Читать книгу Seewölfe Paket 29 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 46
3.
ОглавлениеDer fischige Hassan – von den Junioren so wegen seiner kalten Fischaugen genannt – schlich sich von hinten an und blieb hinter Hasard stehen.
Philip stand rechts von seinem Bruder. Als er aus dem linken Augenwinkel sah, daß Hassans rechte Hand im Gewand Hasards verschwand, fuhr er wie der Blitz um einhundertachtzig Grad nach rechts herum, den rechten Arm in Gesichtshöhe angewinkelt, die Hand straff ausgestreckt.
Aus der Bewegung heraus landete er einen kurzen Handkantenschlag am Hals Hassans. Der schnaufte kurz, verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
Noch bevor er ganz zu Boden ging, unterfingen sie ihn geschickt links und rechts und marschierten mit ihm ab. Er hing in ihrer Mitte wie ein Betrunkener, dessen Füße nicht mehr so recht wollen. Es fiel überhaupt nicht auf. Ein paar Leute, die sie passierten, grinsten verständnisinnig.
Einer sagte auf türkisch: „Total besoffen, was?“
„Bis unter die Haare“, erwiderte Philip in derselben Sprache, die sie von kleinauf gelernt hatten und genausogut beherrschten wie die arabische und englische Sprache – nicht zu vergessen die spanische. Sie hatten immer gut gelernt, diese beiden Killigrew-Söhne. Sie hatten lernen wollen, das war’s.
Auch den Nahkampf hatten sie gelernt, jenen mit Fäusten und Handkanten – samt der Schläge auf gewisse empfindliche Körperteile, die zu zeitweiligen Bewußtseinsstörungen oder Lähmungen führen. In der Kunst der Selbstverteidigung war Dan O’Flynn ihr Lehrmeister gewesen, der wiederum bei den Mönchen auf Formosa der beste Schüler gewesen war.
Oh, was hatten sie alles in ihren siebzehn Lebensjahren gelernt! Ja, sicher, auch die Taschenspielerkünste eines Kaliban, aber genauso – und das viel eifriger – die Seemannschaft von der Pike auf, den Umgang mit den Waffen, die Kunst, auf gefährliche Situationen richtig und schnell zu reagieren.
Sie waren jung – und doch schon mit allen Wassern gewaschen.
Im Handumdrehen verfrachteten sie den fischigen Hassan ohne viel Aufsehen hinter ein verfallenes Gemäuer am Hafen. Dort empfing dieser Mensch, der sich nicht scheute, einen alten blinden Mann zu bestehlen, noch eine kräftige Kopfnuß, die dafür garantierte, daß er noch für längere Zeit im Land der Träume verweilen würde.
Als dann förderten sie zutage, was dieser Hundesohn alles an diesem Tage bereits vereinnahmt hatte. Es war in einem ledernen Sack versammelt, den der Fischäugige unter seinem Gewand vorm Bauch verzurrt hatte.
Er mußte schon tagsüber bei den Basaren gewildert haben, denn außer den Münzen befanden sich unter dem Diebesgut Ketten, Ringe, Broschen und sogar zwei Diamanten nicht unbeträchtlicher Größe sowie einige Edelsteine. Vielleicht stammte der Rubin im Bauchnabel der Fatima sogar aus einem dieser Raubzüge.
Vom rechten Bein des Fischäugigen schnallten die Junioren mit grimmiger Miene eine Lederscheide mit einem Stilett ab. Und unter der linken Achsel am linken Unterarm fanden sie ein Wurfmesser, das wie das Stilett in einer Lederscheide steckte und mit Lederriemchen am Oberarm festgebunden war.
