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ZWEI

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Es war nicht zu erahnen, wo Helmar Haag, der Reporter der Lokalzeitung, seinen Morgenkaffee zu sich nahm, wenn das Wetter so mistig war, dass sogar ein so hartgesottener und abgehärteter Pfeifenraucher wie er ins rauchfreie Innere flüchten musste.

Nun ja, trotz der erfreulich vielen Cafés in Schwäbisch Hall blieben die Möglichkeiten überschaubar, und ich hatte schon beim zweiten Versuch Glück. Der massige Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart rührte gedankenverloren in seinem Kaffee und nuckelte an der kalten Pfeife. Ein verkannter Dichter bei der Arbeit.

»Ich störe ja nur ungern«, sagte ich und rutschte auf die Bank an seinem Tisch.

»Du störst immer, nur merkst du das nicht.«

»Sagen wir so, ich lasse es mir nicht anmerken. Das ist etwas, was unsere beiden Berufe gemeinsam haben, sonst kämen wir nie auf einen grünen Zweig. Worüber sinnierst du?«

»Ich habe eine interessante Sache erfahren und grüble, ob sie von so hohem öffentlichem Interesse ist, dass ich damit einigen Leuten auf die Füße treten darf, sie vielleicht sogar unglücklich mache.«

»Worum geht es?«

»Netter Versuch, aber vergiss es.«

Die Bedienung kannte mich und stellte mir unaufgefordert einen Cappuccino hin.

Wie süß. Den Milchschaum zierte ein Herzchen aus Kakao.

Er nuckelte an seiner Pfeife, produzierte imaginäre Rauchwolken und fragte: »Also, welche Infos brauchst du?«

Ich tat erstaunt. »Wie kommst du darauf, dass ich irgendwelche Infos will?«

»Weil du mich nur dann mit deiner Gegenwart beehrst.«

»Stimmt. Wir wollten uns schon lange mal wieder auf ein Bier zusammensetzen, aber du hast ja nie Zeit.«

Er zuckte mit den Schultern. »Der Job. Die Familie. Und wenn ich mal Zeit habe, lässt du dich niederschießen. Und als ich dich im Krankenhaus besuchen wollte, haben sie mir den Wein abgenommen.«

»So sind die dort. Stehen nicht so auf alternative Medizin.«

»Also?«, fragte er erneut.

»Frieder Schindel.«

»Friede seiner Asche. Das war die erste Info: Er lebt nicht mehr.«

»Das weiß ich. Erzähl mir über ihn.«

»Hättest du meinen Nachruf gelesen, der wie immer äußerst eloquent geschrieben war, müsstest du nicht fragen.«

»Ich habe ihn gelesen, aber nicht auswendig gelernt. Hilf mir auf die Sprünge.«

»Ich kann ihn auswendig. Ich kann alle meine Artikel auswendig. Aber wie ich dich kenne, du Banause, willst du nur die Kurzfassung hören.«

»Kürzestfassung bitte.« Das war jetzt der Moment, an dem man viel Geduld aufbringen musste. Auch Kurzfassungen konnten bei Helmar Haag längere Zeit in Anspruch nehmen. Er neigte zu Abschweifungen und war schwer zu bremsen, wenn er erst einmal in Fahrt war. Vielleicht ging es heute dank der äußeren Umstände etwas schneller. Kalt rauchen halten die Süchtigen nicht lange aus.

Andererseits: Nichts zwang uns zu ungebührlicher Hast.

Er zog lange Zeit an seiner Pfeife, aus der nichts kam. Dann hob er an.

»Bauunternehmen Schindel. Wurde 1949 vom Großvater des Abgestürzten gegründet, im zarten Alter von 25 Jahren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass in der Nachkriegszeit ein erhöhter Bedarf an Bautätigkeiten bestand, selbst in unserer Gegend, die mit Kriegsverwüstungen glimpflich davon gekommen war. Und damit lag er richtig. Großpapa war gelernter Mauerer wie der Verblichene auch und wie dessen Vater, scheint wohl eine Familienverpflichtung zu sein. Schindel eins baute die Firma auf, Schindel zwei baute sie aus, und Schindel drei drehte dann das große Rad. Das Hauptgeschäft war nach wie vor das stinknormale Baugewerbe, wobei er sich auf Industriebauten und das Häusle mit Handtuchgarten konzentrierte, öffentliche Aufträge hat er nicht viel gemacht. Vielleicht kam er nicht zum Zug, vielleicht war ihm das zu kompliziert, ich weiß es nicht. Stattdessen hat er sich mehr und mehr als Bauträger engagiert, du weißt schon, auf eigenes Risiko bauen und dann verkaufen.«

»Erfolgreich?«

»Schwer zu sagen. Er ist nicht der Platzhirsch, in keinem der Bereiche, die er bedient, er war ja nicht der Erste, der auf diese Ideen kam, aber er scheint wohl gut im Geschäft zu sein. Soweit man das beurteilen kann, ohne die Bücher zu kennen.«

»Jetzt kommen wir allmählich zum interessanten Teil. Nämlich zu dem, was du nicht geschrieben hast. Welchen Ruf hat die Firma?«

»Zuverlässig und pünktlich, und das ist die halbe Miete in dieser Branche. Allerdings gab es in der letzten Zeit einige Kratzer im schönen Bild, habe ich gehört. Nicht mehr so pünktlich, nicht mehr so zuverlässig. Das ist vorerst nur mal Gerede, nicht verifizierbar. Nenn mir einen Handwerker, bei dem es nicht irgendwas zu meckern gibt. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe gerade erst mein Bad renoviert.«

»Von Schindel?«

»Nein.«

»Schade. Dann hätten wir jetzt Informationen aus erster Hand.«

»Wie gesagt, auch ich hatte viel auszusetzen, und trotzdem würde ich, alles in allem, diese Firma weiter empfehlen. Jedenfalls, bei Schindel gab es wohl etliche Beschwerden wegen Baumängeln, er musste nachbessern.«

»Nicht gut fürs Geschäft.«

»Gar nicht gut, wobei ich nicht weiß, ob einfach geschlampt wurde, weil man halt mitnimmt, was geht – die Baubranche boomt ja zur Zeit – wie du weißt, oder ob er tatsächlich getrickst hat. Du kennst das, billiges Material, das teuer berechnet wird und so.«

»Was war Frieder Schindel für ein Mensch?«

»Ich kannte ihn nicht persönlich. Er hat am sogenannten gesellschaftlichen Leben nicht teilgenommen, zumindest nicht nach außen sichtbar. Er war Mitglied in den paar Vereinen, in denen man sein muss, wenn man Kontakte knüpfen und Aufträge an Land ziehen will, hatte aber nirgendwo Funktionen. Er war also offenbar kein Postensammler.«

»Golfclub?«

»Wohl nicht, sonst hätte es auch von denen eine Todesanzeige gegeben. Nein, das Übliche halt: Bund der Selbstständigen, Handwerkskammer, soziale Geschichten, informelle Zusammenschlüsse und dergleichen.«

»Und wie war er selbst?«

»Was man so hört, war er kein einfacher Zeitgenosse. Ruppig, sehr direkt. Wenn ihm was nicht gepasst hat oder ihm einer blöd kam, hat er kräftig ausgeteilt. Und auch gegenüber seinen Kunden hat er kein Blatt vor den Mund genommen. Hörensagen, wie gesagt.«

»Die Ehe?«

»Es gibt eine Ehefrau und eine Tochter und eine Enkelin. Mehr weiß ich nicht.«

»Affären, bei ihm oder ihr?«

»Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht.«

»Komm schon! Ist doch immer interessant, wer mit wem das Bett teilt.«

»Für mich nur, wenn es von öffentlichem Interesse ist. Ansonsten könnte ich damit täglich eine Spalte füllen. Was ich an Klatsch so höre! Zwei Spalten, wenn wir dazu nehmen, was du so hörst. Kannst du mir übrigens mal verraten, weshalb du dich für einen Bauunternehmer interessierst, der vom Gerüst gepurzelt ist? Ein Kunde von dir?«

