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2.

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Langsam schritt der Seewolf über das kaum merklich schwankende Deck zur Kuhlgräting. Hier blieb er stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten und sah sich den sonderbaren „Gast“ kopfschüttelnd an.

„Du hast viel zu hoch gesetzt, Freund Hubertus“, sagte er mit einer Miene, in der sich Ärger und Verwunderung mischten. „Dachtest du wirklich, du könntest uns mit einem so billigen Trick hereinlegen?“

„Er ist nicht ganz dicht im Schapp“, sagte der Profos voll grimmiger Überzeugung. „Los, über Bord mit ihm. Auf was warten wir noch?“

„Einen Moment.“ Der Seewolf hatte die Hand gehoben. „Ich glaube nicht, daß er verrückt ist. Vielleicht braucht er wirklich Hilfe. Wer weiß, warum er unbedingt mitgenommen werden will.“

„Sir!“ stieß Shane erbost aus. „Soll das heißen, daß du auch noch Mitleid mit dem Kerl hast? Beim Henker, er wollte uns zwingen, das zu tun, was er von uns verlangte!“

„Aber er wollte weder unser Schiff noch unsere Schätze – noch mein Leben. Vielleicht hätte er mit der leeren Pistole nicht einmal zugeschlagen.“

„Das kann doch nicht dein Ernst sein“, sagte der Profos. „Er hat dich bedroht, allein das zählt.“

„Holt eine Pütz voll Wasser“, befahl der Seewolf den Zwillingen. „Wir wekken ihn auf und verhören ihn. Ich will wissen, was mit ihm los ist.“

Philip junior und Hasard junior gehorchten, und kurze Zeit später entleerte der Seewolf die volle Pütz über Hubertus Leones Kopf. Das Wasser ergoß sich als rauschender Schwall mitten in das Gesicht des seltsamen Mannes, und prompt kam wieder Leben in die hagere Gestalt.

Prustend richtete Leone sich auf und schüttelte sich heftig. Er sah den Seewolf, der direkt vor ihm stand, aus geweiteten Augen an.

„Bist du voll bei Sinnen?“ fragte Hasard.

„Ja, Kapitän. Sprich dein Urteil, ich werde dir zeigen, wie ein Ritter stirbt.“

Hasard sagte: „Hör auf, mich dauernd Kapitän zu nennen.“

„Bist du denn nicht der Kapitän dieses Schiffes?“

„Das schon, aber man spricht mich sonst entweder mit ‚Sir‘ oder mit ‚Mister Killigrew‘ an.“

„Ach so“, sagte Leone. „Nun denn, Sir, welches Schicksal erwartet mich? Der Tod durch den Strang oder durch das Henkersschwert?“

„Keins von beiden.“

Leone sprang plötzlich auf. Carberry und Big Old Shane, die ihn schon losgelassen hatten, packten wieder seine Arme und hielten ihn fest, weil sie ein neues Unheil befürchteten.

„Hast du Killigrew gesagt?“ rief Leone entsetzt. „Herr im Himmel, das darf nicht wahr sein! Philip Hasard Killigrew, der gefürchtete Korsar, von dem man sich grausige Begebenheiten erzählt – bist du das?“

„Ich bin Philip Hasard Killigrew …“

„Heiland, dann bin ich wirklich verloren!“

„… aber ich bin kein blutrünstiger Schlagetot“, fuhr der Seewolf mit leicht konsterniertem Gesichtsausdruck fort. „Wer hat dir denn über mich berichtet?“

„Menschen, die ich auf meinen Reisen nach Sizilien traf. Männer und Frauen, die alle schon von dem legendären Seewolf gehört hatten.“

„Aber die meisten von denen haben uns nie gesehen“, sagte Shane. „Sie plappern weiter, was sie selbst nur gehört haben, und natürlich schmükken sie es entsprechend aus.“

Ben Brighton war neben den Seewolf getreten.

„Hubertus Leone“, sagte er. „So schlecht, wie du denkst, sind wir nicht. Vor allen Dingen sind wir keine mordenden und plündernden Piraten, laß dir das gesagt sein. Glaubst du, du wärst noch am Leben, wenn wir solche Galgenstricke wären?“

Leone schob die Unterlippe etwas vor und überlegte. Er schickte einen Blick in die Runde und sah sich die Gesichter der Männer an. Dann entgegnete er: „Sicher hast du recht. Ich bin verwirrt und weiß nicht mehr recht, was ich daherrede. Mir ist im Kopf so weh, als drehe sich darin ein großes Mühlenrad.“

Carberry stieß einen undeutlichen Laut aus, der wie ein Grunzen klang. „Da hört ihr’s, er gibt selbst zu, daß er nicht ganz echt ist. Was soll auch schon dabei herauskommen, wenn sich eine Bajuwarin mit einem Sizilianer einläßt?“

Leone wandte den Kopf und fixierte ihn. „Beleidige meine Mutter nicht. Sie war eine aufrichtige, gottergebene, resolute Person. Sie wußte, was sie tat.“

„Sie lebt nicht mehr?“ fragte Hasard.

