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Der Idealismus als Seelenerwachen: Johann Gottlieb Fichte
ОглавлениеJohann Gottlieb Fichte sucht in seinen Reden über »Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« und »an die deutsche Nation« eine Darstellung zu finden für die in der Menschheitsentwicklung wirksamen Geisteskräfte. Er durchdringt sich durch die Gedanken, die er in diesen Reden zum Ausdruck bringt, mit der Empfindung, dass die treibende Kraft seiner Weltanschauung aus dem innersten Wesen der deutschen Volksart fließt. Er hat die Ansicht, dass er Gedanken ausspricht, welche die deutsche Volksseele aussprechen muss, wenn sie aus dem Kern ihrer Geistigkeit heraus sich offenbaren will. Die Art, wie Fichte nach seiner Weltanschauung rang, macht verständlich, dass diese Empfindung in seiner Seele leben konnte. Für den Betrachter eines Denkers muss es bedeutsam erscheinen, die zu dessen Gedankenfrüchten gehörigen Wurzeln zu erforschen, die in seinen Seelentiefen wirken, und die nicht unmittelbar in seinen Gedankenwelten ausgesprochen sind; die jedoch als die treibenden Kräfte in diesen Gedankenwelten leben.
Was für eine Weltanschauung man hat, das hängt davon ab, was für ein Mensch man ist: Fichte sprach diese Überzeugung aus dem Bewusstsein heraus, dass alle Lebenstriebe seiner eigenen Persönlichkeit als ihre naturgemäße selbstverständliche Frucht die begriffsstarken Gipfelhöhen seiner Weltanschauung hervorbringen mussten. Dieser Weltanschauung, in deren Mittelpunkt des Verständnisses sich nicht viele versetzen wollen, weil sie, was sie finden, für weltfremde Gedanken halten, in die einzudringen nur Aufgabe des Denkers »von Beruf« sein könne. Verständlich ist diese Empfindung bei demjenigen, der ohne philosophische Vorbereitung an Fichtes Gedanken herantritt, indem er sie in dessen Werken aufsucht. Doch ist es für denjenigen, der die Möglichkeit hat, sich in das volle Leben dieser Gedanken zu versetzen, nicht absonderlich, sich vorzustellen, dass eine Zeit kommen werde, in der man Fichtes Ideen wird in eine Form gießen können, die jedem verständlich ist, der aus dem Leben heraus sich über den Sinn dieses Lebens Vorstellungen machen will. Auch für das einfachste Menschengemüt, das ferne steht dem, was man philosophisches Denken nennt, werden diese Ideen dann zugänglich sein können. Denn sie haben zwar ihre philosophische Gestalt erhalten von dem Charakter, den die Gedankenentwicklung in Denkerkreisen um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts angenommen hat; ihre Lebenskraft haben sie aber aus Seelenerlebnissen, die in jedem Menschen vorhanden sind. Gewiss ist gegenwärtig die Zeit noch nicht gekommen, in der ein solches Umgießen Fichtescher Gedanken aus der Sprache seiner Zeitphilosophie in die allgemein-menschliche Ausdrucksform völlig möglich wäre. Solche Dinge werden nur mit dem allmählichen Fortschreiten gewisser Vorstellungsarten im Geistesleben möglich. So wie Fichte selbst genötigt war, seine Seelenerlebnisse in die Gipfelhöhen dessen zu tragen, was man gewöhnlich abstraktes Denken nennt und kalt und lebensfremd findet, so ist es auch gegenwärtig wohl nur in eingeschränktem Maße möglich, diese Seelenerlebnisse herunterzutragen aus jenen Höhen.