»Er hatte bei mir keine Versicherungen laufen.«

»Aha. Es gibt in dieser Stadt also doch noch vernünftige Menschen. Dann kommen also wieder deine morbiden Veranlagungen zum Vorschein. Vergiss es! Eignet sich nicht mal als Denksportaufgabe, um zu testen, ob deine kleinen grauen Zellen noch funktionieren. Es war ein Arbeitsunfall, wie er in dieser Branche leider hin und wieder vorkommt.«

»Die Witwe ist nicht ganz dieser Meinung.«

»Die Witwe, soso. Du kennt sie also?«

»Flüchtig. Von früher.«

»Ich will gar nicht genau wissen, wie flüchtig.«

»Um mal einen bekannten Lokaljournalisten zu zitieren: Netter Versuch, aber vergiss es. Meine jugendlichen Verirrungen gehen dich nichts an. Oder um es erneut in deinen Worten zu sagen: Sie sind nicht von öffentlichem Interesse.«

»Oh doch! Als Warnung für alle behüteten Töchter.«

»Du bist ein Idiot, weißt du das?«

»Ich höre das gelegentlich, ja, aber ich wage nicht zu widersprechen, weil ich mit der Dame verheiratet bin. Du bist also wieder auf dem Kriegspfad?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.«

»Du lernst auch gar nichts aus deiner Vergangenheit. Wie oft bist du schon auf die Schnauze gefallen, Dillinger?«

»Und wie oft habe ich trotzdem den Fall gelöst?«

»Trotzdem, ja. Du musst eine masochistische Ader in dir haben, dass du dich immer wieder auf solche Geschichten einlässt.«

»Vielleicht treibt uns beide das gleiche an: die schlichte Neugier.«

»Die Presse hat aber die Aufgabe … Ach, vergiss es! Wahrscheinlich hast du recht. Und das kann ich gar nicht leiden, wenn jemand außer mir auch noch recht hat.«

Helmar Haag produzierte viel imaginären Rauch mit seiner Pfeife und schaute düster vor sich hin. Es wurde Zeit, dass der arme Junge ins Freie durfte, um ungehindert seinem Laster frönen zu können.

»Ich sehe, wir sind uns einig«, sagte ich. »Dann lassen wir doch unsere beiderseitige Neugier von der Leine und werfen unsere Erkenntnisse zusammen.«

»Sagen wir mal so: Ich höre mich ein bisschen um und entscheide dann, ob ich neugierig sein werde.«

»Nichts anderes mache ich auch. Ist das schön: zwei alt gewordene Indianer gemeinsam auf dem Kriegspfad.«

»Du Indianer, ich Cowboy. Die Cowboys gewinnen immer. Ist sie eigentlich hübsch, deine flüchtige Bekannte von früher?«

»Ist sie.«

»Ja dann!«

*

Die Schilder an den Baustellen hatte ich schon oft gesehen, aber mit ihnen ist es so wie mit der Verkehrsschildererkennung in neumodischen Autos: Man registriert sie, verschwendet jedoch keinen weiteren Gedanken daran.

Es sei denn, man will bauen. Wollte ich aber nicht. Ich wollte nur wissen, ob mich eventuell ein Vorkommnis interessieren könnte, das als tödlicher Arbeitsunfall zu den Akten gelegt worden war.

Ich war zu Fuß unterwegs. Als ich mein Haus mitsamt dem Stapel unerledigten Papierkram, der nur wenig abgenommen hatte, hinter mir ließ, fing es zu regnen an. Kein Wetter konnte mich schrecken, ich hatte ja keine High Heels an. Ich klappte meinen Mantelkragen hoch, zog die Mütze tiefer über den Kopf und stapfte los.

Mein Weg führte mich über den Weihnachtsmarkt auf dem Marktplatz. Pardon, das hieß ja nicht mehr Weihnachtsmarkt, das war zu profan, das hatte jeder, man nannte das jetzt Weihnachtszauber.

Viel Zauber war nicht. Die Buden sahen trostlos aus im strömenden Regen, die Verkäufer standen sich die Beine in den Bauch und beobachteten hoffnungsvoll die wenigen Glühweintrinker, die sich um diese Tageszeit und bei diesem Wetter hierher verirrt hatten.

Mistwetter! Da sah man wieder mal überdeutlich den Klimawandel. Hatte es ja früher nie gegeben, Regen im Dezember.

Meine täglichen Spaziergänge, dieses Flanieren, das absichtslos gedacht war, hatten konkrete Ziele bekommen. Nein, so konnte man das nicht sagen. Sie führten nur ganz zufällig an Orte, die auf verquere Weise mit etwas zu tun hatten, von dem ich noch entscheiden musste, ob es mich interessieren sollte.

Mir selber in die Tasche lügen, das konnte ich perfekt. Immerhin war ich schon so weit gekommen, dass ich mir das eingestehen konnte. Natürlich hatte mich längst die Neugierde gepackt, nur war ich mir über die Motive für meinen Wissensdurst noch nicht im Klaren. Kleine Denksportaufgabe, hatte Helmar Haag gesagt? Warum nicht.

Ich schritt munter aus, so munter, dass ich den Regen hinter mir ließ, bis ich vor der Baustelle in Hessental stand.

Der Rohbau schloss eine Baulücke und sollte mal ein dreigeschossiges Haus mit sechs Eigentumswohnungen werden, von denen drei schon verkauft waren, wie ich einem Poster am Gerüst entnahm.

Sollte ich mit dem Gedanken spielen, mir tatsächlich eine der Wohnungen zuzulegen, dann sollte ich mich sputen, wenn ich dem Poster glauben durfte. Sonst schnappte mir ein anderer Interessent das Objekt vor der Nase weg.

Gut, dass ich derlei Probleme nicht hatte. Ich war mit meinem alten Haus in der Gelbinger Gasse mitsamt seinen Macken, die so schön zu seinem Bewohner passten, vollauf zufrieden und wollte es um nichts in der Welt gegen einen Neubau tauschen.

Das Haus stand im Rohbau, und auf dem Gerüst war ein Arbeiter damit beschäftigt – nun ja, mit was auch immer.

Ich betrat die Baustelle, ging auf das Haus zu, und sogleich kam ein Mann auf mich zugeschossen. Ich schätzte ihn auf Ende 50, er war von gedrungener Gestalt und hatte kurzes graues Haar. Einer der Bauarbeiter, wie an seiner Kleidung unschwer zu erkennen war.

»Was wollen Sie hier?«, herrschte er mich an. »Können Sie nicht lesen? Unbefugte haben keinen Zutritt.«

»Ich bin befugt. Mich treibt die Neugier.«

»Wenn Sie sich für eine der Wohnungen interessieren, müssen Sie einen Termin ausmachen, dann wird eine Führung organisiert. Allein dürfen Sie nicht auf die Baustelle. Da könnte ja jeder kommen.«

Ich ignorierte ihn und sagte: »Hier ist doch dieser tödliche Unfall passiert? Stand in der Zeitung.«

»In der Zeitung stand aber nicht, wo das passiert ist«, knurrte er.

Ich lächelte ihn freundlich an. »Man hat eben seine Quellen. Sie wissen doch, wie das so ist in einer kleinen Stadt. Einer weiß etwas, das nicht in der Zeitung steht, und bald wissen es alle.«

»Oder einer glaubt, etwas zu wissen.« Sein Gesicht wurde nicht freundlicher.

