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Pfingstfreitag

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Ich fühlte mich grottenschlecht und hatte meine liebe Not, das zu verbergen.

»Du kennst sie also«, stellte Keller fest.

»Ja.«

»Eine Kundin?«

»Nein.«

»Aha.«

»Was soll das heißen: Aha?«

»Hätte ich mir denken können.«

»Was?«

»Schließlich kennst du jedes halbwegs ansehnliche Mäd­chen in Schwäbisch Hall.«

Ich sah keine Notwendigkeit, dem zu widersprechen. Hinter mir hörte ich Karin kichern. Miststück!

Ja, ich hatte Andrea gekannt. Sie war ein hübsches, lebenslustiges Mädchen gewesen, voller Energie und Taten­drang, für jeden Spaß zu haben.

Aber nun war sie tot.

Sie war neugierig gewesen auf das Leben. Vielleicht zu neugierig. Ich dachte daran, wie wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Das letzte Mal! Das sagt man so leichthin, und plötzlich wird es wahr. Es war nur eine kurze Begegnung gewesen, ein paar Wochen zuvor. Wir müssen uns mal wieder treffen, hatte sie gesagt, es gibt viel zu erzählen. Was man eben so sagt. Gelacht hatte sie dabei.

Jetzt hatten wir uns getroffen. Aber es gab nichts mehr zu erzählen.

»Ich habe sie gekannt, ja«, räumte ich leise ein. Mir ging die Sache mehr an die Nieren, als ich zugeben wollte.

»Gut?«

»Ja.«

»Wie gut?«

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

Ich wusste genau, was er meinte, schließlich kannte ich Keller schon seit etlichen Jahren. Aber ich wollte es vom Kommissar selber hören. Ich wollte hören, wie er sich wand, wie er herumstotterte und verlegen wurde.

Ich hätte es besser wissen müssen. Keller stotterte nie herum. Er nahm immer den direkten Weg.

»Warst du mit ihr in der Kiste oder nicht?«

So direkt hätte es auch nicht sein müssen. Ich war peinlich berührt. Schließlich befanden wir uns an einem Tatort und waren keineswegs allein. Ich bildete mir ein, dass die Leute, die hier herumwuselten und Spuren sicherten, in ihrer Arbeit innehielten und auf meine Antwort warteten.

»Der Gentleman genießt und schweigt«, erwiderte ich würdevoll.

»Gentleman, aha. Ich entdecke ganz neue Seiten an dir.«

»Mir ist nicht nach Scherzen zumute.«

»Also hast du«, konstatierte Keller.

»Was geht dich das an?«

»Die war doch bestimmt fünfzehn Jahre jünger als du. Viel zu jung für dich.«

»Andrea war dreiundzwanzig«, informierte ich ihn.

»Sag ich doch.«

Warum ritt er nur so darauf herum? Blanker Neid, was sonst. Er nervte.

»Manche Frauen wissen reife Männer zu schätzen«, erwiderte ich giftig. »Aber keine überreifen wie dich.«

Ich hatte gedacht, ich könnte ihn damit auf die Palme bringen. Es war aber genau umgekehrt. Ich saß oben und spielte mit den Kokosnüssen. Er grinste nur.

»Nun mal Klartext, Dillinger«, sagte Keller, wieder ganz ernst und ganz professionell. »Wie lange ging das mit euch? Bis wann? Wann hast du sie das letzte Mal gesehen? Was waren ihre Vorlieben? Und ich meine jetzt nicht Schoko­laden­kuchen oder so was. Komm, teile deine intimen Kenntnisse mit mir.«

Er ging mir gewaltig auf den Keks. Ich war müde, und mir ging es gar nicht gut. Andrea war nicht die erste Leiche, die ich sah. Aber die erste, mit der mich etwas Persönliches verband.

»Was, zum Henker, soll diese Fragerei?«

»Herrgott, Junge, du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. Ich muss mehr über sie wissen. Und zwar schnell. Spuren erkalten, das muss ich dir nicht sagen.«

Ich machte eine große Handbewegung.

»Hier gibt es jede Menge Leute, die Andrea gekannt haben. Gut gekannt sogar.«

»Die sind entweder besoffen oder schockiert. Oder beides.«

»Ich auch.«

»Du bist hart im Nehmen.«

Ich straffte meine Schultern und zog den Bauch ein.

»Also?«, drängte Keller.

»Was genau willst du wissen?«

»War das ihre Sache, eine schnelle Nummer hinterm Busch? Es soll ja die absonderlichsten Vorlieben geben.«

Ich räusperte mich. »Keine Ahnung.«

»Was soll das heißen?«

»Verdammt noch mal!«, fuhr ich ihn an. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. »Ich war nicht mit ihr im Bett, deshalb weiß ich es nicht.«

Ich wartete auf eine spitze Bemerkung von ihm, doch erstaunlicherweise hielt er sich zurück.

»So, so«, knurrte er nur. Karin kicherte schon wieder. Die konnte was erleben!

Ich war mit Andrea ein paar Mal ausgegangen, doch es hatte sich nichts Ernsthaftes entwickelt. Wahrscheinlich hatte das auch keiner von uns beiden erwartet. Wir hatten uns gut verstanden, es waren nette Abende, aber mehr nicht. Sie war wirklich zu jung für mich gewesen. Oder ich zu alt für sie. Zu alt für eine Beziehung. Und zu jung für einen väterlichen Freund.

»Hatte sie einen Lover?«, fragte Keller. Lover!

»Sie hatte einen Freund, als ich sie das letzte Mal traf«, erwiderte ich. »Das muss aber nicht der aktuelle Stand sein. Ist schon ein paar Wochen her.«

»Hat der Freund einen Namen?«

»Freddy«, antwortete ich.

»Nachname?«

»Weiß ich nicht.«

»Freddy! Wer heißt denn heutzutage noch Freddy! Und weiter?«

»Ich kann dir nichts über ihn sagen. Andrea und ich sind in einer Kneipe übereinander gestolpert, und sie hat mir kurz von ihm erzählt. Ich habe ihn gar nicht gesehen.«

Keller kaute auf seinem kalten Zigarillo und starrte grimmig auf Andrea Frobel hinab.

Die tote Frau war nackt, und sie war schön. Wenigstens vom Hals an abwärts. Das darüber sah nicht so appetitlich aus. Andrea Frobel war erwürgt worden. Mit ihrem roten Halstuch, das so etwas wie ihr Markenzeichen gewesen war. Ihre Kleider lagen seltsamerweise säuberlich gefaltet neben ihr. Es war die Tracht der Haller Sieder.

Ich hatte Andrea hinter einem Gebüsch auf dem Unterwöhrd gefunden. Die Polizei bemühte sich, so unauffällig zu agieren, wie es nur möglich war. Aber wenn die Spurensicherung anrückt, bleibt das nicht unbemerkt. Schon gar nicht nachts, wenn die Jungs ihre starken Lichter anwerfen.

»Du weißt, was diese Sache bedeutet«, meinte Keller.

Natürlich wusste ich das. Jeder, der hier herumstand, wusste es.

Es war der Freitag vor Pfingsten. Rings um uns rüstete sich die Stadt zu ihrem großen Fest.

Die Nacht war sommerlich warm, und die nächsten Tage versprachen Sonne und Hitze. Besser hätte der Auftakt zum Siedersfest nicht sein können.

Es war noch keine Stunde her, da hatte man hier auf dem Unterwöhrd gefeiert und getrunken und getanzt und gelacht, hatte alte Freunde wiedergesehen und neue gefunden, hatte einen Abend lang alles hinter sich gelassen und nur für den Augenblick gelebt.

Jetzt hatte die ausgelassene Stimmung einen gehörigen Dämpfer bekommen. Hinter den Absperrungen drängelten sich stumm die Menschen, die vorher noch so fröhlich beisammengesessen hatten. Die Band packte ihre Sachen zusammen. Noch wusste niemand, was da genau los war. Doch früh genug würde es sich herumsprechen.

Mit einigem Bangen dachte ich an die nächsten Tage.

***

Als Bürger von Schwäbisch Hall darf man das ja nicht laut sagen, aber nach Möglichkeit flüchte ich vor dem alljährlichen Fest der Salzsieder an Pfingsten. Zu viel Lärm, zu viel Trubel, zu viele Touristen.

