Читать книгу Die zwölfte Stunde und andere Novellen - Rudolf Stratz - Страница 4
Schatten.
ОглавлениеDraussen, auf der kahlen, geröllüberschütteten Hochgebirgsmulde geschah das, was in diesem Sommer allstündlich und alltäglich geschah — es regnete. Er goss sanft und still in langen, dünnen Bindfaden herunter, dass der Boden dampfte und langweilige Nebel sich um die Klubhütte spannen.
Innen in der Hütte war es feucht, abenddämmerig und kühl. Denn die drei Männer in dem einsamen Berghaus geizten mit ihrem Feuermaterial.
Der eine gähnte, der andere rauchte, der dritte lag abseits und summte im Halbschlaf das schöne „Hüttenlied, im Regen zu singen“: — „Stumpfsinn, Stumpfsinn, du mein Vergnügen ...“
Das ärgerte den Mann, der gähnte. Er drehte sich auf die linke Seite und starrte in die Ecke, wo ihm ein roter Feuerpunkt, die Zigarre seines anderen Genossen, entgegenglühte. Er kannte diesen Genossen nicht und hatte seine Gesichtszüge bei der Dunkelheit noch nicht gesehen. Aber da der Unbekannte rauchte musste er wach sein und taugte vielleicht zu einem zeitverkürzenden Gespräch.
„Scheusslich monoton ...“ begann der Gelangweilte die Unterhaltung ... „... solch ein Regentag in einer Schutzhütte ...“
Die Zigarre glühte einen Augenblick auf. „Nicht immer!“ sagte dann eine Stimme aus dem Dunkel hinter dem Feuerpunkt.
„Haben Sie schon mal was Interessantes bei solcher Gelegenheit erlebt?“
„Mehr als interessant ...“ sprach es leise aus der Finsternis.
„Was war denn das?“
Die Zigarre wurde merklich trüber. „Ich will es Ihnen erzählen ...“ flüsterte die geheimnisvolle Stimme ... „... also passen Sie auf! ...“
Ich hatte voriges Jahr einen besonderen Ehrgeiz. Ich wollte am Neujahrsmorgen auf irgendeiner Hochzinne im Herzen der einsamsten winterlichen Alpenwelt stehen!
Dass im Januar eine Hochgebirgstour kein Spass, sondern ein Gang auf Tod und Leben ist, wissen Sie. Aber mir stak der Gedanke nun mal im Kopf. Nicht einmal einen Führer wollt’ ich mitnehmen, um mir die Weihe des Augenblicks nicht zu stören.
Der biedere Herr Kurat, bei dem ich in dem weltentlegenen, im Schnee vergrabenen Tiroler Dörfchen wohnte, hatte mir umsonst abgeredet. Betrübt gab er mir noch eine Strecke weit das Geleit, als ich am Silvestermittag, vermummt und gerüstet wie ein Nordpolfahrer, mich auf den Weg machte.
Als es steiler wurde, drückte er mir die Hand und kehrte um. Ich sah dem Hochwürdigen eine Weile nach, wie er, ein rundliches schwarzes Pünktchen, sich unverzagt seine Bahn über die blendend weisse Fläche stampfte, dann begann ich den Aufstieg.
Wenn alles gut ging, war ich am frühen Nachmittag hoch oben vor der in einem riesigen Schneekessel verlorenen Schutzhütte. Dort fand ich ein Pottsches Proviantdepot, machte es mir bequem, schlief hoffentlich zehn Stunden und brach dann gegen sechs Uhr morgens mit der Laterne auf, um einige Stunden später stolz und einsam auf der Zinne des Eiskofels zu stehen ...
Es war aber ein verwünscht mühsamer Weg. Der Schnee war weich wie Brei, dass man bei jedem Schritt bis über die Knie einsank, viele steilere Halden musste ich wegen der Gefahr von Schneerutschungen überhaupt umgehen, an andern abschüssigen Hängen eine zolldicke Schneeschicht aufschürfen und in den darunterliegenden blanken Firn Stufen hauen — kurzum, trotz der eisklaren, trockenen Luft war ich erhitzt und nass bis auf die Knochen, als ich endlich am Eingang des wohl eine Stunde im Umkreis messenden, von Falten und Hügeln überzogenen Eiskessels stand, in dem die Hütte lag.
