Читать книгу Dillinger macht Wind - Rudi Kost - Страница 3
Erstes Kapitel
ОглавлениеIch sah einem entspannten Tag entgegen. Das Horoskop sagte: »Unter Jupiter stehen Sie in einem großartigen Strom von Ideen, Plänen und Visionen. Das ist extrem wertvoll, denn Sie bereiten sich auf einen schöpferischen Neustart vor. Üben Sie sich in Gelassenheit.«
Angesichts dieser Aussichten betrachtete ich den Papierstapel auf meinem Schreibtisch, der seit Tagen nicht kleiner werden wollte, mit einiger Nachsicht. Ja, fast mit Zärtlichkeit. Auf alle Fälle mit Gelassenheit. Der gute Jupi!
Das mit dem schöpferischen Neustart klang gut. Was damit wohl gemeint war? Dass ich mich nie mehr in meinem Leben mit dem inbrünstig verhassten Papierkram befassen musste?
Irgendwann muss ein Mann ja mal zur Ruhe kommen. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt. Nur wie? Gegen so ein Horoskop war das Orakel von Delphi eine Plaudertasche.
Bevor ich in weitere philosophische Tiefen abtauchen konnte, was einem Mann, der die Vierzig überschritten hat, eigentlich gut anstand, wurde die Tür aufgerissen.
Es gibt einige Leute, die einfach so in mein Büro stürmen, doch nur eine hat eine rote Lockenmähne.
Unter einem schöpferischen Neustart stellte ich mir was anderes vor.
Isabel war zwar nicht die »Sexiest Woman Alive« (da hatte ich mich noch nicht zwischen Angelina Jolie und Rihanna entschieden), aber ganz bestimmt die heißeste Immobilienmaklerin in Hohenlohe. Nun ja, die Konkurrenz war überschaubar.
»Was willst du?«, fragte ich, mäßig begeistert.
»Dir auch einen wunderschönen Tag. Stör ich bei irgendwas?«
»Beim Denken.«
»Oh! Ein neues Hobby?«
Isabel sah wie immer entzückend aus. Bei ihrer gertenschlanken Figur konnte sie alles tragen. Auch ganz wenig.
»Was ist los, Dillinger? Seit Wochen sieht und hört man nichts mehr von dir, draußen ist das schönste Sommerwetter, und du verkriechst dich in deinem Büro. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Zu viel Arbeit.«
»Zu viel ist ungesund. Zu viel Arbeit, zu viel Alkohol. Nur nicht zu viel – na, du weißt schon.«
Sie hüpfte auf meinen Schreibtisch und bohrte die hohen Hacken ihrer Sandaletten mit den wohlgeformten Füßen darin in meinen Oberschenkel. Eine nicht sehr vorteilhafte Position für eine Dame, wenn der Rock sehr kurz ist.
Das Horoskop stimmte. Ich hatte eine Vision. Tapfer schaute ich nach oben auf ihre wilde Mähne.
»Ich möchte übers Land kutschiert werden«, sprach ein knallrot geschminkter Mund unter einer Stupsnase.
»Bin ich dein Chauffeur?«
»Ja. Du musst mal raus aus diesem Loch. Den Kopf auslüften. Sonne tanken. Los, setz deinen Hintern in Bewegung, den ich als durchaus knackig in Erinnerung habe.«
»Was soll das? Willst du mich anbaggern?«
»Exakt.«
»Isabel, wir hatten unsere Zeit.«
»Eine schöne Zeit.«
»Ich habe sie als etwas … wild in Erinnerung.«
»Sag ich doch. Also, Cowboy, sattle die Pferde, und dann ab in die Wildnis.«
Wenn sich Isabel etwas in den Kopf gesetzt hatte, war Widerstand zwecklos, deshalb war sie auch so erfolgreich in ihrem Job.
Vielleicht war die Idee gar nicht so schlecht. Eine Landpartie mit einer schönen Frau an meiner Seite. Ich zierte mich nur noch anstandshalber.
***
Isabel wollte nicht sagen, wohin die Reise ging, und ich ließ mich dirigieren. Hinunter ins Bühlertal, dann wieder hinauf auf die Hochebene, vorbei an der Abzweigung nach Hohenberg. Vertraute Wege. Erinnerungen an den Bauer Huber, den ich tot in seiner Scheune gefunden hatte. Wie hieß das Mädchen, das mir damals das Leben schwer gemacht hatte? Egal. Vergangenheit.
Ich ließ meinen gelben Porsche gemütlich schnurren. Nicht einmal die Cröffelbacher Steige war ich hinaufgeprescht, jede Kurve am Anschlag, wie ich das sonst gern tat.
Wir hatten die Fenster geöffnet, der warme Augustwind wirbelte Isabels Mähne durcheinander. Bilderbuchwetter. Nur vereinzelte Wölkchen am Himmel und satte 29 Grad. Endlich mal wieder ein Sommer, der diesen Namen verdiente.
Auf den Feldern stand das Korn stramm und schickte seine Düfte zu uns herüber. Vereinzelt waren schon die ersten Mähdrescher unterwegs und zogen Staubwolken hinter sich her.
Auf der ganzen Fahrt hatte Isabel, abgesehen von knappen Richtungsangaben, kaum etwas gesagt. Also eigentlich gar nichts, für ihre Verhältnisse.
Als wir hinter Wolpertshausen Richtung Ruppertshofen abbogen, meinte sie: »Dieser Anblick überwältigt mich immer wieder.«
Mein Blick schweifte über die Hohenloher Ebene, über das helle Grün der Wiesen, das satte Grün der hingesprenkelten kleinen Wäldchen, das Gelb der Kornfelder. Das Gefühl einer unendlichen Weite, kaum beeinträchtigt durch sanfte Hügelchen hier und da. Wie Amerikas Great Plains, stellte ich mir vor, nur im Modellmaßstab.
Und anmutig verstreut die kaum noch zu zählenden Windräder, die in letzter Zeit aufgeschossen waren wie Pilze nach einem warmen Regen.
»Die Ästhetik des regenerativen Zeitalters«, sagte ich. »Wenn wir keine Atomkraft wollen, und wer will das schon, müssen wir uns daran gewöhnen.«
»Zurück zum Kerzenlicht!«
»Und zum Eselskarren und zum Waschbrett und zu kalten Zimmern. Für die Annehmlichkeiten unseres Lebens müssen wir den Preis bezahlen. Oder machen Gewinn damit. An den meisten von diesen Dingern verdiene ich ganz nett.«
»Wie das?«
»Montage- und Bauleistungsversicherung mit Absicherung einer verspäteten Inbetriebnahme, Ertragsausfallversicherung, Bauherren- und Betriebshaftpflichtversicherung, Umwelthaftpflichtversicherung, Umweltschadenversicherung – soll ich weitermachen? Ein ganz neuer Geschäftszweig für mich, musste mich auch erst mal einarbeiten.«
»Weshalb du ein glühender Verfechter der Windenergie bist.«
»Aus geschäftlicher Sicht unbedingt.«
»Und sonst?«
»Zwiegespalten. Ich sehe die Notwendigkeit ein und akzeptiere sie zähneknirschend. Was bleibt mir anderes übrig. Aber sie machen ein ansonsten schönes Landschaftsbild kaputt. Und mir gefällt nicht, dass sie mit aller Gewalt durchgedrückt werden.«
Ich zockelte in aller Gelassenheit durch Ruppertshofen. Hoffentlich stand irgendwo ein Blitzer. Wenn ich schon mal garantiert keine Gefahr lief, erwischt zu werden.
»Und jetzt links ab!«, kommandierte Isabel. »Und dann haben Sie Ihr Ziel auch fast schon erreicht.«
»Leofels? Was willst du hier? Mit mir die Burg besichtigen?«
***
Leofels war ein überschaubares Dörfchen mit einigen Bauernhöfen außen herum. Die Häuschen, klein zumeist, schmiegten sich an einen Bergsporn. Von hier aus ging es tief hinab ins Jagsttal.