Das Kuchen- und Brunnenfest, wie es offiziell heißt, ist so­zusagen der Nationalfeiertag der einstigen Freien Reichsstadt Hall. Mit dem Salz ist sie groß und reich geworden, vom Salz hat sie ihren Namen, also huldigt sie dem Salz an einem langen Wochenende. Und den Touristen, die Heu­schrecken gleich in die Stadt einfallen. Zur großen Freude der Hoteliers, Gastronomen und Imbissbuden.

In diesem Jahr jedoch war alles anders, die Flucht war mir verwehrt. Eine Freundin aus meinen Münchner Jahren hatte sich angesagt, die den Trubel unbedingt einmal mitmachen wollte. Also hatte ich mich in mein Schicksal gefügt.

»Dann kann ich ja gehen«, hatte Susan, meine Derzeitige, gesagt und ihr hübsches Stupsnäschen gerümpft. Aber nur ein klein wenig.

»Wieso denn? Du störst doch nicht.«

Auweh, Fettnäpfchen! Eigentlich hätte ich sagen müssen: Es stört uns doch nicht, wenn Karin kommt.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diesen Zirkus freiwillig mitmache?«, erwiderte sie, und ihrer Stimme war nicht eindeutig zu entnehmen, ob sie mit dem Zirkus die Sieder oder eher Karin meinte.

Damit war das Thema erledigt gewesen und Susan schon am Donnerstag froh gelaunt mit einer Freundin, die mir bis dahin unbekannt gewesen war, an den Gardasee gedüst. Weiberausflug, hatte sie gesagt.

Ich war irritiert. Man durfte von seiner Liebsten doch eine Eifersuchtsszene erwarten, wenigstens eine kleine, wenn sich eine andere Frau ansagte, zumal wenn diese Frau mal für einige Zeit der Mittelpunkt meines Lebens gewesen war. Hatte Susan so viel Vertrauen zu mir? Oder war’s ihr schlichtweg egal?

Und überhaupt: Weiberausflug! Was sollte ich darunter verstehen? Meine Phantasie schlug Purzelbäume. Ging es da so zu wie bei einem Männerausflug? Die Vorstellung wollte mir nicht so recht behagen.

Aber ich hatte keine Zeit, länger darüber zu grübeln. Ich hatte drängendere Probleme. Ich stand vor meinem Kleiderschrank und wusste nicht, was ich anziehen sollte.

Ein bisschen aufgeregt war ich schon. Nach dem Ende unserer Beziehung hatten wir nur noch flüchtigen Kontakt miteinander gehabt, mal ein kurzer Anruf, später gelegentlich eine Mail. Das war alles schon lange her, und mittlerweile war viel passiert in unser beider Leben. Warum besuchte sie mich auf einmal? War sie wirklich nur an dem Fest interessiert?

Ich griff zu der hellblauen Baumwollhose von Zegna, dem eng anliegenden gelben Poloshirt von Ralph Lauren und den leichten Slippern von Ferragamo.

Prüfend drehte ich mich vor dem Spiegel. Ob ich damit Eindruck machen konnte? Schon, wenn ich den Bauch etwas einzog. Ich war zufrieden mit mir. Die Hose brachte meinen knackigen Hintern gut zur Geltung.

Karin, stellte sich heraus, war mindestens so attraktiv wie damals und noch genauso temperamentvoll und unverblümt. Sie klagte über ein brachliegendes Liebesleben und äußerte die Befürchtung, als alte Jungfer zu enden, wenn das weiterginge wie bisher. Warum schaute sie mich dabei so seltsam an? Und plötzlich fiel mir ein, dass sie sich im Vorfeld überhaupt nicht nach meinen Lebens- und Liebesumständen erkundigt hatte.

Ich hatte den leisen Verdacht, dass mich die nächsten Tage auf eine harte Probe stellen würden.

Denn da war auch noch Olga, meine Tante Olga aus Stuttgart, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, mich ausgerechnet in diesem Jahr zum Siedersfest heimzusuchen, und sich das auch nicht ausreden ließ.

Sie war die Cousine meiner Großmutter väterlicherseits oder die Großnichte meines Urgroßvaters oder etwas in der Art – verwandt eben. Ich hatte das mit den Ver­wandt­schafts­ver­hältnissen nie auf die Reihe gekriegt, und es hatte mich auch nicht sonderlich interessiert. Mein Stammbaum war mir schnuppe. Tante Olga war einfach da, und sie nannte mich ihren Lieblingsenkel, wenn ich das auch definitiv nicht war.

Wie ich Tante Olga und Karin unter einen Hut bringen sollte, war mir noch nicht recht klar. Wahrscheinlich war Susan deshalb nicht so richtig sauer gewesen. Sie hatte Tante Olga wohl als eine Art Anstandswauwau gesehen.

***

Karin war am Freitagnachmittag angekommen. Ich hatte sie im »Goldenen Adler« einquartiert. Nicht aus Schicklichkeit. Tante Olga hatte auf meinem Gästezimmer bestanden.

»Ich werde doch nicht mein Geld für ein Hotelzimmer verschwenden, wenn ich bei dir umsonst wohnen kann«, hatte sie empört gesagt, als ich ihr die Haller Hotellerie schmackhaft zu machen versuchte.

Dabei hätte Tante Olga sich das durchaus leisten können, sie war nicht auf eine kärgliche Witwenrente angewiesen. Ihr längst verstorbener Mann war ein echter schwäbischer Tüftler gewesen und hatte ein kleines Vermögen gemacht, das sie eisern zusammenhielt. Zum Beispiel, indem sie bei mir wohnte.

Also war für Karin nur das Hotel geblieben. Für sie hatte das durchaus Vorteile. Das Hotel am Marktplatz war der beste Logenplatz für die meisten Ereignisse der nächsten Tage. Eigentlich war das Erkerzimmer im zweiten Stock bereits vergeben gewesen, aber mit dem Mädchen an der Rezeption hatte ich mal einen Abend verbracht und offensichtlich keinen schlechten Eindruck hinterlassen.

Jedenfalls wurde der Zimmertausch still und unbürokratisch vorgenommen, wenn auch nicht ohne kleine Bestechung. Heide presste mir ein Abendessen ab. Natürlich brüstete ich mich vor Karin mit meinen heldenhaften Bemühungen, ihr dieses einzigartige Zimmer beschafft zu haben.

»Man hat ja so seine Beziehungen in der Stadt. Und das Zimmer hat direkten Blick auf den schönsten Marktplatz Deutschlands«, betonte ich. Nur damit sie das auch richtig zu würdigen wusste.

Doch Karin ließ sich nicht täuschen. »Du plusterst dich noch genauso auf wie früher. Wenn ich mir die Maus an der Rezeption anschaue, kann ich mir die Art deiner Beziehungen vorstellen.«

Ich tat beleidigt, war aber nicht ernstlich böse, dass ich entlarvt worden war. Diese Frau kannte mich einfach zu gut. Das könnte vielleicht noch zum Problem werden.

***

Seit zwei Wochen hatten wir hochsommerliches Wetter und begannen allmählich zu stöhnen. Gestern waren zweiunddreißig Grad gemessen worden, und am Wochenende sollte es noch heißer werden. Der Himmel strahlte azurblau. Wir waren wieder einmal auf dem besten Weg zu einem Jahrhundertsommer. Der wievielte war das jetzt eigentlich schon in diesem noch jungen Jahrhundert?

Die Gazetten schrieben besorgt, es sei für die Jahreszeit »zu warm«. Früher hätten wir mit den Schultern gezuckt, noch ein bisschen mehr gestöhnt und uns gegenseitig bestätigt, dass das Wetter verrückt spiele. Wieder einmal. Wie eigentlich immer. »Normales« Wetter gab es ja ohnehin nur in der Statistik. Seit der Klimawandel erfunden worden war, zogen wir angstvoll die Köpfe ein und übten uns im kollektiven Schuldbewusstsein.

Der Plan war eigentlich gewesen, eine kleine Spritztour durch die Dörfer zu unternehmen, damit die feinstaubgeplagte Großstädterin mal die gute Hohenloher Landluft schnuppern konnte.