Ich zuckte mit den Schultern. »So läuft’s halt. Gerüchte setzen ihre eigene Wahrheit.«

»Hä? Kapier ich nicht, aber egal. Verschwinden Sie, sonst packen Sie meine Kollegen am Schlafittchen. Und glauben Sie mir, mit ein paar kräftigen Bauarbeitern möchten Sie sich nicht anlegen.«

Er sah mir böse in die Augen, und plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck.

»Moment mal«, sagte er, »ich kenne Sie doch.«

Tja, das ist der Nachteil einer kleinen Stadt, wenn man einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Undercover geht da gar nichts.

»Haben Sie nicht damals beim Siedersfest für ziemlichen Wirbel gesorgt?«, fuhr er fort. »Ich bin nämlich auch Sieder.«

»In aller Bescheidenheit, ich habe den Wirbel aufgeklärt.«

»Sind Sie nicht tot? So was Ähnliches habe ich doch gehört.«

»Da sehen Sie mal, man soll nicht alles glauben, was man so hört. Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Hat diesmal nicht ganz geklappt. Das nächste Mal mache ich es besser, ich verspreche es.«

Er zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Mir ist das egal, und Ihnen wird’s wohl recht sein. Totgesagte leben länger, was?«

Er lachte meckernd und klopfte mir auf den Rücken. Es war ein Bauarbeiterschlag, der mich etwas aus dem Gleichgewicht brachte.

»Rein so aus Neugier, was?«

»Ein alter Charakterfehler von mir. Ich krieg ihn nicht los.«

»Red keinen Schmarrn, Dillinger. Jeder kennt dein Hobby. Wo eine Leiche ist, ist Dillinger nicht weit. Du hast einen Ruf.«

Waren wir also beim Du, wir Siedersknechte. Auch recht. Machte manches einfacher.

Er streckte mir die Hand entgegen. »Stefan Kubitz. Ich bin hier der Polier und auch so etwas wie die Bauleitung.«

Nach dem Bauarbeiterschlag auf den Rücken konnte mich der Bauarbeiterhändedruck nicht überraschen. Ich überstand ihn, ohne allzu sehr mit der Wimper zu zucken.

»Nichts für ungut«, sagte Kubitz. »Aber Katastrophentourismus ist das Letzte, was wir hier brauchen können.«

»Wie viel Katastrophentouristen waren denn schon hier?«

»Einer. Du.«

Ich sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, gut, ich habe etwas harsch reagiert«, räumte er ein. »Aber man weiß ja nie, was den Leuten so einfällt. Wenn sie schon den Rettungswagen stürmen, nur damit sie ein tolles Foto von einem Unfallopfer machen können …«

Da konnte ich ihm nur zustimmen. So etwas war pervers. Aber so einer war ich nicht, ich hatte andere Gründe.

»Hier ist es also passiert«, sagte ich.

»Auf der anderen Seite. Willst du’s sehen?«

Ich nickte. »Ich verspreche auch, kein Foto zu machen.«

»Dir würde ich das sogar nachsehen. Du hast ja bestimmt deine Gründe.«

Wenn das so einfach wäre! Hatte ich meine Gründe, mich um eine Angelegenheit zu kümmern, die mich in keiner Weise betraf? Ich war nicht über eine Leiche gestolpert, Frieder Schindel war nicht bei mir versichert gewesen, ich hatte ihn nicht gekannt, ich hatte nur mal mit seiner Frau, als sie noch nicht seine Frau war, ein bisschen herumgemacht. Was waren also meine Gründe?

»Komm mit«, sagte der Polier. »Aber vorher besorge ich dir einen Helm. Wenn dir etwas auf den Kopf fällt, bekomme ich Riesenärger. Die Berufsgenossenschaft, verstehst du?«

Mit dem gelben Helm auf dem Kopf fühlte ich mich natürlich gleich viel sicherer.

Stefan Kubitz führte mich um den Bau herum und deutete nach oben. »Da ist es passiert. Willst du hinauf?«

Ich zögerte. Große Höhen waren nicht so mein Ding, und große Höhe war für mich alles, was über eine Vorhangstange hinausging.

Aber ich wollte mir keine Blöße geben und nickte.

»Sei vorsichtig, könnte etwas rutschig sein, hat ja geregnet«, sagte er.

Dann begannen wir den Aufstieg zum dritten Geschoss, er leichtfüßig und unbekümmert vorneweg, ich hasenfüßig und verkrampft hinterdrein. Nur nicht nach unten schauen! Ich fixierte die Leitersprossen vor mir, setzte zaghaft einen Fuß vor den andern und versuchte, an nichts zu denken.

Ein Bauarbeiter tat sich leicht, er kletterte jeden Tag hinauf und herunter, er war das gewohnt.

Endlich waren wir oben, und ich atmete tief durch. Es hatte schon seinen Grund, weshalb sämtliche Türme dieser Welt vor mir sicher waren. Auch bei einem Parisbesuch hatte ich mich nur mit dem Aufzug auf die zweite Plattform ins Spitzenrestaurant Jules Verne tragen lassen und dabei die Augen fest geschlossen gehalten.

Andererseits, von oben sah die Welt ganz anders aus, und ein dreigeschossiges Wohnhaus war ja noch nicht wirklich hoch. Ich hatte nichts gegen schöne Aussichten, wenn ich auf festem Boden stand statt auf einem wackligen Baugerüst, das, wie ich mir einbildete, jeden Moment zusammenbrechen konnte. Ich hatte es lieber, wenn ich von einer Glasfront umgeben war und vor mir ein wohlgefüllter Teller duftete wie seinerzeit im Eiffelturmrestaurant.

Stefan Kubitz hatte mein Unbehagen bemerkt.

»Höhenangst?«, fragte er.

Ich nickte und sagte: »Wie ihr das aushaltet jeden Tag!«

»Schwindelfrei solltest du schon sein in diesem Job. Und der Rest ist Routine. Wenn du tagaus, tagein hier herumkletterst und arbeitest, machst du dir keine Gedanken mehr. Du fühlst dich auf sicherem Boden.«

»Umso unbegreiflicher ist für mich, dass jemand mit dieser Routine doch abstürzen kann.«

Er lehnte sich lässig an das Geländer, an dem ich mich so krampfhaft festhielt, dass meine Fingerknöchel weiß wurden, und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Vielleicht gerade deswegen«, sagte er. »Was ich unseren Stiften immer predige: Auch wenn das für dich normal ist, auch wenn du dich so sicher fühlst wie in Abrahams Schoß, sei trotzdem vorsichtig. Übervorsichtig. Warum sägt sich ein Schreiner die Finger ab? Warum zerquetscht sich ein Schlosser die Hand? Warum stürzt ein Dachdecker vom Dach oder ein gelernter Maurer vom Gerüst? Einen Moment unachtsam, und das war’s dann. Die ganzen Sicherheitsmaßnahmen sind gut und schön, aber wenn du eine Sekunde mit den Gedanken woanders bist, dann hast du vielleicht ein Problem.«

»Hatte es an jenem Tag auch geregnet?«, fragte ich.

»Wann hat es mal nicht geregnet in letzter Zeit?«, gab er zurück. »Klar, da kann es schon mal etwas rutschig sein, aber das weiß man und passt auf. Normalerweise.«

Meine Anspannung hatte sich etwas gelöst, und ich wagte einen Blick nach unten.

Drei Geschosse waren definitiv hoch genug, um sich den Hals zu brechen.

»Wie genau ist es passiert?«, fragte ich.

Wie er so dastand mit seinen verschränkten Armen, konnte man den Eindruck gewinnen, er finde es ganz gemütlich hier oben. War wohl auch so. Er war es eben gewohnt. Ich hingegen achtete darauf, mich immer irgendwo festhalten zu können, am Geländer, an einem Stellrahmen.