Die Burg oder was von ihr übrig geblieben war, saß auf ebenjenem Bergsporn, eine staufische Reichsburg, die auf etwa 1230 datiert wurde. Sie lag hinter hohen Bäumen verborgen, sehen konnte sie nur, wer vom Tal heraufkam.
Der Zahn der Zeit hatte wenig mehr als ein paar Mauern aus Buckelquadern gelassen. Was noch verwertbar war, hatte man in früheren Zeiten abgetragen und anderswo weiterverwendet. Eine pragmatische Einstellung. Solche aufgelassenen Burgen gab es schließlich haufenweise in unserer Gegend, da kam es auf ein paar Steine mehr oder weniger nicht an. In Rom hatte man es mit den alten Bauten genauso gehalten.
Heimatkunde für Anfänger. Damit hatte man uns in der Schule traktiert. Mein alter Lehrer wäre stolz auf sich gewesen, was bei mir hängen geblieben war.
In Wahrheit war ich in meinen Jünglingsjahren mit vielen anderen zum legendären Folkfestival in der Burgruine gepilgert und hatte Liederjan und dem alten Barden Colin Wilkie gelauscht. In den Pausen hatte man genügend Zeit, die Anschlagtafel mit ihrem kargen Text zu studieren. Wenn man nicht gerade auf der Suche nach einem willigen Burgfräulein war.
Das Burgfräulein neben mir riss mich aus meinen Gedanken.
»Ich habe eine Überraschung für dich. Aber erst muss ich noch geschwind etwas Geschäftliches erledigen«, sagte Isabel.
***
Der Hof des Bauern Buchauer lag etwas außerhalb auf der Hochfläche. Das Ensemble bestand aus Stall, Scheune und Wohnhaus. Alles nicht aus einem Guss, sondern im Laufe der Zeit angebaut, umgebaut, erweitert. Unspektakuläre Zweckbauten. Wie üblich eben. Es schien sich um einen für unsere Gegend typischen mittelgroßen Betrieb zu handeln, der die Familie nicht reich machte, ihr aber ein erträgliches Auskommen bescherte. Dank reichlicher EU-Subventionen.
Auf dem Hof war es still. Das war ungewöhnlich. Normalerweise herrschte in dieser Jahreszeit auf einem Bauernhof Hochbetrieb.
»Was willst du hier?«, fragte ich. »Frühstückseier?«
»Der Bauer will verkaufen. Und ich will den Hof haben.«
Isabel stellte sich in Positur. Die rote Mähne geschüttelt, das Kreuz durchgedrückt, das linke Bein leicht angewinkelt, die Brüste zurechtgerückt.
Ich musste grinsen. Ich kannte das. Hohenlohes gerissenste Immobilienmaklerin ging zum Angriff über. Es war eine kühl inszenierte Mischung aus strahlender Freundlichkeit, Kompetenz und überwältigender körperlicher Präsenz.
Auch der Bauer konnte sich dem nicht entziehen, nachdem er auf Isabels Klingeln geöffnet hatte. Er musterte sie von Kopf und Fuß. Gab ja auch genug zu sehen. Lange, schlanke Beine. Ein Rock, der knapp unterm Po endete. Eine figurbetonte Bluse. Als Busenwunder ging Isabel nicht durch, aber was sie hatte, verbarg sie nicht.
Isabel ließ dem Bauern Zeit.
Dann streckte sie ihm die Hand hin und strahlte ihn an. »Grüß Gott, Herr Buchauer. Da bin ich wieder. Haben Sie sich’s überlegt?«
Sie hielt Buchauers Hand länger, als es die Höflichkeit gebot. Dieses Luder! Wenn sie es darauf anlegte, fing ein Mann bei ihrem Händedruck an zu träumen. Und sie legte es darauf an. Ich merkte das an ihrer Körperhaltung und ihrem Lächeln.
Endlich ließ sie los. Buchauers Miene war nicht zu deuten. Enttäuscht? Oder froh, einer Gefahr entronnen zu sein? Dann schaute er mich an.
»Ist das der Interessent?«, fragte er.
Bevor ich etwas antworten konnte, spürte ich Isabels Ellbogen schmerzhaft an meinen Rippen.
»Ja, das ist er«, sagte sie schnell. »Genauer gesagt einer der Interessenten.«
»Na, dann schauen Sie sich halt mal um.«
»Warum geben Sie uns nicht eine Hofführung?«, sagte Isabel und hakte sich bei Buchauer unter. Dem schien das keineswegs unangenehm zu sein. Über die Schulter warf sie mir einen scharfen Blick zu.
Ich schätzte Buchauer auf Anfang fünfzig, ein nicht sehr großer, untersetzter Mann, der auf eine eigenartige Weise wortkarg blieb. Ich verstand genug von Landwirtschaft, um ein paar sachkundige Fragen stellen zu können, aber er ließ sich auf keine Diskussionen ein. Wenn ich meinen Hof verkaufen wollte, hätte ich ihn angepriesen wie Sauerbier. Er begnügte sich mit einigen knurrigen Bemerkungen. Buchauer erschien mir erschöpft, verbittert.
»Ein schöner Hof«, sagte ich schließlich meiner Rolle gemäß. »Und so ein Schmuckstück wollen Sie verkaufen?«
»Hab lang genug gebuckelt. Sechzig Hektar Land gehören auch dazu.«
»Und die wollen Sie auch verkaufen? Als Pacht wäre das doch eine schöne Rente.«
»Meine Rente steht dort drüben.«
Er deutete auf den nahen Wald, wo sich drei Windräder gen Himmel streckten. Eines schnurrte vor sich hin, die anderen beiden machten gerade Siesta. Ist ja auch anstrengend für so ein Windrad, dauernd im Kreis herum und keine Abwechslung.
»Ich verstehe. Sie haben in die Windräder investiert.«
»Ich bin doch nicht blöd. Zwei von denen stehen auf meinem Grund.«
Jetzt verstand ich wirklich. Das musste ihm eine schöne Pacht einbringen.
Er sah mich argwöhnisch von der Seite an. »Und das soll Ihr Alterssitz werden? So alt sind sie doch gar nicht.«
»Man kann nicht rechtzeitig genug vorsorgen. Später mal der Alterssitz, und bis dahin ein Rückzugsort vom hektischen Leben in der Stadt. Die Natur genießen. Die Ruhe.«
»Er will sich ein paar Schafe halten«, sagte Isabel. »Und Hühner.«
»Vielleicht auch Pferde«, ergänzte ich.
Buchauer zuckte mit den Achseln. »Mir egal, was Sie damit machen. Ich wandere aus. Nach Mallorca.«
»Soll schön sein dort«, sagte ich mechanisch.
»Hab ich auch gehört. Und, wie sieht’s aus? Haben Sie Interesse? Über den Preis kann man ja reden.«
»Der Hof gefällt mir schon ganz gut. Aber so eine Entscheidung will natürlich reiflich überlegt sein.«
»Wir müssen ja auch nichts überstürzen«, fiel Isabel ein. »Jetzt müssen wir erst einmal unsere Vereinbarung unterschreiben, dass ich als Einzige Ihre Interessen vertrete.«
Sie hakte sich wieder bei ihm unter und zog ihn in Richtung Wohnhaus. Allzu viel Widerstand hatte sie nicht zu überwinden.
Ich blieb draußen, sah mich noch ein bisschen um.
Wenig später kam eine breit grinsende Isabel beschwingten Schrittes auf mich zu.