Gern hätte ich Karin einige unserer idyllischen Schätze gezeigt, das Langenburger Schloss vielleicht, das auf einer Bergnase über der Jagst hockte. Oder Vellberg mit seinen trutzigen Wehranlagen und den gepflegten Fachwerk­häusern. Oder Waldenburg, das hinab ins weite Kochertal schaute. Das quirlige Künzelsau, die kleinste Kreisstadt im Land.

Doch bei diesen katastrophalen Temperaturen war daran nicht zu denken. Ein andermal vielleicht.

Das Ersatzprogramm war nicht minder schweißtreibend. Karin bestand auf einer Stadtführung. Jetzt gleich. Mir stand der Sinn eher nach einem gemütlichen Plausch in einem schattigen Café.

»Das willst du dir nicht wirklich antun«, warnte ich.

»Und wieso nicht?«

»Es ist viel zu heiß.«

Karin wischte den Einwand beiseite. »Ich liebe Hitze.«

»Schwäbisch Hall ist eine kleine Stadt.«

»Ich liebe kleine Städte.«

»In dieser kleinen Stadt ist es sehr eng.«

»Das meinst du jetzt nur geografisch, oder?«

»Weil es so eng ist, geht es immer steil den Berg hinauf.«

»Ich bin fit.«

»Du wirst fürchterlich schwitzen.«

»Was ist dein Problem? Du genierst dich, mit mir durch diese kleine, enge Stadt zu laufen, stimmt’s?«

Absolut nicht. Mit Karin an seiner Seite legte man keine Schande ein, im Gegenteil, man zog alle Blicke auf sich: groß, schlank, attraktiv, mit hellblondem Haar, das sich in weichen Wellen auf ihre Schultern legte. Dabei war sie überaus elegant angezogen: Der schwingende sandfarbene Seidenrock zeigte viel hübsches Bein, ihr Tanktop umschmeichelte ihren Busen wie eine zweite Haut.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie Karin früher gewesen war. Die Eckigkeit der Jugend hatte sich abgeschliffen, was ihr gut stand. Sie war lange nicht mehr so hibbelig, hatte ansonsten aber nichts von ihrem Temperament verloren. Sie erschien mir – ja, reifer als seinerzeit. Ob man das von mir auch sagen konnte?

Sie war exakt so alt wie ich, also siebenunddreißig, und strahlte eine warme Sinnlichkeit aus. Ihre sanfte Stimme war wie ein hoffnungsfroher Frühlingshauch – na, das war vielleicht nicht der passende Vergleich bei gefühlten vierzig Grad.

Wenn Karin sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Erbarmen, daran hatte sich nichts geändert. Also machten wir die Runde durch die Stadt, und ich sparte nicht mit den notwendigen Erklärungen.

Ich haderte mit dem Schicksal namens Karin, das mein Programm durcheinandergebracht hatte und mich dieser mör­derischen Hitze aussetzte. Warum konnten wir uns nicht einfach irgendwo hinsetzen und uns erst einmal in aller Ruhe beschnuppern, wie es nach dieser langen Zeit angemessen gewesen wäre?

Zur Strafe jagte ich sie über ein paar mehr Treppen, als unbedingt nötig gewesen wären, und davon gibt es in unserer Stadt reichlich. Ich war gespannt zu sehen, wer von uns beiden besser in Form war. Ich wenigstens war die steilen Anstiege gewohnt und joggte regelmäßig.

Mein leichter Unmut verflog rasch. Es gab nichts zu beschnuppern. Die alte Vertrautheit stellte sich schnell wieder ein. Überraschend schnell. Mir wurde etwas mulmig.

Natürlich war Karin hellauf begeistert von Schwäbisch Hall, wie jeder, der in die alte Reichsstadt kommt. Sie bewunderte die Fachwerkhäuser und die engen Gassen und stöckelte klaglos, wenn auch etwas mühsam die steilen Treppen hinauf und hinab.

Ich schaute auf ihre Schuhe. Es gehörte eine ordentliche Portion Masochismus dazu, mit diesen Dingern laufen zu wollen. Aber ich sagte nichts.

Im Sommer zeigt sich Schwäbisch Hall von seiner schönsten Seite. Überall grünt und blüht es, auf den Plätzen, vor den Fenstern, in den Hinterhöfen – mediterranes Flair in Hohen­lohe. Das Leben hatte sich nach draußen verlagert, die Straßencafés waren voll besetzt. Es schien, als würden die Menschen ein wenig länger verweilen als sonst, sofern sie überhaupt einen Platz im kostbaren Schatten ergattert hatten.

Wir schlenderten durch die Fußgängerzone, und Karin ließ sich im Bauernlädle zu einem großen Stück Schinken vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein überreden, einer Rasse, die schon fast ausgestorben war und sich nun unter Fein­schmeckern eines exzellenten Rufes erfreut. Damit Karins Freunde in München mal was Anständiges zu essen bekamen.

»Wellet Se a Gugg?«, fragte die Verkäuferin.

Karin schaute sie so ratlos an, als hätte sie chinesisch gesprochen. Dabei war’s nur Schwäbisch, was doch eigentlich jeder versteht.

»Eine Tüte«, übersetzte ich.

Karin war beeindruckt von der Vielfalt regionaler Köstlichkeiten, von der selbst gemachten Marmelade bis zum selbst gebrannten Schnaps, bemängelte jedoch in einer kühnen gedanklichen Volte das Schuhangebot in der Stadt.

Das hatte ich schon des Öfteren gehört. Ich schaute genauer auf ihre Füße. Nein, das bekam man hier in der Tat nicht, soweit ich das beurteilen konnte. Brauchte man auch nicht in unseren Kopfsteinpflastergassen. Ich behielt meine Gedanken für mich. So viel hatte ich gelernt in meinem Leben als Mann.

Andauernd wurde ich gegrüßt und machte die Honneurs. Die Frauen nickten mir zu, die meisten Männer blieben stehen und tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln, den Blick auf Karin gerichtet.

»Du kennst eine Menge Leute«, staunte Karin.

»Bleibt nicht aus. Ist eben eine kleine Stadt, wie ich schon sagte.«

»Und eng und steil, wie ich jetzt weiß.«

»In einer kleinen Stadt begegnet man sich zwangsläufig ständig.«

»Das hat etwas Heimeliges an sich. Wie eine große Fa­milie. Jeder kennt jeden.«

»Viele sind auch meine Kunden. Siehst du den Mann dort drüben mit einem Bauch wie im neunten Monat? Fran­­zösischlehrer. Lebensversicherung, Autoversicherung, Haft­pflicht, Hausrat. Das Übliche eben.«

Ein hagerer jüngerer Mann mit glatt rasiertem Schädel kam uns entgegen. Er hatte ausnahmsweise keine Augen für Karin, sondern nickte nur kurz im Vorübergehen und eilte weiter.

»Schwer beschäftigt. Hat eine kleine Softwarefirma, die gut im Geschäft ist. Elektronik, Haftpflicht, Diskrimi­nie­rung.«

»Diskriminierung?«

»Noch nichts vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gehört?«

»Natürlich. Es soll vor Benachteiligung aufgrund von Alter, Geschlecht, Rasse und dergleichen schützen.«

»Richtig. Und nun suchst du zum Beispiel einen jungen, dynamischen Programmierer, was bei einem jungen, dynamischen Softwareunternehmen eigentlich naheliegt.«

»Und dann kann dir ein älterer, nicht so dynamischer Bewerber ganz schön Schwierigkeiten machen, wenn er will. Ich weiß. Du sprichst schließlich mit einer Juristin.«

»Dagegen gibt es eine sogenannte Haftpflichtversicherung für Ansprüche aus Diskriminierungstatbeständen.«

»Gibt es eigentlich etwas, gegen das es keine Versicherung gibt?«

»Die Liebe.«

Schnaufend und schwitzend standen wir oben vor dem Neubau, dem höchsten Punkt der Innenstadt. Trotz seines Namens stammte der Neubau aus dem 16. Jahrhundert und hatte einst als Getreidespeicher und Waffenkammer gedient.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte ich.

