Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 437 - Roy Palmer - Страница 6
1.
ОглавлениеAls Luis Carrero das Bewußtsein wiedererlangte, hatte er sofort wieder die gräßliche Szene vor Augen. Saugarme schlangen sich um seinen Körper, ein grausiges Monstrum packte und würgte ihn. Aus den Tiefen der See stieg es empor, kroch an Bord der Karavelle und tötete und zerfetzte alles, was in seine Reichweite gelangte.
Nie zuvor hatte Carrero, der sich für einen starken und mutigen Mann gehalten hatte, etwas Schrecklicheres erlebt – und nie zuvor hatte er den Tod so unmittelbar und deutlich vor Augen gehabt.
„Nein!“ Sein Schrei gellte durch das Schiff.
Er versuchte, sich loszureißen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Das Ungeheuer entließ ihn nicht mehr aus seiner mörderischen Umklammerung, er war verloren. Schon öffnete sich das scheußliche Schnabelmaul, und er glaubte das Schmatzen zu vernehmen, mit dem sich die Kiefer mahlend bewegten. Gleichzeitig betäubte ihn ein infernalischer Gestank.
„Nein!“ Wieder ertönte der verzweifelte Schrei.
„Verdammt noch mal, jetzt hab’ ich aber die Schnauze voll!“ drang eine dumpfe Stimme an Carreros Ohr – offenbar aus den Tiefen der Finsternis.
Carrero verstummte und hob lauschend den Kopf. Er verspürte starke, hämmernde Schmerzen, aber er bemerkte jetzt, daß es nicht die Bestie war, die ihn gefangenhielt. Er war gefesselt, an Händen und Füßen. Da fiel ihm alles wieder ein.
Er schlug die Augen auf und blickte sich in seinem Gefängnis um. Das finstere, übelriechende Loch, in dem das Bilgenwasser unter der Gräting schwappte – der Vorhof zur Hölle –, war sein Aufenthaltsort geworden. Hier würde er auch die nächsten Tage verbringen, vielleicht Wochen. Alles war möglich, und der Feind, der ihn als Geisel genommen hatte, war unberechenbar.
Wer aber war der Sprecher gewesen? Carreros Atem ging heftig und unregelmäßig. Welche neuen, entsetzlichen Dinge erwarteten ihn an Bord dieses Höllenschiffes?
Eine Faust hieb gegen das solide Schott der Vorpiek. „He! Halt gefälligst das Maul, Carrero! Du hast schon genug geheult, verstanden?“
„Was ist los?“ fragte Carrero verwirrt. Der andere hatte englisch gesprochen, und Englisch verstand er nicht, kein Wort.
„Los ist alles, was nicht angebunden ist“, sagte Matt Davies an der anderen Seite des Schotts, diesmal auf Spanisch. Er hatte den zweiten morgendlichen Wachtörn übernommen, aber er verspürte nicht die geringste Lust, sich von dem Spanier die Ohren vollschreien zu lassen. „Du zum Beispiel bist nicht los“, fuhr er fort. „Weil du angekettet bist.“
„Ich will raus hier“, sagte Carrero keuchend.
„Diesem Wunsch, Señor, können wir leider nicht entsprechen“, sagte Matt Davies.
„Ich möchte an Deck!“
„Zu welchem Zweck?“
„Zum Füßevertreten.“
„Ist vorläufig nicht drin“, sagte Matt gelassen. „Du stiftest zuviel Unruhe, Amigo. Und unser Profos hat keine Lust, dir dauernd was aufs Maul zu hauen. Das wird ja langsam langweilig.“
„Ich will den Capitán sprechen!“
„Der Capitán will dich aber nicht sprechen“, sagte Matt. „Und jetzt bitte Ruhe in der Piek, oder ich hole doch den Profos.“
Carrero verstummte. Die Schmerzen in seinem Kinn und in seinem ganzen Schädel erinnerten ihn wieder an die Handschrift dieses Kerls. Er fürchtete Carberry noch mehr als den schwarzhaarigen Teufel, der diese Mannschaft von Höllenbraten befehligte, und das wollte etwas heißen.