Nach immer neuen Ausdrucksformen für diese Seelenerlebnisse rang Fichte von seiner frühen Jugend an bis dahin, da jäh der Tod ihn noch im Mannesalter erreichte. In allem Ringen ist ein Erkenntnisgrundtrieb bei ihm offenkundig. In der eigenen Menschenseele will er ein Lebendiges suchen, in dem der Mensch nicht nur die Grundkraft seines eigenen Daseins erfasst, sondern in dem, seinem Wesen nach, erkannt werden kann auch dasjenige, was in der Natur und in allem anderen Außermenschlichen webt und wirkt. Im Wassertropfen hat man im Verhältnis zum Meere ein winziges Kügelchen. Erkennt man aber dieses in seinem Wassercharakter, so hat man in dieser Erkenntnis auch diejenige des Wassercharakters des ganzen Meeres. Ist im Menschenwesen etwas aufzufinden, das sich als eine Offenbarung des innersten Weltwebens erleben lässt, dann darf man hoffen, durch vertiefte Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis fortzuschreiten.
Auf dem Wege, der sich aus dieser Empfindung ergibt, wandelte die Weltanschauungsentwicklung lange vor Fichtes Zeitalter. Er aber ward mit seinem Leben auf einen bedeutungsvollen Punkt dieser Entwicklung gestellt. Wie er seine nächsten Anstöße von den Weltanschauungen Spinozas und Kants her erhielt, das ist an vielen Orten zu lesen. Die Art, wie er sich durch das Wesen seiner Persönlichkeit zuletzt in Weltanschauungsfragen verhielt, wird aber am anschaulichsten, wenn man ihm den Denker gegenüberstellt, der ebenso aus romanischem Denken hervorgegangen ist wie Fichte aus deutschem: Descartes (Cartesius. 1596-1650). In Descartes tritt deutlich zutage, wie aus der angedeuteten Empfindung heraus der Denker eine Sicherheit in der Welterkenntnis durch das Gewinnen eines festen Punktes in der Selbsterkenntnis sucht. Vom Zweifel an aller Welterkenntnis nimmt Descartes seinen Ausgangspunkt. Er sagt sich: die Welt, in der ich lebe, offenbart sich in meiner Seele, und ich bilde mir aus ihren Offenbarungen Vorstellungen über den Lauf der Dinge.
Was aber verbürgt mir, dass diese meine Vorstellungen mir wirklich etwas über das Wirken und Weben im Weltlauf sagen? Könnte es nicht so sein, dass meine Seele zwar von den Dingen gewisse Eindrücke empfängt; diese Eindrücke aber den Dingen selbst so ferne ständen, dass mir in ihnen sich nichts von dem Sinn der Welt enthüllte? Darf ich angesichts dieser Möglichkeit sagen: ich weiß dies oder jenes von der Welt? Man sieht, in diesem Meer des Zweifels kann dem Denker alle Erkenntnis zu einem Traum der Seele werden, und ihm nur die eine Überzeugung sich aufdrängen: dass der Mensch nichts wissen könne. Für einen Menschen aber, dem die Triebkraft des Denkens in der Seele so lebendig geworden ist, wie im Körper die Triebkraft des Hungers lebendig ist: für den bedeutet seelisch die Überzeugung, dass der Mensch nichts wissen könne, das gleiche, was für den Körper das Verhungern bedeutet. Alle innersten Stimmungen von Seelengesundheit im höheren Sinne bis zum Erfühlen des »Seelenheiles« hängen damit zusammen.
In der Seele selbst findet Descartes den Punkt, auf den er die Überzeugung stützen kann: die Vorstellungen, die ich mir von dem Weltenlauf bilde, sind kein Traum; sie leben ein Leben, das im Leben der ganzen Welt ein Glied ist. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, an einem kann ich es nicht, denn ich strafte mich mit solchem Zweifel selbst Lügen. Ist es denn nicht gewiss, dass ich, indem ich mich dem Zweifel hingebe, denke? Ich könnte nicht zweifeln, wenn ich nicht dächte. Unmöglich also kann ich mein eigenes Erleben im Denken bezweifeln. Wollte ich durch den Zweifel das Denken töten: es stünde aus dem Zweifel lebendig wieder auf. Mein Denken lebt also; es steht somit in keiner Welt des Traumes; es steht in der Welt des Seins. Könnte ich glauben, dass alles andere, auch mein eigener Leib, mir ein Sein nur vortäusche; mein Denken täuscht mich nicht. So wahr ich denke, so wahr bin ich, indem ich denke.