»Du bist gut, Dillinger. Wir sind ein tolles Team. Ich engagiere dich bei Gelegenheit wieder.«
»Du hättest mich wenigstens vorwarnen können.«
»Das war eine spontane Eingebung.«
»Kannst du mir verraten, was diese ganze Nummer überhaupt sollte?«
»Nicht hier. Das Programm sieht jetzt ein Picknick vor, anschließend machen wir einen kleinen Waldspaziergang, dann gehen wir zu den Burgfestspielen.«
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Die Burgfestspiele Leofels sind legendär, das solltest du als Hiesiger eigentlich wissen. Ein paar Dutzend Amateure machen Theater vom Feinsten, und Karten sind kaum zu kriegen. Aber ich habe ja meine Beziehungen.«
»Natürlich kenne ich die Burgfestspiele. Was wird denn gegeben?«
»Der Graf von Monte Christo.«
»Ah, der Graf! Der redliche Edmond Dantes, der durch eine hässliche Intrige im Gefängnis landete. Eine wahnwitzige Flucht. Wiederauferstanden als unermesslich reicher Graf. Ei, und dann hat er seinen Freunden ihre Treue belohnt und jene zermalmt, die ihm übel mitgespielt haben. Oh, die Schändlichen! Meiner Treu, wie habe ich das Buch verschlungen! Ich kann es fast noch auswendig. Bei meiner Ehre, Sie machen mich beben!«
»Was redest du eigentlich so geschwollen?«
»Das ist ein altes Buch, zu der Zeit hat man so geredet. Ich wüsste genau, wo ich ihn da oben auf der Burg einkerkern würde. Nur die Flucht ist schwierig. Man kann ihn ja nicht gut in die Jagst werfen, da sind zu viele Bäume dazwischen.«
»Kannst du ja später sehen, wie die das machen. Jetzt ab in den Wald!«
»Du hast mich durcheinandergebracht. Darüber habe ich mich eigentlich gewundert. Du und ein Picknick im Wald?«
»Du kennst meine romantische Ader noch nicht.«
»Die ist mir tatsächlich neu.«
»Wenn du dich anstrengst, kannst du noch viele Seiten an mir entdecken, die du nicht kennst. Ich mach dir’s auch nicht allzu schwer.«
***
Isabel dirigierte mich aus dem Ort hinaus und in den Wald hinein, wo die Windräder standen.
Ich protestierte. »Das ist ein Forstweg. Siehst du die Schilder? Da darf ich nicht fahren.«
Isabel kramte in ihrer Handtasche und pappte ein Schild an die Windschutzscheibe. »Forstbetrieb« stand darauf.
»Ein Förster mit dem Porsche im Wald? Super Idee!«
»Jetzt sei kein Schisser! Oder willst du den Picknickkorb kilometerweit tragen?«
»Welchen Picknickkorb?«
»Den in deinem Kofferraum.«
»Du willst damit sagen, der zentnerschwere Rollenkoffer, über den du jede Auskunft verweigert hast …«
»Ich habe gesagt, das ist eine Überraschung.«
»… ist dein Picknickkorb?«
»Manchmal stehst du ganz schön auf der Leitung, Dillinger. Aber du wirst zugeben, dass man das Ding auf diesem Schotterweg nicht rollen kann. Also musst du ihn tragen. Oder fahren.«
Ich fuhr. Wenigstens war der Weg eben und gut ausgebaut, so dass ich nicht Gefahr lief aufzusitzen.
Ganz zufällig fand Isabel ein hübsches Plätzchen, eine kleine Wiese, auf die nur eine schmale Zufahrt führte, umgeben von dichtem Wald.
Ich wuchtete den Rollenkoffer aus dem Auto und schleppte ihn auf die Lichtung.
Isabel hatte an alles gedacht. Tischdecke, Servietten, richtige Gläser, gekühlten Wein. Irgendwie hatte sie es sogar geschafft, Ameisen und andere lästige Krabbeltiere im Zaum zu halten.
Sie zauberte ein opulentes Mal aus dem Koffer. Salate und Fisch, Schinken und Käse, Baguette und Obst, ein Tiramisu zum Nachtisch.
»Selber gemacht?«, fragte ich.
»Selber gekauft.«
Ich griff zu. Die Sonne schien, der Wald duftete, die Vögel zwitscherten, das Picknick war deliziös. Ich übte mich in Gelassenheit wie empfohlen.
Später dann, als der Bauch voll war, sagte ich: »Und jetzt raus mit der Sprache. Weshalb bin ich hier?«
»Ich wollte mit einem guten Freund einen Sommertag auf dem Land verbringen und picknicken und …«
»Red keinen Stuss! Ich kenne dich, Isabel. Wir waren mal zusammen, woran du mich erst vorhin erinnert hast.«
»Und da heißt es immer, Frauen seien schwer zu durchschauen! Also gut. Ich wollte, dass du dir den Hof anschaust. Und den Bauern.«
»Die Bewertung von Immobilien gehört nicht zu meinen Kernkompetenzen. Hast du wirklich einen Interessenten an der Hand?«
»Ja, einen schwerreichen Unternehmer aus Stuttgart, den die Landlust gepackt hat und dem es aufs Geld nicht so ankommt. Deshalb bin ich so scharf auf den Hof.«
»Du hättest den Bauern auch ohne mich herumgekriegt. Dein Aussehen verschafft dir einen gewissen Geschäftsvorteil. Und das kurze Röckchen erst recht.«
»Was glaubst du, weshalb ich das anhabe?«
»Und ich Idiot dachte, es sei meinetwegen.«
»Die Langversion war für den Bauern. Für dich geht’s noch etwas kürzer.«
»Noch kürzer wäre gar nichts.«
»Ja. Später. Erst zum Geschäft. Was ist dir an dem Hof aufgefallen?«
»Nichts Besonderes. Ein Hof, wie es ihn hier dutzendweise gibt. Nur dass die wenigsten zum Verkauf stehen. Nicht in dieser Betriebsgröße.«
»Richtig. Der Hof ist groß genug, um rentabel zu sein. Hast du dir seinen Maschinenpark angesehen? Einige der Geräte sind neueren Datums. Das heißt, er kann sie sich leisten.«
»Diese Maschinen sind alle auf Pump gekauft. Vielleicht hat er sich übernommen.«
»Das glaube ich nicht. Meine Kontakte haben mir geflüstert, dass er keine Probleme mit der Bank hat. Und ich habe ihm gesagt, dass seine Preisvorstellungen illusorisch sind. Das hat ihn nicht gestört. Er hat es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Er will natürlich einen guten Preis erzielen, logisch, aber er scheint nicht darauf angewiesen zu sein.«
»Klar, er hat ja die Pacht für die Windräder.«
»Was glaubst du, was ihm das einbringt?«
»Schwer zu sagen, das hängt davon ab, wie hoch die Stromausbeute ist. Können schon 50.000 sein im Jahr. Pro Windrad.«
»Dillinger, das ist ein richtig gutes Geschäft.«
»Und vor allem ein sicheres Geschäft. Die Pacht ist immer fällig, auch wenn das Ding wenig Strom liefert. Oder gar keinen.«
»Also, warum will er dann verkaufen?«
»Du hast ihn doch gehört, Isabel. Lange genug gebuckelt.«
»Das ist ein Argument. Aber dann würde ich meine Felder verpachten. Dillinger, diese Familie bewirtschaftet den Hof seit Generationen, die sind hier tief verwurzelt. Ein Bauer verkauft nur, wenn Not am Mann ist. Und das ist hier eindeutig nicht der Fall. Nicht in wirtschaftlicher Hinsicht. Und kannst du dir den Buchauer als glücklichen Frührentner auf Mallorca vorstellen?«
»Nicht unbedingt. Aber was wissen wir von den Lebensträumen anderer Menschen? Jeder hat halt so seine Visionen. Gibt es eigentlich eine Frau Buchauer?«
»Wohl. Aber wenn ich nach ihr frage, weicht er aus.«
»Da hast du deine Erklärung. Auch Bauern haben Eheprobleme. Auch da bleibt nicht auf ewig zusammen, was nicht zusammenpasst. Das Schicksal teilen sie mit Versicherungsvertretern.«
