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Erstes Kapitel

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Ich stapfte die Treppe hinauf, riss die Tür zu Kellers Büro auf und sagte: »Ich brauche einen Waffenschein.«

»Landratsamt.«

»Hä?«

»Für Waffenscheine ist das Landratsamt zuständig.«

»So, so.«

Der Kommissar hob den Kopf ein wenig von seiner Computertastatur und sah mich über die Lesebrille hinweg an.

»Wozu brauchst ausgerechnet du einen Waffenschein?«

»Weil man als Privatdetektiv eben eine Knarre braucht.«

»Seit wann bist du Privatdetektiv?«

»Schon immer. Offiziell seit heute.«

»Aha.«

»Ich habe eben das Schild an mein Büro geschraubt.«

»Und warum das?«

»Vielleicht um Berger zu ärgern?« Berger würde ausflippen, wenn er das Schild sah. Darauf freute ich mich schon. »Wo ist er überhaupt, dein Assistent?«

»Hat sich heute frei genommen.«

»Wohl nicht viel los, was?«

»Nein.«

»Der Tag fängt ja auch erst an. Ich werde schon ein paar Leichen auftreiben für dich. Jetzt, wo ich Privatdetektiv bin.«

Ein maliziöses Lächeln umspielte Kellers Lippen.

»So, so«, sagte er. »Dieter Dillinger, Versicherungs­agentur. Und private Ermittlungen.«

»Nix private Ermittlungen. Privatdetektiv. Knallhart.«

»Und jetzt willst du eine Waffe.«

»Jawoll. Gehört zum Image. Außerdem leben Privat­detektive verdammt gefährlich. Kennt man doch aus dem Fernsehen.«

»Na gut, einen Waffenschein kannst du beim Landrats­amt beantragen, wie gesagt. Aber du wirst keinen bekommen.«

»Warum nicht?«

»Du brauchst einen guten Leumund.«

»Kein Problem.«

»Glaub ja nicht, dass ich für dich bürge. Außerdem musst du eine Gefährdung deiner Person glaubhaft machen. Aber dir droht keine unmittelbare Gefahr. Enttäuschte Freundinnen gelten nicht.«

»Berger?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Weshalb sollte Berger für dich gefährlich sein?«

»Er ist Sachse. Und er schleppt immer die tollsten Frauen ab.«

»Was erwartest du dir eigentlich von deiner Tätigkeit als Privatdetektiv?«

»Ruhm. Reichtum. Tolle Frauen. Geile Autos. Das Übliche eben.«

»Und jetzt willst du deinen Porsche gegen einen Ferrari eintauschen?«

»Geht nicht. Den fährt doch schon der Pizzabäcker.«

»Nicht mehr.«

»Trotzdem. Ich will doch nicht mit einem Pizzabäcker ver­wechselt werden.«

»Du hast aber schlechte Karten, Dillinger.«

»Kannst du nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Du bist nicht gefährdet, höchstens eine Gefährdung mit deiner … Knarre.«

»Dann eben nicht.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging Richtung Tür.

»Dillinger!«

»Ja?«

»Vergiss die Fluppe nicht.«

»Was?«

»Ein richtig harter Privatdetektiv hat immer eine Zigarette im Mundwinkel. Denk an Humphrey Bogart!«

Gar nicht dumm, dieser Keller. Das war eine Überlegung wert.

»Und noch etwas, Dillinger.«

»Ja?«

»Du spinnst.«

Ich ging davon. War wohl doch keine so gute Idee gewesen, das mit dem Waffenschein.

***

Es war ein wunderschöner Tag Ende September. Die Natur, die sich den Sommer über mit der eigenen Reproduktion verausgabt hatte, kam allmählich zur Ruhe. Das Getreide war gedroschen, Heu und Öhmd lagen in der Scheune, die Kartoffeln im Keller. Die Bauern hatten den vierten Gras­schnitt hinter sich, und wenn es das Wetter weiterhin so gut meinte, würde es auch noch einen fünften geben. Es war ein blendender Sommer gewesen, warm und Regen nur dann, wenn man ihn brauchte. Bauer sollte man sein, dachte ich, dann hat man keine Sorgen.

Jetzt stand die Maissilage an und würde die nächsten zwei, drei Wochen die Straßen verstopfen mit den Häckslern und Traktorgespannen. Vereinzelt sah man sie schon, diese riesigen Schlepper mit den Abschiebewagen hintendran, groß wie Laster. Den Autofahrern trieben sie den Angstschweiß auf die Stirn. Vierzig Tonnen kamen angeschossen, und es grenzte an ein Wunder, dass man trotzdem jedes Mal unbeschadet aneinander vorbeikam.

Ich kannte das von den Besuchen bei meinen Bauern, in der Stadt merkte man natürlich nichts davon. Da war es einfach nur ein sonniger Tag, der fröstelnd begann, sich allmählich auf sommerliche Höhen steigerte und des Abends daran erinnerte, dass die Nächte jetzt länger und kälter wurden. Die letzte Gelegenheit, noch einmal Sonne zu tanken und den Tag in einer Freiluftkneipe ausklingen zu lassen, ehe die lange Winterpause begann. Spätsommer eben. Oder auch schon Frühherbst, je nach Sichtweise.

Ich war erst wenige Schritte gegangen, als mein Handy klingelte.

»Das hast du doch nicht ernst gemeint?«, fragte Keller.

»Natürlich. Ich finde, eine Wumme passt gut zu mir.«

»Ich meinte das mit dem Privatdetektiv.«

»Doch.«

»Was doch?«

»Das ist ernst gemeint. Und das Schild sieht toll aus. Solltest du dir mal ansehen.«

»Warum denn Privatdetektiv, um Himmels willen?«

»Ein Mann in meinem Alter braucht Perspektiven. Und als Privatdetektiv benötigt man hierzulande keine Lizenz, oder?«

»Leider nein.«

Aufgelegt. Was Keller nur hatte? Wahrscheinlich fürchtete er die private Konkurrenz. Aber so ist sie halt, die Markt­wirtschaft. Knallhart. Wie ich. Nur die Tüchtigsten überleben.

***

Ich war zu Fuß unterwegs und hatte tapfer den langen Marsch von der Gelbinger Gasse hinauf zur Polizeidirektion auf mich genommen. Als Privatdetektiv muss man schließlich etwas tun für seine Kondition. Die fünfzehn Minuten bergauf waren schon mal kein schlechter Anfang gewesen. Wenn man davon absah, dass ich schnaufte wie ein scheintoter Kettenraucher.

Bergab ging’s leichter.