Aus solchen Empfindungen heraus erklang Descartes‹: »Ich denke, also bin ich« (Cogito ergo sum). Und wer ein Ohr für solche Dinge hat, wird die Kraft dieses Wortes auch bei den auf Descartes folgenden Denkern bis zu Kant fortklingen hören.
Erst bei Fichte hört dieser Klang auf. Vertieft man sich in seine Gedankenwelt, sucht man sein Ringen nach einer Weltanschauung mitzuerleben, so fühlt man, wie auch er in der Selbsterkenntnis Welterkenntnis sucht: aber man hat die Empfindung, das »Ich denke, also bin ich« könnte seinem Ringen nicht der Fels sein, auf dem er sich sicher glaubte in den Wogen des Zweifels, die ihm die menschlichen Vorstellungen zu einem Meere von Träumen zu machen vermöchten. Man empfindet, wie bei Fichte die Fähigkeit zu zweifeln gewissermaßen in einer ganz andern Kammer der Seele sitzt als bei Descartes, wenn man sich die Sätze vorhält, die er in seiner (1800 erschienenen) »Bestimmung des Menschen« geschrieben hat: »Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen.
Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.
Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken – die Quelle alles Seins und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke – ist der Traum von jenem Traum.« Diese Gedanken drängen sich Fichte nicht in die Seele wie eine letzte Wahrheit vom Dasein. Er will nicht etwa wirklich die Welt als Traumgebilde ansehen. Er will nur zeigen, dass all die Gründe, welche der Mensch gewöhnlich für die Gewissheit einer Erkenntnis aufbringt, vor einem durchdringenden Blick nicht bestehen können, dass man mit diesen Gründen nicht das Recht habe, die Ideen, die man sich über die Welt macht, als etwas anderes denn als Traumgebilde anzusehen.
Und nicht gelten lassen kann Fichte, dass im Denken selbst irgendeine Gewissheit über das Sein stecke.
Warum sollte ich sagen: »Ich denke, also bin ich«, da doch, wenn ich in einem Meere von Träumen lebe, mein Denken nichts weiter sein kann als »der Traum vom Traume«? Der Einschlag, der in die Gedanken über die Welt die Wirklichkeit trägt, muss für Fichte von ganz anderer Seite kommen als vom bloßen Denken über die Welt.
Wenn Fichte davon spricht, dass die Art des deutschen Volkstums in seiner Weltanschauung lebt, so wird dieser Gedanke verständlich, wenn man gerade das Bild des Weges zur Selbsterkenntnis, den er im Gegensatz zu Descartes sucht, sich vor die Seele rückt. Dieser Weg kann als das angesehen werden, was Fichte als »deutsch« empfindet; und man kann ihn als Wanderer auf diesem Weg dem auf romanischen Geistesbahnen schreitenden Descartes gegenüberstellen. Descartes sucht einen festen Punkt für die Selbsterkenntnis; er erwartet, dass ihm irgendwo dieser feste Punkt gegenübertreten werde.
Im Denken glaubt er ihn gefunden zu haben. Fichte erwartet von solcher Art des Suchens gar nichts. Denn, was er auch finden könnte: warum sollte es denn eine höhere Gewissheit geben als vorher Gefundenes?
Nein, auf diesem Wege des Suchens ist überhaupt nichts zu finden. Denn er kann nur von Bild zu Bild führen; und kein Bild, auf das man stößt, kann von sich aus sein Sein verbürgen. Also muss man zunächst den Weg durch die Bilder ganz verlassen und ihn erst wieder betreten, wenn man von anderer Seite her Gewissheit geholt hat.