»Es war ein Tag ähnlich wie heute«, rekapitulierte Stefan Kubitz. »Regnerisch, kalt, etwas windig. Unschön, aber es geht, wenn man sich entsprechend anzieht.«

»Ich habe gedacht, im Winter ist sowieso Pause auf den Baustellen.«

»Nur, wenn es gar nicht anders geht. Bei Schnee oder heftigen Minusgraden. Ansonsten wirkt geackert, bei jedem Wetter. Wir rennen sowieso unseren Zeitplänen hinterher.«

»Zu viel vorgenommen?«

»Zu wenig qualifizierte Arbeiter. Find mal heute einen Arbeiter, der sein Geschäft versteht, und der weiß dann genau, was er verlangen kann. Da musst du notgedrungen auf Leute aus dem Ausland zurückgreifen. Die sind zwar billig, dafür können sie aber nichts. Denen musst du noch beim Pinkeln die Hand führen. Ich habe dem Chef oft gesagt, dass wir so nicht weitermachen können, aber was hilft’s, wenn die Termine purzeln.«

War das der Grund für die Beschwerden der Kunden, von denen Helmar Haag gehört hatte? Doch die Qualitätssicherung des Hohenloher Baugewerbes war nicht mein Thema, es sei denn, ein unzufriedener Bauherr hatte den Chef vom Gerüst gestoßen. Ein reichlich absurder Gedanke.

»Wir waren bei dem Unfall«, versuchte ich, Stefan Kubitz wieder in die Spur zu bringen.

»Es muss so um 17 Uhr gewesen sein, ganz genau weiß ich es nicht, aber es fing schon an, dunkel zu werden. Die Kollegen hatten bereits Schluss gemacht, ich war noch auf der Baustelle, ich hatte im Bauwagen zu tun, da kam der Chef angebraust. Er hatte eine scheiß Laune, weil wieder irgendwas nicht gestimmt hat. Ich kam gar nicht dazu, ihn genauer zu fragen, er ist nach hinten gestürmt, also wo wir jetzt sind, und über den Rest kann ich nur spekulieren, ich war ja nicht dabei. Er muss genauso das Gerüst hochgestürmt sein, ich habe es klappern hören …«

»Im fast Dunkeln?«

»Es gibt Taschenlampen. Tja, und dann habe ich einen Schrei gehört und einen dumpfen Aufschlag. Ich natürlich nach hinten, und da lag er. Ich habe gleich gesehen, dass da nichts mehr zu retten war. Weißt du, wenn einer abstürzt und sich die Knochen bricht, dann liegt er so seltsam verrenkt da.«

Ich nickte. Ich wusste das. Ich dachte an den Bauern Huber aus Hohenberg, den ich genauso in seiner Scheune gefunden hatte.

»Was könnte passiert sein?«, fragte ich.

»Darüber zerbreche ich mir seitdem den Kopf, das kannst du mir glauben. Wenn man einen solchen Zorn hat wie er, dann wird man unvorsichtig. Er muss ausgerutscht sein und aus die Maus, anders kann ich mir’s nicht erklären.«

»Und außer dir war niemand sonst auf der Baustelle?«

»Niemand.«

Er sah mich plötzlich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an und lachte.

»Ich verstehe, der Detektiv bei der Arbeit! Korrektur: Ich habe niemanden gesehen oder gehört. Aber wer sollte sich hier herumtreiben, vor allem, wenn es fast schon dunkel ist?«

»Vielleicht jemand, der sauer auf ihn war? Gab’s da jemanden?«

»Jede Menge! Der Chef war ziemlich aufbrausend und hat kein Blatt vor den Mund genommen, wenn er wütend war. Das hat nicht jeder vertragen. Erst kürzlich hat er einen unserer Leute so zur Schnecke gemacht, weil der was verbockt hatte, Mann oh Mann, da blieb kein Auge trocken. Der hat zwar bestimmt nichts verstanden, der kommt aus Rumänien, aber wenn der Chef so richtig stinksauer war, dann hast du das auch ohne Worte kapiert. Aber dass der deswegen … Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ein wütender Kunde?«

»Der geht zum Rechtsanwalt und klettert nicht auf ein Gerüst und wartet, bis der Chef vielleicht irgendwann mal auftaucht.«

Plötzlich fiel mir etwas auf. Ich hielt mich nicht mehr krampfhaft irgendwo fest. Ich stand fast so lässig auf dem Gerüst wie der Polier. Ich konnte nach unten schauen, ohne dass die Gedärme grummelten. Halleluja! Wohin immer mich diese Geschichte führen sollte, wenn ich damit meine Höhenangst überwinden konnte, hatte es sich schon gelohnt.

Jetzt war ich auch in der Lage, mir das Gerüst, auf dem ich freihändig und unverkrampft stand, näher anzuschauen.

Es wäre schon möglich. Wenn man sich weit über das Geländer beugte, konnte man das Übergewicht kriegen. Ein plötzlicher Schwindelanfall vielleicht, Herzanfall, etwas in der Art.

Konnte man auch ausrutschen und unter dem Geländer hindurch in den Abgrund fallen? Schwer vorstellbar. Seitlich am Gerüstboden war ein schmales Brett befestigt, das bestimmt einen Fachbegriff hatte und das wohl verhindern sollte, dass sich ein Eimer Mörtel selbstständig machte. Um dieses Brett, jetzt mal sportlich gesprochen, zu überwinden, bräuchte man einen gehörigen Schwung. Wenn es nicht vorher jemand abmontiert hatte.

Genauso gut konnte man jemanden über das Geländer in die Tiefe befördern. Wenn sich das Opfer wehrte, müsste es ein Gerangel geben, und das müsste man hören. Wenn man das Überraschungsmoment nutzte, könnte es auch ohne allzu großen Lärm gehen.

Alles war denkbar.

»Sag mal«, wandte ich mich an den Polier, »hast du irgendwas gehört, als der Chef auf dem Gerüst war?«

»Klar. Den Chef halt. Wenn du wie ein wütender Stier hier entlang stapfst, dann scheppert das ganz schön.«

Schepperte es so laut, dass dies einen möglichen anderen übertönte? Einen Kampf? Kubitz hatte sich auf der anderen Seite des Hauses befunden, vielleicht konnte er gar nicht so genau hören, was sich hier oben abgespielte. Konnte nicht unterscheiden, wie viele Personen möglicherweise auf dem Gerüst waren.

Interessant.

»Wie war dein Verhältnis zum Chef?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ging so. Ich habe noch beim Senior gelernt, und das waren andere Zeiten. Für uns war es das Wichtigste, gute Arbeit abzuliefern, die Kunden sollten zufrieden sein, dann waren wir es auch und der Finanzminister ebenso. Und heute? Muss alles ganz schnell gehen. Umsatz, Umsatz, Umsatz und expandieren mit aller Gewalt. Mir kann’s egal sein, ist ja nicht meine Firma.«

»Und seine Frau? Die Witwe? Die neue Chefin?«

»Kenne ich kaum. Nur von den Weihnachtsfeiern. Auf einer Baustelle habe ich sie nie gesehen, hätte sich ja ihre manikürten Fingerchen schmutzig gemacht. Die war doch nur damit beschäftigt, das Geld auszugeben, das Frieder herangeschafft hat. Sogar ein neues Haus hat sie sich bauen lassen. Sie hat sich auch jetzt noch nicht blicken lassen, wir wissen nicht, wie es mit der Firma weitergeht. Wie auch immer, wir haben genug Arbeit, und deshalb ist jetzt Schluss mit der Plauderstunde, ich habe zu tun.«

Die Leitern abwärts hielt ich mich dann doch ganz fest. Und das war gut so. Einmal rutschte ich aus, und hätte ich mich nicht festgehalten, hätte es jede Menge blaue Flecken gegeben, vielleicht noch Schlimmeres.

