Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 120 - Roy Palmer - Страница 4
1.
Оглавление„Also dann – bis später, Schanghai“, sagte der eiserne Profos.
„Heimweh, Ed?“ fragte Ben Brighton.
„Was, ich? Nach dem verfluchten Hafen etwa?“
„Unter anderem …“
„Der Teufel soll’s holen. Fast hätten sie mir dort die Haut in Streifen abgezogen. Oh, diese triefäugigen Kakerlaken und Kanalratten.“
„Ed.“
„Hör mal, kannst du mich nicht ’ne Weile in Ruhe lassen, Mister Brighton? Ich habe nachzudenken.“
„Wenn die steife Brise aus Nordwesten anhält, laufen wir gute Fahrt.“
„Sag mal, hältst du mich für blöd? Weiß ich das etwa nicht?“
„In zwei Wochen könnten wir die Philippinen erreichen.“
Carberry verzog die Narbenwüste, die er in maßloser Übertreibung sein Gesicht zu nennen pflegte, zu einer Grimasse. Furchtbar sah er aus. Wer ihn nicht kannte, konnte Angst vor ihm kriegen. „Schlag dir das aus dem Kopf, Ben. Bis dahin ändert sich das verdammte Wetter mindestens ein dutzendmal.“
„Wer weiß. Wir könnten aber auch Glück haben und …“
„He, hast du einen Stich, daß du so dämlich daherfaselst, oder was ist los? Bist du unter die Landratten gegangen? Oder willst du mich vielleicht ablenken, was, wie?“
„Ich? Von was denn?“ Ben zog die Augenbrauen hoch.
„Tja, weiß ich auch nicht.“ Carberry blickte voraus. Er stand mit Ben auf dem Quarterdeck der „Isabella VIII.“ und konnte die gesamte Kuhl, sein eigentliches Reich, überwachen. Aber seltsamerweise nahm er die Männer dort unten kaum wahr. Er fiel nicht mit der üblichen Brüllerei über sie her — und das war bedenklich. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Ferne, jenseits des Bugspriets der großen Galeone. „Die Philippinen, wie?“ murmelte er. „Weiß der Henker, wo die liegen. Hat jemand eine Ahnung, was wir da wollen? Sollen von Dons verseucht sein, die verdammten Inseln, aber viel zu holen gibt’s da nicht, schätze ich. Nur Reis, Gemüse, Gewürze und so’n Zeug. Pfui Teufel. Soll mit den Dons zusammen absaufen, der Grünkram. Sag mal, wo liegen diese Scheiß-Philippinen?“
„Im Süden.“
„Wo genau? Müssen wir über den Äquator rüber?“
„Nein. Das weißt du doch. Auf dem Herweg waren wir ziemlich dicht dran“, erwiderte Ben Brighton. „Und du hast doch auch die Karten gesehen, die wir inzwischen von den Chinesen erhalten haben.“
„Hab die Orientierung verloren“, brummelte der Profos.
Er drehte sich um, stapfte zum Niedergang der Backbordseite und stieg aufs Achterdeck. Ben folgte ihm mit ziemlich besorgtem Gesichtsausdruck. Carberry trat weit nach achtern und schien Big Old Shane, Ferris Tucker und den alten Donegal Daniel O’Flynn nicht zu sehen, nicht einmal den Seewolf.
Carberry schaute nach Nordwesten. Der Wind blies ihm ins Gesicht und kitzelte sein mächtiges Rammkinn. Carberrys Miene nahm etwas Entrücktes, fast Verträumtes an. Er merkte nicht, wie die anderen hinter ihn traten.
Dort, im Nordwesten, hinter der Kimm, war Schanghai verschwunden. Schanghai am Wangpufluß und Jangtsekiang, Schanghai mit seinen Sampans, mit seinem schnatternden Durcheinander, mit seinen Abenteuern und einem majestätischen schwarzen Schiff, das vier Masten führte — fort, weg, aus. Aber die Erinnerung war damit noch lange nicht ausgelöscht.