Man muss gegenüber dem »Ich denke, also bin ich« etwas scheinbar recht Einfältiges sagen, wenn man es entkräften will. Doch geht es so mit vielen Gedanken, die der Mensch in seine Weltanschauung aufnimmt: sie lösen sich nicht durch weitausholende Einwände auf, sondern durch das Bemerken einfach liegender Tatbestände. Man unterschätzt nicht die Denkerkraft einer Persönlichkeit von der Art des Descartes, wenn man ihm einen solch einfachen Tatbestand entgegenhält. Das Gleichnis vom Ei des Kolumbus bleibt ja doch ewig wahr. Und so ist es auch wahr, dass das »Ich denke, also bin ich« einfach zerschellt an dem Tatbestand des Schlafes. Jeder Schlaf des Menschen, der das Denken unterbricht, zeigt zwar nicht, dass im Denken nicht ein Sein liege, aber doch jedenfalls, dass »Ich bin, auch wenn ich nicht denke«. Müsste man also das Sein aus dem Denken herausholen, so wäre es keinesfalls verbürgt für die Zustände der Seele, in denen das Denken aufhört. Wenn Fichte diese Wendung des Gedankens in dieser Form auch nicht ausgesprochen hat, so darf wohl doch gesagt werden: die Kraft, die in diesem einfachen Tatbestand liegt, wirkte – unbewusst – in seiner Seele und hinderte ihn, einen Weg zu nehmen, wie ihn Descartes genommen hat.
Durch den Grundcharakter seines Empfindens wurde Fichte auf einen ganz anderen Weg geführt.
Sein Leben von Kindheit an offenbart diesen Grundcharakter. Man braucht nur einzelne Bilder aus diesem Leben vor der Seele auftreten zu lassen, um das zu durchschauen. Aus der Kindheit wird ein bedeutsames Bild lebendig. Siebenjährig ist Johann Gottlieb. Er war bisher ein gut lernender Knabe. Der Vater schenkt ihm, um seinen Fleiß anzuerkennen, das Volksbuch vom »Gehörnten Siegfried«. Der Knabe wird von dem Buche ganz eingenommen. Er vernachlässigt in etwas seine Pflichten. Er wird an sich selbst dieses gewahr. Der Vater trifft ihn, wie er eines Tages den »Gehörnten Siegfried« in den Bach wirft. Das ganze Herz des Knaben hängt an dem Buch; aber wie dürfte das Herz behalten etwas, das von der Pflicht abbringt! So lebt in dem Knaben Fichte schon unbewusst das Gefühl: der Mensch ist in der Welt als Ausdruck einer höheren Ordnung, die sich in die Seele senkt nicht durch das Interesse an diesem oder jenem, sondern durch die Wege, durch die er die Pflicht erkennt. Man sieht hier den Trieb zu Fichtes Stellungnahme gegenüber der Gewissheit von der Wirklichkeit. Gewiss für den Menschen ist nicht, was wahrnehmend erlebt wird, sondern was in der Seele so auflebt, wie die Pflicht sich offenbart.