Es war schon nach vier Uhr nachmittags, also höchste Zeit. Aber nun gab es keine Schwierigkeit mehr. Einfach eine halbe Stunde geradeaus marschieren, so stand ich vor der Türe.
Ich nehme also die Schneebrille ab — denn aus dem untersten Grunde der Mulde war die Sonne schon gewichen, während über meinem Kopf die riesigen Eiswände und Firnzinnen noch wie Feuer glühen — stapfe darauflos.
Da kommt mir etwas entgegen, bei dessen Anblick mir plötzlich zumute war, als pressten sich fünf totenkalte Finger um mein Herz.
Ein Gespenst? Nein! In dem tiefen, dumpfen Schweigen ringsumher strich ein grauer Nebelfetzen, eine Art Schatten mit lang wallender Dunstschleppe, langsam und geräuschlos über den Schnee. Andere solche Spukgebilde aus Luft und Wasser krochen hinterdrein, ein ganzes Heer von Schreckgestalten, das einer finsteren, schon in halber Nacht daliegenden Seitenkluft entquoll. In diesem scheusslichen Schlunde braute und gärte es von Nebelschwaden, und das Dunkel, das in ihm herrschte, verbreitete sich in raschen Wellen rings um mich her. Es ward trübe vor meinen Augen. Ein feuchtes, milchiges Dämmern umwob mich wie jählings einbrechende Nacht — ich stak mitten im Nebel!
Bei zehn Grad Kälte und gesunkener Sonne in dem Eisnebel des Hochgebirges! Das war der Tod, klipp und klar der Tod durch Erfrieren in der nahenden, mörderisch kalten Silvesternacht, wenn es mir nicht gelang, die Hütte zu erreichen.
Aber wie die Richtung einhalten, wenn man kaum drei Schritte vor sich hin sah und ratlos auf Gutdünken durch den unergründlichen Schnee sich hindurcharbeiten musste? Ich war noch nicht zehn Minuten weitergegangen, da dämmerte in mir die unumstössliche Erkenntnis auf, dass ich auf dem falschen Wege sei und mich bedeutend mehr nach rechts halten müsse.
Ich hielt mich nach rechts — aber da stand ich plötzlich vor einer steilen, sich in den Nebeln verlierenden Schneewand, über die — das wusste ich bestimmt — der Weg zur Hütte nicht führte.
Also umgekehrt! ... Ich wanderte zurück ... aber weiss Gott, wie es zuging ..., ich fand in diesen endlosen, schweigend und eilfertig an mir vorüberflutenden Nebelwogen nicht einmal meine frühere Spur mehr. Es schien, dass ich nun zu weit nach links abkam — ich schwenkte also wieder im Bogen ab, ich versank bis an die Brust in Schnee, ich geriet mit dem einen Bein bis an den Leib in ein mit Eiswasser gefülltes Loch, ich fing da, wo der Schnee besser wurde, zu traben an und sah mich auf einmal wieder derselben steilen Firnwand gegenüber, die ich vor einer halben Stunde gesehen! ...
Nun blieb ich stehen, erhitzt, erschöpft und aufgeregt, wie ein Mensch, der sich mitten im Handgemenge befindet. Denn es war wirklich wie ein Kampf mit unsichtbaren, tückischen, einen im Kreise herumführenden Gespenstern, ein Kampf auf Tod und Leben.
Eine Hoffnung dämmerte in mir auf! Ich hatte — unklugerweise, wie ich mir dann vorwarf — schon seit einigen Tagen von meinem Vorhaben auf den Eiskofel gesprochen. Das Gerücht davon musste sich in den Taldörfern verbreitet haben, in denen sich ausser mir, wie ich wusste, noch einige andere, mir unbekannte winterliche Touristen befanden. Der Nachahmungstrieb und der Ehrgeiz ist im Alpinismus wie in jedem Sport gross. Vielleicht, dass eine andere Partie mir einen Possen spielen wollte und, um morgen früh zugleich mit mir auf der Spitze des Eiskofels zu sein, jetzt schon vor mir in der Schutzhütte lagerte, die ja irgendwo in meiner nächsten Nähe sich befinden musste.