„Schockschwerenot“, sagte Carberry leise. Leise, das war bei ihm etwas Besonderes, murmeln, das ließ seine Kameraden besorgt die Stirn runzeln. Denn wenn der Profos brüllte, war er gesund, aber wenn er leise sprach, war er irgendwie krank.
Sir John, der karmesinrote Ara, saß in den Besanwanten, spähte zu seinem Herrn hinunter und wagte es in diesem Augenblick nicht, zu ihm zu flattern und ihn zu ärgern. Er spürte instinktiv, daß im Moment mit dem Profos nicht gut Kirschen essen war.
„Hölle und Teufel“, sagte Carberry. „Hätte nicht gedacht, daß ich dem Nest nachtrauern würde.“
Shanes Baß ertönte in seinem Rükken. „Nun mal halbe Fahrt, Ed. Du trauerst Schanghai doch gar nicht nach.“
Carberry drehte sich zu ihm um. Sein Blick streifte auch Ferris, Ben und den alten O’Flynn, die sich zu Shane gesellt hatten. Aus dem Hintergrund näherte sich der Seewolf.
Carberry verfluchte sich innerlich, daß er das gesagt hatte und die anderen es aufgeschnappt hatten. Aber jetzt war es heraus. Und er durfte sich keine Blöße geben. Er hatte sich in der Gewalt.
Er blickte den zweifelnd blickenden Shane feindselig an. „Soll ich losheulen, um mein Bedauern auszudrücken, du Stint?“
Shane grinste. „Das nicht. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß du Schanghai, dem Kuan, den Soldaten, den Kriegsdschunken und den Halunken, die dir ein Pulverfaß an den Hintern gebunden haben, nie und nimmer auch nur eine Träne nachweinst.“
„Das wäre ja ein Aberwitz“, bemerkte Old Donegal.
„Felsenfest überzeugt. Aberwitz“, äffte Edwin sie nach. Er stand breitbeinig da und glich die Schiffsbewegungen geschickt in den Kniegelenken aus. „Was wollt ihr eigentlich beweisen?“
„Gar nichts“, erwiderte Ferris Tukker. „Aber der Abschied von Siri-Tong und ihrer Crew ist uns genauso schwergefallen wie dir. Jeder von uns hat noch eine Weile daran zu kauen. Nur sollten wir versuchen, das zu vergessen. Und denk doch mal an Hasard. Was soll der denn sagen?“
Carberrys Blick warnte ihn. Der Seewolf hatte sie fast erreicht. Sollte man ihm die Trennung von der Roten Korsarin noch erschweren? Gewiß, ein Mann wie der Seewolf durfte nirgendwo eine feste Bindung eingehen. Das war ihm selbst klar, das wußte auch seine Crew, und das gehörte zu den stillen Vereinbarungen, die zwischen ihm, Hasard, und Siri-Tong bestanden. Trotzdem, es war nicht leicht, jetzt so einfach davonzusegeln. Sie alle, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, hatten die gesamte Mannschaft des schwarzen Seglers in ihr Herz geschlossen. Das waren keine simplen Verbündeten auf Zeit gewesen, sondern echte Kameraden.
Ganz problemlos war das alles nicht abgelaufen, es hatte beim gemeinsamen Kreuzen in der Karibik, beim Umsegeln der Neuen Welt und schließlich beim Überqueren des riesigen Teiches, den sie Südsee nannten, auch öfter mal Meinungsverschiedenheiten, ja, Streit gegeben. Doch das gehörte dazu. Fest stand, daß die Abenteuer und Entbehrungen beide Crews ziemlich fest zusammengeschmiedet hatten. Bloß eingestehen wollten Hasards Männer es nicht.
