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Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

Draussen auf der Strasse riefen es die Zeitungsverkäufer immer wieder im ersten Dämmern des Frühlingsabends: „Margot Sandners letzte Stunden!“

Es klang eintönig und aufreizend und fiel einem auf die sonst starken Nerven: Ihre letzten Stunden — die verdankt sie dir ...

Ich bin der Staatsanwalt. Ich war der öffentliche Ankläger! Ich habe nur meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, nach bestem Wissen und Gewissen! Ich habe das Todesurteil gegen Margot Sandner beantragt und durchgesetzt. Morgen früh ... um sechs ... ich sah auf die Uhr: es war jetzt acht Uhr abends. In zehn Stunden...

Wieder aus der Ferne dies Gebell der Strassenhändler. Es war sonst in unserer Grossstadt gar nicht üblich, so wie in den Weltstädten, die Blätter öffentlich auszuschreien. Das war heute die allgemeine Aufregung in der ganzen Stadt. Man glaubte, die heisse Welle aus der Innenstadt bis in unser stilles Villenviertel hinaus in der Luft zu fühlen.

„...Margot Sandners letzte Stunden ...“ Ich konnte es nicht mehr hören. Ich wollte nicht immer wieder daran erinnert werden. Ich trat in einer sonderbaren, mir selber unerklärlichen Unruhe vom Fenster in das Zimmer zurück.

Da drinnen purzelten sich der Peter und das Paulemännchen auf dem Teppich herum, und auf der Kautsch sass Klara und hatte Evchen auf dem Schoss und las mit ihm aus dem Bilderbuch: „Was ist das für ein Bettelmann — er hat ein schwarzes Röckchen an ...?“ und Eochen krähte und tippte mit dem rosigen Zeigefingerchen längs der Zeilen hin, als ob es schon längst buchstabieren könnte ...

Und wie so oft, wenn ich meine liebe Frau ansehe: Sie ist doch schon nahe an den dreissig — so alt wie Margot Sandner, ihre einstige Schulkameradin —, und hat doch noch in ihrem schlanken Wuchs etwas Mädchenhaftes — ein reines deutsches Gesicht mit klaren Augen und voll eines freien und frischen Friedens. Sie hat, was sie vom Leben wünscht. Und ich mit ihr und durch sie in unseren vier Wänden. Die letzte Abendsonne schien hell in einem schrägen Stäubchenstrahl in unsere kleine Welt. Und da draussen ist die Welt der Menschen und ihre Not.

Und der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an, wenn ich mein Haus verlasse, um anzuklagen, wo anzuklagen ist — um Strafe zu verlangen, wo Strafe not tut — um meine Pflicht zu tun — meine Pflicht — meine Pflicht! Aber so schwer wie diesmal habe ich meine Pflicht noch nie empfunden.

Klara liess das Eochen auf den Boden gleiten. Sie schaute in ihrer heiteren Mütterlichkeit aus dem Kleeblatt der Kleinen um sie her zu mir auf. Sie sagte nichts. Sie wusste: Ich lasse mich in dem, was ich für meine Pflicht halte und tue, von niemandem beeinflussen und beraten — auch nicht von der eigenen Frau. Das muss der Mensch für sich allein mit Gott und seinem Gewissen abmachen. Aber ich wusste, was Klara dachte.

Und nun warf sie doch ihren blonden Kopf in den Nacken. Das ist immer ein Zeichen der unbeirrten Selbständigkeit meiner guten Lebenskameradin. Sie hat ein viel stärkeres inneres Leben, als die meisten bei ihrer ruhigen und ausgeglichenen Aussenart ahnen, und ich habe nie daran getastet und merke: Jetzt bricht das durch und heisst Margot Sandner ...