Er versuchte, sich zu beruhigen, und atmete wieder etwas langsamer. Was war eigentlich los mit ihm, daß er sich derart aus der Fassung bringen ließ? Hatte er den Verstand verloren? Nein, das auf keinen Fall. Er war nur verwirrt und schockiert – über all das, was sich bisher zugetragen hatte.
Er war von Potosi aus aufgebrochen, um eine „glorreiche Expedition“ durchzuführen – und nun dies. Sein Sargento war tot, von einer Drehbassenkugel getroffen. Die neunundzwanzig Soldaten, die zu seinem Kommando gehört hatten, Vasquez und die Besatzung der „Santa Teresa“ waren ausgesetzt worden, ebenso die sechs Bluthunde, die er bei sich gehabt hatte, um Indios zu jagen.
Keine Jagd mehr, keine ausschweifenden Orgien mit den „Indianerhuren“ in der Kapitänskammer der „Santa Teresa“. Das alles konnte er vergessen. Mit einem Trick hatte ihn dieser vermeintliche „Don Esteban de Castellano“ an Bord der „Estrella de Málaga“ gelockt, hatte ihn ausgehorcht und dann festgenommen.
Inzwischen wußte Carrero, was dieser schwarzhaarige Bastard vorhatte: Er wollte nach Potosi und dort den Cerro Rico, den „reichen Berg“, ausräumen und die spanische Krone um ihr Silber erleichtern.
Carrero hatte versucht, diesen Kerl irrezuführen – mit einer falschen Skizze. Es war ihm nicht gelungen. Sie hatten ihn durchschaut, alle. Zweimal hatten sie ihm angedroht, ihn an der Rah aufzuknüpfen, beim zweitenmal hatten sie es um ein Haar wahrgemacht. So hatte er, Carrero, keine andere Wahl mehr gehabt. Er hatte ihnen alles beichten müssen, was er über Potosi wußte.
Er, der Oberaufseher der Silberminen! Ausgerechnet ihm mußte das passieren! Wenn Don Ramón de Cubillo, der Provinzgouverneur von Potosi, das jemals erfuhr und ihn in seine dicken Finger bekam, hatte er verspielt.
Aber was konnte er noch unternehmen, um sich mit eigener Kraft aus seiner hoffnungslosen Lage zu befreien? Nichts – er war ihnen ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Er hatte es versucht, Araua an sich zu reißen und als Geisel zu benutzen, aber auch das war mißglückt.
Überhaupt, Glück und Pech standen im krassen Mißverhältnis zueinander. Er hatte sich als Held und Sieger gefühlt, als er mit der „Santa Teresa“ Arica verlassen und die Küste nordwärts nach Indios abgeforscht hatte.
Immerhin hatte er auch schon an die zweihundert zukünftige Sklaven für Potosi in den Laderaum pferchen lassen. Dann aber war dieser schwarzhaarige Hundesohn aufgetaucht, der ihm mit seiner „Estrella de Málaga“ und der „San Lorenzo“ etwas vorgegaukelt hatte.
Carrero hätte sich selbst ohrfeigen können. Warum hatte er die Falle nicht rechtzeitig genug durchschaut? Vielleicht war er durch die „Hundegeschichte“ abgelenkt gewesen. Der Korsar – der Teufel sollte ihn holen – hatte nicht erlauben wollen, daß Philipp, der Bluthundrüde, mit einem Bootsmannsstuhl an Bord der „Estrella“ gehievt wurde. Dort befand sich bereits ein anderer Hund – eine Wolfshündin namens Plymmie.
Später hätte Carrero gern eine Wette abgeschlossen und die Hunde gegeneinander kämpfen lassen, aber auch das hatte der Schwarzhaarige abgelehnt.