Beim Weinhaus Hall legte ich einen Zwischenstopp ein und betrachtete angelegentlich die Regale, die ich sonst ignorierte. Sarah war irritiert und versuchte vergeblich, mich für neue Weine von Fritz Haag oder Bassermann-Jordan zu interessieren. Auch ein Moulin à Vent konnte mich nicht begeistern. Hat man jemals von einem harten Kerl gehört, der Burgunder trinkt?

Ich entschied mich für einen Macallan. Wenn schon, dann natürlich Single Malt. Stil ist alles, was zählt im Leben.

Aber wenn ich schon mal hier war, konnte ich auch gleich meinen Weinvorrat aufstocken. Unbesehen akzeptierte ich Sarahs sämtliche Offerten und war nur leicht schockiert, als ich die Rechnung sah. Einen Rückzieher konnte ich jetzt nicht mehr machen. Als kleinen Trost packte Sarah mir eine Flasche aus ihrem eigenen Weinberg dazu, einen ganz besonderen Tropfen für besondere Kunden. Leider war es eine der letzten Flaschen, sie hatte ihren Wengert vor einiger Zeit verkauft.

Die Sonne strahlte, der Himmel blitzte, und ich war bester Laune. War das Leben nicht schön? Auf den Papierkram, der sich im Büro stapelte, hatte ich wenig Lust und beschloss daher, mir eine kleine Auszeit zu gönnen. Mal sehen, was im Städtchen so los war heute.

Ich ging an der Michaelskirche hinunter zum Marktplatz, wo vor dem Rathaus gerade ein Sektempfang stattfand. Ein frisch getrautes Paar sonnte sich in seinem Glück und im schönen Wetter.

Heiraten! Wo doch jede zweite Ehe wieder geschieden wird. Und diese Streitereien um den Unterhalt hinterher! Ob ich den beiden mal von meinen Erfahrungen erzählen sollte? Jede Wette, dass einer von ihnen in ein paar Jahren bei mir auf der Matte stehen wird und wissen will, in welchen fremden Betten es der Partner so treibt. Aber solch banale Fälle wird der Privatdetektiv Dillinger natürlich nicht übernehmen.

Wenn man durch Schwäbisch Hall geht, trifft man unweigerlich auf Bekannte und bekommt genauso unweigerlich den neuesten Klatsch zu hören.

Diesmal kam er von Melinda Füssling, einer fülligen, aber aparten Frau in den Fünfzigern, die über reichlich Geld und noch mehr Zeit verfügte und beides in diverse soziale Aktivitäten investierte. Sie war bestens vernetzt in der Schwäbisch Haller Society.

»Hast du schon gehört, Dillinger? Der Schreibwaren­händler will heiraten.«

»Sag bloß! Hat sich dieser alte Schwerenöter also einfangen lassen.«

»Wurde auch Zeit, schließlich steht er kurz vor der Rente.«

»Na ja, in diesem Alter ist das mit dem Stehen so eine Sache. Kennt man sie?«

»Ferkel! Er soll sie in der Türkei kennengelernt haben.«

»Aha, deshalb muss er also heiraten! Kein Sex vor der Ehe, unumstößliche islamische Regel. Wie alt?«

»Weiß man nicht. Auf alle Fälle jung. Den Maler Fröschl kennst du, oder? Der steht kurz vor der Pleite. Er hat nämlich seinen dicken BMW gegen einen Golf eingetauscht, und der ist nicht mal neu.«

»Das ist der Wagen seiner Frau«, wusste ich.

»Die fährt jetzt einen kleinen Skoda, und der sieht auch schon ziemlich mitgenommen aus.«

So, so, ein abtrünniger Kunde. Der BMW und der Golf waren bisher bei mir versichert gewesen, der Skoda nicht.

Der Marktplatz war erfüllt vom fröhlichen Lärmen der Hochzeitsgesellschaft. Ich dachte an meine eigene Hochzeit damals. Wir hatten uns am Abend so in den Haaren, dass aus einer romantische Hochzeitsnacht nichts wurde – ich schlief auf dem Sofa. Das hätte uns eine Warnung sein müssen.

Keine Sentimentalitäten jetzt, ich war dabei, mein Leben völlig umzukrempeln. Kein Blick zurück, nur nach vorn.

Ich verabschiedete mich von Melinda Füssling, die enttäuscht wirkte, weil sie nicht alle ihre Geschichten losgeworden war, und ging weiter.

Die Idee mit der Fluppe à la Humphrey Bogart war wirklich nicht schlecht. Und sie war um Längen leichter zu beschaffen als eine Pistole.

Ich betrat das Tabakgeschäft »Seifried II« und überlegte lange. Ich kannte mich nicht mehr so gut aus mit den Marken. Auf jeden Fall was ohne Filter. Am besten die schwarzen Französischen in der blauen Schachtel. Knallhart. Und eine Schachtel Streichhölzer dazu, Bogey hatte auch kein Feuerzeug, oder?

Weil Genuss verbindet, ging ich in den anderen Raum hinüber zu Harry’s Bar und Vinothek und beäugte seine Be­stände.

Ich zog einen Untertürkheimer Goldkapsel-Riesling von Wöhrwag aus dem Regal, ein feiner Tropfen. Harry hatte auch Whisky, das hatte ich bisher völlig übersehen. Also dann noch einen Talisker, bitteschön.

Ich bestellte einen Cappuccino, setzte mich vor dem Laden auf die Bank und zündete mir eine Zigarette an. Ich nahm einen tiefen Zug und musste fürchterlich husten. Herrgott, schmeckte das widerlich!

Ich klemmte mir die Kippe in den Mundwinkel wie Bogey. Der Rauch ließ meine Augen tränen. Das war noch nicht perfekt, das musste ich noch üben.

Xaver Hintermeier kam vorbei, Oberstudienrat (Deutsch, Geschichte) und selbsternannter Philosoph, der mit verschwurbelten Volkshochschulvorträgen seine wenigen Zuhörer nervte. Er schob eine beachtliche Wampe vor sich her. Der verbliebene Haarkranz stand ab, als stünde er unter Strom.

Er sah mich und blieb abrupt stehen. Lange starrte er mich mit düsterer Miene an, dann kam er auf mich zu.

»Du siehst zufrieden aus«, sagte er.

»Du nicht.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte kurz, aber bitter auf.

»Etwas ist zerbrochen«, sagte er.