„Nein. Der Herr sei ihrer armen Seele gnädig.“

Der Seewolf räusperte sich und blickte zu seinem Profos. Carberry zog es vor, vorerst nichts mehr zu äußern.

Old Donegal Daniel O’Flynn war aus dem Achterkastell getreten und näherte sich mit verdrossener Miene. Die letzten Worte, die gesprochen worden waren, hatte er gehört, und so stellte er sich jetzt neben Hasard und Ben Brighton und musterte Hubertus Leone von oben bis unten.

„Bist du ein Gottesmann?“ fragte er.

„Nicht direkt“, erwiderte Leone. „Ich bin ein Ritter der himmlischen Heerscharen, ein Kreuzritter.“

„O Himmel, nein“, stöhnte der Kutscher entsetzt.

Hasard beschloß, dem Gespräch ein Ende zu bereiten.

„Daß neuerdings wieder ein Kreuzzug ins Heilige Land stattfindet, ist uns nicht bekannt“, sagte er. „Was hast du dir denn da in den Kopf gesetzt, Hubertus? Du bist allein und hast offenbar nicht einmal Munition für deine Pistole.“

„Doch – ich trage sie unter meinem Burnus versteckt.“

„Sollen wir ihn durchsuchen?“ fragte Big Old Shane.

Hasard verneinte, und Hubertus Leone sagte: „Das ist wirklich nicht erforderlich, mein bärtiger Freund. Pulver und Kugeln werde ich nur gegen die Heiden einsetzen, die ich aus der Wüste Sinai zu vertreiben gedenke.“

Shane wußte darauf nichts zu erwidern. Hasard rieb sich das Kinn und sah den hageren Mann forschend an. Er wurde immer noch nicht richtig schlau aus ihm. Hatte er nun einen normalen Menschen oder einen Geistesgestörten vor sich?

„Dorthin willst du also“, sagte er. „Der Landweg von hier aus ist zu weit und zu beschwerlich, darum empfiehlt es sich, ein Schiff zu benutzen, um die Halbinsel Sinai zu erreichen. Aber welcher europäische Herrscher schickt dich, wer steht hinter dir?“

„Kein König, kein Kaiser, ich habe nur einen Regenten.“ Wieder wies Leone zum Himmel. „Mein Weg ist vorgezeichnet, ich brauche ihm nur zu folgen.“

„Ein Kreuzzug auf eigene Faust, ohne Waffen, ohne Gefolgschaft?“ fragte Ferris Tucker, der inzwischen auch näher getreten war. „Das ist ja heller Wahnsinn!“

„Mein Heer werde ich noch finden, und die Waffen sendet uns der Himmel“, erklärte Hubertus Leone. „Alles ist vorherbestimmt. Das wüste Treiben der Heiden kann nur noch von kurzer Dauer sein. Am Berge Moses’ werden wir beginnen und dann die Meute der Ketzer und Frevler quer durch Palästina bis hinauf nach Anatolien und ins wilde Kurdistan zurücktreiben – dorthin, von wo sie stammen. Ein großes Heulen und Zähneklappern wird anheben, doch wir werden kein Erbarmen mit ihnen haben.“

„Versuche mal, die Türken zu vertreiben“, sagte Ben Brighton. „An denen beißt du dir die Zähne aus.“

Old O’Flynn warf ihm einen Seitenblick zu. „Da würde ich nicht so sicher sein. Was er sagt, hört sich gar nicht so schlecht an, finde ich.“

Shane blickte den Alten wütend an. „Das sieht dir ähnlich, Donegal. Fehlt noch, daß du ihm gut zuredest. Er scheint ein Geisterseher und Phantast zu sein wie du.“

„Wenn ich mein Holzbein abschnalle, kannst du mal spüren, wie meine Phantasien aussehen“, sagte der alte O’Flynn grollend.