Was danach geschehen war, spottete jeder Beschreibung. Sie hatten ihn festgenommen und eingesperrt und die Indios befreit. Später war die „Santa Teresa“ versenkt worden. Basta – und Don Ramón de Cubillo würde vergebens auf die dringend benötigten Sklaven warten.
Am allerschlimmsten aber war die Tatsache, daß diese „englischen Hurensöhne“ ihn, Luis Carrero, den Oberaufseher und Günstling aller Frauen, als Führer von Arica nach Potosi benutzen wollten. Es war so ungeheuerlich, daß Carreros Verstand sich der Tatsache verschloß.
Aber konnte er sich auflehnen? Würde er den heroischen Entschluß fassen, sich lieber töten zu lassen als einzuwilligen? Er wußte schon jetzt, daß er sich beugen würde. Diese Kerle waren zu allem fähig, das hatten sie ihm bereits bewiesen. Und er hatte weniger Widerstandskraft, als er von sich selbst geglaubt hatte.
Sie waren allesamt Satansbraten, von dem Schwarzhaarigen bis hin zu dem Kerl mit der Eisenhakenprothese, der gerade vor dem Vorpiekschott Wache hatte. Sie hatten einen Nigger dabei und das Indianermädchen, und drüben, auf der „San Lorenzo“, schien es auch einige Franzosen zu geben.
Ein kunterbunter Haufen also – und hinzu kam noch das viele Viehzeug, das sie sich hielten. Ein Affe war da, ein Papagei und Hühner, die immer für irgendwelchen Aufruhr zu sorgen schienen.
Carrero war sicher, einer Meute gemeingefährlicher Wahnsinniger in die Hände geraten zu sein. Das fatale war, daß er Angst vor ihnen hatte. Aber durch Heimtücke und List würde er es vielleicht doch noch schaffen, sie hereinzulegen.
Es lohnte sich, darüber nachzudenken. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, schloß die Augen und grübelte herum. Allmählich ließen die Schmerzen wieder nach. Er konnte klar denken. Engländer, sagte er sich im stillen, wir rechnen noch miteinander ab.
Matt Davies, der draußen auf dem Gang vor dem Schott hockte, dachte: Bilde dir bloß nicht ein, daß du uns hinters Licht führen kannst, du Drecksack! Wir passen auf dich auf!
In der Tat: Selten war ein Gefangener besser bewacht worden als dieser Luis Carrero.
„Der Mann ist wie Gift“, hatte der Seewolf gesagt, und damit hatte er nicht im geringsten übertrieben.
Es war ein sonniger und recht warmer Tag, der 19. November 1594. Die „Satansbraten“ und „Galgenstricke“, wie Carrero sie nannte, standen auf den Decks ihrer beiden „Leihschiffe“ und beratschlagten, was als nächstes zu tun sei.
„He!“ sagte Hasard plötzlich und trat an die Schmuckbalustrade des Achterdecks der „Estrella de Málaga“. „Wer hat denn da eben geschrien?“
„Wer wohl“, entgegnete Smoky vom vorderen Bereich der Kuhl. „Carrero natürlich.“
„Aber Matt hat ihm eben wärmstens empfohlen, die Schnauze zu halten, Sir!“ rief Batuti.
„Gut so“, sagte der Seewolf und wandte sich wieder seinen Männern auf dem Achterdeck zu: Ben Brighton, Dan O’Flynn, Big Old Shane, Ferris Tucker und Pater David. Auch Araua war zur Stelle und lauschte, wie die Männer sich unterhielten.
„Es könnte soweit alles ganz gut sein“, sagte Ferris Tucker. „Wenn der verdammte Wind nicht wäre!“
„Und der Perustrom“, sagte Shane. „Den hast du wohl vergessen, was?“
„Es ist mal wieder alles wie verhext“, sagte Dan.
„Hör auf“, sagte Ferris. „Fang damit gar nicht erst an. Von Geistern und Ungeheuern will ich nichts hören, klar?“
„So war das auch nicht gemeint“, erklärte Dan frostig.