„Hölle“, sagte Carberry mit gespielter Erleichterung. „Im Grunde bin ich ja froh, daß wir wieder allein und unabhängig sind. Wir haben genug am Hals und müssen an uns selbst denken.“
„Stimmt“, pflichtete Ferris, der rothaarige Schiffszimmermann, ihm sofort bei. „Und wenn ich an Thorfin Njal denke – diesen behelmten Nordpolaffen! Gut, daß wir den los sind. In letzter Zeit ging der Bursche mir verdammt auf die Nerven.“
„Und seine behelmten Landsleute?“ sagte Shane. „Eike, Arne, Oleg und der Stör? Jetzt kann ich’s ja offen und ehrlich sagen, ich hab die Burschen nie leiden können.“
Old O’Flynn hieb in die gleiche Kerbe. „Also, der blödeste Hund von allen war ja wohl Juan. So ein Schlitzohr. Und der Boston-Mann, der fast nie was sagt? Hat auch nur einer von uns ihm so richtig über den Weg getraut?“
Ben Brighton stellte durch einen raschen Seitenblick fest, daß der Seewolf schräg hinter ihm stehengeblieben war. Ben beschloß, zum Schein mitzuwettern.
„Ach wo“, erklärte er. „Ich sage euch, die Besatzung des schwarzen Seglers ist ein übles Volk. Ein großer Sauhaufen. Denkt doch mal an Bill the Deadhead, diesen Schläger. Oder an Muddi, diese dreckige Ratte. Und Mike Kaibuk? Hat jemand einen ähnlich verschlagenen Typ gesehen? Ganz zu schweigen von Missjöh Buveur, diesem versoffenen Schnapphahn. So was ist doch keine Mannschaft, sondern ein Haufen, bei dessen Anblick sich jedem richtigen Seemann kräftig die Haare sträuben.“
„So“, sagte der Seewolf.
Ben verstummte. Die anderen wagten es nicht, wieder das Wort zu ergreifen. Alle fünf fühlten sich plötzlich gar nicht wohl in ihrer Haut.
„Mit anderen Worten, ihr wünscht den Männern des schwarzen Schiffs die Pest an den Hals?“ Hasards Stimme klang gar nicht mal besonders laut, aber eine Nuance schärfer als gewöhnlich.
„Na“, antwortete Carberry. „Das nicht gerade. Aber es war ja klar, daß wir diese Schlagetots und Gurgelschneider früher oder später irgendwie abwimmeln mußten.“
„Angst, Ed?“
„Wie, Sir? Was?“
„Ich meine, das hört sich ja fast so an, als hättest du Angst vor dem verdammten Sauhaufen.“
„Nein, Sir“, versicherte der Profos. Er hob den Kopf. „Nicht die Bohne, Sir.“
„Schlagetots und Gurgelschneider – zählst du denn Siri-Tong auch dazu?“
Carberry lief ein bißchen dunkel im Gesicht an. Fast hätte er sich verschluckt und losgehustet. Jawohl, er hatte sich mal wieder in den unsichtbaren Netzen verfangen, die der Seewolf auswarf, und mit dem Stiefel war er in einen Kübel Fett getreten, mitten hinein.
„Der Schlag soll mich treffen, wenn ich das tue. Auf der Stelle.“
Der Schlag traf den Profos jedoch nicht, seine Behauptung schien also aufrichtig zu sein.
Hasard fuhr sich mit der Hand übers Kinn, und Carberry hielt es für angebracht, sich mit dem Handballen die große Nase zu reiben. Flink sah der Profos zu den anderen. Die tauschten auch Blicke aus. Hölle, auf was hatten sie sich da eingelassen, in was für eine Sache hatten sie sich bloß verheddert?
„Siri-Tong kommt bei eurer Beurteilung also ein bißchen besser weg“, sagte Hasard.
Sie nickten, und Ferris Tucker erwiderte: „Sehr viel besser. Wir alle wissen doch, daß sie eine bewunderswerte, einmalige, phantastische Frau ist! Eine Schönheit, wie man sie nicht zum zweitenmal auf der Welt trifft!“
„Und dieses Wunderwesen soll sich ausgerechnet einen Sauhaufen von blutrünstigen Kreaturen ausgesucht haben, um ein Schiff wie ‚Eiliger Drache über den Wassern‘ zu bemannen?“
Ben Brighton wollte mit Diplomatie antworten, einlenken, aber da meldete sich schon der Profos, und es war zu spät, etwas gegen seinen Einwand zu unternehmen.