»Wovor?«

»In Hall geht’s steil hinauf.«

»Ich habe damit kein Problem. Du etwa?«

Sie schwitzte lange nicht so stark wie ich. Das beunruhigte mich beinahe.

Wir schauten auf die Stadt hinunter, die sich in das enge Kochertal schmiegte, ein verwinkeltes, vielfältiges, in sich geschlossenes Bild, das von den paar Bausünden der Neuzeit kaum gestört wurde. Faul schlängelte sich der Kocher hindurch.

»Es ist so friedlich hier«, stellte Karin seufzend fest. Zu der Zeit wussten wir noch nicht, was uns bevorstand.

Eine träge, eine trügerische Ruhe lag über der Stadt. Es war nicht die Ruhe der Gelassenheit, sondern der Er­mattung. Alles Leben war einen Gang zurückgenommen.

Anfangs war es nur heiß gewesen und immer heißer geworden. Das ließ sich aushalten. Schwitzte man eben. Nun war die Schwüle hinzugekommen.

Von Tag zu Tag wurde die Luft feuchter, die Stadt begann allmählich zu kochen, die Menschen wurden zunehmend gereizter. Selbst in die schmalsten Gassen, die sonst nie einen Sonnenstrahl abbekamen und die deshalb immer kühl blieben, schwappte die heiße, feuchte Luft wie unsichtbarer Nebel.

Jeder wusste, dass sich die Spannung in einem gewaltigen Gewitter entladen musste. Die meisten sehnten es geradezu herbei. Nur die Sieder schickten Stoßgebete zum Himmel, dass er wenigstens bis Montagabend ein Einsehen habe. Bis ihr Fest vorbei war.

Wir gingen durch die Obere Herrngasse, vorbei an dem Haus, in dem einst Eduard Mörike gewohnt hatte, schraubten uns eine weitere enge Gasse hoch und fanden uns vor dem Portal der Kirche St. Michael wieder. Steil ging es die Stufen der Freitreppe hinab zum Marktplatz. Stufen, die die Welt bedeuteten bei den jährlichen Freilichtspielen.

Und Karin stellte die unausweichliche Frage, die jedem Besucher in den Sinn kommt: »Wie viele Stufen hat die Treppe eigentlich?«

»Zähl sie doch!«

»Wozu soll ich mir diese Mühe machen, wenn ich einen Einheimischen an meiner Seite habe?«

Ich seufzte. »Ich hatte gehofft, dass mir das erspart bleibt. Das ist nämlich eine alte Streitfrage. Die Angaben schwanken zwischen dreiundfünfzig und vierundfünfzig Stufen.«

»Kann man in Schwäbisch Hall nicht zählen?«

»Es kommt darauf an, wie man zählt und wie man die Treppe benennt. Wir stehen hier auf der Plattform von St. Michael. Puristen sagen, dass die nicht mehr zur Treppe gehört und dass demzufolge die Treppe ›vor‹ St. Michael dreiundfünfzig Stufen hat. Zählt man sie mit, sind es vierundfünfzig.«

»Und darüber macht man sich in dieser Stadt Gedanken?«

»Tiefschürfende.«

»Wenn ihr sonst keine Sorgen habt! Also dann hinab, egal, wie viele Stufen es nun sind.«

Von unten sieht die Treppe harmlos aus, von oben einigermaßen beängstigend. Erst aus dieser Warte merkt man, wie steil sie wirklich ist. Und was die Schauspieler leisten, die auf ihr herumturnen. Mit ihren Stilettos hatte Karin einige Mühe. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.

»Du hast doch hoffentlich auch vernünftige Schuhe dabei?«

»Du spielst mit deinem Leben! Diskutiere mit einer Frau nie über ihre Schuhe!«

»Das sollen Schuhe sein?«

»Lass das mal nicht Jimmy Choo hören!«

»Wer ist das? Dein Freund?«

»Du Banause!«

»Hohe Absätze sind nichts für eine Stadt wie Schwäbisch Hall mit ihrem Kopfsteinpflaster.«

»Da sieht man mal wieder, dass du nichts von Frauen verstehst.«

»Ich verstehe nichts von Frauenschuhen.«

»Das ist dasselbe. Hilf mir lieber!«

Sie hängte sich bei mir ein, und würdevoll kraxelten wir die Stufen hinab, wie ein Brautpaar, das aus der Kirche kam. Aus einem Topf vor dem Stadtarchiv klaute ich eine Blume und steckte sie Karin ins Haar. Der Brautstrauß sozusagen.

Vor einem der vielen Cafés, mit denen Schwäbisch Hall gesegnet ist, brütete ein älterer Herrn über seinem Kaffee. Kurz geschorenes graues Haar, ein Vollbart in gleicher Länge und Farbe, große Brille und leicht abstehende Ohren. Vor sich hatte er ein Notizbuch liegen.

Er belegte ganz allein einen schattigen Tisch. Ich überlegte, ob wir uns dazusetzen sollten. Er war ein kauziger und mit­unter amüsanter Kerl, der viel über die Stadt erzählen konnte. Doch dann sah ich seinen Gesichtsausdruck. Er schaute verträumt in eine andere Welt und war nicht ansprechbar.

»Unser Lokalpoet«, flüsterte ich Karin zu. »Hoch­geachtet. Macht Lyrik, die keiner versteht. Wahrscheinlich dichtet er gerade über die Sieder.«

Als wir vorübergingen, hörte ich ihn murmeln: »Despotisch, farblos, schwer reckt sich der Himmel weit / wie wenn ein müßiger König Todesqual verhängt.«

Wir kamen zum Haalplatz. Normalerweise ist das ein frequentierter Parkplatz, aber an diesem Wochenende hatte man einen Rummel aufgebaut.

Ich war ganz eifriger Fremdenführer und sagte mit einer allumfassenden Handbewegung: »Die Quelle von Halls Ruhm und Reichtum. Hier wurde die Sole geschöpft und zu Salz gesotten.«

»Wie muss man sich das vorstellen?«

»Rings um den Platz standen die Haalhäuser, in denen die Sole so lange erhitzt wurde, bis das Salz ausfiel. Die Häuser waren von riesigen Holzlegen umgeben. Die Jungs haben ganz schön einheizen müssen.«

»Und wo kommt die Sole her?«

»Du stehst direkt davor.«

Das einzige Andenken an die alten Zeiten war der nicht sonderlich schöne achteckige Haalbrunnen, in den man die einstige Quelle gefasst hatte.

Karin schaute hinein: »Man sieht ja gar nichts.«

»Zugemauert. Sonst würde es hier bald aussehen wie im Trevi-Brunnen. Jeder wirft seinen Dreck hinein.«

»Schade. Ich hätte gerne mal richtige Sole gesehen.«

»Dann musst du drüben ins Solebad gehen, dort kannst du in der original Haller Sole planschen. Soll gut sein für die Abwehrkräfte und das Nervenkostüm«, sagte ich. Und fügte hinzu: »Die haben übrigens auch eine schöne Sauna.«

»Sauna! Ich schwitze eh schon genug!«

Ich ließ meinen Blick langsam von ihrem Blondschopf bis zu ihren hübschen Beinen gleiten. So langsam, dass es ihr nicht entgehen konnte. Und grinste.

»Ich wollte eigentlich nur sehen, wie du dich gehalten hast.«

»Warum brauchst du dazu eine Sauna?«, erwiderte sie kokett.

In Karins Augen sah ich ein Glitzern. Kleine Blitze aus einer anderen, einer vergangenen Zeit.

Mir war plötzlich noch heißer. Und daran war nicht die Sonne schuld. Ich hatte es ja geahnt: Mir stand eine anstrengende Zeit bevor.

Ich lotste sie schnell ins »Simonetti«, Eiskaffeepause. Netterweise stand gerade ein Pärchen auf, als wir ankamen. Ich legte einen kurzen Sprint hin und überholte mühelos ein Zweizentnerweib, das auf den freien Tisch zuwatschelte.

Die Dame guckte neidisch auf Karin und beleidigt auf mich. Ich hatte die entsetzliche Vision, dass sie sich aus purer Rachsucht auf meinen Schoß setzen könnte. Doch der Schrecken ging vorbei.