„Mann-Mann“, murmelte Hasard, „das ist doch nicht zu fassen.“ Er starrte auf den Ledersack und die beiden Scheiden mit den Messern. „Was sollen wir mit dem Zeug, verdammt noch mal?“
„Vereinnahmen“, sagte Philip lakonisch, „das heißt, dem Blinden packen wir davon einiges in den Fez.“ Er richtete sich auf und spähte über das Gemäuer. „Bis jetzt hat keiner was gemerkt“, sagte er über die Schulter. „Ah, Fatima hat mit ihrem Bauchgewackel aufgehört, Kiki kassiert jetzt … He! Was soll das denn? Schau dir das an, Hasard!“
Hasard glitt hoch und neben den Bruder. Und da sah er es.
Es war eine Wiederholung dessen, was Mac und Old Donegal berichtet hatten.
Kiki beschimpfte einen Mann, der verdattert dastand und seine Taschen umkrempelte. Und Baobab, der Riesengorilla, walzte heran und baute sich vor dem Mann auf. Der schüttelte den Kopf und beteuerte offenbar, er wolle ja gerne zahlen, und er habe auch Geld bei sich gehabt, aber das sei verschwunden, wie aus seinen leeren Taschen hervorgehe.
Hasard und Philip konnten zwar aus der Entfernung zu dem Mann nicht verstehen, was er genau sagte, aber aus seinen Gesten war deutlich zu erkennen, was er meinte.
Und was tat der Riesengorilla?
Der langte sich den Mann, klopfte ihn durch – aber wie! – und warf ihn mal eben so durch die Gegend. Was er dabei brüllte, war nun wiederum bis zu den beiden Junioren deutlich zu verstehen, Baobab hatte eine sehr laute Stimme.
Er brüllte: „Faule Ausrede! Hier wird nicht gestohlen! Dafür passen wir auf. Aber du willst Fatima beglotzen und dich dann davor drücken, dafür zu bezahlen!“
Erstaunliches passierte.
Eingeschüchtert von dieser Gewaltdemonstration, beeilten sich die Schaulustigen, schleunigst ihren Obolus an den grinsenden Liliputaner zu entrichten. Auch Batula, der Tamburintrommler, war am Einsammeln. Und von nun an wurde von den Gauklern großzügig übersehen, daß sich einige davon stahlen, nämlich jene, die inzwischen festgestellt hatten, daß auch ihre Taschen leer waren.
Bei den Gauklern – so man sie als solche überhaupt noch bezeichnen konnte – rollte der Rubel, wie man in Rußland zu sagen pflegt. Hier waren es Piasterchen, Altiliks, Beschliks und Paras.
Es klingelte Münzen – und das für eine Darbietung, die aus nichts weiter als ein bißchen Bauchwackeln bestand. Früher hatte Fatima Schleiertänze aufgeführt und war am Schluß bar aller Hüllen von der Bühne gehüpft, allerdings mit dem Rücken zum Publikum. Sie hatte nur ihren Popo gezeigt. Die Zeiten waren vorbei.
Kalibans Gauklertruppe hatte sich in eine Gilde von Langfingern verwandelt.
Hasard und Philip waren erbost, und die Galle stieg ihnen hoch. Sie durchschauten das üble Spiel, das hier betrieben wurde. Früher zu ihrer Zeit wurde dem Publikum immerhin etwas geboten. Kaliban hatte ein buntes Programm aufgebaut, und jedes Mitglied der Truppe war mit seiner Darbietung sehenswert gewesen. Man hatte ehrliche Arbeit geleistet, auch wenn zum Beispiel Kalibans Zauberkunststückchen aus faulen Tricks bestanden. Aber die mußte man ja erst einmal erfinden, entwickeln und immer wieder üben bis hin zum verblüffenden Effekt.
Doch, das war harte Arbeit gewesen, Knochenarbeit, aber ehrliche Arbeit. Aber was Kaliban und seine Leute hier betrieben, war schamlos. Sie sahnten doppelt ab, einmal mit Taschendiebstahl und zum anderen mit ihrer Gewaltmethode, für Fatimas billigen Bauchtanz Geld zu kassieren.