Ich suchte den Disput über Margot Sandner, den wir, Klara und ich, schon so oft in den letzten drei Monaten geführt hatten, heute zu vermeiden. Er war ja doch aussichtslos. Dort drüben stritt das Gefühl, hier bei mir der Verstand. Das einte sich so gut wie Feuer und Wasser. Ich fühlte den Drang, mit mir allein zu sein! Ich wollte dem Schatten der Margot Sandner entgehen, der ständig seit einem Vierteljahr, seit dem Urteilsspruch der Geschworenen, hinter mir her wandelte, als sei sie die Anklägerin, nicht die Verurteilte. Ich ging stumm und schnell aus dem Zimmer. Ich griff draussen auf der Diele nach Hut und Mantel. Ich war schon an der Flurtür. Da fühlte ich mich von hinten am Arm gepackt. Ich drehte mich um. Ich sah in die blauen Augen meiner lieben Frau. Ich sah auf ihrem vertrauten, sonst so klar in sich befriedeten Gesicht nicht nur einen Schmerz — eine Angst —, sondern eine Leidenschaft, die selbst mir, der ich sie doch, weiss Gott, wie mich selber kenne, fremd war. Sie zog mich in das Zimmer zurück. Die Kinder schauten, auf dem Teppich sitzend, aus grossen Augen zu Pappi und Mutti auf, wie Klara erregt vor mir stand und die Hände vor der Brust faltete und atemlos hervorstiess:

„Du — höre — der Staatspräsident kann Margot Sandner noch im letzten Augenblick begnadigen! Besinne dich, ob nicht gerade du ihm etwas zu sagen hättest s...“

„Nur das, was ich immer gesagt habe und sagen musste!“

„Margot Sandner stirbt durch dich!“

„Nein! Durch das Gesetz, das ich vertrete!“

„Wenn sie schuldig wäre!“ rief Klara stürmisch. „Aber sie ist es nicht! Nach meiner heiligen, unumstösslichen Überzeugung ist sie es nicht!“

Ich rang die Hände.

„Klara — wenn ich nicht wüsste, was du für eine vernünftige Frau bist ... Ich könnte in diesem Fall hier wirklich an deinem gesunden Menschenverstand zweifeln. — Kind — überlege dir nur: Die Margot Sandner hat doch ...“

„Ich kenne sie doch von klein auf!“ Die Worte meiner Frau überstürzten sich. „Wir stammen doch hier aus derselben Stadt. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt. Wir sind als Mädel zusammen in die Schule gegangen. Erst in den letzten Jahren, seit ich geheiratet habe, habe ich sie ein wenig aus den Augen verloren!“

„Nun eben! Du weisst nicht, was inzwischen aus ihr geworden ist! Die Margot Sandner hat doch ...“

„Der Mensch ändert sich doch nicht! Der bleibt doch, wie er ist! Die Margot war immer ein romantisches Geschöpf Gottes. Sie ist träumerisch. Sie ist phantastisch. Eine Künstlernatur. — Sie war ja auch Kunstgewerblerin, ehe sie geheiratet hat ...“

„Die Margot Sandner hat doch selber ...“ begann ich wieder. Aber Klara liess mich nicht zu Worte kommen.

„Die Margot war niemals so recht von dieser Welt! Die hat immer in einer Art Wolkenkuckucksheim gelebt! Irgendeine Riesendummheit aus reiner Schwärmerei — ja — die würde ich ihr eines schönen Tages unbesehen zutrauen! Aber eines Verbrechens ist sie unfähig! Und mm gar der Ermordung ihres eigenen Mannes! Stelle dir doch das nur vor, was das heisst! Man schaudert ja, wenn man nur daran denkt!“

Mir riss der Geduldfaden.

„Die Margot Sandner hat doch vor Gericht gestanden“, schrie ich, „dass sie ihren Mann mit vollem Vorsatz und Überlegung erschossen hat!“

„Das hat sir erklärt! Das ist eben das Rätsel!“

„Ein Geständnis ist kein Rätsel, sondern löst das Rätsel!“

„Ja — wenn der Betreffende sagt, warum er es getan hat! Aber das weisst du als Staatsanwalt wahrhaftig am besten: die Margot hat die Tat zugegeben! Aber seit diesem einen Satz vor Gericht schweigt sie sich unverbrüchlich aus! Über den Grund der Tat ist niemals ein Wort über ihre Lippen gekommen!“

„Nein! Sie bleibt stumm!“

„Hans — da stimmt doch etwas nicht! Glaube meinem Gefühl ... da stimmt etwas nicht!“

