!“ rief Hasard. „Keinen Schritt weiter!“

Sie verharrten. Maccallion glaubte, sein großer Augenblick sei gekommen. Er wähnte Hasard unachtsam. Wieder warf er sich vor und raste auf seinen verhaßten Widersacher zu.

Hasard schlug mit dem Degen zu, quer von rechts nach links. Maccallions Säbel ruckte aus der Stoßrichtung und huschte haarscharf an Hasards Knie vorbei. Der Ire lief auf, wollte den Säbel wieder hochschwingen, aber diesmal war der Seewolf schneller.

Er hatte seinen Degen wieder an sich gerissen und stach zu. Erbarmungslos. Maccallion hatte den Kampf bis zur letzten Konsequenz gefordert. Seine Chancen hatte er selbst verspielt.

Er wankte zurück. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er ruderte etwas mit den Armen, dann sank er hintenüber und streckte sich neben Hasards umgekippten Pult auf dem Boden aus. Ein letzter, gehauchter Laut drang über seine Lippen. Dann lag er reglos. Der Degen ragte aus seiner Brust auf. Den Säbel mit dem goldenen Handkorb hielt er auch im Moment des Todes noch fest in der Linken.

„Kutscher“, sagte Hasard.

Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, drängelte sich durch. Er kniete neben Maccallion nieder, untersuchte ihn kurz und stellte lakonisch fest: „Aus.“

„Schafft ihn auf Oberdeck“, befahl Hasard. „Wir befördern ihn zu den Fischen.“ Er schritt auf den Gang hinaus.

„Verdammt und zugenäht“, sagte Ben Brighton. „Wie konnte dieser Kerl auf unser Schiff gelangen? Wer ist das überhaupt?“

Hasard erklärte es ihm und fügte abschließend hinzu: „Die Deckswachen kann ich dafür nicht zur Verantwortung ziehen. In dem allgemeinen Durcheinander beim Aufbruch aus der Bucht konnte Maccallion sich mühelos anschleichen. Außerdem rechnete keiner damit, daß einer der Piraten auf der Insel geblieben war. Nicht einmal ich.“

„Deck!“

Der Ruf ertönte plötzlich von hoch oben – aus dem Hauptmars der Galeone. Dan O’Flynn hatte ihn ausgestoßen. Die Sorge um die verschleppte Severa setzte ihm schwer zu, aber er vergaß darüber nicht seine Pflichten.

„Deck! Karavelle Steuerbord achteraus! Das muß eins von O’Lears Schiffen sein!“

Hasard stürmte los.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 92

Подняться наверх