Ja, das hatte Methode: sobald ein Bestohlener sozusagen als Zechpreller „entlarvt“ war wurde er von Baobab oder Mehmed Bulba zusammengedroschen, was bewirkte, daß die anderen Zuschauer fleißig zahlten.
Und es stand fest, daß Baobab und Mehmed Bulba sehr genau beobachtet hatten, welche Zuschauer vom „König der Taschendiebe“, dem Obergauner Kaliban, bestohlen worden waren. Sie brauchten sich dann nur einen vorzunehmen, um ihn durchzumangeln. Und schon klingelten die Talerchen.
Dieses miese Spiel war auch mit Mac Pellew und Old Donegal geplant gewesen, aber die hatten wenigstens schnell und hart reagiert und waren dann abgesaust.
Klar auch, daß sich diese Langfinger – insbesondere Kaliban – Leute aussuchten, die von Aussehen und Kleidung her als Fremde zu erkennen waren, als ungläubige Christenhunde. Wenn die als Schwarzgucker entlarvt worden waren, dann konnte geschickt die Volkswut aufgestachelt und somit nutzbar gemacht werden. Nicht auszudenken, was mit Old Donegal und Mac passiert wäre, wenn sie nicht sofort hart und schnell reagiert hätten.
„Sie sind zu miesen Beutelschneidern geworden“, sagte Philip erbittert. „Hättest du das für möglich gehalten?“
„Wir haben damals auch schon klauen müssen“, erwiderte Hasard, „vergiß das nicht.“
„Das schon, aber doch nicht in einem solchen Ausmaß. Die betreiben das ja richtig mit System.“
Hasard lächelte hart. „Sie brauchen nicht mehr hart zu arbeiten. Das Klauen, wenn man es einmal beherrscht, ist bequemer, leichter und schneller. Denk mal daran, was wir haben trainieren und üben müssen, bis wir auftreten konnten. Und dann noch tägliche Übungsstunden vor der abendlichen Vorstellung! Was haben wir uns abgerackert!“
Philip nickte. „Kann man wohl sagen.“
Hasard drehte sich zu dem fischigen Hassan um. „Sag mal, ob er dich erkannt hat?“
Philip schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Es ging zu schnell für ihn. Außerdem hatte ich den Ellbogen vorm Gesicht, bevor ich zuschlug.“ Jetzt grinste er. „Inzwischen sind wir ja auch ein bißchen größer geworden und haben uns verändert. War gut, daß wir uns kostümiert haben. Hassan und die anderen Kerle haben uns zehn Jahre lang nicht gesehen und nicht die geringste Ahnung, wo wir abgeblieben sind. Um uns hier zu vermuten, müßten sie Hellseher sein – und die gibt’s nicht.“
„Laß das nicht Granddad hören“, sagte Hasard und grinste ebenfalls. Er spähte wieder über die Bruchmauer. „Sie legen ’ne Pause ein und hocken sich um ein Holzkohlenfeuerchen. Könnte sein, daß sie diesen Bastard hier vermissen. Am besten, wir verdrücken uns und beobachten weiter. Was meinst du?“
„Ich würde gern tätig werden“, erwiderte Philip.
Hasard blickte seinen Bruder aufmerksam an. „Du hast was auf der Pfanne, eh?“
„Richtig.“ Philips Stimme klang ziemlich grimmig. „Ich finde, wir sollten den Spieß umdrehen.“
Bruder Hasard schaltete nicht so rasch wie sonst und runzelte die Stirn. „Was für’n Spieß soll umgedreht werden?“
„Mann! Wir klauen auch, aber bei Kaliban, Achmed Ali und Muzaffer. Was die bei den Zuschauern einsacken, fischen wir ihnen wieder aus den Taschen – Langfinger, die ihrerseits beklaut werden, verstehst du? Was meinst du, was bei denen los ist, wenn sie feststellen, daß ihre eigenen Taschen leer sind?“
Hasards überraschte Miene wechselte zum entzückten Grinsen.