»Das krieg ich raus. Aber ist dir aufgefallen, dass auf dem Hof viel Gerümpel rumliegt?«
»Das ist normal. Findest du auf jedem Bauernhof.«
»Würdest du nicht aufräumen, wenn du deinen Hof verkaufen willst?«
»Vielleicht ist er noch nicht dazu gekommen.«
»Eben. Ich glaube, dass die Entscheidung, den Hof zu verkaufen, ziemlich überstürzt gefallen ist.«
»Spräche für eine Ehekrise. Oder eine schwere Krankheit. Jetzt mal Butter bei die Fische. Reich mir doch noch was von diesem köstlichen Räucherlachs. Und dann erklärst du mir bitte, worauf du eigentlich hinauswillst.«
»Ich glaube, mit dem Buchauer und seinem Hof stimmt was nicht.«
»Na und? Das kann dir doch egal sein. Du verkaufst den Hof, kassierst deine Provision und fertig.«
»Und wenn da tatsächlich etwas nicht koscher ist? Kontaminierter Boden oder so? Dann habe ich ein Problem mit meinem Kunden. Dillinger, dieser Mann ist mein Türöffner für eine ganz andere Klientel, als ich sie bisher habe. Deshalb gehen wir doch heute Abend zu dieser Theateraufführung und hören uns um. Da trifft sich das halbe Dorf.«
»Wir?«
»Du die Frauen, ich die Männer. Arbeitsteilung. Jeder, was er am besten kann.«
»Hast du mich eigentlich schon immer so instrumentalisiert?«
»Natürlich. Du hast es nur nicht gemerkt.«
»Da faselt du was davon, dass du einen schönen Sommertag mit einem guten Freund verbringen willst, und dann spannst du mich für deine Sachen ein.«
»Man kann das Angenehme doch mit dem Nützlichen verbinden.«
»Ich frage jetzt lieber nicht, was für dich das Nützliche und was das Angenehme ist. Apropos, war da nicht was mit einem noch kürzeren Rock?«
»Aber doch nicht hier, Dillinger, wo uns jeder sehen kann! Da würde ich mich ja genieren!«
Uns sah hier höchstens ein Hase, der zufällig vorbeigehoppelt kam. Aber es war gut. Ich hatte nicht die Absicht, eine alte Geschichte wieder aufzuwärmen.
Isabel sprang auf. »Auf jetzt in den dunklen Tann! Waldspaziergang! Es gibt nichts Schöneres als ein kühler Wald an einem heißen Sommertag. Dazu noch mit einem guten Freund.«
Ich grummelte etwas nicht Druckfähiges vor mich hin, während wir zusammenräumten, und beschloss, mich auf die Freilichtaufführung in der Burgruine zu freuen. Ich wollte da schon immer mal hin und hatte es bisher nie geschafft. Und Isabel war halt so, wie sie war. Und es gab Schlimmeres, als mit ihr durch den Wald zu bummeln.
Ich sah zu, wie sie die Andeutung von Rock glattstrich und die wesentlichen Teile zurechtruckelte. Dann deutete ich auf ihre Füße.
»Du willst einen Waldspaziergang machen? Mit diesen Stilettos?«
»Du hast das Geheimnis der großen Frauenhandtaschen gelüftet. Genügend Platz für landtaugliche Schuhe.«
Sie hatte wirklich an alles gedacht.
»Und wohin jetzt?«
»Vertrau dich einfach meiner Führung an. Wie immer.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass wir nicht ziellos durch den Wald stapfen?«
»Wie kommst du denn nur darauf? Ich möchte zu einem dieser Windräder.«
»Ich wusste doch, dass es bei dir mit der Romantik nicht weit her ist. Nett, dass wir wenigstens dort nicht gepicknickt haben.«
»Ich will mir so ein Ding mal aus der Nähe anschauen. Und wenn wir jetzt schon mal hier sind …«
»Und welche Hintergedanken verfolgst du diesmal?«
»Mal sehen.«
Sie drückte sich eng an mich und schlang ihren Arm um meine Taille, was das Gehen etwas mühsam machte, ansonsten aber durchaus angenehm war, wie ich mir eingestehen musste. Ich ermahnte mich zu äußerster Zurückhaltung. Nur ein Spaziergang unter Freunden.
Wir gingen einen breiten, gut befestigten Weg entlang, fast schon eine Straße. Nichts mit einem lauschigen Waldpfad.
»Wo ist eigentlich Sonja?«, fragte Isabel. »Es fällt auf, wenn sie nicht im Büro sitzt.«
»Meine Geschäftspartnerin ist mit ihrer Lebenspartnerin in den Urlaub entfleucht.«
»Wow! Heiße Nächte am Strand!«
»Ich fürchte, es geht eher um die Bewältigung einer Ehekrise.«
»Ach? Haben die zwei geheiratet?«
»Genau das ist die Krise. Die eine will, die andere nicht.«
»Und wer will nicht?«
»Das wechselt.«
»Sei froh, dass wenigstens dir solche Diskussionen erspart geblieben sind.«
»Ich hatte tatsächlich an Heiraten gedacht. Sogar an Kinder.«
»Mein Armer! Du bist wirklich durch den Wind. Du brauchst Trost.«
»Von dir?«
»Ist sonst jemand hier? Diese Anwältin hat aber auch nicht zu dir gepasst.«
»Wahrscheinlich passt niemand zu mir.«
»Stimmt. Außer mir natürlich.«
Ich verdrückte innerlich ein Tränchen. Die Anwältin und ich hatten uns wirklich bemüht, aber wir waren beide nicht für eine Fernbeziehung geschaffen. Wir waren nicht im Streit auseinandergegangen, wir hatten nur die Konsequenz gezogen aus zwei Lebensentwürfen, die nicht zueinander passten. Jetzt saß Nele in Berlin und machte Karriere, und ich trottete durch einen Hohenloher Wald und machte – was eigentlich?
Im Moment bog ich mit einer meiner vormaligen Affären von der Hauptstraße, wenn man so will, in den Weg Richtung Windrad ein. Er war breiter als so manche Landstraße.
»Da musste ganz schön viel Wald fallen«, meinte Isabel.
»Die Zuwegung, wie das so schön heißt, ist auf mögliche Reparaturen ausgelegt, und die Rotorblätter haben ihre 120 Meter Durchmesser oder mehr.«
Wir standen auf dem weitläufigen Areal des Windrads. Vor dem Turm, neben der Eingangstür, parkte ein Geländewagen japanischer Fertigung.
Isabel deutete darauf. »Da weiß noch jemand die Romantik dieses Ortes zu würdigen.« Sie sah sich um. »Auch hier ist ja kräftig gerodet worden.«
»Der gleiche Grund. Was glaubst du denn, wie man ein Rotorblatt montiert? Da kommt ein nicht ganz kleiner Kran. Ich habe die genaue Zahl jetzt nicht im Kopf, aber ich weiß, dass so ein Ding mitsamt Rotorblatt auf 216 Meter Höhe kommt. So hoch wie der Stuttgarter Fernsehturm.«
»Stimmt, ich erinnere mich an die Diskussionen. Man muss so hoch hinauf, weil sonst der Wind zu schwach ist.«
»Hier kommt der schöne Begriff Windhöffigkeit ins Spiel. Wir sind halt das Hohenloher Land und nicht die Nordsee. Bei uns pfeift’s zwar manchmal auch ordentlich, aber nicht ständig.«
»Man merkt’s. Oder warum sonst dreht sich das Ding nicht?«
»Keine Ahnung.«
»Schade. Ich wollte mal hören, wie laut ein Windrad nun wirklich ist.«
»Laut genug, um als störend empfunden zu werden. Wenn der Wind mal ein bisschen kräftiger weht, was er im Sinne des Windradbetreibers ja tun sollte, hörst du ein wusch-wusch-wusch. Ständig. Auch in ein paar Kilometern Entfernung, wenn du in der Windrichtung wohnst. Klingt, als seien ein paar Flugzeuge im Landeanflug.«
Wir standen am Fuß des Turms und schauten nach oben. Es war schon ein imposanter Anblick. Aus der Nähe sah man erst, wie groß das Windrad tatsächlich war.