„Um so besser“, sagte Hasard und grinste. „Dann vergiß es.“
Der bisherige Südwind hatte gedreht und wehte nun in etwa aus Südosten. Er strich also an der Küste entlang nordwestwärts. Folglich hatten die „Estrella de Málaga“ und die „San Lorenzo“ unter dem Kommando von Jean Ribault den Perustrom und den Wind gegenan – und der Wind war sogar ziemlich „happig“, wie Ben soeben bemerkt hatte.
Sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Kreuzschlag ostwärts über Backbordbug auf die Küste zu. Immer wieder spähte Hasard zum Land. Er hatte Bill, der zur Zeit den Ausguckposten im Großmars versah, auch die Anweisung gegeben, nach einem entsprechenden „Plätzchen“ Ausschau zu halten.
„Nochmals“, sagte Hasard. „Ich bin fest entschlossen, die Culverine auf der ‚San Lorenzo‘ so bald wie möglich zu ersetzen.“
„Wenn der verdammte Krake die Kanone bloß nicht mitgenommen hätte“, sagte Shane. „Aber, ich weiß ja, daran läßt sich nichts mehr ändern.“
„Wobei immer noch die Frage offen bleibt, was das Tierchen mit der schönen Kanone wollte“, sagte Dan grinsend. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Ferris blickte ihn schon wieder drohend an. Deshalb hielt er doch lieber den Mund.
„Also gut“, sagte Ben. „Die Sache mit der Culverine sollte wohl nicht aufgeschoben werden.“
„Die ‚San Lorenzo‘ muß voll einsatzfähig sein“, sagte der Seewolf. „Vielleicht ist es gerade diese Culverine, die ersetzt werden muß, welche das nächste Gefecht entscheidet.“
Shane ließ einen zustimmenden Laut vernehmen, der wie ein Knurren klang. „Eben. Weiß man’s denn?“
„Man hat schon Pferde kotzen sehen, mein Bester“, sagte Dan.
„Walrösser auch“, sagte Ferris.
„Das heißt Walrosse“, berichtigte ihn Dan.
„Du willst dich heute wohl mit mir anlegen, wie?“
„Ganz und gar nicht.“
„Dann halt die Klappe und denk darüber nach, wie wir das mit der Culverine am besten lösen.“
„Indem wir die Küste anlaufen natürlich“, sagte Dan fröhlich, und der rothaarige Riese gab ein resigniertes Stöhnen von sich.
„Was wir brauchen, ist eine geschützte kleine Bucht“, sagte Ben. „Und die werden wir früher oder später schon finden, keine Angst, Gentlemen.“
„Eher später“, sagte Pater David trocken. „Ich fürchte, mit der Umrüstung wird es noch etwas dauern.“
„Ich weiß, was du meinst“, sagte Hasard. „Unser Nachteil ist, daß wir die Küste immer nur auf dem Kreuzschlag zu ihr hin sehen, nicht wahr?“
„Ja, das ist doch ein erheblicher Nachteil.“
„Aber jetzt zum Beispiel kreuzen wir auf die Küste zu“, sagte Ferris. „Und wenn wir alle die Augen ordentlich aufsperren, entdecken wir schon noch eine Bucht, zur Hölle.“
„Ich habe den Eindruck, daß dir eine Laus über die Leber gekrochen ist“, sagte Dan. „Ganz ehrlich. Gib’s zu, Ferris.“
„Ist doch klar“, brummte der rothaarige Riese. „Bisher haben die Schläge über Backbordbug zur Küste nichts erbracht, ganz abgesehen von dieser elenden Kleckerei gegen Wind und Strom.“
„Da kann man schon ungeduldig werden“, pflichtete Shane ihm bei. „Und wir müssen uns dabei leider auch noch nach der ‚San Lorenzo‘ richten, die weniger Höhe als unser Kahn läuft.“
„Das ist aber nicht Jeans Schuld“, sagte Hasard.