Ein anderes Bild: Der Knabe ist neunjährig. Der Gutsnachbar seines Vaterdorfes kommt eines Sonntags in dieses, um sich die Predigt des Pfarrers anzuhören. Er trifft zu spät ein. Die Predigt ist vorbei. Die Leute erinnern sich, der neunjährige Johann Gottlieb bewahre die Predigten in seiner Seele so, dass er sie voll wiedergeben kann. Man holt ihn. Der Knabe im Bauernkittelchen tritt auf. Linkisch zunächst; dann aber die Predigt so von sich gebend, dass man merkt, was in dieser Predigt lebte, hat seine Seele ganz erfüllt; er gibt nicht bloß die gemerkten Worte wieder; er gibt sie aus dem Geiste der Predigt heraus, der in ihm lebt als vollkommenes Selbsterlebnis. Solche Fähigkeit, im eigenen Selbst aufleuchten zu lassen, was von der Welt an dieses Selbst herantrat, lebte in dem Knaben. Das ist doch die Anlage zu einem Erleben des Geistes der Außenwelt im eigenen Selbst. Das ist die Anlage dazu, in dem erkrafteten Selbst die tragende Macht einer Weltanschauung zu finden. Eine hell beleuchtete Entwicklungsströmung der Persönlichkeit führt von solchen Knabenerlebnissen zu einem Vortrag, den der geistvolle Naturforscher Steffens von Fichte, der damals Professor in Jena war, gehört hat, und den er beschreibt. Fichte fordert im Verlauf dieses Vortrages seine Zuhörer auf: »Denken Sie an die Wand!« Die Zuhörer bemühten sich, an die Wand zu denken. Nachdem sie das eine Zeitlang getan, folgt Fichtes nächste Aufforderung: »Und nun denken Sie an den, der an die Wand gedacht hat!« Welches Streben nach unmittelbarem Zusammenleben des eigenen Seelenlebens mit dem Seelenleben der Zuhörer! Der Hinweis auf eine unmittelbar vorzunehmende innere Seelenbetätigung, der nicht bloß anstrebt, dass ein mitzuteilendes Wort nachgedacht werde, sondern der ein in den Seelen der Zuhörer schlummerndes Lebendiges wecken will, auf dass diese Seelen in einen Zustand kommen, der ihr bisheriges Verhältnis zu dem Weltenlauf ändere.
In solchem Vorgehen spiegelt sich Fichtes ganze Art, einen Weg zu einer Weltanschauung zu bahnen. Er sucht nicht wie Descartes nach dem Denkerlebnis, das Gewissheit bringen soll. Er weiß, solchem Suchen winkt kein Finden. Man kann bei solchem Suchen nicht wissen, ob man im Traum oder in Wirklichkeit gefunden hat. Also nicht sich ergehen in einem Suchen. Sich erkraften aber in einem Aufwachen. Einem Aufwachen ähnlich muss sein, was die Seele erlebt, wenn sie aus dem Felde der gewöhnlichen in das der wahren Wirklichkeit dringen will. Das Denken verbürgt dem menschlichen Ich nicht das Sein. Aber in diesem Ich liegt die Kraft, sich selbst zum Sein zu erwecken. Jedesmal, wenn die Seele im Vollbewusstsein der inneren Kraft, die dabei lebendig wird, sich als »Ich« empfindet, tritt ein Vorgang ein, der sich darstellt als ein Sich-Erwecken der Seele. Dieses Sich-selbst-Erwecken ist die Grundwesenheit der Seele. Und in dieser sich selbst erweckenden Kraft liegt die Gewissheit des Seins der Menschenseele. Möge die Seele durch Traumes- und durch Schlafzustände hindurchgehen: man erfasst die Kraft ihrer Selbsterweckung aus jedem Traum und jedem Schlaf, indem man die Vorstellung des Erwachens zum Bilde ihrer Grundkraft macht. In dem Gewahrwerden der selbsterweckenden Macht erfühlt Fichte die Ewigkeit der Menschenseele. Aus diesem Gewahrwerden flossen ihm Worte wie diese: »Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die ich noch soeben bewunderte. In aller Fülle des Lebens, der Ordnung und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch den eine unendlich vollkommenere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang und erwärmt und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können.
So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wahres Sein und Wesen.« (Bestimmung des Menschen.)