»Von da oben müsste man einen tollen Ausblick haben«, sagte Isabel.
»Es gibt Windräder mit Aussichtsplattform.«
»Ich will da rauf!«
Isabel drückte die Türklinke – und die Tür gab nach.
»Na also«, sagte Isabel befriedigt.
»Wahrscheinlich gehört das Auto keinem romantischen Wanderer, sondern einem Wartungstechniker. Der schaut wohl, warum das Rad nicht läuft.«
»Dann mal hoch!«
»Ich glaube nicht, dass das gern gesehen wird.«
»Sei kein Frosch! Du willst bloß nicht zugeben, dass du die paar Treppen nicht schaffst. Diese Typen erzählen doch gern von ihrer Arbeit.«
Ich gab nach. Mehr als einen Anschiss konnten wir uns nicht einhandeln. Als wahrer Gentleman ließ ich ihr den Vortritt. Abschirmung gegen Gefahren von hinten. Und das Röckchen im Blick.
Es war heiß in der Betonröhre, und mir lief schon der Schweiß in Strömen, als Isabel so plötzlich stehen blieb, dass ich gegen sie prallte.
»Ups!«, sagte sie. »Ich glaube, viel erzählt der uns nicht mehr.«
Ich drängte mich an ihr vorbei.
Wenigstens gehörte Isabel nicht zu den Frauen, die hysterisch aufschrien, wenn sie einen Toten sahen. Auch dann nicht, wenn der Tote nicht sehr appetitlich aussah.
Trotzdem sagte ich zu ihr: »Dreh dich um. Das ist kein Anblick für kleine Mädchen.«
»Ich bin hart im Nehmen. Ich war mal mit dir zusammen.«
Es war ein Mann, und man hatte ihn übel zugerichtet. Er schien schon einige Zeit hier zu liegen, etliche Kleinlebewesen erfreuten sich an ihm. In der Sommerhitze ging das schnell. Weiß der Himmel, woher die Viecher immer so plötzlich kamen.
Wir traten schleunigst den Rückzug an und atmeten draußen tief durch.
»Und jetzt?«, fragte Isabel.
»Das Übliche. Das Theaterstück musst du dir alleine anschauen. Ich warte hier auf Keller und seine Leute von der Kripo. Und überlege mir passende Antworten auf einige unangenehme Fragen.«
»Ich leiste dir Gesellschaft. Das Theater können wir auch sausen lassen.«
»Kommt nicht in Frage! Wir müssen ja nicht beide deine schwer erkämpften Plätze verfallen lassen. Und du willst dich doch umhören. Wegen Buchauer.«
»Und wie komme ich nach Leofels? Und nach Hause?«
Ich gab ihr meine Autoschlüssel. »Wenn du fertig bist, ruf mich an. Ich sage dir dann, wo du mich auflesen kannst.«
In ihren Augen sah ich ein begehrliches Glitzern.
»Und fahr bitte nicht so, wie du immer fährst. Mein Auto ist empfindsam.«
Ich holte mein Handy hervor und rief Keller an. Wenigstens hat man unter einem Windrad immer gutes Netz. Wegen der Fernwartung.
***
Das Übliche. Erst mal dauerte es. Dann kam ein Streifenwagen mit zwei Beamten, die mich böse anguckten, sich meinen Ausweis zeigen ließen, im Turm verschwanden und schnell wieder zurück waren. Sie guckten nun nicht mehr böse, sondern etwas glasig und postierten sich vor der Tür mit entschlossener Miene. Damit ich nicht auf Idee kam, ihnen die Leiche zu klauen.
Dann dauerte es wieder. Der Herr Hauptkommissar Keller mit Dienstsitz Schwäbisch Hall trudelte ein. Er würdigte mich keines Blickes, sprach mit den beiden Beamten und betrat den Turm. Er blieb länger, und als er wieder aus der Tür trat, guckte er genau wie immer. Mürrisch. Er telefonierte und ignorierte mich weiterhin.
Irgendwann traf schließlich auch der Rest der Mannschaft ein. Die hatten ja auch einen weiten Weg. Im Zuge der Polizeireform war die Polizeidirektion Schwäbisch Hall aufgelöst worden, die Beamten kamen jetzt aus Waiblingen oder Aalen angereist. In Schwäbisch Hall war nur ein schlichtes Kriminalkommissariat geblieben. Und Keller. Dafür war er jetzt für den gesamten Landkreis zuständig.
Ich fand diese Reform großartig. Sollte ich jemals in die Verlegenheit kommen, in … sagen wir mal Crailsheim über eine Leiche zu stolpern, konnte ich damit auch Keller ärgern und musste mich nicht mit einem unbekannten Kripobeamten herumschlagen. Im fortgeschrittenen Alter schätzt man eben Beständigkeit.
Die Leute mit ihren Ganzkörperkondomen gingen in den Turm hinein, gefolgt von Keller. Wahrscheinlich mussten sie dort drinnen Platzkarten verlosen.
Ich saß auf einem Stapel Langholz und gab mich philosophischen Gedanken hin. Das mache ich seit Neuestem immer, wenn mir langweilig ist. Und wie immer führten sie zu keinem greifbaren Ergebnis.
Irgendwann – ich war gerade bei der Vergänglichkeit des Daseins angelangt und wollte zum Sinn desselben weitergehen – kam Keller auf mich zugestapft.
Es kam, was kommen musste. Das Übliche eben.
»Wieder mal«, knurrte er mich an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Genau besehen habe nicht ich die Leiche gefunden, sondern Isabel. Sie war zwei Stufen vor mir.«
»Dieses rote Gift? Diese Immobilientante, die immer hinter dir her ist?«
»Ist sie nicht.«
»Ist sie doch.«
»War sie vielleicht mal.«
»Immer noch. Manchmal bist du mit Blindheit geschlagen, Dillinger. Wie bei deiner Anwältin. Die hättest du nicht gehen lassen dürfen. Die hat dir gut getan.«
»Aber ich ihr wohl nicht.«
»Weil du ein Idiot bist.«
»Sagt der Experte in Herzensangelegenheiten.«
»Lenk nicht ab. Nele war sympathisch, intelligent und außerdem verdammt attraktiv.«
»Na und? Es hat eben nicht sollen sein. Sie ist in Berlin, ich bin hier.«
»Eine Fernbeziehung ist doch heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr.«
»Hat halt nicht funktioniert bei uns.«
»Weil du zu unflexibel bist, Dillinger. Du denkst immer, dass sich alles um dich drehen muss.«
»Schön, dass du mit mir mein verkorkstes Liebesleben diskutieren willst, aber hast du nicht was zu arbeiten?«
»Das machen die Jungs schon.«
»Sexist! Da war mindestens eine Frau dabei.«
»Die Adelheid, ja. Niedliches Ding. Und ledig. Soll ich euch bekannt machen?«
»Weißt du, was du mich kannst? Aber kreuzweise!«
Keller grinste. »Also, was hattet ihr in diesem Turm zu suchen?«
Ich erzählte. Von unserem Picknick. Dem Spaziergang. Der Tür, die offen stand. Vom Bauer Buchauer sagte ich nichts, das hatte mit dieser Sache ja nichts zu tun.
»Kennst du ihn?« Aus seiner Kopfbewegung war eindeutig zu entnehmen, wen er meinte.