Erschöpft saß ich da, aber auch zufrieden. Mir war etwas bange gewesen vor dem Wiedersehen nach so langer Zeit. Doch wir gingen so leicht miteinander um, als hätte es nie das schmerzhafte Ende einer Beziehung gegeben. Karin schien es ähnlich zu gehen. Und dennoch hatten wir in den paar Stunden, die wir bisher zusammen waren, alles allzu Persönliche vermieden. Über die Sahnehauben hinweg taxierten wir uns gegenseitig. Es gab Klärungsbedarf, das spürten wir beide. Aber keiner wusste so recht, wie anfangen.

Es war Karin, die das Schweigen brach. »Bist du schon lange mit Susan zusammen?«

»Ein paar Wochen.«

»Ist es was Ernstes?«

Es klang wie beiläufig. Rein freundschaftliches Interesse ohne Hintergedanken? Oder ein Ausloten der Lage?

Es wäre ganz einfach gewesen. Ein Ja oder ein Nein hätte genügt.

Aber Dillinger, der feige Hund, drückte sich. Wollte alles offenlassen. Auf mehreren Hochzeiten tanzen. Sich nicht festlegen. Alle Eisen im Feuer behalten.

Mist, ich merkte das selber und sagte trotzdem vage: »Das versuchen wir noch herauszufinden.« Das war nicht mal gelogen. Aber nichts war geklärt. »Und du?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Der eine geht, der andere kommt. Und manchmal kommt lange keiner.«

»Kann ich mir nur schwer vorstellen, bei einer Frau wie dir.«

»Mit der Zeit wird man etwas anspruchsvoller«, seufzte sie. »Vor allem, wenn man diesen Grundsatz zwischendurch aus lauter Verzweiflung mal wieder vergisst.«

Wir zogen noch eine Weile schwitzend durch die Stadt, dann war es Zeit, Tante Olga vom Bahnhof abzuholen. Sie hätte ja auch ein Taxi nehmen können, aber das war ihr natürlich zu teuer.

***

Ein Traktor mit Anhänger, der altersschwach durch die Stadt tuckerte, bremste mich aus. Tante Olga wartete schon vor dem Bahnhof in Hessental. Wer konnte auch damit rechnen, dass ein Zug einmal pünktlich ankam.

»Herrschaft aber auch! Wie kannscht du bloß eine alte Frau so lang in dere Hitz warte lasse«, schimpfte Tante Olga in ihrem besten Honoratiorenschwäbisch. Ich schaute auf die Bahnhofsuhr. Gerade mal zwei Minuten zu spät.

Tante Olgas Sommerkostüm musste etwa so alt sein wie ich. Als sparsame Schwäbin trug sie ihre Sachen auf, bis sie auseinanderfielen. Auf ihrem schlohweißen Haar saß ein kecker Strohhut. Die Sonnengläser ihrer Brille hatte sie hochgeklappt.

Tantchen wirkte zart, zerbrechlich und liebenswürdig. Der Eindruck täuschte. Tantchen war achtundsiebzig, hatte eine offenbar nie ermüdende Energie und Haare auf den Zähnen. Ziemlich viele Haare. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen, da war sie nicht anders als Karin.

»Und wie siehst du überhaupt aus? Wie ein Papagei! Hättest dir ruhig was Anständiges anziehen können, wenn ich dich schon einmal besuche. Können wir jetzt endlich gehen?«

Ungeduldig stieß sie mit ihrem Stockschirm auf den Boden.

Ich machte die Damen miteinander bekannt. Tantchen musterte Karin eingehend. Ihr Blick blieb auf Karins Oberteil hängen.

»Ist das deine neue Freundin?«, fragte Tante Olga.

»Nein, Tantchen, nur eine alte Bekannte.«

»So?«, meinte Tantchen spitz. »Dafür zeigt sie aber viel Busen.«

Ich verdrehte die Augen, Karin lachte.

»Wird auch Zeit, dass du heiratest.«

»Diesen Ausrutscher habe ich hinter mir.«

»Dann probierst du es eben noch einmal mit einer Frau, die besser zu dir passt. Ihr jungen Leut habt ja offenbar kein Problem damit, andauernd zu heiraten. Von wegen Bund fürs Leben!«

Mit verkniffener Miene schaute sie immer noch Karin an. Karin setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf. Ein bisschen davon schenkte sie auch mir. Mir kribbelte es im Bauch. Tante Olgas Augen wanderten zwischen Karin und mir hin und her. Plötzlich strahlte sie.

»Dieter, die könnte was sein für dich.«

»Tantchen, wir sind nur Freunde!«

»Papperlapapp! Ich bin doch nicht von gestern. Ich hab Augen im Kopf.«

Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Tante Olga nahm kein Blatt vor den Mund, das hatte ich fast vergessen.

»Die ist spitz wie Nachbars Lumpi«, flüsterte sie mir vernehmlich zu.

Karin prustete los, was Tante Olga nicht im Mindesten beeindruckte.

Ich bugsierte sie ins Auto. Für Karin wurde es etwas eng auf dem Rücksitz. Tante Olga drehte sich zu ihr hin, so gut es ging.

»Dieses Auto müssen Sie ihm als Erstes ausreden. Das ist viel zu teuer. Außerdem fahren nur impotente alte Männer einen Porsche. Er ist doch nicht impotent, oder?«

»Tante Olga!«, ermahnte ich sie.

»Hätte ja sein können. Das soll auch bei jungen Männern vorkommen, habe ich gehört.«

»Außerdem, liebe Tante, auch Frauen fahren Porsche. Zum Beispiel Gaby Hauptmann.«

»So?« Das brachte Tante Olgas Weltbild etwas durcheinander. Aber nur kurzzeitig. »Und überhaupt kann man diese Sardinenbüchse nicht als Auto bezeichnen.«

Ich muss mich nicht rechtfertigen dafür, dass ich einen zitronengelben Porsche fahre, nein, überhaupt nicht. Ich liebe dieses Auto, und ich schmelze jedes Mal dahin, wenn es mich mit seinen großen runden Augen treuherzig anschaut. So viel Seele kann keine Frau in ihren Blick legen.

Tante Olga gab noch keine Ruhe.

»Tut es nicht auch ein bescheidenerer Wagen? Ein Daimler vielleicht? Du musst ja nicht jedem zeigen, wie viel du verdienst.«

Ja klar, ein richtiger Schwabe zieht Schonbezüge über seine Ledersitze, sonst könnte man auf den Gedanken kommen, er sei verschwendungssüchtig. Außerdem schont es das Leder. Aber wir waren hier ja nicht in Schwaben, sondern in Hohenlohe, »Schwäbisch« Hall zum Trotz.

»Wissen Sie, junge Frau, unser Dieter geht viel zu locker mit seinem Geld um. Er braucht eine Frau, die ihr Sach’ zusammenhält, wenn er mal mein Vermögen erbt.«

Ja, damit hatte sie schon öfter gedroht. Ich sollte ihr Alleinerbe werden, allerdings war daran eine Bedingung geknüpft: Ich musste bei ihrem Tod verheiratet sein. Ich hatte noch nicht entschieden, ob das Erbe diesen Preis wert war, zumal ich keine Ahnung hatte, wie viel es überhaupt war. Ich hatte mich noch nicht getraut, danach zu fragen, und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht sonderlich.

Karin hatte solche Hemmungen nicht.

»Wie viel erbt er denn mal, unser Dieter?«, fragte sie.

»Dieter, pass auf!«, rief Tante Olga. »Die Frau ist nur hinter deinem Geld her!«

»Nein, Tantchen«, sagte ich entnervt, »Karin ist weder hinter mir noch hinter meinem Geld her. Und hinter deinem schon gar nicht.«

Etwas an ihrem Ton machte mich stutzig. Ich schaute zu ihr hinüber, und in der Tat bemerkte ich ein spitzbübisches Lächeln. Ich war ihr auf den Leim gegangen.

Tante Olga versuchte, sich erneut nach Karin umzudrehen, was in den Sitzen meines Porsches etwas mühselig war.

»Sie gefallen mir. Sie sind direkt. Ich glaube, Sie sind die Richtige für ihn, Katrin.«

»Karin«, verbesserte ich.

