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VORREDE

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Nichts ist verständlicher als der Haß,

doch seien Sie nicht verlogen!

Jacques Vergès

Im Gespräch mit Euthyphron, einem frommen Mann und Priester, der Kraft seines Amtes zu wissen glaubt, was das Gute, das Edle und das Gerechte sei und deshalb auf dem Wege ist, seinen eigenen Vater zu denunzieren, durch dessen Mißgeschick ein Mensch zu Tode kam, läßt Platon den Sokrates sagen:

»Worüber also müßten wir uns wohl streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? Vielleicht fällt es dir eben nicht bei: allein, laß es mich aussprechen und überlege, ob es wohl dieses ist, das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte, das Gute und Böse. Sind nicht dies etwa die Gegenstände, worüber streitend und nicht zur völligen Entscheidung gelangend wir einander feind werden, sooft wir es werden, du und ich sowohl als auch alle übrigen Menschen?«1

Ich sehe nicht, wie das je anders werden könnte. Denn es erscheint mir gewiß: Solange Menschen existieren, die den Namen Menschen verdienen, werden sie darüber streiten, was in konkreten Lagen gut ist und was böse. Und sie werden für ihre Überzeugungen auch kämpfen, wenn es sein muß, auf Leben und Tod. Selbst wenn alle Menschen einmal Schwestern werden sollten und Brüder, würde sich daran nichts ändern: Die Atriden waren auch eine große Familie. Der Skeptiker ist vor dieser polemischen Verwicklung nicht gefeit, im Gegenteil, er ist in besonderer Weise in sie involviert. Aber indem er sie reflektiv zu seinem Thema macht, versucht er ihren Konsequenzen die Schärfe zu nehmen: Das Gute ist auch für den Skeptiker das Gute, aber der Glaube zu wissen, was es sei, ist ihm das Böse – weil dieses im Eifer der Realisierung des Guten selber liegt, worin immer es bestehen mag. Deshalb sucht er zu jeder These die Antithese, also die »Gewaltenteilung im Absoluten« (Odo Marquard).

Wir wissen heute, oder könnten es wissen: Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen, die Täter verfolgen aus ihrer Binnenperspektive immer »das Gute«, ihr Antrieb ist stets eine »Begierde des Rettens« (Hegel) und sie sind um Objektivierungen nie verlegen, hießen diese Rasse, Klasse, Volk oder Nation: Man kann dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus vieles nachsagen, aber nicht, daß sie keine »Wertegemeinschaften« gewesen seien – der Kommunismus als Ideal war eine »Wertegemeinschaft« sogar im wörtlichen Sinne. Heute mobilisiert man im Namen der »Menschlichkeit«, was den Gegner implizit zum Unmenschen erklärt. Die fürchterlichsten Massaker wurden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen. Deren Inhalte und Formen wechseln, sie hatten im 17. Jahrhundert die Gestalt von Religionen, im 20. Jahrhundert die politischer Ideologien; und wenn nicht alles täuscht, so schließt sich der Kreis und die Moderne kehrt zu ihren fideistischen Ursprüngen zurück. Das fällt umso leichter, als sie diese in einem zentralen Punkt nie verlassen hat: in ihrem Glauben an die Geschichte – an ihre Wahrheit, ihre Lehren, ihren moralisch verpflichtenden Sinn.

Die heiligen Bücher der Juden, der Christen und Muslime sind zunächst und vor allem historische Berichte, die wörtlich genommen sein wollen; erst die Theologie machte Metaphern daraus, und diese wurden zu Bausteinen der Geschichtsphilosophie, mit der empirischen Historiographie als Mörtel. Die prophetisch gewendete Geschichtsphilosophie ist heute politisch desavouiert, aber die Autorität der Geschichte ist ungebrochen als Stütze moralischer Legitimität. Es geht daher bei unseren skeptischen Überlegungen nicht nur um Geschichtsphilosophie in jenem Sinn, der seit dem 18. Jahrhundert in Geltung ist, es geht nicht nur um die holistischen Konstruktionen von »Weltgeschichte«, es geht auch um all die kleinen und großen, zeitlich und geographisch lokalen Partialgeschichten, Erzählungen von Begebenheiten, Ereignissen und Schicksalen von Gruppen und Individuen, die dadurch zu Gruppen und Individuen erst werden: Es ist verblüffend, wie sehr all die identitätsstiftenden Legenden, sie mögen noch so sehr empirisch »richtig« sein, strukturell jenen Märchen ähneln, mit denen man Kinder in den Schlaf wiegt: Sie haben einen Anfang, ein Ende und einen »Plot«, der den dramatischen Sinn des Geschehens ausmacht – aber wo ist in der Realgeschichte ein Anfang, wo ein Ende? Wann beginnt die Französische Revolution, wann endet sie? Beginnt sie mit der Einberufung der Generalstände oder mit dem Sturm auf die Bastille? Endet sie mit dem 9. Thermidor, dem 18. Brumaire oder erst mit Waterloo und dem Wiener Kongreß? Carlyle beginnt seine Geschichte der Französischen Revolution mit dem Tod Ludwig XV. und läßt sie enden mit der Niederschlagung der Vendémiare – Insurrektion des Jahres 4 durch den Bürger Bonaparte – es ist der 5. Oktober 1795 nach alter Zeitrechnung. Bernard Faÿ beginnt seine Geschichte der Großen Revolution nicht 1774, sondern 1715 mit dem Tod Ludwig XIV. und endet mit der Restauration Ludwig XVIII. Und wodurch ist die Revolution »erklärbar«? Durch die Finanzkrise, das Erstarken des Bürgertums, das Wühlen der Philosophen oder die Entmachtung des Adels seit dem Absolutismus des 17. Jahrhunderts? Und wie tief in die Zeit muß man zurückgehen, um den 1. September 1939 zu »erklären«? Bis zum 30. Jänner 1933, bis zum November 1918 oder bis zum Dreißigjährigen Krieg? Und warum erzählen wir uns diese Geschichten überhaupt – um etwas zu lernen, oder aus Pietät? Wir erzählen sie uns, weil wir gar nicht anders können, weil wir uns in der Welt zurechtfinden wollen, obwohl das, wie wir täglich von Neuem erfahren, ein vergebliches Bemühen ist. So betrügen wir uns selber, wie wir unsere Kinder betrügen, in durchaus guter Absicht. »Es war einmal … und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch«: Souverän verfügt der Erzähler über die Ereignisse, und indem er sie ausmalt in ihrer Pracht und ihrem Schrecken, distanziert er sie zugleich und macht ein Lehrstück daraus; beruhigt schlafen die Kinder ein und träumen von eigenen Heldentaten, auch wenn das, was sie hörten, voll Grauen war; es ist schließlich weit weg und lange her. Aber sie haben gelernt und werden es besser machen, das geht seit jeher so.