»Er kommt mir vage bekannt vor. Soweit man das noch erkennen kann. Kann sein, dass ich ihn irgendwo mal gesehen habe. Name weiß ich nicht.«
»Aber ich. Dr. Gustav Rautenberg. Ist das der, den du meinst?«
»Keine Ahnung.«
»Wie kommt es dann, dass er deine Visitenkarte bei sich trug?«
»Ich verteile die Dinger großzügig.«
»Warum?«
»Mensch, Keller! Du wirst zu deinen Kunden gerufen, und die warten auch ganz geduldig, bis du kommst. Ich muss Werbung machen für mich.«
»Bringt’s was?«
»Danke der Nachfrage, ich ertrinke in Arbeit.«
»Diese Windräder sind ein gutes Konjunkturprogramm, was? Hast du die drei hier auch versichert?«
»Möglich. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es sind so viele, ich verliere allmählich den Überblick. Was wisst ihr sonst noch über diesen Herrn Rautenberg?«
»Sechsundfünfzig Jahre alt, wohnt drüben in Ilshofen. Liegt seit einigen Tagen hier, vielleicht seit drei. Genaueres nach der Obduktion, du kennst das ja.«
»Deshalb müffelt er so. Kein Wunder bei dieser Sommerhitze.«
Keller zeigte mir den Ausweis. Dr. Gustav Rautenberg sah, selbst auf dem biometrischen Passfoto, nicht schlecht aus, jedenfalls besser als in seinem jetzigen Zustand. So der Typ George Clooney für Arme.
Ich zog mein Handy hervor und googelte. Wenn man schon so ein Wisch-und-weg-Ding hat. Ich wurde schnell fündig.
»Da schau her«, sagte ich. »Dein Kunde gehörte zu den entschiedenen Windkraftgegnern. Er war oft in der Zeitung. Deshalb kam er mir so bekannt vor.«
»Wunderbar. Dann habe ich ja auch schon meinen ersten Tatverdächtigen.«
»Wen?«
»Dich natürlich. Er wollte dir dein Geschäft vermiesen. Du machst doch auch Geschäfte mit den Windrädern, soweit ich weiß.«
»Und nicht zu knapp. Wie viele andere auch. Ist aber kein hinreichendes Motiv. Nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Keller, die Dinger stehen, daran ist nicht mehr zu rütteln. Die Kämpfe sind vorbei. Du musst woanders suchen.«
»Nett, dass du uns auch noch Arbeit übrig lässt.« Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an.
Ich war verblüfft. »Ich dachte, du willst dir das Rauchen abgewöhnen?«
»Habe ich auch. Erfolgreich. Zum ungefähr fünfundzwanzigsten Mal. Jetzt habe ich eine Erholungspause verdient. Bis zum nächsten Mal.«
»Widerlich, diese Sucht. Wie ein Kleinkind, das seinen Schnuller braucht. Bist du fertig hier?«
»Fürs Erste ja.«
»Dann kannst du mich mitnehmen.«
»Bin ich dein Taxi?«, blaffte er mich an.
»Heute schon. Isabel hat meinen Wagen.«
»Wäre ich nur mit nach Aalen oder Waiblingen gegangen, dann wärst wenigstens du mir erspart geblieben.«
»Das Leben ist ungerecht, ich weiß.«
»Dann komm halt mit. Ich habe allerdings noch den unangenehmsten Teil des Abends zu erledigen.«
»Warum delegierst du nicht die unangenehmen Aufgaben?«
»An wen denn? Ich habe doch niemanden mehr, die haben sie mir alle genommen.«
»Dein Assistent?«
»Nissen? Den haben sie jetzt endgültig nach Aalen versetzt. Der ist ganz schön angefressen. Hat sich gerade hier ein Haus gekauft und darf jeden Tag pendeln.«
»Mein Glück. Ich wollte schon immer sehen, wie ein Profi das macht. Diese Kondolenzbesuche. Hast du einen Standardtext oder improvisierst du jedes Mal?«
Keller knurrte nur.
Ich schickte Isabel eine SMS. Jetzt durfte sie wenigstens mit meinem Porsche nach Hause fahren.
***
Wie nennt man ein Neubaugebiet, das schon einige Jahre auf den Hausdächern hat? Altbau war es jedenfalls noch nicht. Ilshofen war in den vergangenen Jahren mächtig gewachsen, und vor dem nicht mehr ganz so neuen Neubaugebiet fraßen sich schon die Bagger in die Wiesen und Äcker für das nun wirklich ganz neue Neubaugebiet.
Mit dem Ausblick auf die Natur war es jedenfalls vorbei, und einen Naturschützer wie Gustav Rautenberg hatte das bestimmt geschmerzt. Aber die Sorgen hatte er jetzt sowieso nicht mehr.
Der Abend war noch immer lau, obwohl es mittlerweile auf zehn Uhr zuging, und über der Siedlung hing der penetrante Geruch von Gegrilltem. Ich musste schlucken. Seit unserem romantischen Picknick war es schon eine Weile her.
An dem kleinen Häuschen von Rautenberg hatte sich kein visionärer Architekt ausgetobt, es war austauschbar wie alle anderen Häuser hier. Der Garten wirkte gepflegt. Kein Hund bellte, als wir klingelten, niemand machte auf, das Haus blieb dunkel. Dafür regte sich im Nachbargarten etwas.
»Wollen Sie zum Rautenberg?«, fragte eine weibliche Stimme hinter der Hecke.
Zu der Stimme gehörte eine kleine Frau mittleren Alters in körperbetontem Freizeitdress. Es quoll aus allen Nähten. Ihrer leicht verwischten Aussprache nach zu urteilen, hatte das Grillen viel Durst gemacht.
»Den habe ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen«, fuhr die Frau ungefragt fort.
»Seit wann nicht mehr?«, fragte ich und handelte mir einen strafenden Blick von Keller ein. Okay, es war seine Show.
»Bestimmt seit drei Tagen oder so. Schauen Sie, diese ganze Werbung passt gar nicht mehr in den Kasten. Sonst sagt er’s ja immer, wenn er wegfährt, aber diesmal …«
Für einen Einbrecher wäre das eine interessante Information gewesen, aber der hätte wahrscheinlich nicht geklingelt.
»Er ist wohl öfter weg?«, fragte ich und ignorierte das Knurren neben mir.
»Freilich. Immer mal wieder für ein paar Tage.«
»Gibt es auch eine Frau Rautenberg?«
Kein Knurren, kein Boxhieb in die Nieren, Keller hatte aufgegeben.
»Eine? Jede Menge! Seit der geschieden ist, geht’s hier zu wie im Puff. Kaum ist die eine weg, kommt schon die Nächste. Mich geht’s ja nichts an, aber die hätten wenigstens das Fenster zumachen können, hier wohnen ja auch Kinder. Und ich sage Ihnen was, die Frauen, die zu ihm kamen, die waren nicht alle ledig. Was wollen Sie überhaupt von ihm? Um diese Uhrzeit? Suchen Sie vielleicht Ihre Frau?« Sie kicherte.
Sie war eindeutig ziemlich angeschickert.
Das war jetzt der Punkt, an dem ich Keller das Feld überlassen musste. Er zeigte ihr seinen Ausweis.
Sie schlug die Hand vor den Mund. »O Gott! Die Polizei! Hat er was ausgefressen? So weit musste es ja kommen!«
»Er hatte einen Unfall«, sagte Keller diplomatisch.
So konnte man es auch nennen.
»Einen Unfall! Eduard, hast du das gehört? Der Rautenberg hatte einen Unfall!« Und fort war sie.