»Weiß ich doch. Oder glaubst du, ich bin nicht mehr richtig im Oberstübchen? Aber Katrin passt besser zu ihr.«

Himmel, hilf, was stand mir in den nächsten drei Tagen bevor!

***

Kaum hatten wir meine Wohnung in der Gelbinger Gasse betreten, monierte Tante Olga eine himmelschreiende Unordnung. Ihr zuliebe hätte ich wenigstens aufräumen können, meinte sie. Hatte ich auch. Ich fand schon nichts mehr. Unsere Ansichten über Ordnung gingen etwas auseinander. Generationenkonflikt.

Tante Olga trippelte durch die Zimmer und nahm sie mit Argusaugen unter die Lupe.

»Hast du keine Putzfrau?«

»Doch.«

»Dann musst du dir eine andere suchen. Hier ist ja alles voller Staub. Bestimmt eine aus dem Osten, oder?«

»Aus Polen«, musste ich zugeben. »Und ich bin zufrieden mit Krystyna.«

»So?« Sie marschierte in die Küche. »Und warum sieht es dann hier so aus?«

»Das ist ein Arbeitsplatz, Tante! Ich habe unser Essen vorbereitet.«

»Na, und? Wo sind deine Putzsachen?«

»Du wirst doch jetzt nicht putzen wollen?«

»Natürlich!«

»Untersteh dich!«

»Warum denn nicht? Hier sieht’s ja aus wie bei Hempels hinterm Sofa!«

»Die Küche ist mein Reich, basta! Komm, setz dich mit Karin ins Wohnzimmer.«

Widerwillig ging sie mit. Und fand gleich wieder etwas, an dem sie herummeckern konnte.

»Allmächtiger! Wie sehen denn die Blumen aus! Halb vertrocknet!«Tante Olga schüttelte entsetzt den Kopf. »Hier fehlt eine richtige schwäbische Hausfrau!«

»Dann wird es aber nichts mit Karin und mir. Karin kommt aus München.«

Jetzt war Tante Olga im Zwiespalt. Sie umging ihn pragmatisch: »Wann gibt es Essen?«, fragte sie.

Wenigstens an diesem Abend wollte ich vor den Damen mit meinen Kochkünsten glänzen, an den nächsten Tagen war dafür keine Zeit.

Doch ich hatte keine Lust, stundenlang am Herd zu schwitzen, es war schon heiß genug. Deshalb gab es Fast Food: schnelles Essen eben.

Das Ansinnen der beiden Frauen, mir in der Küche helfen zu wollen, lehnte ich entschieden ab.

»Ich könnte Spätzle machen«, bot sich Tante Olga an. »Und Kartoffelsalat.«

Das hätte mir gerade noch gefehlt! Nein, das war meine Show heute. Ich schob die Damen ins Wohnzimmer und stellte ihnen den Wein hin. Ich wollte sie nicht überfordern und hatte einen erdigen Silvaner vom Würzburger Stein geöffnet. War ja auch nichts Schlechtes.

Dann briet ich drei gut abgehangene Filetsteaks an, erst kurz und ganz scharf, dann sanft, und bastelte dazu meine legendäre Pastis-Sauce. Der Spargel lag schon geschält bereit. Ich karamellisierte ihn in Butter und Zucker und goss nur wenig Wasser an. So köchelte er sachte in seinem eigenen Saft.

Die Damen schienen sich prächtig zu amüsieren. Ich hörte Gekicher und Gelächter. Wahrscheinlich redeten sie über mich. Großes Hallo, als sie das Du begossen und sich doch auf Karin, nicht Katrin einigten. Ich schwitzte derweil am Herd.

Während das Fleisch ruhte, bereitete ich als Vorspeise Avocado-Carpaccio zu, bestreute die Scheiben mit frischem Thymian und gewürfeltem Ziegenhartkäse und gab noch einen Löffel bestes Olivenöl darüber. Die Creme fürs Dessert, mit Mascarpone und Pedro Ximénez, stand schon im Kühlschrank.

Zur Vorspeise sagte Tante Olga: »Ich habe Karin erzählt, dass du früher ein richtiger Suppenkasper gewesen bist. Nur Spätzle mit Soß wolltest du.«

Das hatte ich anders in Erinnerung. Mein kulinarischer Entdeckerdrang hatte mich schon in zartem Alter auch zu Pommes mit Ketchup und Schupfnudeln mit Speck geführt.

»Ein bisschen hat er dazugelernt«, meinte Karin. »Die Avocado ist wirklich schön dünn geschnitten.«

Zur Hauptspeise sagte Tante Olga: »Früher war der Dieter ja so schüchtern.«

»Das kann ich bestätigen«, erwiderte Karin und lächelte mich zuckersüß an.

»Ich erinnere mich noch an eine Familienfeier«, fuhr Tante Olga fort, »da hat er sich unsterblich in seine Cousine dritten Grades verliebt und sich nicht getraut, es ihr zu sagen.«

Ja. Da war ich zwölf und das Mädchen sechzehn. Und außerdem waren wir ja irgendwie verwandt.

»Der Dieter war ein Spätentwickler«, erzählte Tante Olga. »Seine erste feste Freundin hatte er mit siebzehn! Ach Gottchen, das war ja so rührend unschuldig!«

Ich flüchtete mit den schmutzigen Tellern in die Küche und bereitete den Käse vor.

Mir hatte vorgeschwebt, den leisen Ton von Ziegenkäse bei der Vorspeise aufzugreifen und in einem kräftigen Akkord enden zu lassen.

Am Geifertshofener Käsestand auf dem Wochenmarkt hatte ich einen kräftigen Chèvre Noir aus der Eifel erstanden, schon so alt, dass er auf der Zunge zerging wie ein Stück Schokolade. Weil man in Schwäbisch Hall vieles, aber nicht alles bekommt, hatte ich einen Ausflug in die große, weite Welt unternommen, war nach Stuttgart gefahren und hatte mir in der Markthalle bei Kustermann von Alain weitere Ziegenkäse empfehlen lassen. Bei ihm bekam man diese verschrumpelten, verschimmelten, knochenharten Dinger aus Frankreich, die die bodenständige schwäbische Hausfrau als ungenießbar im Abfall entsorgt, während uns Liebhabern das Herz aufgeht.

Einen Tag in der Großstadt muss man ausnutzen als Landei. Ich beschloss, mich für meinen Besuch aufzuhübschen.

Mit dem Friseur fing ich an. Ich schaute nach dem Salon mit den hübschesten Mädchen und wurde an Top-Stylistin Franzi verwiesen. Top-Stylistin fand ich angemessen für mich. Franzi war ein bleiches Girlie, das kaugummikauend und schweigsam endlos lange an mir herumschnippelte und dafür einen Schweinepreis verlangte. Das Ergebnis war auch nicht anders als in Schwäbisch Hall.

Im dem einen großen Kaufhaus erstand ich die hellblaue Baumwollhose von Zegna, im andern das gelbe Poloshirt von Ralph Lauren. Diese langen Wege in Stuttgart! Erschöpft vom vielen Laufen und Anprobieren ging ich hinüber in Schlossgartencafé, ergatterte einen Platz auf der Terrasse direkt am Park, mit Blick auf Oper und Schauspielhaus und den Eckensee. Ich orderte einen kühlen Weißen und schaute auf die Leute, die sich auf der Wiese tummelten.

Leicht beschwingt hatte ich sodann bei Bernd Kreis meinen Weinvorrat aufgestockt und mich beim Wittwer am Schlossplatz wieder mal gefragt, wann ich all die vielen Bücher lesen sollte.

Ich hatte den Tag genossen. Alle Gedanken an meine Zeit in Stuttgart, an die schönen und hässlichen Momente, hatte ich beiseitegeschoben.

Bis sie jetzt wieder aufbrandeten, während wir beim Käse saßen. Es war eine bewegte Zeit gewesen und eine wegweisende. Wurzeln schlagen nach den unsteten Jahren. Berufliche Perspektiven. Visionen. Träume.