»Was?«

»Das Glück? Die Zukunft? Das Leben? Jedenfalls liegen die Scherben auf dem Boden.«

»Aha.«

»Und jetzt die alles entscheidende Frage: zusammenkehren oder liegen lassen?«

Ich nickte mitfühlend. »Kenn ich. Habe selber schon genügend solcher Scherben zusammengekehrt. Und wenn du sie liegen lässt, trittst du prompt hinein. Das schmerzt.«

»Aber vielleicht brauchen wir manchmal gerade diesen Schmerz. Damit wir zur Besinnung kommen.«

»Das Leben ist nicht einfach.«

»Doch. Du musst es nur in die Hand nehmen. Dich entscheiden.«

Dann konnte ja nichts mehr schief gehen. Ich hatte mich entschieden, das neue Schild an meinem Haus war der Beweis. Ich hatte den Schritt in die Zukunft getan. Ob ich’s ihm sagen sollte? Ich musste es sagen, Werbung war wichtig. Zu dumm, dass ich noch keine Visitenkarten hatte.

»Interessant, dass wir gerade jetzt darüber reden. Ich habe meine Zukunft neu geordnet. Seit heute bin ich Privatdetektiv, ganz offiziell.«

»Du?« Der Lehrer brach in schallendes Gelächter aus. »Dillinger, du spinnst.«

Er ging von dannen, sichtlich heiterer als zuvor. Es schien, als hätte ich ihn glücklich gemacht. Ich sah ihn den Kopf schütteln und vor sich hin glucksen. »Privatdetektiv! Das hat dieser Stadt gerade noch gefehlt.«

Der Tag war trotzdem immer noch schön, und auch ich schlenderte weiter.

Aus der »MiederTruhe« trat Isabel, die hinreißendste und gerissenste Immobilienhändlerin der Region. Auch so eine Vergangenheit von mir.

Sie schüttelte ihre wilde rote Mähne.

»Wow, der Privatdetektiv!«

»Woher weißt du denn das?«, fragte ich verblüfft.

»Du weißt doch, ich erfahre alles. Privatdetektiv! Finde ich« – Küsschen links, Küsschen rechts – »sexy. Ich liebe harte Jungs. Schau mal, ich habe extra deswegen einen neuen BH gekauft.« Aus ihrer Tüte zog sie ein luftiges Etwas. »Und? Was sagst du dazu?«

»Kann ich nur am lebenden Objekt beurteilen.«

»Zu dir oder zu mir?«

»Jetzt? Musst du nicht arbeiten?«, fragte ich.

»Meinen Termin kann ich verschieben.«

»Aber ich meinen nicht.«

»Schade.«

Mit übertriebenem Hüftschwung ging sie davon. Ich war nicht der einzige, der ihr hinterher sah.

Vor dem »Salzwerk«, seiner Stammkneipe, saß Berger, Kellers Assistent, mit einer Frau. Ich sah sie nur von hinten und fragte mich wieder einmal, wie der kleine, dicke Kerl mit seinen Hochwasserhosen, dieser Wendeimport aus Sachsen, zu so einem Prachtexemplar kam.

Dann drehte sie sich zur Seite und zeigte mir ihr Profil, und in mir keimte Schadenfreude. Ich kannte sie. In der »UnverzichtBar« hatte ich einmal belanglos mit ihr geflirtet und hatte sie dann den ganzen Abend an der Backe kleben gehabt.

Die Frau war ein wandelndes Klischee: ausnehmend hübsch, fantastische Figur, aber sie quatschte ohne Punkt und Komma und von lauter Sachen, die keinen Menschen interessierten. Das war eine von der Sorte, von der man im Schwäbischen so charmant sagt, dass man ihre Gosch extra totschlagen müsse.

Selbst Berger mit seinem Elefantengemüt wirkte gequält. Er sah mich, und ich winkte ihm fröhlich zu. Berger verdrehte leicht die Augen.

In der Haalstraße röhrte ein roter Ferrari. Wer den jetzt wohl fuhr? Hatte schon einen Wahnsinnssound, dieses Gerät. Das musste ich mir doch noch einmal überlegen. Aber dann natürlich in Gelb. Oder wie wäre es mit einem Maserati? Darüber musste ich ernsthaft nachdenken. Es gab schon zu viele Porsche im Umland.

Architekt Kunzmann kam mir entgegen. »Schon gehört? Der Schreibwarenhändler heiratet.«

»Eine Türkin, ich weiß.«

»Nein, die ist aus Thailand. Hübsches Ding. Sehr jung.«

»Thailand? Bist du sicher?« Ich warf ihm einen skeptischen Blick zu.

»Wenn ich’s sage!«

»Nun ja, warum nicht?«

In der »Suite 21« saß Anwalt Dehmel und winkte mich zu sich.

»Ich habe mir sagen lassen, du hörst auf? Schade.«

»Bitte?« Ich sah ihn entgeistert an.

»Du machst deinen Laden dicht, habe ich gehört, und wirst Privatdetektiv.«

»Blödsinn.«

»Hätte mich auch gewundert. Du und Privatdetektiv!« Er lachte.

»Das allerdings stimmt«, erklärte ich.

»Bitte?«

»Ich bin Versicherungsvertreter und Privatdetektiv. Beides.«

»Ach so.«

»Du kannst mich engagieren. Im Fernsehen ist das so. Der Anwalt hat einen Privatdetektiv für die Laufarbeit.«

Dehmel sah mich lange schweigend an und nickte dann.

»Vielleicht habe ich tatsächlich etwas für dich. Draußen auf dem Land grummelt es. Einige Bauern haben sich in der Wolle.«

»Nichts Neues, dass Bauern sich zoffen.«

»Aber diesmal ist es anders, da geht’s richtig zur Sache. Üble Nachrede, Geschäftsschädigung, Sachbeschädigung, sogar Körperverletzung, das volle Programm. Da ist etwas im Busch. Wie ein Gewitter, das heranzieht. Mysteriöse Geschichte.«

»Geht’s etwas genauer?«

»Anwaltsgeheimnis.«

Dehmel hat eine nervösen Tick und zwinkert mit dem rechten Auge. Ganz stark, wenn er aufgeregt ist. Wie jetzt. Ich schaute schnell in die andere Richtung.

»Du weißt, wo du mich finden kannst«, sagte ich.

Der Lokalpoet schoss auf mich zu, der sonderbare Kauz. Wenn er an einer Ode oder einem Sonett oder was auch immer arbeitete, hielt er den Blick geistesabwesend ins Nirgendwo gerichtet, heute aber fuchtelte er aufgeregt mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum.