»Da muss jetzt die Spusi ran«, sagte Keller. »Hoffentlich sind sie noch nicht weit weg vom Leichenfundort.«
Er telefonierte. »Glück gehabt, sie sind gerade erst los.«
»Du bringst die ganze Siedlung um ihren Schönheitsschlaf. So schnell kommen die jetzt nicht ins Bett. Und ich auch nicht.«
»Kannst dir ja ein Taxi nehmen.«
»Jetzt, wo’s spannend wird? Wie im Tatort, gell?«
Der Autokonvoi bog um die Ecke. Und es begann das übliche Ritual. Nur zu gern hätte ich mich im Haus umgesehen, aber mir war klar, dass ich jetzt nicht erwünscht war.
Ich wandte mich an Keller. »Bitte um Erlaubnis, mit der mitteilsamen Nachbarin sprechen zu dürfen, bevor sie wieder ganz nüchtern ist.«
»Ich kann dich ja doch nicht daran hindern. Notfalls kommst du garantiert morgen wieder.«
»Manchmal überrascht mich deine Menschenkenntnis.«
»Dazu gehört bei dir nicht viel.«
Die Nachbarin stand mit großen Augen an der Hecke, neben ihr die männliche Ergänzung. Ich ging zu den beiden hinüber.
»Was passiert denn da jetzt?«, fragte sie.
»Nun, Spurensicherung und so, Sie wissen schon«, sagte ich.
»Wie im Tatort?«
»Richtig, Frau …?«
»Roswitha Bäuerle. Und das ist mein Eduard.«
Ich nickte ihrem Eduard zu. Er nickte nicht zurück.
»Was ist denn mit dem Rautenberg eigentlich passiert?«, fragte Roswitha Bäuerle.
»Tut mir leid, das dürfen nur die Angehörigen erfahren. Gibt es irgendwelche Angehörigen? Seine Exfrau zum Beispiel, wo kann man die erreichen?«
»Man hat gehört, dass sie nach Welzheim gezogen ist nach der Scheidung, vor zwei Jahren ungefähr, zusammen mit dem Sohn, der muss jetzt achtzehn sein oder so. Aber nichts Genaues weiß man nicht.«
»Haben Sie mit Ihrer Nachbarin nicht darüber gesprochen? Wenn man so dicht aufeinander wohnt?«
»Ach, wir hatten nicht so viel Kontakt. Die Rautenbergerin war so eine … wie soll ich sagen …«
»Eine Verhockte«, ergänzte ihr Eduard.
»Und zu ihm hatten Sie auch wenig Kontakt?«
»Doch, schon. Der hat ja gern geredet. Und dann war er ja auch so ein Umweltschützer, ein ganz fanatischer. Der ist immer sauer geworden, wenn er bei mir Schneckenkorn gesehen hat. Das Gift bleibt sieben Jahre in der Erde, hat er geschimpft. Aber was soll ich denn machen gegen die Biester? Die fressen mir doch meine ganzen Blumen weg! Na ja, das muss einer vielleicht sagen, wenn er Biologielehrer am Gymnasium ist. Und sogar ein Doktor.«
»Und Sie sagten, er hatte viel Damenbesuch?«
»Ha! Und kaum eine kam zweimal.«
»Das haben Sie ja gut beobachtet.«
»Wenn man so dicht aufeinander wohnt.«
»Der hat bestimmt dafür bezahlt«, ließ sich ihr Eduard vernehmen. »Da waren auch ganz junge Dinger dabei.«
In mir keimte ein schrecklicher Verdacht. »Wie jung? Wie Schülerinnen?«
»Das sieht man doch nicht so genau«, schaltete sich Frau Bäuerle wieder ein. »Die jungen Mädchen heutzutage sind ja so aufgetakelt, die sehen viel älter aus, als sie tatsächlich sind.«
»Waren seine Frauenbekanntschaften auch der Grund für seine Scheidung?«
»Gesagt hat natürlich keiner was, aber man denkt sich seinen Teil.«
»Kannten Sie welche von den Frauen, die zu Besuch kamen?«
»Ha! Viele! Die Renate Lohmeier, die Margot Waghans, die Lore Bibloch …«
»Aber die sind doch alle aus dieser Umweltgruppe«, unterbrach sie ihr Eduard. »Die werden sich über die Frösche unterhalten haben.«
»Und dabei haben sie quaken geübt oder was? Was die gemacht haben, war ja wohl eindeutig, das hast du doch auch gehört. Direkt neidisch hätte man werden können!« Sie warf ihrem Eduard einen Blick zu, den der nicht registrierte oder nicht registrieren wollte.
»Und was ist mit der Irene Zwigge?«, fuhr sie fort. »Die ist nicht bei der Umweltgruppe, die ist verheiratet!«
Es gab hier anscheinend interessante Zusammenhänge zwischen Umweltschutz und Ehe, aber das wollte ich lieber nicht vertiefen.
»Der Herr Rautenberg ist … war ja sehr aktiv hier. Als Umweltschützer, meine ich. War er auch gegen den Windpark?«
»Ha! Aber wie! Der war ja der Chef von dieser Bürgerinitiative! Und als er die Dinger doch nicht hat verhindern können, hätte er sie am liebsten in die Luft gesprengt. Hat er mir mal gesagt.«
»Ach, das sagt man so«, warf ihr Eduard ein. »Er war halt dagegen, und recht hat er gehabt. Jetzt stehen die Türme da und laufen nicht mal. Wir haben sie ja ständig im Blick, wenn wir im Garten sitzen.«
»Sie waren also auch gegen die Windräder?«
»Freilich, das muss man doch sein! Überall stehen die ’rum und verschandeln die Landschaft!«, empörte sich Frau Bäuerle.
»Dann waren Sie wohl auch in der Bürgerinitiative aktiv?«
»Das nicht. Dafür habe ich keine Zeit. Ich muss meinen Garten machen.«
»Also, Frau Bäuerle, Herr Bäuerle, dann bedanke ich mich mal. Wenn ich noch Fragen habe, komme ich auf Sie zurück.«
»Aber klar, Herr Kommissar! Man hilft doch gern. Was ist nun eigentlich mit dem Rautenberg passiert?«
Herr Kommissar! Wie sich das anhörte! Ich lächelte sie an und ging weiter.
Mittlerweile hatte sich gefühlt halb Ilshofen um das Häuschen von Gustav Rautenberg versammelt. Da es nicht viel zu sehen gab, blieb ausführlich Gelegenheit für Mutmaßungen. Jedem musste klar geworden sein, dass der Herr Nachbar nicht bloß aus dem Schaukelstuhl gefallen war, bei diesem Polizeiaufgebot.
Ich schlenderte durch die Menge und spitzte die Ohren.
Die Zusammenfassung der hin und her schwirrenden Gerüchte war etwa folgende: Rautenberg war ein arroganter Schnösel, ein charmanter Mann, wollte sich in den Vordergrund stellen, engagierte sich selbstlos für eine gute Sache, war schon immer etwas merkwürdig. Zur gefälligen Auswahl.
Ich beobachtete besonders die Frauen im knackigen Alter. Täuschte ich mich oder waren tatsächlich einige auffallend still?
Als ich Keller aus dem Haus treten sah, ging ich zu ihm hin.
»Und? Was spricht die Gerüchteküche?«, fragte er.
»Gymnasiallehrer für Biologie, und da es hier in Ilshofen kein Gymnasium gibt, wohl in Crailsheim.«
»Gut kombiniert. So weit sind wir auch schon.«
»Bei diesem Provinz-Clooney ist wenigstens klar, auf welcher Seite des Bettes er liegt. Er scheint jede Frau vernascht zu haben, die nicht rechtzeitig Reißaus genommen hat. Und er liebte die Abwechslung.«
»Das sagte die nette Nachbarin ja schon.«
»Unter den willigen Frauen waren wohl etliche aus der Nachbarschaft. Du hast also die Wahl zwischen eifersüchtigen Ehemännern und eifersüchtigen Ex-Geliebten und eifersüchtigen Noch-nicht-Geliebten, und das scheint bei ihm ein weites Feld zu sein. Aber keine Sorge, du bist nicht allein, ich helfe dir.«
Keller brummte nur.