„Schluß der Debatte“, sagte der Seewolf und richtete seinen Blick wieder auf Leone. „Erkläre mir jetzt, wie du auf die abwegige Idee verfallen bist, die Mitnahme an Bord eines Segelschiffs zu erzwingen. Konntest du dir nicht ausrechnen, daß das schiefgehen würde?“

Leone seufzte. „Meine Tat reut mich, und ich streue Asche auf mein Haupt. Doch die Zeit drängt, und der Ruf der Wüste Sinai war nicht zu überhören. Ich gelangte mit einer venezianischen Galeasse nach Beirut, dann nahm mich eine Beduinenkarawane mit bis nach Akka. Hier blieb ich hängen, es ging nicht mehr weiter. Meine bescheidenen Mittel reichten nicht aus, mir die Weiterreise auf dem Rücken eines Dromedars oder an Bord eines Schiffes zu erkaufen. Wo immer ich anfragte, empfing ich nur barsche Antworten. Man trat nach mir und stieß mich fort. Der Kapitän eines griechischen Kauffahrers lachte mich aus und ließ mich ins Hafenwasser werfen.“

„Eben“, sagte Carberry. „Ich bin also nicht der einzige, der so denkt.“

„So verfiel ich auf eine List“, fuhr Leone unbeirrt fort. „Ich erstand die Tartane und kaufte für wenige Heller Obst und Gemüse. Hätte ich mich nicht als Händler verkleidet, hätte man mich auf kein einziges Schiff mehr gelassen, denn es hatte sich im Hafen von Akka schon herumgesprochen, daß ich eine Passage erbetteln wollte. Man schimpfte mich einen dummdreisten Narren, einen Schwindler und Betrüger.“

„Aha“, sagte Hasard. „Und da mußtest du ausgerechnet auf uns stoßen? Ein dummer Zufall.“

„Eine törichte Tat“, sagte Hubertus Leone und senkte den Kopf. „Also dann, ich trete wohl am besten ans Schanzkleid und lasse mir den erforderlichen Tritt in den Allerwertesten verpassen, von dir persönlich, Sir.“

Hasard mußte unwillkürlich lachen. „Das ist nicht nötig. Ich will dir eine Chance geben. Ich halte dir zugute, daß die Pistole nicht geladen war und der Wein, den du uns verkauft hast, nicht gepanscht ist.“

„Das bedeutet?“ fragte Leone überrascht und hob die Augenbrauen.

„Du kannst mit uns fahren, wenn du willst. Unser Kurs führt tatsächlich weiter nach Süden und dann an der Halbinsel Sinai vorbei bis nach Ägypten. Ed und Shane, ihr könnt ihn jetzt loslassen.“

Der Profos und Big Old Shane gehorchten, zeigten aber zweifelnde Mienen. Der einzige, der nach dieser Entscheidung des Seewolfs zustimmend nickte, war der alte O’Flynn. Allein das reichte aus, um bei der Crew Argwohn hervorzurufen. Sonst war es nämlich immer der Alte, der seinen Protest anmeldete, wenn es darum ging, einen Fremden mitzunehmen oder ihn sonstwie zu unterstützen.

„Und – und was verlangst du dafür?“ fragte Hubertus Leone verdattert.

„Disziplin und Gehorsam“, entgegnete der Seewolf. „Wenn du nicht tust, was dir auf der ‚Isabella‘ befohlen wird, fliegst du wirklich über Bord, und zwar auf hoher See.“

Leone zeigte sich sehr erfreut. „Ich unterwerfe mich den Bordgesetzen. Und ich kann mich nützlich machen. Von der Seefahrt verstehe ich nämlich ein bißchen.“

„Das werden wir ja sehen, Freundchen“, sagte der Profos. „Das Grinsen vergeht dir noch, wenn ich dich richtig rannehme.“

Leone streckte dem Seewolf die Hand entgegen. „Ich bin dir unendlich dankbar, Sir.“

„Willst du deine Tartane mitnehmen?“ fragte Hasard.

„Gern, aber …“

„Hievt sie hoch und zurrt sie auf dem Achterdeck fest“, sagte der Seewolf zu seinen Männern, dann wandte er sich wieder seinem eigenartigen Gast zu. Er griff nach der ihm dargebotenen Hand und drückte sie. „Übrigens, meine Freunde nennen mich Hasard.“

„In Ordnung, Hasard, Sir. Du wirst es nicht bereuen, dem Ritter Hubertus geholfen zu haben. Eines Tages werde ich mich für deine Großzügigkeit revanchieren.“ Leone strahlte jetzt über das ganze Gesicht.

„Mit diesem merkwürdigen Ritter werden wir noch unseren Ärger haben“, sagte Ferris, der etwas abseits stand, zu Blacky. „Es ist wohl ratsam, ihn nicht aus den Augen zu lassen.“

Auch der Seewolf hatte seine Bedenken, was die Aufnahme dieses seltsamen Kauzes betraf. Aber er konnte sich nicht helfen – irgendwie war ihm Hubertus Leone sympathisch, und seine Menschenkenntnis sagte ihm, daß er Vertrauen zu ihm haben durfte. Er würde ihn auf die Probe stellen, und bald würde sich zeigen, ob er eine Fehlentscheidung getroffen oder sich einen neuen Freund geschaffen hatte.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 246

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