„Hab’ ich auch nicht behaupten wollen“, sagte Shane.
„Wenn er Höhe preßt, dann verliert die Galeone Fahrt“, sagte der Seewolf.
„Das ist nun mal die alte Leier“, sagte Dan. „Und weniger Fahrt zu laufen, ist bei dem gegenansetzenden Perustrom gleichbedeutend damit, nahezu auf der Stelle zu stehen.“
„Scheißspiel!“ rief Carberry in diesem Moment auf dem Hauptdeck. „Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen?“
Hasard trat wieder an die Balustrade. „Spanisch sprechen, Ed! Vergiß nicht, wer wir sind!“
„Hier hört uns doch keiner, zum Henker!“
„Manchmal haben auch die einsamsten Klippen Ohren.“
„Ja, schon gut, Sir“, sagte der Profos und schob grimmig das Kinn vor. „Und in jeder Bucht können sich Wassergeister und Dämonen tummeln. Und Riesenkraken. Was? Wie?“
„Fängst du auch schon wieder damit an?“ fragte Roger Brighton. Es klang drohend. „Wir hatten doch vereinbart, keine dummen Sprüche mehr von uns zu geben, von wegen Aberglauben und so.“
„Und du hältst mich für dumm?“
„Nein, nur deine Sprüche.“
„Weißt du, was du mich kannst, Mister Brighton?“
„Ich kann es mir vorstellen, aber leider müssen wir beide darauf verzichten.“
Jetzt mußten sie beide lachen, und die Crew lachte mit. In der letzten Zeit hatte es nicht allzuviel zu lachen gegeben, wenn man von der Begegnung mit der Galeone der Komödianten einmal absah. Die Männer wurden allmählich immer gereizter, und es wurde höchste Zeit, daß die Sache mit der Culverine „bereinigt“ wurde, was im Grunde ja auch eine kleine Abwechslung und Erlösung von der nervtötenden Kreuzerei darstellte.
Hasard und Ribault peilten – wie auch die Ausgucke auf beiden Schiffen – von nun an unablässig zum Land hinüber, das an dieser Stelle aus hohen und zerklüfteten Steilfelsen bestand.
„Na, wie ist es denn?“ brummte der Seewolf. „Bietet sich da nicht etwas Günstiges an?“
„Es scheint so“, erwiderte Dan. Kurz darauf war er zu Bill in den Großmars aufgeentert und richtete sein Spektiv auf die Küste. „Ich hab’ was erspäht!“ rief er. „Steuerbord voraus ist ein breiter Einschnitt!“
„Na, ist doch prächtig!“ rief der Profos. „Dann nichts wie hin!“
„Der Einschnitt scheint in eine fjordähnliche Bucht zu führen!“ meldete Dan.
„Kurs auf die Bucht!“ befahl der Seewolf. „Sie könnte für unsere Zwecke geeignet sein!“
Sie konnten den Einschnitt mit der „Estrella“ und der „San Lorenzo“ gut anliegen und sogar etwas abfallen. Etwa eine Stunde später ankerten sie tatsächlich in einer abgeschirmten Bucht, die sich sackförmig nach dem Einschnitt öffnete, nach Südosten mehr, so daß sie in der Bucht von See her nicht zu entdecken waren.
„So weit ist ja alles ganz gut und schön“, sagte Ferris, nachdem die Anker gesetzt waren. „Aber schaut euch mal an, wie diese Bucht aussieht!“
Sie hoben die Köpfe und blickten sich um.
„Schlimm“, sagte der Seewolf. „Hier muß die Flutwelle des Seebebens voll hineingerast sein.“
„Reingedonnert ist sie“, sagte Carberry. „Und zwar mit voller Wucht.“
Ihre Stimmen hallten von den Felswänden wider und schienen einen metallischen, unwirklichen Klang zu haben. Alles wirkte ungewöhnlich ruhig und unheimlich, nicht einmal das Kreischen eines Seevogels erklang.