Es war also doch möglich.

*

Elisabeth hatte nicht übertrieben. Sie war in der Tat eine gute Köchin und hatte zumindest einen Weinhändler, der sein Metier verstand.

Zur Einstimmung servierte sie eine Entenleberterrine, die freilich, wie sie zugab, nicht selbstgemacht war und trotzdem hervorragend schmeckte, dazu gab es einen Sauternes von der teureren Sorte und unverfängliches Geplauder über dies und jenes. Erst mal warm werden. Sich gegenseitig abtasten. Wie bei einem ersten Date. War ja auch so etwas Ähnliches.

Bevor sie wieder in der Küche verschwand, öffnete sie einen Sylvaner von Michael Teschke, der, sagte sie, so eigenwillig war, wie man es seinem Erzeuger zuschrieb.

Wusste sie wirklich Bescheid oder hatte sie sich eingelesen? Damals auf der Limpurg schütteten wir billigen Fusel aus Zweiliterflaschen in uns hinein. Mehr Geld hatten wir nicht und auch nicht mehr Verstand. Viel hatte sich geändert seitdem, auch bei mir, wir hatten alle unsere Erfahrungen gemacht. Es war schade, dass ich nur noch vage Erinnerungen an die Lizzy von damals hatte, der Vergleich zwischen früher und jetzt wäre interessant gewesen.

Die Elisabeth von heute war sehr darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen. Bella figura. War ja nichts dran auszusetzen. Bei einer schönen Frau schaute man gern dorthin, wo es etwas zu sehen gab. Auf eine weiße Tunika mit erfreulichen Einblicken, ein Lob den Push-ups. Auf einen weit schwingenden, weich fließenden Midirock, der genug Bein sehen ließ, das wieder mal die bemerkenswerte Wirkung von High Heels auf die Muskulatur unterstrich.

Mit den Stöckelschuhen hatte sie es wohl. Aber es war eine Sache, ob man sie gefahrlos zu Hause trug oder damit bei Matschwetter zu einem Versicherungsvertreter stiefelte, dem man früher mal flüchtig begegnet war. Mir wird zwar immer unbegreiflich bleiben, wie man in diesen Dingern überhaupt gehen kann, ohne sich die Füße kaputt zu machen, aber ich musste sie ja auch nicht anziehen, ich sollte nur gaffen und mich meinen niederen männlichen Instinkten überlassen.

Das alles war sehr edel und erfreulich anzuschauen.

Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich auch hier, wie bei ihrem ersten Auftritt in meinem Büro, eine sorgfältig geplante Inszenierung erlebte. Mit mir als einzigem Zuschauer und Mitspieler in einer Person.

Eine weiße Bluse, während man kocht?

Vorsicht, Dillinger!, ermahnte ich mich. Schau genau hin, welche Rolle dir zugedacht ist.

Während es aus der Küche verführerisch zu duften begann, sah ich mich in dem großen Raum um, der ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer war. Er war dezent modern und geschmackvoll eingerichtet, offensichtlich hatte sich hier kein Innenarchitekt austoben dürfen. Oder er war ziemlich eingebremst worden.

Die Wohnung war repräsentativ und gleichzeitig gemütlich. Ein Kunststück, das man erst einmal fertigbringen musste. Und das war eindeutig die Handschrift einer Frau.

Ein Mann hätte ein heilloses Chaos hinterlassen oder alles penibel und effektiv hingerichtet. Er hätte nicht hier einen Blumenstrauß hingestellt und dort einen schönen Krug, er hätte nicht den Esstisch stilvoll eingedeckt mit Kerzen, Stoffservietten und Platztellern, mit einer Besteckreihe links und rechts, anhand derer der Eingeweihte ablesen konnte, wie viele Gänge er zu erwarten hatte.

Nein, das war das Werk einer Frau, und diese begann allmählich, interessant zu werden.

Von außen hatte es ganz anders ausgesehen.

Das Haus auf der Mittelhöhe, einem der jüngeren Schwäbisch Haller Neubaugebiete, wirkte wie der bewohnbare Werbeprospekt für das grundsolide Bauunternehmen Schindel. Vertraue dich uns an, wollte es sagen, du bekommst von uns etwas, das gerade genug abseits der Norm liegt, dass es heraussticht aus den Einheitshäusle rings umher, aber keineswegs so extravagant ist, dass man sich langatmig rechtfertigen müsste für etwas, das in den Augen vieler nur schlechter Geschmack war. Ein Musterhaus.

Prunkstück in diesem Raum war der überdimensionierte offene Kamin an der fensterlosen Seite, in dem ein behagliches Feuer loderte. Auf dem Sims eine Bildergalerie in unterschiedlichen Rahmen verschiedener Größe.

Ich wollte mir die Fotos gerade näher anschauen, als Elisabeth mit zwei dampfenden Tellern aus der Küche kam.

Es duftete gut, und es schmeckte genauso. Bei Kabeljau-Loins im Fenchel-Safran-Sud kam die Dame des Hauses dann ohne Umschweife zur Sache.

»Und? Hast du dir’s überlegt? Hilfst du mir?«

Ich schluckte den Appell an meine ritterlichen Gene mit einem Bissen Kabeljau hinunter, perfekt gegart, in der Mitte fast noch glasig, und zuckte mit den Schultern.

»Ich schwanke noch«, sagte ich.

»Weswegen?«

»Wegen meines festen Vorsatzes, mich nicht mehr in kriminalistische Ermittlungen, gleich welcher Art, verwickeln zu lassen. Ist mir in der Vergangenheit nicht immer gut bekommen.«

»Vorsätze sind gut, wenn man sich nicht sklavisch an sie hält«, entgegnete sie, nachdem sie den knackig geschmorten Fenchel geschluckt hatte. »Außerdem ist ja gar nicht gesagt, dass es sich um kriminalistische Ermittlungen handelt. Das eben möchte ich erst herausfinden. Vielmehr von dir herausfinden lassen.«

»Warum überlässt du das nicht der Polizei?«

»Die Akte ist geschlossen. Keine Anzeichen von Fremdeinwirkung, hat es geheißen.«

»Aber ermittelt wurde?«

»Ist wohl immer so bei derartigen Unfällen, schon der Versicherung wegen. Aber ich hatte den Eindruck, es war nur Routine, die man schnell hinter sich bringen wollte.«

»Vielleicht war es auch tatsächlich nur ein Unfall.«

»Finde es heraus!«

»Erzähl mir, was passiert ist. Und warum du Zweifel hast.«

»Deswegen bist du ja da. Aber erst muss der nächste Gang auf den Herd.«

Ich ging ihr hinterher in eine Küche, die ich als halbprofessionell klassifizieren würde. Es war alles drin, was der ambitionierte Hobbykoch teuer bezahlen musste. Mittelpunkt war ein Herd, auf den ich schon lange ein Auge geworfen hatte, vergeblich leider, weil die Statik meines Hauses nicht mitmachte, von meinem Bankkonto mal abgesehen. Ein riesiges Ding mit sechs Kochplatten, gasbeheizt, und zwei Röhren. Ich war schwer beeindruckt, und das sollte ich wohl auch sein.

»Kann ich mich nützlich machen?«, fragte ich.

»Du kannst den Wein aufmachen.«

Sie reichte mir eine Flasche Spätburgunder aus der Ortenau, Großes Gewächs. Ich entkorkte sie, goss etwas in ein Glas, schnüffelte, schlürfte, kaute und nickte zufrieden. Kein schlechtes Tröpfchen. Und bestimmt nicht billig.