Tante Olga beäugte misstrauisch den Käse. »Wer isst denn so was?«

»Die Franzosen. Und ich.«

»Die Franzosen!«

Sie ließ sich noch ein wenig darüber aus, doch ich hörte nicht hin. Ich war in der Vergangenheit versunken. Roswitha. Der schöne Anfang, das hässliche Ende einer Ehe. Die Rückkehr in die Heimat. Zum Dessert sagte Tante Olga, als hätte sie meine Gedanken erraten: »Aber mit seiner Hochzeit, da hat er es dann plötzlich ganz eilig gehabt.«

»Torschlusspanik«, meinte Karin.

»Mit achtundzwanzig? Dabei hat diese Frau überhaupt nicht zu ihm gepasst, ich habe das ja gleich gesagt. Das war so eine Verhuschte. Na ja, war ja auch schnell vorbei.«

Nach einem Jahr. Schnell geheiratet und schnell wieder geschieden, fast im Las-Vegas-Tempo. Wir hätten mehr daraus machen können.

»Und jetzt? Ob ich das noch erlebe, dass er eine Frau anbringt?«

»Er ist eben ein unverbesserlicher Romantiker. Immer auf der Suche nach der großen Liebe«, zwinkerte mir Karin zu.

Ich ging den Espresso holen und ließ mir Zeit dabei. Frauen! Hatten die kein anderes Gesprächsthema? Und zu meinem Essen hatte keine was gesagt! Dabei waren die Steaks so perfekt wie nie, auf dem hauchzarten Übergang zwischen saignant und à point. In der Sauce konnte man sich baden, und ich hatte sie auch eigens durchgeseiht, wozu ich sonst meist zu faul bin.

Ich hatte mich selber übertroffen, und keiner merkte es. Außer mir.

Zur Beruhigung genehmigte ich mir einen doppelten Armagnac und sann über das Leben nach. Der Klang von Karins Stimme ließ erneut Erinnerungen hochschwappen. Andere Erinnerungen. Unsere Vergangenheit. Die anderen Frauen, dazwischen und danach. Nie die Richtige dabei. Was war überhaupt die Richtige? Erkannte man die Richtige erst im Nachhinein, als Vorläuferin der vielen Falschen? Wie war Susan einzuordnen auf einer Skala von null, ganz falsch, bis zehn, ganz richtig?

»Wo bleibt der Kaffee?«, rief Tante Olga.

Zum Espresso präsentierte ich meine Sammlung von Digestifs: »Kirschwasser von Böhringer, Zwetschge von Keil, ein Bierbrand der Haller Löwenbrauerei. Alles aus der Region. Oder einen ganz ordinären Grappa?«

Tante Olga probierte sich durch. Sie sah meinen skeptischen Blick und meinte nur: »Na und? Ich bin etwas angeschickert. Aber wenn es sein muss, trinke ich dich noch unter den Tisch, mein Junge.«

Das schien mir gar nicht so abwegig, wenn ich ihren Konsum betrachtete.

Ich bot Karin noch etwas an: »Vorglühen?«

Sie schüttelte den Kopf: »Das Alter haben wir hinter uns.«

Nach dem Kaffee sagte ich: »Und jetzt, Tante Olga, schleppen wir dich mit zum Unterwöhrd. Da ist große Party mit Liveband. Oder möchtest du lieber Boxauto fahren auf dem Rummel?«

»Dafür bin ich zu alt. Ich mache noch einen Bummel durch die Stadt.«

»Sei kein Spielverderber, komm mit!«

»Geht ihr euch mal alleine amüsieren, Kinder.« Sie zwinkerte Karin zu. »Und macht euch keine Gedanken. Ich habe einen tiefen Schlaf.«

»Tantchen, wir schlafen getrennt. Karin im Hotel, ich hier.«

»Schön blöd«, kommentierte Tante Olga.

Sie nahm mich auf die Seite. »A saubers Mädle!«, flüsterte sie mir zu. Bühnenflüstern. Bis in die letzte Reihe zu hören. Aus ihrem Mund allerdings ein großes Kompliment. Karin lächelte mir zu.

***

So ließen wir den Abend auf dem Unterwöhrd ausklingen. Auf dieser großen Insel zwischen zwei Kocherarmen trutzte damals noch das hölzerne Globe-Theater, bevor es durch einen martialischen Steinbau ersetzt wurde, davor waren Imbissbuden aufgebaut, überall standen Biertische.

Die Band versuchte sich gerade an »Angie«. Wenigstens klang das, was aus den Boxen bullerte, entfernt danach. Vielleicht waren die Jungs auch besser, als es sich anhörte. Der Soundmixer hatte offensichtlich sein Hörgerät verloren.

Es war voll. Alle waren ausgelassen und fröhlich und genossen die Nacht, die so warm war wie sonst manche Sommertage nicht. Die Stadt stimmte sich langsam auf das Festwochenende ein. Noch waren die Einheimischen unter sich. Die Touristenströme würden erst morgen einfallen.

Wir waren bester Stimmung, tanzten, lachten, tauschten Erinnerungen aus, tratschten über alte Bekannte und ein bisschen auch über uns. Über damals und heute. Es war wie in alten Zeiten, vor dem unrühmlichen Ende.

Falsch.

Es war besser denn je zuvor.

Ich verbannte alle Gedanken an meine derzeitige Herzallerliebste, die jetzt wer weiß was am Gardasee trieb, und genoss Karin in meinen Armen. Die Nacht war schön, so jung kamen wir nicht mehr zusammen, und einmal ist keinmal.

Wir spazierten durch den Park, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, eng umschlungen, und alberten herum wie Teenager. Schließlich schlenderten wir hinunter zu einem der Kocherarme, wo der Fluss einen kleinen Kieselstrand angespült hatte. Die Band machte gerade Pause, wir hörten das leise Gluckern des Wassers.

Es war herrlich romantisch, der Mond, der sich im Wasser spiegelte, die laue Nacht, die Blätter der alten Bäume säuselten im schwachen Wind, nur das Lachen fröhlicher Menschen und sonst kein Lärm.

Irgendwie kam meine Hand auf Karins Pobacke zu liegen und wurde nicht weggeschoben. Als gehörte sie dorthin, seit ewig. Etwas baute sich auf, wie vor einem Gewitter. Ich hatte einen plötzlichen Schweißausbruch, mein Herz raste.

Keiner von uns stieß einen Schrei aus. Wir waren zu überrascht und zu schockiert, als wir hinter dem Gebüsch über die Leiche von Andrea Frobel stolperten.

Ich war schlagartig ernüchtert und rief Kommissar Keller auf seinem Handy an.

***

Nun standen wir also um Andrea Frobel herum. Mitternacht war längst vorbei. Die polizeiliche Routine lief. Der Polizeiarzt war mit seiner ersten Untersuchung fertig.

»Vergewaltigt?«, fragte Keller.

Doktor Klumpp schüttelte den Kopf. »Sieht nicht so aus. Wenn, dann hat sie sich nicht gewehrt. Keinerlei Spuren von Gewaltanwendung.«

Er packte seine Sachen zusammen und fuhr fort: »Aber sie hatte GV kurz vor ihrem Tod. Un­geschützt.«

Keller guckte erst verblüfft, bis sich ein hämisches Grinsen breitmachte. »Dann hat der Täter wenigstens seine Visitenkarte hinterlassen. Ich werde mich bei ihm bedanken, wenn ich ihn habe.«

»Ich sorge dafür, dass Sie die DNA-Analyse schnellstmöglich bekommen«, versprach der Arzt.

»Was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen?«, fragte Keller.

»Vor ungefähr eineinhalb Stunden«, sagte Dr. Klumpp, »vielleicht auch vor einer. Genaueres wie üblich nach der Obduktion.«

Keller fuhr herum und starrte mich an. Auch ich hatte zurückgerechnet und wusste, was ihm durch den Kopf ging.

Vor etwa einer Stunde hatten wir die Leiche entdeckt. Der Mörder musste an uns vorbeigegangen sein.

Keller grummelte mich an: »Hättest du früher mit dem Turteln begonnen, dann hättest du den Mord verhindert.«

Diese Bemerkung war unsinnig, und das wusste er selbst. Aber ich nahm es ihm nicht übel. Keller war gehörig im Stress. Ich merkte das daran, wie er auf seinem kalten Zigarillo herumkaute.