Ich rief ... ich schrie. Aber keine Antwort kam. Stumm wallten die Nebel, eine giftige, eisige Kälte dünstete aus ihnen aus, und es ward dunkler und dunkler um mich her.
Aufs neue begann ich mein Umherirren. Ob ich jetzt noch die Hütte fand, stand ganz in der Hand des Zufalls. Denn in dem dicken, finstern Schwadentreiben konnte ich, wenn ich auch schnurgerade die rechte Richtung innehielt, doch auf drei Schritte an der Hütte vorbeiwandern, ohne sie zu bemerken.
Aber von Schnurgeradegehen war keine Rede mehr. Ich vermochte den Boden kaum mehr zu erkennen, ich stolperte, glitt über Schneehügel, patschte in allerhand Rinnsale und Tümpel und keuchte weiter, weiter in der niedersinkenden grimmigen Nacht.
Wie lange, das mag der Himmel wissen. Wie im Traum lief ich vorwärts, schon, um nicht durch Stehenbleiben zu erstarren, mit offenem Mund und halbgeschlossenen Augen und einem lähmenden, dumpfen Entsetzen in der Brust. Da plötzlich prallte ich, schon in tiefster Dämmerung, zurück: Mir war, als hätte ich aus weiter Ferne das Lachen einer hellen Stimme gehört ...
„Hallo!“ schrie ich, so laut ich konnte.
„Hallo!“ klang es silbern aus dem Nebel zurück.
War das das Echo meines rauhen Basses? Unmöglich! Oder eine Täuschung meiner Sinne? Das schon eher — ich fühlte ja, wie mir das Blut in den Ohren rauschte und hämmerte. Aber einerlei — jetzt gab es nur einen Weg. Und der führte in die Richtung, von wo die Stimme klang!
Nach hundert Schritten blieb ich stehen und rief aufs neue: „Hallo!“
Und viel näher und lauter lachte es dagegen: „Hallo!“
Nun war kein Halten mehr. Ich rannte mit einer kaum glaublichen Eile, alle Kräfte aufbietend, durch den Schnee dahin, und plötzlich war mir’s, als müsse ich in die Knie sinken und meinem Schöpfer danken. Dicht vor mir zitterte ein schmaler, senkrechter Lichtstreifen durch das nun stockfinstere Dunkel, ein Lichtstreifen, der aus dem Spalt eines Ladenfensters fiel! Da war die Hütte und in ihr Menschen!
„Hurra!“ schrie ich aus tiefster Brust, und von dem dunklen Eingang her lachte es wieder silberhell: „Hörrä!“ — mit unverkennbar englischem Akzent.
Die Türe öffnete sich. Ich trat ein, in Leben und Licht und Wärme.
Es war also wirklich eine Expedition gleichzeitig mit mir aufgebrochen und lagerte vier Köpfe stark in der Hütte, um am andern Morgen den Eiskofel zu erklimmen und dann auf der anderen Seite in das Val Turnez abzusteigen.
Ihr Haupt war ein englischer Reverend, einer jener greisen Jünglinge mit roten Backen, langem Silberhaar und knabenhafter Rüstigkeit, wie man sie bei dieser Nation so häufig findet.
Neben ihm sass seine Tochter, deren Stimme mich hierher gelockt. Durchaus keine Märchenprinzess von geheimnisvoller Schönheit, sondern ein munteres, kerngesundes Mädchen von etwa zwanzig Jahren, blond und sommersprossig, mit blitzenden Zähnen und glänzenden Augen.
Sie hielt ihre Hand in der ihres Begleiters, eines mittelgrossen, breitschultrigen, jungen Mannes, der mit seinem kurzen Schnurrbart, dem leeren Lächeln und seinen lässigen Bewegungen das Urbild eines britischen Touristen war.
Er rauchte eine kurze Stummelpfeife, und dasselbe tat auch der Führer, der abseits in der Ecke kauerte, ein hübscher, schwarzhaariger Mensch, aber mit düsterer, verbissener Miene.