„Das ist ein Ding!“ stieß er hervor. „Genial, Brüderchen! Jawohl, das tun wir, genau das! Wir beklauen die Langfinger. Aber halt! Die merken doch vom Gewicht her, daß ihre Taschen wieder leer sind – oder der Sack, den Hassan vorm Bauch hatte. Ich schätze, auch die drei anderen sind so ausgerüstet.“
„Merken sie nicht“, entgegnete Philip grinsend, „weil wir ihnen im Gegenzug Kieselsteinchen hineinpacken werden, um das fehlende Gewicht auszugleichen. Klar?“
„Ich merke schon, du hast heute deinen hellen Tag“, unkte Bruder Hasard. „Dann laß uns jetzt erst einmal Steinchen sammeln.“
Der Ledersack Hassans wie dessen Messer verschwanden unter ihren Gewändern. Dann huschten sie aus dem Gemäuer und wandten sich einem Strandstreifen nördlich des Anlegers zu, wo Kiesel in Mengen herumlagen. Inzwischen hatte die Abenddämmerung eingesetzt.
Der fischige Hassan weilte noch im Traumland – jenseits von Gut und Böse.
Und wieder tanzte Fatima.
Abgesehen von Batulas Tamtam und Kikis Gezupfe war sie die einzige aus der Truppe, die Schweiß vergoß und wie in früheren Zeiten noch etwas darbot, auch wenn es dazu diente, die Aufmerksamkeit des Mannsvolkes so weit zu fesseln, daß die Langfinger ans Werk gehen konnten. Baobab und Mehmed Bulba hatten den faulsten Job. Daß sie irgend so einen Unglücksraben verprügelten, konnte ja wohl schlecht als Arbeit bezeichnet werden.
In Stangenkörben am Anleger und entlang des Kais brannten Pechfackeln und beleuchteten die Szenerie auf der Plattform. Zweifellos war Fatimas Tanz bei diesen Lichtverhältnissen effektvoller und aufregender als bei Tageslicht, bei dem man doch recht deutlich sah, daß die Blume von Istanbul ihren Frühling längst hinter sich hatte. Verwelkt war sie noch nicht, aber ihre Spätsommerzeit hatte begonnen.
Immerhin hatte sie genug Routine, um das zur Geltung zu bringen, was Männeraugen gern zu sehen wünschten. Im Licht der Fackeln funkelte und gleißte der Rubin, er kreiste und wippte im schnellen Takt, und es war doch ein Wunder, daß er bei all der Wackelei nicht auf und davon hüpfte.
Der blinde alte Mann saß noch am selben Platz und lauschte dem Tamtam und den Zupfklängen. Er war zutiefst verwundert, und Allah mochte wissen, wie es hatte geschehen können, daß die Münzen aus seinem Fez verschwunden gewesen, jedoch in dreifacher Menge zurückgekehrt waren. So viele Münzen hatte er noch nie in seinem Fez gehabt.
O Allah, ich danke dir, dachte der alte Mann.
Eine halbe Stunde später liefen Tränen aus den Augen des blinden Mannes, denn Allah hatte ihn wieder verlassen. Nichts mehr war in dem Fez, gar nichts mehr, nicht eine einzige Münze. Allah trieb Schindluder mit dem blinden alten Mann.
Kaliban hatte den Fez geleert, der hartherzige Kaliban mit seinen schnellen und geschickten Spinnenfingern. Er grinste sogar, dieser Zickenbart, denn in der Gilde der Taschendiebe ging der Spruch um, man solle die Finger von Blinden lassen – nicht, weil sie die Ärmsten der Armen waren, o nein! Aber man sagte von ihnen, daß sie nicht zu übertölpeln seien.
Ha! Er, Kaliban, war eben der Größte! Der König!
Und was der Alte alles in seinem Fez hatte, viel zuviel für diesen Tagedieb!