„Hier is’ es nicht ganz geheuer“, murmelte Batuti.
„Wie bitte?“ sagte Blacky neben ihm. „Wie war das eben?“
„Wo keine Möwe schreit, da bleib nicht lange Zeit“, sagte Smoky mit finsterer Miene.
„Hier wird, schon wieder orakelt, was, wie?“ sagte Carberry. „Hört mal zu, ihr Affenärsche, wenn einer von euch den Teufel an die Bordwand malen will, kratzen wir ihn gemeinsam ab!“
„Der Einschnitt hat die Flutwelle zu elementarer Wucht gesteigert“, sagte der Seewolf und deutete auf die Felsen, die wie Mahnmale aufragten.
„Und sie hat ziemliche Schäden angerichtet“, sagte Shane. „Felsbrüche und Einstürze – da oben sind ein paar Bäume ausgerissen, wenn mich nicht alles täuscht.“
„Und die Trümmer und Stämme schwimmen im Wasser“, sagte Pater David nachdenklich. „Ja, das sieht wirklich übel aus und gibt einem zu denken.“
„Ich wundere mich überhaupt, daß hier Bäume wachsen“, sagte Ferris.
„Sie fristen ihr karges Dasein zwischen oder an den Felswänden“, sagte der Gottesmann. „Und ein bißchen Buschwerk gibt es auch. Genügsame Kreaturen des Herrn.“
„Wie bitte?“ fragte Shane verblüfft.
„Auch Bäume sind Lebewesen“, erwiderte Hasard lächelnd.
„Na ja, ist schon gut“, sagte der graubärtige Riese und kratzte sich etwas verwirrt im Nacken.
Was war eigentlich los? Das Seebeben und die Begegnungen mit den Riesenkraken schienen einiges durcheinandergebracht zu haben, vor allem das seelische Gleichgewicht.
Die Männer beider Schiffe blickten auf das Wasser der Bucht. Die Folgen der Flutwelle schwammen in der Bucht: Treibgut mit toten Fischen, Quallen und Krebsen.
Plötzlich gewahrten sie auch das große Gebilde, das wie aufgespießt über einem Felszacken hing. Wie auf ein stummes Kommando hielten sie alle den Atem an.
„Das kann doch nicht wahr sein“, sagte der Profos.
„Es ist aber wahr“, sagte Jeff Bowie, der gerade neben ihm stand. „Das ist ein Krake.“
„Merde!“ ertönte es von Bord der „San Lorenzo“. Es war Montbars, der den Ruf ausgestoßen hatte. „Scheiße! Wir haben die Nase voll von den verdammten Biestern!“
„Montbars!“ rief Stenmark ihm zu. „Warum pullst du nicht hin und holst das Ungetüm von dem Felsen runter?“
„Lieber hacke ich mir ein Bein ab!“
„Davon rate ich ab“, sagte Dan. „Sprich bei Gelegenheit mal mit meinem Alten. Der klärt dich darüber auf, wie es ist, mit einem Holzbein herumzulaufen.“
Auch er blickte noch immer gebannt zu dem beachtlichen Krakenexemplar, dessen acht Fangarme leblos ausgespreizt waren. Irgendwer bekreuzigte sich hastig, und Pater David murmelte Worte, die wie ein Gebet klangen.
Das war die Situation: Wenn die Männer der „Estrella“ an ihr letztes Abenteuer dachten, kriegten sie wirklich das Frösteln, denn nach wie vor hatte es den Anschein, als sei nicht alles so ganz mit rechten Dingen zugegangen.
Den „Le Vengeurs“ an Bord der „San Lorenzo“ erging es nicht anders. Daß ein Krake ein Schiff in die Zange nahm und eine Culverine einfach „abräumte“ – das hatten auch die Hartgesottensten unter ihnen noch nicht erlebt. Aber wegen der fehlenden Culverine waren sie ja hier, und die Bucht schien genau der richtige Platz für das Vorhaben zu sein.