»Es ist soweit. Das Ende. Die Krise hält uns im Würgegriff.«

»Ich dachte, es geht wieder aufwärts.«

»Es geht immer nur abwärts. Nur abwärts. Bloß die Preise steigen. Strom. Öl. Milch. Alles teurer. Wir stehen am Abgrund. Bald gibt es nichts mehr zum Essen. Das ist erwiesen. Wer rettet unsere Welt? Wer, frage ich dich?«

»Du?«

»Ernsthaft jetzt. Also? Siehst du, darauf hast du keine Antwort. Aber ich. Niemand. Es ist aus. Geh zum Milch­markt. Umweltgruppe. Infostand. Die sagen dir alles. Die Apokalypse kommt. Kampf. Erbarmungslos. Opfer. Wer überlebt?«

Es ist ein grundgesetzlich verbrieftes Recht, dass jeder spinnen darf, wie es ihm beliebt.

Ich hatte keine Lust auf Umweltgruppe und Untergangsstimmung, ich fand die Welt schön, wie sie war.

Und dann wollte ich es doch wissen und betrat den Schreibwarenladen.

»Ich habe gehört, du heiratest.«

»Ich? Niemals!«

»Ein junges Mädchen. Aus der Türkei oder aus Thailand, da ist sich die Stadt noch nicht ganz einig.«

»Das junge Mädchen ist meine Nichte und kommt aus Berlin.«

»Nichte. So, so. Soll aber sehr hübsch sein.«

»Meine Schwester war mit ihr in der Türkei im Urlaub und ist jetzt beruflich ein paar Wochen in Thailand. Solange ist meine Nichte bei mir.«

So ist das, wenn man an einem schönen Tag durch die Stadt geht. Man erfährt viel Neues. Manches davon stimmt sogar.

***

Stolz betrachtete ich mein neues Schild. Dieter Dillinger, Privat­detektiv. Das machte was her! Darauf flogen die Frauen! Ich zog mein Taschentuch hervor und wischte liebevoll über das Schild. Es glänzte wie Gold. Fröhlich pfeifend und beschwingten Schrittes betrat ich das Büro.

Meine gute Laune war schlagartig vorbei, als ich Sonjas Miene sah.

»Dillinger, du spinnst!«

»Das scheint heute Morgen eine weit verbreitete Ansicht zu sein. Warum bloß?«

»Was soll dieser Quatsch mit dem Privatdetektiv?«

»Das ist wegen der Perspektive.«

»Welcher Perspektive?«

»Meine Zukunft.«

»Auf deinem Schreibtisch liegen genug Perspektiven.«

»Papierkram! Sinnloser Papierkram! Siehst du denn nicht, wie um uns herum die Welt zerfällt? Die Klima­katastrophe. Die Rentenkürzungen. Die Kinderlosigkeit. Die Islamisten. Unsere Regierung. Wo bleiben da die Per­spektiven? Ich brauche etwas, worin ich Halt finde. Trost. Ich suche einen Sinn für die Jahre, die mir noch bleiben. Im nächsten Jahr werde ich vierzig. Ich habe die Midlife-Crisis.«

Sonja verdrehte die Augen. »O Herr, schmeiß Hirn ra!«

»Pass auf, dass es dich nicht trifft.«

Ich ging in mein Zimmer hinüber. Währenddessen fiel mir auf, dass mir etwas aufgefallen war. Ich stutzte. Etwas war anders. Ich drehte mich um. Ich schaute Sonja an.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte ich erstaunt.

»Was soll schon sein?«

»Kein Western-Look? Kein Sari? Ist was passiert? Du bist so … normal heute.«

»Wenigstens einer in diesem Büro muss doch normal sein.«

»Normal? Du redest von normal? Ist das normal, dass du mit Frauen ins Bett gehst?«

»Das machst du doch auch.«

»Derzeit nicht.«

»Aha, daher weht der Wind! Der gnädige Herr hat einen Hormonstau. Deshalb diese wirren Gedanken.«

So etwas Dummes war keine Antwort wert.

Ich ging in mein Büro. Ach, Susan! Es war nett gewesen, aber es hat nicht sollen sein, wieder mal nicht. Ich musste mich damit abfinden, dass ich allmählich zu alt wurde für die Liebe. Was soll’s! Damit musste man sich abfinden. Wir sind hart im Nehmen, wir Privatdetektive.

Ich drehte mich noch einmal um und rief zu Sonja hinaus: »Außerdem, das mit den Frauen habe ich hinter mir. Viel zu viel Stress. Ab jetzt lebe ich im Zölibat.«

Ich setzte mich in meinen Schreibtischsessel, drehte mich, legte die Beine aufs Fensterbrett und schaute hinaus in die Gelbinger Gasse. Genauer gesagt schaute ich auf das Haus, das mir gegenüber in der Gelbinger Gasse stand.

Von der schnuckeligen Kleinen, die dort neu eingezogen war und die bisher noch keine Zeit für Vorhänge gefunden hatte, war nichts zu sehen. Die war doch nicht etwa arbeiten?

Ich wartete auf meinen ersten Kunden.

Da klingelte das Telefon.

Es war ein Kunde. Aber einer aus meinem anderen Leben. Aus meinem zukünftigen Nebenberuf. Heiner Baldauf, Lohnunternehmer in Bühlerzell. Ohne ihn und seinesgleichen war die heutige Landwirtschaft nicht denkbar. Kurz gesagt: Der Bauer säte, die Lohnunternehmen fuhren die Ernte ein. Sie hatten die schweren Maschinen, die für den einzelnen Bauer viel zu teuer waren, wenn sie nur wenige Tage im Jahr im Einsatz waren.

Baldauf tobte.

Jemand hatte sich an seinen Machinen zu schaffen gemacht, und zwar schon zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen. Zuerst waren die Vorderreifen, dann die Hinterreifen seines Traktors zerstochen worden. Was heißt zerstochen! Für diese dicken Dinger brauchte man schon einen Bohrer. Jetzt hatten alle vier Reifen dran glauben müssen, zudem waren die Bremsleitungen angesägt und die Kabel zerschnitten worden.

Das musste ich mir ansehen.

Musste ich eigentlich nicht. Aber es war ein willkommener Anlass, der Bürofron zu entkommen.

Ich stand auf und machte mich auf den Weg.

»Außentermin«, sagte ich im Vorbeigehen zu Sonja.

»Der erste Fall für den Privatdetektiv?«, gab sie zurück. Es klang nicht begeistert. Nicht einmal spöttisch. Eher sauer.