Ja, Kaliban war herzlos. Und habgierig. Früher hatte er wie ein Habicht ausgesehen, jetzt war sein Gesicht zu einer Geiervisage geworden. Es war immer ein listiges Gesicht gewesen, wie es Schlitzohren eigen ist und nicht unbedingt unsympathisch sein muß.
Doch das war Vergangenheit. Kaliban fledderte, und das stand in seiner Geiervisage. Es hatte sich dort eingegraben, in den Mundwinkeln nistete es, die hämisch verzogen waren, in den flinken, kalten Augen war es ablesbar, die herumtasteten, abschätzten, lauerten.
Nur eins bemerkten diese beschäftigten Augen nicht – den Schatten.
Dieser Schatten verfolgte den Zickenbart auf Schritt und Tritt, auf lautlosen Sohlen und geschmeidig wie eine Raubkatze. Und sie raubte auch, diese Katze, denn sie hatte alles von eben diesem Mann gelernt, den sie so beharrlich verfolgte. Sie kannte alle Schliche und Kniffe und jeden Handgriff beim Wildern in fremden Taschen.
Denkt ein Taschendieb daran, daß er beim Stehlen selbst bestohlen wird? Wohl kaum. Vielmehr konzentriert er sich auf sein Opfer – und ist abgelenkt. Das ist seine Schwachstelle.
Die Raubkatze wußte das. Es fiel ihr leicht, den Zickenbart auszunehmen und den Ledersack, den auch er vor dem Bauch trug, mit Kieselsteinchen aufzufüllen.
Der blinde alte Mann brauchte nicht mehr zu weinen. Und Allah war groß und weise und gütig. Denn der Fez war wieder voll, fast bis zum Rand. Es geschahen Zeichen und Wunder. Ja, so voll war der Fez in all den vielen Jahren noch nie gewesen. Richtig schwer war er.
Als der kleine Jussuf erschien, um den Großvater heimzuführen, weinte der alte Mann wieder, aber es waren Tränen des Glücks.
„Schau, was mir Allah heute geschenkt hat“, sagte der alte Mann und hielt dem kleinen Jussuf mit zitternden Händen den Fez entgegen. „Deine Mutter wird sich freuen, und wir werden morgen einen Lammbraten essen können.“
„Oh!“ staunte der kleine Jussuf, nahm vorsichtig den Fez entgegen und leerte ihn in einen Beutel, den er sich um den dünnen Hals hängte. „Soviel Geld habe ich noch nie gesehen, Großvater. Es sind sogar Goldmünzen dabei!“
„Goldmünzen“, flüsterte der blinde alte Mann, „o Allah, Goldmünzen! Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll …“
„Gib den Beutel her, du Lümmel!“ ertönte eine harte Stimme. „Hast du geklaut, was?“
„Nein, Herr“, stammelte der kleine Jussuf und schaute zu dem Mann hoch, der fordernd die Hand ausstreckte. Er wußte nicht, daß dieser Mann mit dem Schnauzbart Muzaffer hieß und vor vielen Jahren einmal ein geschickter Jongleur gewesen war.
„Mein kleiner Jussuf stiehlt nicht“, sagte der blinde alte Mann empört. „Wer bist du?“
„Halt’s Maul, du alte Krücke“, sagte Muzaffer kalt. „Oder soll ich dir den Hals umdrehen?“
Mehr konnte er nicht sagen. Etwas krachte ihm ins Genick, und er versammelte sich auf dem Kopfsteinpflaster.
Der Turbanmann hinter ihm hatte eine junge Stimme, und er sagte: „Geht heim, ihr beiden, schnell! Und es ist besser für den alten Mann, wenn er morgen und später nicht mehr hierher zurückkehrt. Ich werde nicht immer eingreifen können.“ Und er half dem alten Mann hoch.
„Allah sei mit dir“, sagte der alte Mann, faßte nach der Hand Jussufs und ließ sich von ihm fortführen.