Man wird nicht versucht sein, eine solche Anschauung bei Fichte als den Beweis für eine dem unmittelbaren kraftvollen Erdenleben abgewandte, lebensfeindliche Gedankenrichtung anzusehen, wenn man seine ganze Art, sich zu diesem Leben zu stellen, und die lebensfreundliche, lebensfördernde Gesinnung, die all sein Wirken und Denken durchdringt, ins Auge fasst. In einem Briefe aus dem Jahre 1790 steht ein Satz, der gerade mit Bezug auf seinen Unsterblichkeitsgedanken auf diese Gesinnung bedeutungsvolles Licht wirft: »Das sicherste Mittel, sich von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen, ist das, sein gegenwärtiges so zu führen, dass man es wünschen darf.«
In der sich selbst erweckenden inneren Tätigkeit der Menschenseele liegt für Fichte die Kraft der Selbsterkenntnis. Und innerhalb dieser Tätigkeit findet er in der Seele auch die Stelle, wo Weltengeist im Seelengeist sich offenbart. Es webt und wirkt durch alles Sein für diese Weltanschauung der Weltenwille; und im Wollen des eigenen Wesens kann die Seele in sich diesen Weltenwillen darlegen. Das Ergreifen der Lebenspflichten, die in der Seele anders erlebt werden als die Wahrnehmungen der Sinne und der Gedanken, sind das nächste Beispiel dafür, wie der Weltenwille durch die Seele hindurchpulsiert.
So muss ergriffen werden die wahre Wirklichkeit; und alle andere Wirklichkeit, auch die des Denkens, erhält ihre Gewissheit durch das Licht, das auf sie von der Wirklichkeit des in der Seele sich offenbarenden Weltwillens fällt. Dieser Weltenwille treibt den Menschen zur Tätigkeit, zum Handeln. Als Sinneswesen muss der Mensch das, was der Weltenwille von ihm verlangt, in einer sinnlichen Weise verwirklichen. Wie aber könnten die Taten des Willens ein wirkliches Dasein haben, wenn sie dieses Dasein in einer Traumwelt suchen müssten. Nein, die Welt kann kein Traum sein, weil in ihr die Taten des Willens nicht bloß geträumt, sondern verwirklicht sein müssen.
Indem das Ich sich im Erleben des Weltwillens erweckt, erlangt es die feste Stütze der Gewissheit seines Seins. Fichte spricht sich darüber in seiner »Bestimmung des Menschen« aus: »Mein Wille soll schlechthin durch sich selbst, ohne alles seinen Ausdruck schwächende Werkzeug, in einer ihm völlig gleichartigen Sphäre, als Vernunft auf Vernunft, als Geistiges auf Geistiges wirken; – in einer Sphäre, der er jedoch das Gesetz des Lebens, der Tätigkeit, des Fortlaufens nicht gebe, sondern die es in sich selbst habe; also auf selbsttätige Vernunft. Aber selbsttätige Vernunft ist Wille. Das Gesetz der übersinnlichen Welt wäre sonach ein Wille ... Jener erhabene Wille geht sonach nicht abgesondert von der übrigen Vernunftwelt seinen Weg für sich. Es ist zwischen ihm und allen endlichen vernünftigen Wesen ein geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der Vernunftwelt ... Ich verhülle vor dir mein Angesicht und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist und dir selbst erscheinest, kann ich nie einsehen, so gewiss ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterwelten werde ich dich noch ebensowenig begreifen als jetzt, in dieser Hütte von Erde.
Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum Endlichen; und dieses lässt auch durch unendliche Steigerung und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu einem größeren Menschen, und immer zu einem größeren; nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Maßes fähig ist.«
Eine Weltanschauung erstrebte Fichte, die alles Sein bis zur Wurzel des Lebendigen verfolgt, und die in dem Lebendigen dessen Sinn erkennt durch das Zusammenleben der Menschenseele mit dem alles durchpulsenden Weltwillen, der die Natur schafft, um in ihr eine geistig moralische Ordnung wie in einem äußeren Leibe zu verwirklichen. Eine solche Weltanschauung war ihm die aus dem Charakter des deutschen Volkes entspringende. Ihm war eine Weltanschauung undeutsch, die nicht »an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt«, und die nicht »die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit und Freiheit will«.
»Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt«, widerstrebt für seine Anschauung nicht nur einer tiefer dringenden Erkenntnis, sondern auch der wahrhaft deutschen Wesensart.