Derweil bepinselte Elisabeth zwei ausgelöste und sorgsam gesäuberte Rehrücken mit Öl, würzte mit Salz, Pfeffer und zerdrückten Wacholderbeeren und gab das Fleisch in die heiße Pfanne.

»Aus hiesigen Wäldern«, kommentierte sie. »Ein Onkel von mir ist Jäger.«

Das Wild wurde nur kurz, aber scharf angebraten, dann kam es in den heißen Ofen.

Elisabeth stellte einen Wecker. »Fünf Minuten«, sagte sie. »Und danach noch kurz ruhen.«

Ich stellte sie auf die Probe. »Zehn Minuten.«

»Ach was«, sagte sie. »Vier Minuten reichen. Es ist nur ein kleiner Rücken. Flach.«

Probe bestanden. Sie tat nicht nur so, sie verstand tatsächlich etwas vom Kochen. Trotzdem hatte ich ein weiteres Mal den Eindruck, dass ich einer Inszenierung beiwohnte, mit dem Ziel, mich zu beeindrucken und zu umgarnen. Ich war gespannt, wie weit sie gehen würde.

Vorerst erhitzte sie eine andere Pfanne und gab einige Scheiben Serviettenknödel hinein.

»Und jetzt brauche ich ein Glas Wein«, sagte sie. »Damit kocht es sich besser.«

Wir prosteten uns zu, und während Serviettenknödel und Rehrücken vor sich hin brutzelten, der Wecker klingelte, das Fleisch aus der Röhre geholt und zugedeckt auf die Seite gestellt wurde, lüpfte ich die Deckel der anderen Töpfe auf dem Herd, sah einen Rahmwirsing, der warm gehalten wurde, eine dunkle, sehr sämige Soße, die leise vor sich hin köchelte, und freute mich auf meinen gefüllten Teller. Gleichgültig, was Elisabeth bezweckte und was der Abend noch bringen mochte: Für dieses Essen und diesen Wein hatte er sich allemal gelohnt.

Die Frau wusste genau, wie sie mich ködern konnte.

Woher sie das wohl hatte? Es war ja nicht so, dass ich der Vorsitzende des örtlichen Gourmetklubs wäre, der regelmäßig seine Ratschläge im Lokalblatt erteilte. Sicher, man kannte mich in der Stadt, doch nur in den einschlägigen Kreisen, und dazu hatten die Schindels bisher nicht gehört.

Wir aßen mit Genuss. Alles war perfekt. Die teure Küche war nicht nur Show, da verstand jemand, sie auch zu nutzen.

In stillschweigendem Einvernehmen vermieden wir während des Essens hässliche Themen wie zum Beispiel einen tödlichen Sturz vom Gerüst, fachsimpelten über gutes Essen und guten Wein, ließen ab und an etwas Privates aus der Geheimschublade lugen und plauderten weiter über dieses und jenes. Kurz, es war ein entspannter Abend.

Doch ewig ließ sich das eigentliche Thema nicht umgehen.

Nach dem Dessert, einer selbstgemachten Crème Bavaroise, einer Bayerischen Creme also, die klassischste Nachspeise überhaupt, die an sich kein Hexenwerk ist, aber viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung benötigt, was junge Köche nicht mehr haben, die lernen nur, wie man ein Päckchen aufreißt – nach dem Dessert also öffneten wir die zweite Flasche Spätburgunder und verzogen uns auf die Sitzlandschaft, die den Raum füllte. Bequem war anders, aber das wuchtige Ding machte was her.

Ich hatte schon längst beschlossen, dass ich meinen Wagen stehen lassen und mir ein Taxi nehmen würde. Es gab also keinen Grund mehr, mich zurückzuhalten. Trotzdem versuchte ich es und achtete darauf, Elisabeth immer etwas mehr einzuschenken als mir.

»Wie ist es passiert?«, fragte ich schließlich. Mal sehen, ob ihre Version von der des Poliers abwich.

»Eigentlich ganz banal. Frieder ist noch mal auf die Baustelle und das Gerüst hoch, er wollte wohl was überprüfen, und dann ist er abgestürzt, aus welchen Gründen auch immer. So hat man es mir erzählt, ich war ja nicht dabei.«

»Wer hat das erzählt?«

»Stefan Kubitz, unser Polier.«

»Er war dabei?«

»Sozusagen. Er war ebenfalls noch auf der Baustelle, keine Ahnung, warum. Den Sturz selbst hat er nicht gesehen, sagt er, nur – nun ja, das Ende. Als Frieder da lag und sich nicht mehr gerührt hat. Muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Einzelheiten hat er nicht erzählt, und ich wollte sie auch nicht wissen.«

»Was hat der Polier sonst noch gesagt? War noch jemand auf der Baustelle? Hat es einen Streit gegeben? So was in der Art.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.«

Interessant. Entweder hatte der Polier der Witwe nicht alles gesagt, was er wusste. Oder sie sagte es mir nicht. Oder, dritte Möglichkeit, der Polier hatte mir etwas gesagt, was gar nicht zutraf. Oder etwas verschwiegen. Aber warum?

»Was bringt dich auf den Gedanken, dass es kein Unfall gewesen sein könnte?«

»Gerade weil dieser sogenannte Unfall so banal war. Himmel, Frieder ist sein ganzes Leben auf Gerüsten herumgeturnt, das war sozusagen sein zweites Zuhause. Er hat Maurer gelernt und auch dann, als er die Firma übernommen hatte, oft selber mit angepackt. Mir ist immer ganz schwindlig geworden, wenn ich ihn da oben gesehen habe, aber für ihn war das normal. Nein, da macht man nicht so einen Fehltritt. Ausgeschlossen.«

Vielleicht eben doch. Wie hatte der Polier gesagt? Wenn man sich zu sicher fühlt, wird man leicht unaufmerksam, und dann kommt es eben doch zu einem Fehltritt.

»Nehmen wir mal an, es war kein Unfall«, sagte ich. »Dann hat ihn jemand heruntergestoßen, und derjenige muss ein Motiv dafür gehabt haben. Wer könnte das sein? Gab es Ärger mit jemandem?«

»Oh je, die Liste ist lang. Es gab ständig Ärger. Mit den Bauherren, mit den Lieferanten, mit den Mitarbeitern. Weißt du, Frieder war ein rechter Hitzkopf und konnte sehr grob werden. Das hat nicht jeder vertragen. Ich möchte jetzt niemanden anschwärzen, das wäre unfair. Und ich weiß ja auch nicht genau, was in der Firma gelaufen ist.«

Sie machte es mir nicht leicht. Ein klitzekleiner Anfangsverdacht wäre schon hilfreich gewesen. Und den hatte sie bestimmt, das hatte ich schon gestern gespürt, als sie bei mir im Büro war. Aber bitte, wenn sie es so haben wollte! Das machte die Geschichte für mich nur spannender. Und rätselhafter.

»Ich nehme an, du bist die Alleinerbin?«

Sie nickte.

»Verzeih mir, aber ich muss das so sagen: Damit hast du ein erstklassiges Motiv. Als Witwe bist du jetzt sozusagen eine gute Partie.«

Sie sah mich erst erstaunt an, dann lachte sie schallend.

»Gute Partie! Das ist gut, das ist wirklich gut.«

Sie beugte sich zu mir vor. »Dieses Haus gehört mir. Die Hälfte der Firma gehörte vorher schon mir. Stimmt, es gibt da noch eine Lebensversicherung, aber die reicht gerade, um die Verbindlichkeiten der Firma zu decken. Was ich erbe, sind die 40 Prozent an der Firma, die Frieder hielt. Die restlichen zehn Prozent gehören zu gleichen Teilen seiner Mutter und seinem Bruder.«

Jetzt sah ich sie erstaunt an, und sie lächelte.