Philip Killigrew bückte sich, packte zu und warf sich Muzaffer mit einem kräftigen Schwung über die rechte Schulter. Minuten später deponierte er ihn in einem leeren Schuppen am Hafen, betäubte ihn noch einmal und durchsuchte ihn, obwohl er wußte, daß sich in Muzaffers Ledersack nur Kieselsteinchen befanden, denn er, Philip, war der unsichtbare Schatten des Jongleurs gewesen. Und was Muzaffer geräubert hatte, befand sich in Philips Taschen.
Nein, es ging ihm um die Waffen, die von diesen Kerlen herumgeschleppt wurden. Sie deuteten auf Schlimmeres hin als die Langfingerei. War aus Kalibans Gauklertruppe eine Bande von Messerstechern geworden, die neben dem Taschendiebstahl auch Raubmord betrieb? Hier im Hafengebiet von Istanbul?
Möglich war alles, und es schauderte Philip bei diesem Gedanken.
Er und Hasard waren im Grunde in der Gauklertruppe kujoniert und ausgenutzt worden, aber sie hatten bei ihr gelebt, waren mit ihr herumgezogen, und es gab auch Bindungen.
Fatima zum Beispiel war nie böse zu ihnen gewesen. Und ausgerechnet Baobab und Mehmed Bulba, diese Muskelriesen, hatten sich nie an ihnen vergriffen. Ja, Baobab hatte dem fischigen Hassan sogar einmal ein Ding gescheuert, daß der noch Tage später mit einem schiefen Kopf herumlief. Hassan hatte sie beide auspeitschen wollen, und Baobab war dazwischengetreten.
„Verdammt!“ murmelte Philip, denn er förderte bei Muzaffer gleich zwei Stiletts und ein Wurfmesser zutage.
Ein Schatten huschte in den Schuppen, und sofort hatte Philip eins der Stilette in der Hand und duckte sich. Aber es war das Bruderherz, und Philip stieß zischend die Luft aus.
„Mann, hast du mich erschreckt!“ knurrte er.
Hasard grinste. „Kann man das überhaupt?“
„Und ob man das kann! Mir wird’s sowieso ziemlich mulmig. Dieser Schweinehund hatte gleich zwei Stiletts und ein Wurfmesser bei sich – bißchen viel für einen lausigen Beutelschneider, findest du nicht?“
„Ich habe die Szene bei dem Blinden beobachtet“, sagte Hasard. „Dem hatte ich den Fez gefüllt mit dem, was Kaliban bereits geklaut hatte. Muzaffer forderte von dem kleinen Jungen das Geld, nicht wahr?“
„Ja, und dem Blinden drohte er, ihm den Hals umzudrehen“, erwiderte Philip. „Da habe ich ihm die Handkante ins Genick gedroschen.“
„Recht so. Aber um deine Frage zu beantworten: Wenn sie einen alten und blinden Mann bestehlen und bedrohen und ein Arsenal von Stichwaffen mit sich herumschleppen, dann spricht das dafür, daß sie auch noch härter vorgehen. Da ist die Langfingerei sogar das kleinere Übel, wie ich das sehe.“
„Sehe ich genauso. Fragt sich noch, was unser Messerwerfer Achmed Ali alles bei sich hat. Du hast Kaliban ausgenommen?“
Hasard nickte. „Total. Sein Ledersack ist voller Kieselsteinchen, da geht nichts mehr rein. Als er das selbst gemerkt hat, ist er erst mal zu der Bude mit den Weinen gegangen und hat sich gestärkt. Und dann hat er sich zu Baobab und Bulba gesellt und ihnen zugeflüstert, für ihn sei Feierabend. Soviel wie diesmal habe er noch nie eingesackt.“
„Tanzt Fatima noch?“
„Ja.“
„Dann sollten wir uns noch Achmed Ali vornehmen, Bruderherz“, sagte Philip.