»Und jetzt wird’s interessant«, sagte ich. »Unter den Frauen sollen auch junge gewesen sein. Sehr junge.«
»Oha!«
»Eben. Wenn man das von einem Lehrer hört, wird man hellhörig. Muss ja nichts dran sein. Aber auch in dieser Richtung musst du ermitteln.«
»Ich weiß selber, wie ich meinen Job zu machen habe«, blaffte Keller.
»Und damit dir’s nicht langweilig wird: Der lebenslustige Herr war wohl ziemlich fanatisch, wenn es um den Umweltschutz ging. Er wollte die Windräder in die Luft sprengen, wenn er sie schon nicht verhindern konnte. Hat er gesagt. Hat die Nachbarin gesagt. Vielleicht wollte er den Tatort nur ausbaldowern – so sagt man doch, oder? Vielleicht hat ihn jemand auf frischer Tat ertappt? Irgendwelche Spuren diesbezüglich im Turm?«
Keller seufzte. »Weiß ich doch nicht, ich kenne die Auswertung ja noch nicht. Ich werde die Jungs darauf anspitzen.«
»Die niedliche Adelheid nicht zu vergessen.«
»Willst du ihr das nicht selber sagen? Die haben richtig gute Laune, weil sie sich die Nacht um die Ohren schlagen dürfen und hernach noch eine lange Heimfahrt haben. Die sind ziemlich sauer auf den, der ihnen das eingebrockt hat.«
»Was schaust du mich so an? Ich habe den Rautenberg doch nur gefunden.«
»Hättest du das nicht auch ein paar Stunden eher tun können?«
»Das nächste Mal werde ich dran denken«, versprach ich. »Darf man eintreten?«
»Wenn du deine Pfoten bei dir behältst«, knurrte Keller. »Wir sind noch nicht fertig.«
Von einem seiner Kollegen holte er sich ein Paar Einmalhandschuhe und warf sie mir zu.
»Ich dachte, ich darf nichts anfassen?«, sagte ich erstaunt.
»Darfst du auch nicht. Aber ich kenn dich doch.«
Ich betrat ein in jeder Beziehung durchschnittliches Siedlungshaus. Was es von anderen unterschied, war die Tatsache, dass es nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen war.
»Wie sieht das denn aus?«, entfuhr es mir.
»Da war offensichtlich vor uns schon jemand da«, sagte Keller. »Und was immer sie gesucht haben, sie haben es gründlich gemacht.«
Es sah aus, als sei ein Tornado durch das Haus gefegt.
Ich ging durch die Räume und kam in ein Zimmer, das Rautenbergs Arbeitsplatz gewesen war. Hier sah es nicht anders aus.
Auf dem Schreibtisch musste ein Notebook gestanden haben, das Netzteil war noch da. Viele Bücher, viele Papiere, viele Aktenordner und ein ganz altmodisches analoges Adressbuch. Das machte den Frauenhelden ja richtiggehend sympathisch.
Ich blätterte darin herum. Manche Namen waren ausgeschrieben, andere abgekürzt. Das waren wohl die interessanten. Am liebsten hätte ich es mitgenommen, aber ich war ja nicht lebensmüde. Keller hätte mich geröstet. Ich wünschte den Kollegen viel Spaß, die das alles abtelefonieren mussten.
Auch bei seinem Terminkalender bevorzugte Rautenberg die antiquierte Methode. Ein Wochenkalender lag auf dem Tisch. Am Dienstag war er beim Zahnarzt gewesen, am Montag und Mittwoch gab es ominöse Abkürzungen, die ich aber nicht im Adressbuch fand, die letzten Tage hatten keine Eintragungen.
Das Schlafzimmer wurde beherrscht von einem Bett im Kingsize-Format, zerwühlt. Eine schöne Spielwiese. Fehlten nur die Spiegel an der Decke.
Den Kleiderschrank schenkte ich mir. Stattdessen nahm ich mir die Kommode und den Nachttisch vor.
Was hatte ich erwartet, außer einer Großpackung Kondome verschiedener Geschmacksrichtungen? Sexspielzeug? Pornofilme zum Anheizen? Der ultimative Ratgeber »Wie verführe ich einsame Nachbarinnen«? Ich wusste es nicht. Eine Schachtel Viagra hätte ich jedenfalls nicht vermutet. Der Anblick deprimierte mich zutiefst. Rautenberg war doch erst sechsundfünfzig gewesen! Hatte man die kleinen Helferlein in diesem Alter auch schon nötig? Ob ich Keller fragen sollte? Der war doch auch ungefähr in diesem Alter.
Mit finsterer Miene kam er auf mich zu. Aber ich traute mich nicht.
»Was machst du da?«, fuhr er mich an. »Habe ich nicht ausdrücklich gesagt, du sollst nichts anfassen?«
»Ich habe ja quasi die offizielle Erlaubnis«, antwortete ich und hielt meine behandschuhten Hände in die Höhe. »Die hast du mir gegeben.«
»Ich fahre jetzt nach Hause. Wenn du also mitfahren willst …«
»Ach komm, ihr seid hier doch noch lange nicht fertig.«
»Morgen ist auch noch ein Tag.«
»Morgen! Das kann zu spät sein. Du weißt schon, erkaltende Spuren und so. Außerdem ist mittlerweile schon morgen. Ein neuer, schöner Tag ist schon angebrochen.«
»Die Spuren hier können nicht mehr kälter werden. Der Besuch muss schon ein paar Tage her sein.«
»Wie haben die das geschafft, sich hier unbemerkt zu verlustieren? In so einer Siedlung kannst du ja nicht mal einen fahren lassen, ohne dass das einer mitkriegt.«
»Anfänger waren das nicht.«
»Das ist doch mal ein Ansatzpunkt. Dem sollten wir unbedingt nachgehen. Hier und jetzt.«
»Ich bin hundemüde. Ich gehe jetzt. Was du machst, ist mir egal.«
Müde war ich auch, aber mir war klar, dass hier und jetzt meine einzige Chance war, im Haus herumzuschnüffeln. Was ich jetzt nicht sah, sah ich nie mehr wieder, und Keller würde mir ganz bestimmt keine Einsicht in die Berichte geben. Andererseits, wenn Keller nicht mehr hier war, würden die Kollegen mich ganz schnell vor die Tür setzen. Die guckten jetzt schon komisch.
»Hast du Konditionsschwierigkeiten?«, fragte ich und hoffte, dass er verstand, da ich immer noch die Schachtel mit den blauen Pillen in Händen hielt.
»Um diese Uhrzeit schon. Also, was ist jetzt?«
Seufzend folgte ich ihm zum Auto. Ohne Hast fuhren wir Richtung Schwäbisch Hall.
»Was hältst du davon?«, fragte ich.
»Weiß ich noch nicht«, brummte er.
Sonst sagten wir nicht viel.
Nur einmal seufzte Keller: »Das Schlimme ist, dass wir allen Hinweisen nachgehen müssen, auch wenn sie noch so hirnrissig klingen.«
»Ich kann mir’s aussuchen.«
In der mondhellen Nacht huschten die Felder an uns vorüber. Überall sah man die Windräder blinken.
»Die Frauen«, sagte ich. »Das ist ein Anfang. Die Nachbarin hat ein paar Namen genannt.«
»Und was hat die Frau im Haus gesucht? Liebesbriefe? Ich sagte doch: hirnrissig.«
Als mich Keller am Milchmarkt absetzte, war es halb drei. Ich schleppte mich hinüber zu meiner Wohnung in der Gelbinger Gasse. Aus irgendeinem offenen Fenster waren die Geräusche zu hören, die Rautenbergs Nachbarin Roswitha Bäuerle so entzückt hatten. Ich musste nochmal zu ihr. Vielleicht hatte sie Buch geführt.