„Ihr Schweigen ändert nichts an dem Geständnis selbst! Und sogar wenn sie nicht gestanden hätte: Die Begleitumstände — die gerichtlich erhärteten, unumstösslichen Tatsachen bekunden mit furchtbarer Deutlichkeit, dass überhaupt gar kein anderer Mensch in Frage kommen kann! Sie ist und bleibt die Mörderin!“

Es war fast unheimlich, wie in dem plötzlichen Schweigen zwischen uns diese Worte in unserem friedlichen, immer noch hell abendbesonnten Familienzimmer verzitterten. Durch die Stille hörte man aus der Nebenstrasse undeutliche, stossweise Rufe. Das Paulemännchen, unser Ältester, horchte vom Boden her.

„Pappi — was schreien denn die Männer?“

„Es muss nächstens jemand sterben, Kind!“ sagte ich. „Eine Frau!“

„Pappi! Ist das eine böse Frau?“

„Nein!“ rief Klara heftig. „Das ist sie nicht!“ Und dann etwas ruhiger, aber mit einer ihr sonst fremden Härte im Ton: „Das ist eine gute Frau! Das weiss Pappi nur nicht so! Er kennt sie nicht!“

Es wurde wieder still. Klara und ich ashen uns an.

„Wer schaut den Menschen ins Herz?“ sagte ich endlich. „Und nun gar euch Frauen! In Margot Sandner schlummerten eben verbrecherische Instinkte, die bis dahin niemand ...“

Meine liebe Klara richtete sich auf. Auf ihrem ruhigen und regelmässigen Gesicht lag jetzt ein tiefer Ernst.

„Man hat uns deutschen Frauen seit vielen Jahren viel Unrecht getan!“ sagte sie. „Man hat uns scheinbar viel Freiheit gegeben, aber man hat uns viel mehr genommen. Man hat nicht mehr begriffen, dass ein Volk in der Familie wurzelt und die Würde der Familie und damit des Volkes in die Hand der Frau gegeben ist. Man hat uns aus der Familie auf den Markt hinaus bugsiert und zu einer Art Männer-Reserve gemacht und nicht bedacht, dass wir damit unser Bestes verlieren. Man hat oft in der Kunst und in der Literatur ein Zerrbild aus uns gemacht — und wir liessen es uns leider gefallen, weil wir uns einbildeten, das gehöre so in die neue Zeit. Aber wir sind gar nicht so. Wir sind, wie wir immer waren. Wir haben in schwerer Zeit unsere Pflicht getan, und wenn Deutschland wieder einmal hochkommt, dann geschieht es auch dank uns!“

„Warum erzählst du mir das alles jetzt?“

„Weil ihr von diesem Standpunkt aus über Margot Sandner geurteilt habt! Ihr habt, weil ihr ewig Vampyre im Film und hysterische Weiber auf der Bühne gesehen habt, gar nicht begriffen, dass Frauen wie die Margot oder ich oder wen du willst von unserer Art, schon in ihren Gedanken über den Trieben stehen, die unsereins zur Mörderin machen könnten!“

„Es gibt doch auch schwarze Schafe!“

„Aber Margot gehört nicht dazu. Sie ist eine deutsche Frau. Auf ihrem Ruf lastet nicht der geringste Makel. Das hast du selbst als Staatsanwalt zugeben müssen!“

„Das beweist noch nicht ...“

„Nimm doch ihr Elternhaus! Gegen den guten Studienrat Markwart und seine Frau hat sich doch nie ein Schatten eines Worwurfs erhoben. Das ist doch das richtige bügerliche Haus. Direkt spiessbürgerlich sind die Leute!“

„Gewiss — aber...“

„Und von da aus hat doch die Margot Sandner geheiratet! Die Bombenpartie ist ihr doch gar nicht zu Kopf gestiegen. Sie war immer nett und lieb — ganz die alte —, wenn man sie mal auf der Strasse traf. Sie konnte ja auch lachen! Ihre Ehe war doch absolut glücklich. Das sagt doch jeder, der mal bei Sandners im Hause war! Und sie machten doch ein grosses Haus. Gott und die Welt war dort. Der Margot ihre Künstlerfeste waren doch berühmt!“