„Einverstanden, wenn der nicht auch schon Feierabend hat“, meinte Hasard.
Hatte er nicht. Achmed Ali, der frühere Messerwerfer der Truppe, war noch am schmutzigen Werk. Trotz seiner flinken Hände beim Werfen war er als Taschendieb allenfalls Lehrlingsklasse. Er brauchte lange, bis er die Hand in der fremden Tasche hatte, und noch länger, um sie wieder herauszuziehen. Da konnte man Schweißausbrüche und das große Zittern kriegen, wenn man ihm zuschaute.
Achmed Ali selbst verriet Nervosität beim Klauen. Dem fehlte schlichtweg die kühle Gelassenheit, die ein Langfinger zum Erfolg braucht. Er war zögerlich und hatte keinen Biß, der Gute.
Hasard und Philip räumten ihn abwechselnd aus und mit Kieselsteinchen ein. Viel war’s nicht, geradezu läppisch.
Und dann genossen sie, wie der fischige Hassan herantorkelte und dem großen Zauberer verklarte, er sei überfallen worden.
Kaliban brach diesen Abend ab, ohne noch Baobab und Mehmed Bulba in Aktion treten zu lassen. Kein Schwarzgucker wurde entlarvt. Mochte sein, daß er diesen Dreh nur einmal am Tage ausprobierte. Vielleicht dachte er aber auch, dieses Mal satt in die Vollen gegriffen zu haben. Oder es verwirrte ihn, daß Hassan überfallen worden war.
Als sich die Zuschauer verliefen, wartete die Truppe auf Muzaffer. Hasard und Philip standen hinter einer Bude und beobachteten.
„Der muß doch irgendwo sein!“ schimpfte Kaliban und blickte sich wütend um. „Wer hat ihn zuletzt gesehen?“
Allgemeines Schulterzucken. Keiner hatte ihn „zuletzt“ gesehen.
„Vielleicht ist er auch überfallen worden. Oh – mein Kopf!“ jammerte Hassan.
„Quatsch!“ fuhr ihn Kaliban an. „Wo bist du überhaupt überfallen worden, he? Etwa hier auf dem Platz?“
„N-nein, in einer Gasse“, log der fischige Hassan, „gleich vier Kerle sind über mich hergefallen und haben mich niedergeschlagen.“
„Verdammt, ich habe euch hundertmal gesagt, nicht in die Gassen zu gehen – und niemals allein!“ schnauzte Kaliban. „Was hattest du in der Gasse zu suchen?“
„Ich mußte mal.“
„Idiot!“
Hasard und Philip waren am Grinsen. Hassan, der fischige Bastard, wollte offenbar nicht eingestehen, daß er beim Klauen erwischt worden war.
„Ich will jetzt wissen, wo Muzaffer steckt!“ fauchte Kaliban und stampfte mit dem Fuß auf. Richtig krötig wurde er. „Los, sucht ihn!“
Bis auf Fatima zogen sie widerwillig los. Kaliban selbst hielt sich natürlich vornehm zurück und wärmte sich die Spinnenfinger über dem verglimmenden Holzkohlefeuer. Jetzt war Fatima dran.
„Dein Bauchtanz wird auch immer schlechter“, motzte Kaliban.
„Ach ja?“ Sie gähnte ungeniert. „Dann tanz du doch, Alterchen!“
„Werd’ nicht frech, du alte Schlampe!“
Sie funkelte ihn an und wollte etwas erwidern, aber da marschierte Mehmed Bulba an. Über seiner Schulter hing Muzaffer wie ein nasser Sack. Die anderen folgten ihm.
„Lag betäubt in einem Schuppen“, sagte Mehmed Bulba.
„Besoffen?“
„Weiß ich nicht.“
Kaliban befahl Abmarsch. Die Truppe zog am Kai entlang nordwärts. In knapper Sichtweite folgten Hasard und Philip.