»Quatsch. Ein öder Versicherungsfall.«

»Und welcher genau?«

»Baldauf in Bühlerzell. Wieder ein Fall von Van­da­lismus.«

»Das kann warten. Auf deinem Tisch türmen sich jede Menge unerledigter Fälle. Die arbeitest du erst mal ab.«

»Für Papierkram bist du besser geeignet. Ich bin ein Mann, ich brauche die freie Wildbahn.«

Sonja hatte ein Funkeln in den Augen, das mir gar nicht gefiel. Sie holte tief Luft, dann zischte sie: »Jetzt ist Schluss mit diesem Kinderkram. Ich habe keine Lust, mich andauernd bei unseren Kunden entschuldigen zu müssen, weil du deine Sachen nicht erledigst.«

»Ich bin in einer Sinnkrise«, wagte ich einzuwerfen.

»Scheiß drauf!« Sie wurde lauter. »Von diesem Papier­kram, wie du das nennst, leben wir, das weißt du ganz genau. Oder ist dir das in deinem Größenwahn entfallen? Wir sind Partner, aber das sind wir die längste Zeit gewesen, wenn du nicht auch deinen Teil beiträgst. Ich will nicht die ganze Arbeit alleine machen müssen. Ich bin nicht deine Sekretärin.«

Ich war verdattert und, ja, auch etwas eingeschüchtert. So kannte ich Sonja überhaupt nicht. Für mich war sie die personifizierte Ausgeglichenheit, was an sich schon ein Ding der Unmöglichkeit ist und bei einer Frau sowieso. Immer fröhlich, immer freundlich, für jede Kabbelei zu haben. Etwas exzentrisch, gewiss, doch auf eine charmante Art.

Doch jetzt war sie zur Furie geworden.

Und sie war noch nicht fertig.

Sie packte mich am Arm. Ihr Griff war so hart, wie man es bei einer Frau ihrer Statur nicht vermutet hätte. Sie hatte den achten Dan und verbrachte viel Zeit im Sportstudio. Wie sich das anfühlte, hatte ich selber noch nicht zu spüren bekommen. Sie schob mich in mein Zimmer.

»Was ist los mit dir? Hast du deine Tage?«

»Und wenn, dann geht dich das einen Scheißdreck an!«

Also doch. Oder noch schlimmer, war sie vielleicht schwanger? Aber nein, da brauchte ich mir bei ihr nun wirklich keine Gedanken zu machen.

Ich schloss die Tür, wartete eine Weile und riss sie dann wieder auf. So schnell gab ich nicht klein bei.

»Oder sind das vielleicht die Wechseljahre?«

Was da angeflogen kam, war ein Kaffeebecher. Er verfehlte mich knapp und zerbarst am Türrahmen.

Scherben in einer braunen Lache. Liegen lassen oder zu­sam­men­kehren? Liegen lassen. Hier galt das Ver­ur­sacher­prinzip, sollte Sonja sich selber um die Sauerei kümmern.

Sie stand da, stemmte die Hände in die Hüfte und funkelte mich wütend an. Sie war ungeheuer sexy in ihrem Zorn, aber das sagte ich jetzt besser nicht. Ich sagte am besten überhaupt nichts mehr.

Was war nur los mit ihr? Ob ich sie fragen sollte? Aber ein Blick in ihre Augen belehrte mich eines Besseren. Nicht der richtige Zeitpunkt, entschied ich. Man muss wissen, wann man zu schweigen hat. Ich fürchtete einen neuerlichen Wutausbruch.

Also setzte ich mich hinter meinen Schreibtisch und starrte finster auf den Stapel Papierkram.

Sonja kam zur Tür und starrte mich genauso finster an.

»Willst du mich etwa beaufsichtigen?«, fragte ich.

»Ja.«

Allmählich reichte es. »Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.«

»Du bist wie ein kleines Kind. Du denkst nur an dich, und wenn man dir dein Spielzeug wegnimmt, weinst du.«

»Was immer es ist, wir können reden. Aber lass deinen Frust nicht an mir aus.«

Wortlos drehte sie sich um und knallte die Tür zu. Es schepperte ziemlich.

Dann eben nicht.

Ich rief bei Baldauf an, dass es später würde, und widmete mich genervt dem Papierstapel.

Obenauf lag der Brief einer Rechtsanwältin aus Aalen. Dr. Nele Bögelsack-Aufderheyde. Heiliger Strohsack, eine Doppel­tussi! Ich sah sie vor mir: schwarze Hornbrille, streng toupiertes Haar, bestimmt ein paar Pfunde zu viel. Kein Make-up und ein schmallippiger Mund.

Als ich den Brief gelesen hatte, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Mitunter kann Papierkram sogar Spaß machen.

Einer meiner Kunden hatte in Aalen einen Auffahrunfall gehabt. Nichts Dramatisches, der übliche Blechschaden, wie er tagtäglich tausendfach vorkommt. Der Geschädigte holte sich seinen eigenen Gutachter, was sein gutes Recht war, die Unterlagen landeten auf meinem Tisch. Normalerweise prüft man die Sachlage flüchtig und winkt den Fall dann durch – reine Routine.

Irgendetwas jedoch hatte mich stutzig werden lassen. Ich konnte nicht sagen, was, nur dass es weit hinten geklingelt hatte. So ein unbestimmtes Gefühl, das man nicht greifen kann. Das ärgerte mich, denn ich wollte mich nicht mit losen Fäden herumschlagen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gingen.

Ich hatte die Unterlagen noch ein paar Tage liegen lassen. Nicht aus Faulheit, sondern weil ich Klarheit wollte.

Irgendwann war mir die Verbindung eingefallen. Das Unfallauto war ein betagtes BMW E30 Cabrio, aus jenen Zeiten, als die Autos noch Stil hatten. Ich hatte mich selber mal in eine solche Karre verguckt, war aber, wenn auch schweren Herzens, schnell wieder zur Vernunft gekommen. Ich brauche ein Auto, das zuverlässig fährt, und ich bin kein Schrauber.

Genau so ein Wagen war vor nicht allzu langer Zeit von einem anderen meiner Kunden gerammt worden, auch ein Auffahrunfall, in Winnenden diesmal. Das konnte natürlich Zufall sein, diese Kisten waren noch immer zahlreich unterwegs.

Ich kramte die Akte heraus, und siehe da, es handelte sich um dasselbe Auto. Nur der Halter hatte mittlerweile gewechselt. Das Ingenieurbüro, das den Schaden begutachtet hatte, war hingegen identisch.

Das alles musste nichts zu bedeuten haben. Trotzdem recherchierte ich ein wenig, ließ meinen Privathacker Rolf zudem in ein paar Datenbanken stöbern, in denen wir nichts zu suchen hatten, und schrieb dann einen freundlichen Brief, dass wir im aktuellen Fall die Reparaturkosten nicht in voller Höhe übernehmen könnten, da eine Mitschuld des Geschädigten Mario Lohse nicht auszuschließen sei. Er hatte nämlich, wie mein Kunde geschildert hatte, ziemlich abrupt, sehr heftig und ohne jeden ersichtlichen Grund gebremst.