»Mein Vater hatte ein Sanitärgeschäft in Untermünkheim, mit allem, was so dazugehört. Bauflaschnerei, Heizung, Solar, die ganze Palette. Lief in den letzten Jahren offenbar blendend. Als es mit ihm gesundheitlich bergab ging, hat er verkauft. Zu einem guten Preis. Und gerade noch rechtzeitig, kurz darauf ist er an Krebs gestorben. Und meine Mutter wenig später an einem Herzinfarkt. Ich bin das einzige Kind, ich habe alles geerbt. Einschließlich meines Elternhauses und der drei anderen Häuser, in die mein Vater investiert hatte. Ließ sich alles finanziell sehr erfreulich loskriegen.«

»Mit dem Geld bist du in die Firma deines Mannes eingestiegen?«

Sie nickte. »Mit einem Teil davon, im Zuge einer Kapitalerhöhung. Die Firma konnte es gebrauchen, Frieder wollte expandieren, und man hilft ja seinem Mann, nicht wahr? Aber ich war nur stille Teilhaberin. Sicher, ich war grob informiert, was lief, aber um Details habe ich mich nie gekümmert. Davon verstehe ich nichts.«

»Das heißt, es könnte einige Leichen im Keller geben, von denen du nichts weißt?«

»Wie du das sagst! Da gruselt es einen ja richtig. Aber du hast recht, ich sollte mich drum kümmern.«

»Und du hast mit deinem Erbe dieses Haus hier gebaut. Hübsch.«

Sie stand auf, ging zu dem großen Panoramafenster und schaute hinaus ins Dunkle. Soweit man überhaupt von Dunkel reden konnte bei all den weihnachtlichen Lichterspielen in der Siedlung.

»Anfangs haben wir in Vellberg im Familienhaus gewohnt«, sagte sie. »Platz genug war ja, das war schon immer ein Mehrgenerationenhaus gewesen. Aber es kam, wie es kommen musste. Der Klassiker. Schwiegermutter und Schwiegertochter kamen nicht miteinander zurecht. Sie hat sich in alles eingemischt, auf so eine hinterhältige, giftige Art. Und es wurde noch schlimmer, als Frieders Vater starb. Da schwang sich die gute Gisela zur alles beherrschenden Patriarchin auf. Und Frieder, mein Mann, der Chef eines Bauunternehmens, wurde wieder zum kleinen Buben, der am Rockzipfel seiner Mutter hing. Mit seinem Vater hat er wenigstens noch ausgiebig gestritten, bei der Mutter wagte er es nicht. Es war nicht zum Aushalten.«

»Deshalb das eigene Haus hier. War bestimmt nicht einfach, deinen Mann dazu zu überreden.«

Sie drehte sich zu mir um und lächelte.

»Es blieb ihm nichts anderes übrig.«

»Hat sich dadurch dein Verhältnis zur Familie gebessert?«

»Hier bin ich die Chefin. Das ist das Einzige, was zählt.«

»Du hast vorhin einen Bruder erwähnt.«

Sie kam wieder herüber zur Sofalandschaft, griff nach ihrem leeren Glas und hielt es mir auffordernd hin. Ich schenkte nach. Sie ließ sich mit untergeschlagenen Beinen in eine Ecke sinken. Weit genug weg von mir, damit ich den Anblick bewundern konnte.

Sie nahm einen kräftigen Schluck.

»Der Schwiegervater wollte es in seinem Testament gerecht machen«, sagte sie. »Die Frau bekommt das Haus und zehn Prozent der Firmenanteile, die beiden Söhne erben die restlichen 90 Prozent zu gleichen Teilen. Vielleicht wollte Frieder mit diesem Testament auch ein Friedensangebot machen.«

»Moment – was hatte dein Mann mit dem Testament zu tun?«

»Frieder der Ältere. In dieser Familie heißen alle Erstgeborenen Frieder.«

»Und die Mädchen?«

»Die gelten nichts, da darfst du frei wählen. Großzügig, nicht wahr? Die Schwiegermutter nimmt mir bis heute übel, dass ich nur ein Mädchen geboren habe und danach keine Kinder mehr wollte.«

Sie hielt mir erneut ihr leeres Glas hin, doch in der Flasche war nur noch ein kümmerlicher Rest.

»Köpfen wir noch eine«, sagte sie. »Ich seh’s dir an, dass du noch viele Fragen hast.«

Sie stand auf und ging in die Küche. Ich sah ihr nach. Sie ging beschwingt, aber ohne Schwanker oder Aussetzer. Diese Frau war erstaunlich trinkfest.

Sie reichte mir die Flasche, ich entkorkte sie und schenkte nach. Ihr mehr, mir weniger.

Sie setzte sich näher zu mir. Ziemlich viel näher.

»Was wollte ich sagen? Ach ja, Alex, der Bruder. Der ist sozusagen aus der Art geschlagen. Hat sich nie für die Firma interessiert, er fühlt sich zum Künstler berufen. Und da die Schindels nun mal alle fürchterliche Dickschädel sind, hat er das durchgezogen, mit Studium und allem. Für eine Familie, die seit Generationen Handwerker hervorgebracht hat, war das ein schwerer Schlag. Damit konnten sie nichts anfangen, das war außerhalb ihrer Welt. Gab auch viel Zoff deswegen, ich habe es miterlebt. Ich denke, sein Vater hat sich irgendwann damit abgefunden, wenn er es auch nie wirklich akzeptieren konnte, deshalb die Hälfte der Firma als Erbe. Vielleicht war es auch die Hoffnung, dass der Junge es sich anders überlegt und doch noch zur Vernunft kommt, also in die Firma einsteigt.«

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du gesagt, dass Alex fünf Prozent der Firma hält.«

Sie nickte. »Alex ist natürlich nicht zur Vernunft gekommen. Das Einzige, was ihn an der Firma interessierte, war die Gewinnausschüttung. Alex ist sensationell erfolglos, was mich nicht wundert bei seinen Werken, und deshalb immer klamm. Und er hat nie verstanden, weshalb man den Großteil des Gewinnes in der Firma belässt und nicht vollständig ausschüttet. Frieder hat ihn nach und nach ausbezahlt, wie es die Geschäfte eben zuließen. Gereicht hat es Alex nie, die Brüder lagen sich deswegen ständig in den Haaren.«

»Was passiert jetzt mit der Firma? Wirst du sie weiterführen?«

»Ich? Ganz bestimmt nicht!«

»Habe ich mir fast schon gedacht. Du firmierst ja auch nicht als Geschäftsführerin, sondern ein gewisser Eduard Poschinski. Wer ist das?«

»Unser bisheriger Prokurist. Eine GmbH braucht nun mal einen Geschäftsführer.«

»Guter Mann?«

»Sehr ehrgeizig. Zu große Ambitionen, meiner Meinung nach. Aber ich brauche ihn momentan noch. Es ist am besten so im Moment. Er kennt nun mal die Firma bis ins letzte Detail, und einer muss ja dafür sorgen, dass die Geschäfte weiterlaufen. Ist aber nur eine Übergangslösung.«

»Bis du das Ruder selbst übernimmst?«

»Bewahre! Das würde nicht funktionieren. Ich bin nicht vom Fach, und schlimmer noch, ich bin eine Frau. Was glaubst du, was unsere Leute auf dem Bau mit mir machen? Wenn sie mich nur ignorieren, habe ich Glück gehabt. Sicher, ich habe im Laufe der Jahre so einiges mitgekriegt, aber nicht genügend. Ich bin gelernte Friseurin. Soll ich denen sagen, wie man eine Mauer hochzieht? Die lachen mich nur aus. Nein, ich verstehe nichts vom Baugeschäft, ich verstehe überhaupt nichts von Geschäften. Die Firma wird verkauft.«

»Wie stehen die Chancen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe mich noch nicht darum gekümmert.«

»Du hast was von Schulden gesagt.«

»Im Rahmen des Üblichen, soweit ich weiß. In dem Geschäft musst du viel vorfinanzieren, das geht nicht ohne die Banken.«

»Wie war eure Ehe?«

»Jetzt will er’s aber wissen!« Sie zuckte mit den Schultern. »Höhen und Tiefen, wie das eben so ist. Soweit okay.«

Sie ließ den Spätburgunder kreisen und schaute nachdenklich ins Glas.