„Ho!“ rief er aus. „Ein Schuft, der so was behauptet! Madame Siri-Tong kennt die Menschen und weiß, wen sie sich an Bord geholt hat, schließlich ist sie kein törichtes Mädchen! Niemals würde sie Kerle dulden, die das Herz nicht auf dem rechten Fleck haben!“
„Also habt ihr eben ganz schön geschwindelt“, sagte der Seewolf wie nebenbei. „Was ihr da über Thorfin Njal und die anderen gesagt habt, war von vorn bis hinten erstunken und erlogen, was?“
„Und ob!“ brüllte Carberry. „Madame nährt doch keine Mörder und Giftzwerge an ihrem Busen!“
„O Gott“, stöhnte Ben Brighton.
„Um es anders auszudrücken, die Männer vom schwarzen Schiff sind in Ordnung?“ erkundigte Hasard sich freundlich.
„Völlig!“ erklärte der Profos.
„Es hätte mich gewundert, wenn ihr anders über sie denkt und hinter ihrem Rücken über sie herzieht.“
„Schweinerei!“ stieß Edwin Carberry im tiefen Brustton der Überzeugung hervor. „Wer das tut, kriegt von mir höchstpersönlich den Achtersteven versengt. Es war schwer genug, der Roten Korsarin und ihrer Crew ade zu sagen. Oh, das war schlimmer als damals, wie wir Cornwall den Rücken gekehrt haben. Hölle und Verdammnis, und dann auch noch lästern? Nein. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren und …“
Er hielt verwirrt inne.
Ben, Shane, Ferris und Old O’Flynn schauten ziemlich belämmert drein. Der Seewolf lächelte verhalten und sagte: „Tut mir leid, aber das ist nicht drin. Wir können nicht ewig in China bleiben. Andererseits war es Siri-Tongs freie Entscheidung, in Schanghai zu bleiben. Habt ihr schon vergessen, daß ihre Mutter sie braucht? Edwin, hör gefälligst auf, wie ein melancholischer Esel dreinzuschauen.“
Melancholischer Esel?
Carberry war zumute, als habe ihm ein Roß mit dem Huf in den Allerwertesten getreten. Er zeigte klar, wandte sich ab und marschierte zur Kuhl hinunter, um den „Sauhaufen“ zusammenzustauchen, der offenbar von der Seefahrt keine blasse Ahnung hatte.
Als er losbrüllte, musterte Hasard Shane, Ferris, Ben und den alten Donegal und sagte: „Langsam geraten die Dinge wieder ins rechte Lot.“
Das mochte in bezug auf Bordmoral, allgemeine Disziplin und Stimmung schon zutreffen. Für das Wetter allerdings hatte Hasards Ausspruch keinerlei Gültigkeit. Der Wind und die See waren unberechenbaren und äußerst kapriziösen Einflüssen unterworfen, Launen, die hier wie überall auf dem Meer ein Schiff völlig unverhofft treffen konnten.
Der Wind drehte auf Norden. Am Spätnachmittag dieses Tages stieß er düstere Streifen auf die „Isabella“ zu, die von Korea und aus der Mandschurei anzurücken schienen.
Im verblassenden Büchsenlicht verfolgten die Seewölfe noch, wie sich die Streifen über ihren Köpfen und den Toppen der Galeone zusammenballten und Wolkentürme und andere wildzerklüftete Formationen bildeten.
„Das wird ein Taifun“, orakelte Old O’Flynn. „Verflixt und zugenäht, und das gleich in der ersten Nacht nach unserem Auslaufen aus dem Hafen von Schanghai. Wenn das kein sauschwarzes Pech ist!“
„Du hast die Schuld“, sagte Carberry zu Ben Brighton. „Du hast so dämlich dahergeredet, von wegen zwei Wochen Backstagswinde und bestes Wetter bis zu den Philippinen.“
„Glaubst du an Gespenster, Ed?“ fragte Ben mit schmalen Augen.
„Ich? Quatsch!“
„Aber du siehst welche“, sagte Ben.