Auf dem Tisch dampfte der Silvesterpunsch und standen die Überreste einer behaglichen Mahlzeit. Die Tabakswölkchen kräuselten sich durch die angenehm warme Luft, und in der Ecke winkte lockend das weiche Matratzenlager.
Das war es, was mir vor allem not tat. Ich war vollkommen erschöpft. Die Engländer redeten mir zu, mich zu ihnen an den Tisch zu setzen und an ihrer Silvesterfeier teilzunehmen, aber ich war zu hart mitgenommen von der geistigen und körperlichen Anspannung der letzten Stunden. Mit der Bitte um Entschuldigung wankte ich zu dem Lager, warf mich darauf und blieb regungslos und schweratmend liegen.
Bald verfiel ich in eine Art Halbschlaf — keinen wirklichen Schlummer; denn dazu war ich zu ermattet und fühlte, wie mich langsame Fieberschauer überfröstelten — sondern in ein waches Träumen, in dem man undeutlich hört und sieht, was um einen vorgeht.
Anfangs hatte sich die britische Gesellschaft still verhalten. Nun, da sie mich schlafend glaubten, wurden sie wieder munter, sie lachten und scherzten, sie stiessen mit den Gläsern an und erzählten sich mit halblauter Stimme allerhand lustige Geschichten.
Nur der Führer sass stumm und finster in seiner Ecke und regte sich selbst dann nicht, als der junge Mann mit der Behauptung, sie ständen unter einem Mistelzweig, der blonden Miss einen Kuss raubte. Die schrie zornwütig auf und zeigte die weissen Zähne, der alte Herr lachte, dass ihm die Tränen in die Augen traten, und der Missetäter selbst ergriff einen Zinndeckel, um triumphierend und sich mit den Fingerknöcheln den Takt schlagend, mit aller Verve einen Niggertanz auszuführen. Seine Stiefelabsätze donnerten auf dem Hüttenboden, dass alles krachte, aber dann ... allmählich ... schienen sie mir leiser und leiser aufzutreten, als glitten sie über Filz, und ich versank in tiefen, traumlosen Schlaf ...
Nach einigen Stunden rüttelte mich etwas wach. Das Zimmer war kalt geworden, die Kerze flackerte unstet im Erlöschen, und die Engländer standen schweigend und ernst um mich herum mit jenen bleichen, finsteren Mienen, wie sie vor Morgengrauen und vor einer schweren Tour auch die beherztesten Bergsteiger zu haben pflegen.
„Kommen Sie, Herr!“ sagte der Reverend. „Es ist Zeit. Wir brechen jetzt auf!“
Ich fühlte mich schwerkrank, an allen Gliedern zerschlagen und vom Fieber geschüttelt. Ein leises Grauen regte sich in mir bei dem Gedanken, jetzt mit der Gesellschaft in die kalte, dunkle, unbekannte Nacht hinauszuwandern.
Ich blieb liegen und schüttelte den Kopf. „Sie müssen allein gehen! ... Ich fühle mich nicht wohl!“
Meine Worte erregten einen lebhaften, mir ganz unerklärlichen Unwillen. Der alte Herr beugte sich über mich, und in seinem faltigen Gesicht hob sich die rechte Seite der Oberlippe, dass der weisse Eckzahn bösartig blinkend sichtbar wurde. „Sie sollen aber mit!“ zischte er leise und heftig ... „... Sie sollen mit uns gehen!“
Und seine hübsche Tochter stand daneben und legte mit geheimnisvollem Lächeln die beiden Hände wie ein flehendes Kind aneinander. „Bitte ... bitte!“ flüsterte sie ... „... Schliessen Sie sich uns an ...“
Ich schwankte ... ich war schon im Begriff, mich zu erheben, da packte mich der junge Gentleman mit eiserner Faust an der Schulter und versuchte mich in die Höhe zu ziehen. „Stehen Sie auf!“ gebot er rauh, und seine Augen funkelten ... „... Sie müssen mit uns kommen!“
Ich stiess ihn zurück. Mein Zorn erwachte und zugleich eine unerklärliche Beklemmung. „Ich bitte, mich in Ruhe zu lassen,“ sagte ich ... „... und wünsche Ihnen viel Glück auf den Weg!“
Da sahen sie sich an, zuckten schweigend die Achseln und traten zu dem Tisch, wo ihre Sachen schon fertig gerüstet dalagen. Nur ab und zu fuhr, während sie sie anlegten, ein spöttischer Blick zu mir herüber.