Vor Gericht wären wir damit sicher nicht durchgekommen, aber ich wollte einfach wissen, wie Lohse darauf reagieren würde.

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dem Brief seiner Anwältin. Allmählich begann der simple Auf­fahr­unfall interessant zu werden.

Ich griff zum Telefon. Frau Doktor sei leider nicht da. Einen Termin? Und wegen was? Heute? Leider nicht. Morgen ebenfalls nicht, Frau Doktor sei außer Haus. Am Mitt­woch? Aber erst um neunzehn Uhr. Gut, Frau Doktor erwarte mich dann.

Hatte einen langen Arbeitstag, die Frau Doktor. Das passte. Ehrgeizig bis zum Gehtnichtmehr. Eine, die sich ständig beweisen musste, dass sie besser war, vor allem besser als die Männer.

Mir war’s egal. Auf mich wartete ohnehin niemand zu Hause.

Brav arbeitete ich den ganzen Stapel ab, und je kleiner er wurde, desto mehr besserte sich meine Laune. Ist doch schön, wenn man sieht, was man geschafft hat. Und außerdem winkte bald die Freiheit.

Ich schnappte mir mein geliebtes braunes Versace-Lederjäckchen und ging hinüber zu Sonja.

»Alles erledigt, Chefin. Ich fahre jetzt raus nach Bühler­zell, Chefin. Ist das genehmigt, Chefin?«

Sonja schaute nicht einmal auf.

***

Vor meinem Haus stand Helmar Haag und produzierte heftigen Qualm aus seiner Pfeife.

»Hast du einen an der Waffel?«, fragte er.

»Was meinst du damit genau?«

»Dieses Schild.«

»Sieht doch gut aus. Was machst du eigentlich hier? Nichts zu tun beim Lokalblatt?«

»Wollte mir das Schild ansehen. Ich konnte es nicht glauben.«

»Ach? Hat sich das schon rumgesprochen?«

»Allerdings.«

»Sehr gut. Dann brauche ich keine Werbung zu machen. Sie werden strömen, meine Klienten.«

»Die kommen höchstens, um dich auszulachen.«

»Eigentlich müsstest du im Haller Kurier über mich schreiben.«

Er war entrüstet. »Wieso das denn?«

»Bereicherung des Geschäftslebens oder so.«

»Ich mache mich doch nicht lächerlich. Das überlasse ich dir schon selber.«

»Weißt du, dass angeblich jeder zweite Mord unerkannt bleibt?«

»Und?«

»Das wird sich jetzt ändern. Wo die Polizei versagt, springt der Privatdetektiv ein.«

»Du meinst das doch nicht etwa ernst?«

»Aber ja.«

»Dillinger, du spinnst!«

Kopfschüttelnd ging er davon.

Immer das Gleiche. Genies werden verkannt.

***

Bühlerzell! Eingeschmiegt ins Tal der Bühler, das Richtung Süden immer enger wird. Ein Gasthaus, beliebt bei Ausflugsbussen, eine Kirche, die zu mächtig scheint für diesen kleinen Ort.

Die meiste Zeit seiner Geschichte hatte Bühlerzell zum Kloster Ellwangen gehört und war deshalb mit dem benachbarten Bühlertann die katholische Enklave im Kreis. Zur Faschingszeit tobte in beiden Orten der Bär.

Jetzt tobte nur Heiner Baldauf.

Ich fuhr auf seinen Hof am Ortsrand. Im Vergleich zu den zwei Abschiebewagen, die dort herumstanden, wirkte mein gelber Porsche wie ein Spielzeugauto. Ich hätte unter so einem Monstrum glatt hindurchfahren können.

Niemand zu sehen. Ich klingelte am Wohnhaus. Fast sofort wurde aufgemacht.

»Na endlich«, knurrte Baldauf, ein untersetzter Mann Anfang Dreißig, und musterte mich böse.

»Hat lange gedauert.«

»Das Ding fährt ja nicht weg.«

»Aber es muss schleunigst in die Werkstatt.«

Wir gingen hinüber zu der großen Scheune, wo Baldauf das Tor aufschob.

»Ein Schloss wäre auch nicht schlecht«, sagte ich.

Er griff in seine Hosentasche und zeigte mir ein aufgebrochenes Vorhängeschloss.

»Das knackt doch jedes Kind mit einem Bolzen­schneider«, bemerkte ich spitz.

Es war einer dieser ganz großen Traktoren. Das Hinterrad überragte mich. Auch jetzt, da die Luft raus war.

»Das wird teuer«, konstatierte ich. Allein ein Satz Reifen kostete dreitausend Euro, das wusste ich noch von der letzten Attacke.

»Dafür habe ich eine Versicherung. Böswillige Be­schä­digung.«

»Wann ist das passiert?«

»Zwischen drei und acht Uhr heute Nacht.«

»Nichts gehört?«

»Ich bin gestern sechzehn Stunden gefahren, da schläfst du wie ein Bär.«

»Polizei verständigt?«

»Klar.«

»Was sagt sie?«

»Ich soll mir einen Wachhund anschaffen.«

»Klingt nach einer guten Idee.«

»Meine Freundin ist allergisch gegen Hundehaare.«

»Freundin wechseln?«

Das kam nicht gut an, wie ich an seinem Blick merkte.

»Können Sie keine Bewachung organisieren?«, fragte ich schnell.

»Wie stellen Sie sich das vor? Und wie soll ich das bezahlen?«

Eigentlich war das ein typischer Job für einen Privat­detektiv. Doch ich hatte keine Lust, mir die Nächte um die Ohren zu schlagen. Meinen neuen Job stellte ich mir anders vor.

»Wenn das so weitergeht, haben Sie Ihre Maschinen bald runderneuert. Auf unsere Kosten«, sagte ich.

»Was soll das heißen?«

»Sie wären nicht der erste, der seine Versicherung über den Tisch zu ziehen versucht.«

Ich bemerkte, wie sich seine Nackenmuskeln anspannten, und machte mich auf einen Wutausbruch gefasst.

Ich würde ihn überstehen, nach Sonjas Kaffeebecherattacke konnte mich nichts mehr erschüttern. Aber er beherrschte sich.