„Klara!“ Ich machte mich los und stülpte mir wieder den Hut auf und drängte zur Tür. „Glaubst du denn, dass du mir mit alledem irgend etwas Neues sagst? Darüber haben wir doch schon tausendmal geredet!“

Meine Fran folgte mir. Sie eilte neben mir die Diele entlang. Sie rief:

„Die Margot und einen Menschen umbringen! Es ist ja einfach lächerlich! Und wenn sie’s selber zehnmal sagt! Hans — wie kannst du denn die Verantwortung tragen?“

Ich blieb noch einmal stehen.

„Nicht ich habe Frau Sandner schuldig befunden! — Das ist nicht meines Amts“, sagte ich, „sondern das der Geschworenen — zwölf Männer aus dem Volk...“

„Nicht alle...“

„Alle, bis auf eien! Diesen Herrn Nottebohm! Das genügte wahrhaftig, um die Wahrheit zu finden!“

„Es ist nicht die Wahrheit!“

„Klara — halte mich jetzt nicht auf! Ich muss frische Luft schöpfen! Die Geschichte dreht sich mir Tag um Tag wie ein Mühlrad im Kopf!“

„Nein! Ich lasse dich nicht fort! Höre mich...“

Gott sei Dank: Unten vor dem Haus surrte jetzt eben der Motor eines vorfahrenden Automobils. Der Regierungsassessor Fabri stürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe empor. Ich atmete beim Anblick meines kleinen Fabri auf. Er war meine rechte Hand. Für seine Jahre schon ein bisschen rundlich und immer ein wenig ausser Puste. Wenn er gar so nach Atem rang wie jetzt, dann kam er in dringenden Dienstangelegenheiten, und ich war der weiteren Auseinandersetzung mit meiner Ehehälfte überhoben. Und da stiess er schon hervor:

„Der Herr Staatspräsident lässt den Herrn Ersten Staatsanwalt sofort um seinen Besuch bitten!“

„Wissen Sie, in welcher Angelegenheit?“

„Der Herr Staatspräsident geht in letzter Stunde noch einmal mit sich zu Rate, ob er im Fall Sandner sein Begnadigungsrecht ausüben soll! Er möchte noch einmal in privater Aussprache Ihre Anschauung — die des Anklägers — hören. Er hat zu gleichem Zweck den Verteidiger, den Doktor Morell, zu sich bestellt. Er muss einen Entschluss fassen. Die Stadt ist ja in einer Aufregung...“

„Und wie mag gar der armen Margot zumute sein.“ Meine Frau, die sonst so Beherrschte, kämpfte mit Tränen.

„Der einzige Mensch in der Stadt, der ganz ruhig ist“, sagte mein kleiner Assessor immer noch atemlos, „das ist Frau Sandner selber!“

„Was?“

„Ich habe vorhin den Geistlichen — den alten Dingsda — getroffen, der sie seinerzeit konfirmiert hat...“

„...und mich mit ihr!“ rief Klara. „Und was sagt der Pastor Schmidt?“

„Er kam jetzt eben von ihr...“

„Und sie ist nicht in Todesangst?“

„Sie ist völlig gelassen, berichtet der alte Schmidt, sie sitzt in ihrer Zelle und liest ein Buch über die Bienen. Sie sagt, die Bienen seien ihr interessanter als die Menschen!“

„Man müsste sie auf ihren Geisteszustand untersuchen!“ flüsterte meine Frau. Sie hatte ganz scheue blaue Augen.

„... ist doch schon längst vor der Gerichtsverhandlung geschehen!“ Ich trat in das Treppenhaus hinaus. „Drei ärztliche Sachverständige haben sie für klarer im Kopf erklärt, als wir normalen Staatsbürger selber es womöglich sind! — Kommen Sie, Fabri! Ihr Wagen steht doch noch unten? Warte nicht mit dem Abendessen auf mich, Klara! Gott weiss, was sich heute Nacht noch ereignet!“

Der graue Herr

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