»Nun ja, und jetzt hat sich die Situation geändert. Man muss das ganz pragmatisch sehen. Ich bin wieder frei. Allein. Und einsam.«

Endlich! Die Nachtigall schlich sich an.

Sie leerte ihr Glas mit einem Zug.

»Wir haben ganz schön gebechert, was? Deinen Wagen solltest du besser stehen lassen. Du kannst gerne bei mir übernachten.«

Die Nachtigall trapste gewaltig.

Ich lächelte sie an. »Ich schlafe nicht gern in einem fremden Bett.«

»Auch nicht, wenn in diesem Bett eine einsame Frau liegt?«

Hoppla! Elisabeth Irgendwas, ihren Geburtsnamen hatte ich nie erfahren, nunmehr verwitwete Schindel, steuerte ihr Ziel ohne Umschweife an. War sie seinerzeit auf der Limpurg auch so direkt gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.

Ich versuchte es mit Diplomatie, wozu ich mitunter durchaus in der Lage bin.

»Ein verlockendes Angebot«, sagte ich, und das war es ja durchaus. »Aber keine gute Idee. Ich bin – nun, sagen wir mal: etwas indisponiert. Ich bin noch in der Rekonvaleszenz.«

Wenn sie enttäuscht war, zeigte sie es nicht.

»Wie du meinst. Dann werfe ich dich jetzt raus. Ich bin müde und etwas angeschickert.«

Sie verabschiedete mich mit einem Händedruck, der dem des Poliers wenig nachstand. Wenigstens damit könnte sie auf der Baustelle punkten. Und gegen die Wangenküsschen hätten ihre Leute bestimmt auch nichts einzuwenden gehabt.

Ich hatte reichlich getrunken, das stimmte, doch ich schwankte nur unbedeutend. Deshalb verzichtete ich auf das Taxi und machte mich zu Fuß auf den Weg hinab ins Städtchen. War ja nicht weit.

Wenn man die Bebauung der Mittelhöhe hinter sich ließ, führte ein Fußweg immer die Straße entlang, vorbei am Schenkensee-Bad rechts und den verbliebenen Feldern links, die sicherlich auch bald einem Neubaugebiet weichen mussten.

Schwäbisch Hall war ein attraktiver Wohnort. Als herausgeputzte Fachwerkstadt sowieso. Und es war noch nicht so teuer wie eine Großstadt, wenngleich auch hier, im ländlich geprägten Hohenlohe, die Preise rapide anzogen. Und es war die Region der Weltmarktführer, was attraktive Arbeitsplätze versprach. Und, so ganz nebenbei, bemaß sich die Besoldung eines Oberbürgermeisters auch nach der Einwohnerzahl.

Schwäbisch Hall war gut ausgeleuchtet. Es wäre schön gewesen, hätte man wenigstens hier, entlang der Felder, die in winterlicher Ruhe dösten, einen Blick auf den Nachthimmel werfen können. Aber nichts da, die Beleuchtung neben dem Fußweg unterband das erbarmungslos.

Na ja, egal, war sowieso nichts mit dem sternefunkelnden Himmel, es hatte leicht zu schneien begonnen.

Eine seltsame Geschichte.

Eine seltsame Frau.

Sie hatte Geld investiert in eine Firma, um die sie sich nicht kümmerte. Das zeugte von Gottvertrauen, himmelschreiender Verliebtheit oder gnadenloser Dummheit. Vielleicht alles zusammen. Vielleicht ein Potemkin’sches Dorf, um mich – was? Zu verwirren? Auf eine falsche Spur zu lenken?

Es war noch keine drei Wochen her, dass ihr Mann tödlich abgestürzt war. Was hatte sie zu ihrer Ehe gesagt? Soweit okay.

Ein dehnbarer Begriff offenbar. Sie machte nicht den Eindruck einer trauernden Witwe. Sie hätte mich ohne Zögern ins Bett gezogen, wenn ich nur gewollt hätte. Und ehrlich gesagt, es hatte mich ziemlich viel Selbstdisziplin gekostet, es nicht zu wollen. Oder vielmehr, es abzulehnen. Die alten Reflexe. Dillinger, der keiner schönen Frau widerstehen kann. Hatte sie das gewusst? Darauf spekuliert?

An der Bausparkasse vorbei ging ich weiter die Crailsheimer Straße hinab. Ich war der Einzige, der zu Fuß unterwegs war, nur ab und zu rauschte ein Auto an mir vorbei.

Ich passierte das Langenfelder Tor, einen Torturm der ehemaligen Stadtbefestigung, und kam an der Kirche Sankt Michael vorbei zum Markplatz.

Ein Duft von Glühwein und schlechtem Fett hing noch über den Buden des Weihnachtsmarktes, dem man jetzt, da der Schneefall stärker wurde, eine gewisse Romantik nicht absprechen konnte. Der weiße Flaum auf den Dächern der Holzhütten und der imposanten alten Häuser, die den Marktplatz umgaben, dahinter die Kirche Sankt Michael mit der mächtigen Treppe, auf der sommers die Schauspieler der Freilichtspiele herumturnten – ja, doch, das hatte was. Ich konnte mich glücklich schätzen, hier leben zu dürfen.

Ich stand einfach nur da, streckte mein Gesicht gen Himmel, ließ mich von den Schneeflocken streicheln und drehte mich langsam um mich selbst.

Eine eigenartige Stimmung lag über dem Marktplatz. Der Schnee dämpfte die wenigen Geräusche, die zu dieser nachtschlafenden Zeit noch zu hören waren. Die Welt war unwirklich geworden. Ein eigenartig fluoreszierendes Licht machte sich breit, und zwischen den Schneeflocken, die dicht an dicht auf mich herabfielen, meinte ich, eine seltsame Gestalt wahrzunehmen. Das Gespenst, das mich im Freilichtmuseum gefoppt hatte?

Quatsch. Zu viel Wein. Zu viel Ungeklärtes.

Diese Frau benutzte mich, das stand für mich außer Zweifel. Nur war noch nicht klar, wozu.

Wenn ich mich selbstkritisch betrachtete, und dazu neigte ich nach meinem kleinen Unfall in Wackershofen gelegentlich, dann waren rätselhafte Frauen schon immer mein Unglück gewesen. Schnell verliebt, schnell enttäuscht.

In der Gelbinger Gasse, in der sich mein Haus befand, lag der Schnee noch jungfräulich, ich war der Erste, der ihn entweihte. Wenn ich hinter mich sah, erblickte ich meine Fußspuren. Kerzengerade war etwas anderes. Morgen früh würde jeder sehen können, dass Dillinger wieder mal reichlich angeheitert nach Hause gegangen war.

Da war einiges faul, so viel stand fest. Wenn es ihre Absicht gewesen war, mich noch neugierig zu machen, dann hatte sie das mühelos geschafft. Na ja, nicht ganz mühelos. Sie hatte in ein wunderbares Abendessen investiert, für das sie den ganzen Tag in der Küche gestanden haben musste.

Ich hatte noch viele Fragen. An sie. An mich selbst.

Dillinger tritt ab

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