»Quatsch! Mir ist dadurch ein Auftrag durch die Lappen gegangen.«

»Sie haben ja noch so ein Ding hier stehen.«

»Ich hätte aber beide gebraucht.«

»Kann man sich ja ausleihen, beim Maschinenring oder so.«

»Kann man, wenn einer verfügbar ist. War aber nicht.«

»Großer Auftrag?«

»Kleiner. Man nimmt, was man kriegen kann. Ich bin auf jeden Auftrag angewiesen.«

»Diese Ersatzteile hier sind garantiert mehr wert, als Ihnen Ihr kleiner Auftrag einbringt.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ihr Maschinenpark besteht ja nicht gerade aus den allerneuesten Modellen.«

»Die tun’s aber. Und neue kann ich mir nicht leisten.«

»Eben. Da ist es doch nett, wenn die Versicherung die Verschleißteile bezahlt.«

Er schaute mich an und schüttelte dann den Kopf. »Sie haben keine Ahnung von unserem Geschäft, was?«

Ungefähr schon. Die Lohnunternehmen waren die motorisierten Ackergäule der Landwirte. Sie hatten ihre eigenen Maschinen, erledigten auf den Feldern, was eben so anfiel, und stellten ihre Arbeit in Rechnung. So einfach war das.

Offenbar nicht für Baldauf.

»Im schlimmsten Fall», sagte er, »habe ich heute nicht nur einen Auftrag, sondern gleich den ganzen Kunden verloren.«

»Wieso das denn?«

»Hier herrscht Krieg, sage ich Ihnen. Wir kämpfen ums Überleben. Was ist nun? Kann ich den Traktor in die Werkstatt bringen lassen?«

»Muss wohl sein«, sagte ich schulterzuckend.

Auf dem Rückweg schaute ich beim zuständigen Polizei­posten in Bühlertann vorbei und erwischte sogar den Beamten, der die Geschichte aufgenommen hatte. Aber richtig weiterhelfen konnte er mir auch nicht.

»Es läuft eine Strafanzeige gegen unbekannt. Aber das wäre reiner Zufall, wenn wir den erwischen würden.«

»Kommt so etwas häufiger vor?«

»Bei Baldauf war’s jetzt das dritte Mal. Ansonsten ist mir nichts bekannt. Wenigstens nicht in unserem Zustän­dig­keits­bereich.«

Ich würde mal Keller fragen, vielleicht gab es anderswo im Kreis ähnliche Vorfälle.

***

Vor meinem Haus stand Berger, Kommissar Kellers dicker Assistent, und kicherte.

»Schön, Sie so gut gelaunt zu sehen«, sagte ich.

»Das ist doch ein guter Witz.«

»Welcher Witz?«

»Privatdetektiv!« Er schüttelte sich vor Lachen.

»Das ist kein Witz.«

»Im Ernst?«

»Das haben Sie mir doch geraten.«

»Ich?« Er war wirklich erstaunt.

»Beim letzten Fall, den ich für euch gelöst habe. Erinnern Sie sich nicht mehr? Beim Siedersfest? Ich sollte Privat­detektiv werden, haben Sie gesagt.«

»Ich?«

»Sie.«

»Seit wann nehmen Sie ernst, was ich sage?«

»Immer.«

***

Wenn man vor einem neuen Lebensabschnitt steht, macht man sich so seine Gedanken. Was hast du erreicht in deiner kümmerlichen Existenz? Sind ein Porsche und ein paar teure Klamotten wirklich der Dank für die Mühsal, die sich Leben nennt? Wo willst du hin? Bis Bühlerzell oder darüber hinaus in die Welt, in den fremden Süden, wo das Abenteuer lockt? Ist der Zölibat wirklich eine kluge Entscheidung?

Eines war mir klar: Es musste alles anders werden. Vielleicht sollte ich für den Anfang etwas für meine Bildung tun. Ich fasste drei folgenschwere Entschlüsse: Ich würde einen Wein trinken, den ich nicht kannte. Ich würde eine Musik hören, die ich nicht kannte. Ich würde ein belehrendes Buch lesen, das ich nicht kannte.

Es hat durchaus seine Vorteile, wenn man mal wieder Single ist. Sonst kommt man ja zu nichts.

Also saß ich an diesem Abend da, schlürfte einen Silvaner von Helmut Dolde aus Linsenhofen am Fuß der Schwäbischen Alb und war so in mein Buch vertieft, dass ich überhaupt nicht mitbekam, wie im Hintergrund ein gewisser Herr Purcell einen gewissen King Arthur zu sängerischen Höchstleistungen trieb. So faszinierend war es, wie der Zwerg dem Ork den Schädel spaltete.

Es klingelte.

Nicht jetzt, bitte! Denn der Zwerg wurde hinterrücks von einem anderen Ork angefallen.

Es klingelte erneut. Länger. Lauter. Da wollte tatsächlich jemand was von mir. Ich musste den Zwerg in seiner Not alleine lassen.

Als ich die Tür öffnete, war ich von den Socken. Es war Bea.

»Du?«, stammelte ich geistreich.

»Überrascht?«, konterte sie und grinste mich an.

»Kann man wohl sagen.«

»Darf ich trotzdem reinkommen?«

Ich ließ sie herein. »Was machst du hier?«

»Ich brauche eine Auszeit. Von allem. Vor allem von meinen Eltern.«

»Und weshalb kommst du zu mir?«

»Du hast keine Kinder. Vielleicht verstehst du mich.«

»Und was ist mit der Schule? Hast du nicht bald Abitur?«

»Egal.«

Mir lag eine pädagogisch wertvolle Bemerkung auf der Zunge, aber ich konnte mich gerade noch bremsen. Das war wohl nicht das, was sie jetzt hören wollte, das hätte zu sehr nach Eltern geklungen.

»Und überhaupt, die Schule! Du rackerst dich ab fürs Abi, du rackerst dich ab für die Uni, und hinterher? Generation Praktikum. Ein Job? Kein Problem, du brauchst nur ein paar Jahre Berufserfahrung. Als Anfänger, versteht sich. Ziemlicher Scheiß, dieses Leben.«

»Sinnkrise?«, fragte ich mitfühlend.

Bea knallte mir ihren Rucksack vor die Füße. »Ich muss mich neu sortieren.«

Meine Schwester, die um einiges älter war als ich, hatte es vor langen Jahren nach Hamburg in die Arme eines argen Langeweilers verschlagen. Wir hatten nicht viel Kontakt miteinander, aber zum Fünfzigsten ihres Göttergatten hatte ich mich doch zur langen Reise in den platten Norden aufgerafft.

Es hatte sich herausgestellt, dass wir immer noch wenig miteinander anfangen konnten und dass ihr Gemahl noch nerviger geworden war. Allerdings registrierte ich erfreut, dass meine Nichte Beatrice mittlerweile zu einer aparten jungen Frau herangereift war, mit der ich mich erstaunlicherweise blendend verstand, sehr zum Missfallen ihres Vater.