Die Dünung wurde rauh und rauher, der Wind nahm zu und peitschte die Wellen zu Brechern hoch. Ja, sie liefen die Nacht über vor dem Sturm, aber es wurde doch kein Taifun daraus. Die Seewölfe spuckten mal wieder gegen den Wind und segelten dem Teufel ein Ohr ab. Sie hatten schon ganz andere Wetter abgeritten. Das hier, das war ein Sturm mittlerer Stärke, dem die „Isabella“ problemlos standhielt.
Am Morgen hatte keiner der Männer ein Auge zugetan. Aber sie grinsten und stießen sich an. Das Wetter war durchgestanden, na also. Wie ein Tuch riß die Wolkenbahn über ihnen auf. Zwischen den Fetzen schimmerte weißliches Sonnenlicht. Der Wind blies jetzt steif aus Nordwesten und fegte den Himmel über der großen Galeone frei. Die Wolken entschwanden in Richtung Südosten, zur Südsee hin.
Die See war noch kabbelig, aber man konnte sich schon wieder ohne die Zuhilfenahme von Manntauen über Oderdeck bewegen.
Ben Brighton arbeitete sich auf den Profos zu, lachte und meinte: „Um noch mal auf meine Worte von gestern zurückzukommen – in einem Punkt habe ich doch recht behalten.“
„Naja“, knurrte Carberry. „Wir sind gute Fahrt gelaufen, was? Immer voll vor dem Sturm her. Dann hoffen wir mal, daß wir einen richtigen Orkan kriegen.“ Er stellte fest, daß Bill, der Schiffsjunge, in der Nähe stand und fügte hinzu: „So ein Orkan soll in diesen Gefilden so stark sein, daß er ein Schiff wie die ‚Isabella‘ glatt aus dem Wasser hebt.“
Bill blickte ihn erstaunt an. „Ist das wahr, Mister Carberry?“
„Aber sicher doch, Junge.“
„Und – was passiert dann mit dem Schiff?“
„Wenn es aus dem Wasser raus ist? Tja, dann fliegt es. Hübsch vor dem Wind her. Falls alles klappt, fliegen wir gleich bis nach Manila und landen mit unsrer ‚Isa‘ zwischen den Häusern der Dons. Die kriegen vor Schreck Maulsperre und ersticken, die Dons, meine ich natürlich.“
„Toll“, flüsterte der Junge.
„Die Dons kippen reihenweise um, und wir brauchen sie bloß beiseite zu räumen.“ Carberry bereitete es Spaß, solche Schauergeschichten zu strikken, solange Bill immer noch darauf hereinfiel. Ben Brighton sah ihn zwar mißbilligend an, aber Carberry erwiderte den Blick derart angriffslustig, daß Hasards Bootsmann auf ein Eingreifen verzichtete. Sollte Ed doch sein Seemannsgarn spinnen.
Während Carberry weiter über fliegende Schiffe und Spukgaleonen, einen Verrückten, der auf einer abgefeuerten Kanonenkugel geritten sein sollte, sowie zu Tode erschrokkene Beobachter solcher Szenen berichtete, wechselte der Wind erneut seine Richtung. Er schralte, bis er aus Westen herüberpfiff, also vom chinesischen Festland.
Der Seewolf stand zu diesem Zeitpunkt neben dem Rudergänger Pete Ballie im Ruderhaus. Er blickte immer wieder auf die leicht vibrierende Kompaßnadel, hob zwischendurch den Kopf und prüfte mit skeptischer Miene die Segelstellung.
Pete Ballie sah ihn besorgt von der Seite an. „Ich kann den Kurs kaum noch halten, Sir. Wir laufen gleich in den Wind.“
„Zwei Strich abfallen, Pete“, befahl Hasard.
„Zwei Strich abfallen.“ Pete korrigierte den Kurs.
Hasards Blick wanderte über die Kuhl zu Carberry, der jetzt seine haarsträubenden Märchen unterbrochen hatte und auf und ab rannte. Er purrte die Männer an die Schoten und Brassen.
Die Windrichtung änderte sich noch ein wenig – fast bis auf West-Süd-West. Der Seewolf mußte klein beigeben, er hatte keine andere Wahl. Kreuzen hatte in diesem Fall keinen Zweck.