Bisher hatte er Karin ignoriert, nun fauchte er sie grob an: »Und wer sind Sie eigentlich?«

»Staatsanwältin Karin Brunner«, stellte ich gelassen vor.

Wenn man Keller richtig überraschte, konnte man an jedem Muskel seines zerfurchten Gesichtes ablesen, welche Fortschritte seine Denkarbeit gerade machte. Und jetzt arbeitete sein Gehirn sehr hart. Eine Staatsanwältin? Hier am Tatort? So schnell? Und eine, die er gar nicht kannte?

Ich erlöste ihn.

»Staatsanwältin Karin Brunner aus München, auf Privatbesuch in Schwäbisch Hall«, klärte ich auf.

Keller lockerte sich sichtlich und schaute Karin interessiert an.

»Dann haben wir ja professionelle Hilfe aus der Großstadt«, lächelte er sie an. Tatsächlich, er lächelte. Das sah man selten bei ihm. Gelegentlich grinste er, meistens süffisant, gelegentlich bösartig. Aber lächeln? Ich schrieb das der späten Stunde zu und dem Druck, unter dem er stand.

Der Arzt verabschiedete sich. Keller gab ihm seine Nachtarbeit mit auf den Weg: »Ich brauche die Ergebnisse unbedingt bis morgen früh. Sie wissen, das ist eine ganz besondere Tote.«

Jeder verstand, was er meinte, nur Karin nicht.

»Was ist bei dieser Toten anders als bei anderen?«, fragte sie Keller leicht indigniert.

Ich sprang Keller bei, er hatte genug um die Ohren. »Andrea war bei den Siedern.«

»Das hab ich schon kapiert.«

»Und die Sieder feiern drei Tage lang ihr großes Fest …«

»Deshalb bin ich ja hier.«

»… mit rund 500 Akteuren.«

»Da wird sich doch noch ein Ersatz für diese Andrea finden lassen.«

»Das ist bestimmt nicht das Problem«, meinte ich. »Das liegt woanders. Auf dieses Pfingstwochenende arbeiten die Sieder das ganze Jahr hin. Drei Tage lang sollen sie Stimmung machen und wollen selber fröhlich sein und heftig feiern. Die Stimmung dürfte schon etwas leiden, wenn eine der Ihren ermordet worden ist.«

Glücklicherweise, dachte ich, war es zu spät fürs Lokalblatt. Dann war der Mord wenigstens keine offizielle Sensation, sondern wurde nur unter der Hand weitergeflüstert.

Ich betrachtete die Tote, die gerade in diesen hässlichen Metallsarg gelegt wurde, den wir alle aus den Fernsehkrimis kennen.

Sie war so fröhlich gewesen. Sie hatte zu den Erbsiedern gehört, und sie war stolz darauf gewesen.

Ich wandte mich wieder Karin zu. »Die Sieder sind nicht bloß ein Verein zur Erheiterung der Touristen. Die Sieder sind eine Tradition. Und die nehmen sie verdammt ernst, das wirst du schon noch merken.«

Als der Sarg abtransportiert war, zerstreuten sich auch die Gaffer. Wir ließen uns mittreiben. Nach den Wirrnissen dieser Nacht hätte ich noch einen Schluck vertragen können. In den Kneipen, drinnen wie draußen, tobte immer noch das volle Leben. Lachen, lärmen wie auf einer Piazza in Italien. Es müsste herrlich sein, sich dazuzusetzen, etwas Kühles zu trinken, mitzureden, mitzulachen, unbeschwert die warme Nacht zu genießen. Wenigstens so lange, bis die Nachricht von dem Mord sich verbreitet hatte.

Aber wir waren beide müde und bedrückt. Und unterdessen war es zwei Uhr geworden. Wortkarg gingen wir zurück zum »Goldenen Adler«.

»Noch einen Absacker?«, fragte ich.

Karin schüttelte den Kopf.

»Bei mir?«

»Nein. Es ist zu spät.«

Vielleicht hatte sie recht.

Wir verabschiedeten uns züchtig mit Küsschen links, Küsschen rechts. Jegliche romantische Anwandlung war vergangen.

***

Zu Hause öffnete ich dann doch noch eine Flasche. Stettener Brotwasser, ein Riesling aus dem Weingut des Hauses Württemberg, ein adliger Wein sozusagen. Den hatte ich schon lange nicht mehr getrunken. Er war schön kühl.

Der Name hatte mir schon immer gefallen. Wenn man von Wasser und Brot leben müsste, dann so. Aber früher hatte er mehr Bodag’fährtle, fand ich, schmeckte also mehr nach dem Schilfsandstein, auf dem er wuchs. Lag das am Wein oder an mir? Oder trog die Erinnerung? Wie die Erinnerung auch die schönen Zeiten mit Karin verklärte und die weniger schönen ausblendete? Wie ich bei Roswitha nur an das Unangenehme dachte, das Misstrauen, die Diskussionen?

Gegen meine Gefühlsverwirrungen kam auch der Riesling nicht an.

Ich löschte das Licht, zog mich aus und stellte mich mit dem Glas in der Hand ans offene Fenster.

Kein Lufthauch war zu spüren. Ich kann dem Klimawandel, der uns versprochen wird, durchaus etwas abgewinnen: lieber schwitzen als frieren. Aber jetzt war es sogar mir zu viel. Wie unter einer Glocke hing die Schwüle in der Stadt, selbst um diese Zeit noch.

In der Gelbinger Gasse war es ruhig. Die Eisdiele hatte längst geschlossen. Ab und an kamen ein paar Leute zurück vom Feiern. Still und sachte schwankend die einen, fröhlich und lachend andere.

Fast überall in der Straße standen die Fenster offen und trugen die Geräusche der Nacht hinaus, die sonst in der Häuslichkeit eingeschlossen blieben. Das Schnarchen und Röcheln von Menschen, die sich unruhig im Schlaf wälzten. Kein Keuchen und Stöhnen, dazu war es zu spät oder zu schwül, wer wollte bei diesen Temperaturen schon größere Anstrengungen auf sich nehmen?

Im Haus gegenüber ging im zweiten Stock ein Licht an. Rita und Jörg. Das Paar wohnte schon lange dort, beide Lehrer und etwas älter als ich. Mit Jörg saß ich oft zusammen, wir goutierten die Schätze unserer beider Weinkeller. Bald danach ging das Licht wieder aus.

Im Gästezimmer sägte Tante Olga friedlich vor sich hin. Sie hatte wirklich einen gesunden Schlaf und mich nicht gehört. Glücklicherweise. Ich hatte absolut keine Lust, ihr von dem Mord zu erzählen.

Das Brotwasser in der Flasche wurde weniger, und die Fragen nahmen zu.

Welchen Grund gab es, ein Mädchen wie Andrea zu ermorden? Welchen Grund gab es, überhaupt einen Menschen zu ermorden? Die zweite Frage war rhetorisch, der ersten musste ich nachgehen.

Es ging mich eigentlich nichts an, und Keller würde mir ge­hörig den Marsch blasen, wenn ich mich in seine Er­mittlungen einmischte.

Aber es war eine persönliche Sache. Ein Mensch, den ich gekannt und gemocht hatte, war tot. Und der Mord war praktisch vor meinen Augen geschehen.

Ich versuchte mich zu erinnern, wer uns begegnet war.

Aussichtslos. Zu viele Menschen hatten auf dem Unter­wöhrd geturtelt und gelärmt. Einige hatte ich gekannt, die meisten nicht. Und außerdem war ich beschäftigt gewesen. Mich plagten Gewissensbisse. Wenn wir brav und züchtig herumspaziert wären, hätten wir vielleicht … Es war unsinnig, und trotzdem.

Von den vielen Menschen war einer der Mörder.

Und ich würde keine Ruhe geben, bis ich den Kerl in die Finger bekam. Darauf trank ich den letzten Rest, der noch in der Flasche war.

Ich schlief schlecht diese Nacht. Ich hatte wirre Träume, in denen Andrea, Karin und Susan in nicht eindeutigen Rollen vorkamen. Schweißnass wachte ich zwischendurch immer wieder auf.

Wie sollte man auch bei dieser Hitze schlafen können?

Siedend heiß

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