Die Funktion der Geschichten ist immer die gleiche, seien sie erfunden oder Berichte von Realem, weil sie so oder so Literatur sind. Sie geben einer sinnlosen Welt eine Sinnstruktur und ordnen sie moralisch: So machen sie sie scheinbar vertraut. Sie greifen über die eigene Existenz hinaus und machen die Monaden solidarisch: So stiften sie eine Gemeinschaft. Sie geben dem Zufall eine Bedeutung und dem Tod einen Sinn: So nehmen sie ein wenig die Angst vor dem Sterben.

All diese Funktionselemente, die, mehr oder minder verborgen oder verleugnet, auch in der modernen Geschichtsschreibung enthalten sind, liegen in den Mythen offen zutage. Jene frühen Erzählungen, die noch ohne Scham Literatur und Historie zugleich waren, begründeten Kulturen, verliehen ihnen Identität in Raum und Zeit, verknüpften sie mit einem Ursprung und tradierten einen Schuld/​Opfer-Zusammenhang, der ein Kollektiv formierte, in dem das Individuum seinen moralischen Platz fand. Abgeschirmt und teilweise entlastet von fiktionaler Literatur, doch deshalb nicht weniger wirksam, hat heute die »Geschichte« diese Aufgaben übernommen: Sie ist der Mythos der Moderne.

Indem ich dieser »Geschichte« in skeptischem Geist einiges von ihrer epistemischen und moralischen Verbindlichkeit zu nehmen beabsichtige, werde ich mich auf ein vermintes Gebiet begeben – und Sie mit mir, wenn Sie meiner Einladung folgen und mich begleiten. Der Zorn der Gläubigen ist uns sicher. Die Geschichte, nicht diese oder jene Geschichte in ihrer empirischen Richtigkeit, sondern die Geschichte überhaupt in ihrer »ontologischen Würde« anzugreifen, die den Menschen Sinn, Halt und Stil gibt, heißt die Menschlichkeit selbst zu attackieren, heißt, sie in ihrem innersten Wesen in Frage zu stellen. Denn Menschen sind geschichtenerzählende Wesen, sie sind, wie Odo Marquard sagt, »mythenpflichtig«. Jedes Individuum, jede Gemeinschaft, jedes Kollektiv, jede kulturelle, jede politische Einheit, sei es eine Familie, ein Stamm, eine Ethnie, ein Volk, ein Staat, eine Staatengemeinschaft oder auch eine Klasse oder ein Stand, definiert sich über eine Geschichte, die er oder sie als die seine beansprucht, die ein Innen und ein Außen bestimmt und damit eine Identität schafft und die allein schon dadurch eine moralische Verpflichtung auferlegt. Glücklicher werden wir dadurch nicht, aber erst durch das historische Bewußtsein werden wir zu Menschen. Bis zu einem gewissen Grad, und auch das nur dann, wenn wir auch das historische Bewußtsein nur bis zu einem gewissen Grad entwickeln – das heißt, wenn wir es zwar einerseits in seiner Notwendigkeit und seiner Unausweichlichkeit zur Kenntnis nehmen, es aber andererseits reflexiv distanzieren, der Empfehlung Max Stirners folgend es nicht zu »unserer Sache« machen, es also so weit wie möglich entpathetisieren. Genau dies: die Entpathetisierung der Affekte, die Dämpfung der Leidenschaften, die »Metriopathie« durch Mobilisierung der inneren Widersprüche der Sache selber, ist die Pointe des Skeptizismus, in dessen Geist dieser Essay geschrieben ist. Er ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer »pyrrhonischen Skizze der historischen Vernunft«, die ich als Streitschrift zur Vergangenheitspolitik unter dem Titel »Kleine Geschichte der Vergangenheit« im Jahre 2004 bei Styria in die Debatte geworfen habe.

Rudolf Burger, Juni 2007

Im Namen der Geschichte

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