Sie schaute sich prüfend in meiner Wohnung um. »Schön hast du’s hier. Aber die Musik ist grässlich.«

»Henry Purcell, England, siebzehntes Jahrhundert.«

»Macht’s auch nicht besser.«

Insgeheim musste ich ihr recht geben. Man soll es mit der Bildung nicht übertreiben.

»Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

»Nein.«

»Du bist einfach abgehauen?«

»Sie denken, ich bin bei einer Freundin.«

»Auch noch arglistige Täuschung.«

»Eigentlich wollte ich wirklich zu Linda. Aber dann hab ich gedacht, das bringt’s nicht, dieses Klein­mädchen­gequatsche und so. Und dann bist du mir eingefallen.«

»Das ehrt mich. Aber war das nicht etwas ... unüberlegt?«

»Ich bin erwachsen, ich kann machen, was ich will.«

»Du bist vielleicht volljährig, aber noch lange nicht erwachsen.«

»Ich will auch nicht erwachsen werden. Genauso wenig wie du.«

»Bitte?«

»Trägt affige Klamotten, spielt den Casanova, fährt ein An­geber­auto, macht blöde Witze, über die keiner lachen kann. Ein Kindskopf.«

»Wer soll das sein?«

»Du.«

»Sagt wer?« Ich war betroffen.

»Dein Schwager.«

»Dein Vater ...«

»... ist ein Arsch, ich weiß. Deshalb bin ich hier.«

Sie hatte absolut recht, nur hätte ich es ihr gegenüber etwas diplomatischer ausgedrückt.

»Gibt’s eigentlich etwas zu essen bei dir? Ich habe tierischen Hunger.«

Ich überlegte, was ich ihr anbieten konnte. Büchsenwurst, einen Rest Schinken, etwas Käse, ein paar Scheiben Räucher­lachs. Nichts davon konnte sie begeistern.

»Schieb doch einfach eine Tiefkühlpizza in den Ofen«, meinte sie.

»So etwas habe ich nicht im Haus.«

»Stimmt, du tust ja auch so, als seist du ein Fein­schmecker, sagt Du-weißt-schon-wer. Dann koch uns doch was Schönes.«

»Schlechtes Timing. Morgen ist Markt. Da ist am Abend zuvor mein Kühlschrank leer.«

»Und wenn wir essen gehen?«

»Um diese Zeit? Na, vielleicht gibt’s noch irgendwo einen Döner.«

»Nee, muss nicht sein.«

»Letzter Ausweg: Spaghetti.«

Sie verzog das Gesicht. Die Kleine war wählerisch. Gut, das war ich auch. Ich hatte nur die Befürchtung, dass die Gründe für unsere Mäkeligkeiten weit auseinander lagen. Tiefkühlpizza!

»Womöglich mit Tomatensoße?«

Ich schüttelte den Kopf. »Spaghetti con aglio, olio e peperoncino nach Art von Dillinger. Geht immer, wenn nichts anderes im Haus ist.«

»Wat’n dat?«

»Lass dich überraschen.«

»Wenn’s nichts Besseres gibt.«

Während wir warteten, bis das Wasser kochte, schälte ich vier Zehen Knoblauch, hackte eine Handvoll Salbei und Chilischoten und rieb eine ordentliche Portion Parmesan. Bea sah mir neugierig und etwas misstrauisch zu. Dann schnitt ich einige Scheiben Chorizo in feine Streifen.

»Eigentlich will ich ja Vegetarierin sein«, sagte Bea.

»Du ... willst? Was hindert dich daran?«

»Fleisch schmeckt mir ja, das ist mein Problem. Aber aus ökologischen Gründen sollte man es eigentlich nicht mehr essen. Die Massentierhaltung und der Anbau der Futter­pflanzen belasten die Umwelt extrem. Und hast du gewusst, dass eine Kuh im Jahr einhundertelf Kilogramm Methan in die Luft furzt? Das ist so viel wie achtzehntausend Kilometer mit dem Auto.«

»Das von einer Großstädterin! Ich bin beeindruckt.«

»Ich bin in so einer Umweltschutzgruppe aktiv.«

So klang es auch. Wie auswendig gelernt.

»Chorizo wird übrigens aus Schweinefleisch gemacht«, sagte ich.

»Ist das ein Unterschied? Na ja, tu’s rein. Ich glaube, mein vegetarisches Bewusstsein ist noch in der Betaphase.«

Das Wasser kochte, ich gab die Spaghetti dazu und verdoppelte kurz entschlossen die Portion. Gegen einen kleinen Mitternachtsimbiss war nichts einzuwenden.

»Ruf deine Eltern an.«

»Nein.«

»Sie werden sich Sorgen machen.«

»Sollen sie doch.«

»Dann gebe ich ihnen Bescheid.«

»Wenn du das tust ...«

»Was dann?«

»Ach, ruf halt an, wenn du unbedingt willst.«

Meine Schwester bekam erwartungsgemäß einen hysterischen Anfall, ihr Mann drohte Konsequenzen an, ohne diese näher zu erläutern, und am Ende einigten wir uns darauf, dass ich gut auf Bea aufpassen würde. Bea saß daneben und grinste.

Ich gab großzügig Olivenöl in die Pfanne.

»Das muss natürlich von allerbester Qualität sein«, erläuterte ich. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie wenigstens was fürs Leben lernen.

Ich presste den Knoblauch in das Öl, warf die Chli dazu, ließ die Chorizoscheiben leicht kross braten und danach den Salbei.

Darunter mischte ich die Spaghetti, gab sie auf einen Teller und schließlich den Parmesan und frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer darüber.

Bea aß mit gesundem Appetit. »Schmeckt gar nicht so übel. Feurig. Du kannst also doch kochen.«

»Hast du daran gezweifelt?«

»Dein Schwager. Der sagt, das sei alles bloß Angeberei.«

Der Besuch könnte noch interessant werden. Endlich würde ich einmal erfahren, was die Familie wirklich über mich dachte.

»Warum bist du eigentlich abgehauen?«

»Nerv mich nicht.«

»Mich interessiert’s einfach.«

»Ein andermal, ja? Jetzt bin ich müde.«

Klar, Dillinger hat ja für alles Verständnis. »Wie lange willst du bleiben?«

»Paar Tage. Mal sehen, was hier so abgeht.«

»Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich für dich habe. Ich habe nebenbei noch einen Beruf.«

»Du musst nicht auf mich aufpassen, ich komme schon klar. Ich bin volljährig, vergiss das nicht.«

Leichenacker

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