„Eigentlich wollte ich in Küstennähe bleiben“, sagte er auf dem Quarterdeck zu Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker. „Ich hätte mich so leichter orientieren können. Aber wir müssen weiter abfallen, bis wir den Wind raumschots haben. Wir werden zwar aufs Meer hinausgedrückt, aber ich denke, daraus ergeben sich keine Schwierigkeiten.“
„Wohin führt uns denn der neue Kurs?“ fragte Big Old Shane.
Old O’Flynn beugte sich oben über die Five-Rail und blickte auf sie hinunter. Seine Miene war gallig bis sauer. „Ist doch klar, zurück in die verdammte Teufelssee.“
Shane hob eine seiner mächtigen Fäuste. „Donegal, ich fahre noch mal aus der Haut, wenn du dauernd Unglück heraufbeschwörst.“
„Ich? Ich sage nur, nehmt euch in acht …“
„Ja, schon gut“, sagte Ferris Tukker. „Aber Shane hat recht. Hör endlich auf, immer den Teufel an die Wand zu malen.“
Old O’Flynn brummelte etwas in seinen grauen Bart. Hasard trat nach vorn und winkte über die Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Quarterdecks bildete, Bill zu. Der Schiffsjunge trabte an, und der Seewolf schickte ihn in die Kapitänskammer hinunter, sämtliche Karten zu holen, die sie im Laufe ihrer Reise durch das Reich der Mitte erhalten hatten.
Etwas später befestigte Hasard die Karten an der Außenwand des Ruderhauses, und die Männer betrachteten im strahlenden Licht der Morgensonne die Zeichnungen und Eintragungen. Auch Carberry und Smoky, der Decksälteste, waren inzwischen auf dem Quarterdeck erschienen.
Der Papagei Sir John hockte auf Carberrys linker Schulter und gab leise Laute des Wohlbehagens von sich.
Hasard wies auf die große, langgestreckte Insel, die sich deutlich von allen Karten abhob. Auf der Herfahrt hatten sie alle die Insel für das chinesische Festland gehalten — in Ermangelung brauchbaren Kartenmaterials. Inzwischen konnten ihnen solch grobe Fehler nicht mehr passieren.
„Formosa“, sagte der Seewolf. „So haben die portugiesischen Entdecker die Insel getauft. Die Chinesen verwenden einen anderen Namen, aber der ist mir entfallen.“
Ja, wenn wir noch Siri-Tong, Fong-Ch’ang oder das Mädchen „Flüssiges Licht“ an Bord hätten, wollte der Profos sagen. Er ließ es aber lieber sein. Er wollte nicht schon wieder was Falsches von sich geben.
„Wir nehmen die Insel als Orientierungsmarke und Richtungsweiser“, sagte Hasard. „Je nach den Windverhältnissen der nächsten Tage segeln wir entweder durch die Straße zwischen Formosa und Festland – oder wir passieren die Insel im Osten und laufen dann nach Süden ab.“
Ben Brighton sah seinen Kapitän an. „Formosa? Wie sind dort die Verhältnisse? Ich meine, müssen wir mit Portugiesen oder Spaniern rechnen? Haben die dort Niederlassungen gegründet?“
„Dort wohl noch nicht“, erwiderte Hasard. „Ich beabsichtige aber auch nicht, die Insel anzulaufen. Wir haben genug Proviant und Trinkwasser an Bord. Wenn alles klappt, segeln wir in einem Törn bis zu den Philippinen. Dort sagen wir den Spaniern guten Tag.“
Er grinste.
Daß das Unternehmen völlig reibungslos verlief, glaubte er selbst nicht. Auf dem Weg zu den Philippinen konnte es noch mannigfache Widrigkeiten geben. Wetterumschwünge, starke Strömungen und andere Tücken der See. Oder auch menschliche Hinterhältigkeit.
Immerhin war er, Philip Hasard Killigrew, der meistgehaßte Feind Spaniens und Portugals. Und er segelte diesem mächtigen Gegner jetzt direkt in den Rachen.