Bald waren sie fertig. An der Türe schauten sie mich noch einmal fragend an, und als ich den Kopf schüttelte, traten sie finster und ohne Gruss ins Freie. Nur der Führer blieb vor mir stehen. Zum erstenmal glitt, während er die Pfeife aus dem Munde nahm, ein Lächeln über sein schnurrbärtiges Gesicht. „Kommen’s mit, Herr!“ bat er schmeichelnd und listig.
„Nein. Ich bin krank!“
„... alsdann ... b’hüet Gott ...“ Der Älpler tappte zur Türe. Sie schloss sich hinter ihm. Ich war allein und streckte mich müde zu neuem Schlaf ...
Aber ich fand ihn nicht. In der tiefen Dunkelheit umstrich mich eisig und unheimlich der beim Öffnen der Türe hereingelangte Hauch des Winters, durch die Totenstille, die draussen herrschte, klang zuweilen, in wildem Stöhnen anschwellend, das Wehen des Bergwinds und rüttelte an den Fensterangeln und pochte an den Läden, als begehre irgendein finsteres Spukgebilde der Nacht Einlass in meine Hütte.
So lag ich wachend da. Mein Herz klopfte — zum ersten- und einzigenmal, solange ich die Alpeneinsamkeit kenne — und mein Zurückbleiben begann mich zu gereuen. Wäre ich doch mit den Engländern fortgegangen! Dann schritte ich jetzt doch wenigstens unter Menschen über knirschenden Schnee dem fern am Himmel aufdämmernden Morgen entgegen, statt hier allein zu wachen und zu harren in dem unerklärlichen, immer stärker werdenden Grauen, das mich beim Weggang der Touristen erfasst hatte.
Und horch ... da klang es wieder leise und silbern, aus weiter Ferne lockend: „Hallo!“
Ich sprang auf und machte Licht. Marschbereit war ich, denn ich hatte mich ja, wie ich ging und stand, auf das Lager geworfen. Im nächsten Augenblick trat ich schon vor die Türe, um den Engländern oder vielmehr dem Schein ihrer Laternen zu folgen. Denn weit konnten sie noch nicht sein.
Aber draussen empfing mich nichts als die stockdunkle stille Nacht und über ihr gewölbt die strahlende Sternenpracht des Winterhimmels. Ich tappte zwanzig, dreissig Schritte weit in den Schnee hinein, ich spähte rechts und links — umsonst ... kein Lichtpunkt war zu entdecken.
Aber aus dem Bergschrund vom Ende des Kessels her klang wieder das leise, geheimnisvolle „Hallo!“
Ich zögerte. Und plötzlich fiel mir ein: In jener Richtung lag der „End der Welt-Ferner“, ein gefürchteter Gletscher mit klaffenden, unergründlichen Eisspalten und trügerischen Schneebrücken. Sollte ich mich in der Dunkelheit, abseits vom Wege, in dies Labyrinth von Schlünden und Gefahren locken lassen?
Ein Schrecken erfasste mich. Ich wankte in die Hütte zurück und wickelte mich wieder in die Wolldecken. Ringsum was alles still, und endlich fand mich der Schlaf.
Als ich am Morgen neugekräftigt erwachte, strahlte draussen alles von Sonne und Licht. Blendend weisse Schneefelder, tiefblauer Himmel, eiskalte, aber völlig klare Luft — weiss Gott: ... Die Engländer waren zu beneiden, die jetzt wohl auf der Spitze des Eiskofels standen.
Seltsam war nur eins: dass der Hüttenraum so gar keine Spuren ihres Aufenthalts mehr aufwies! Wohl bringt ein Führer vor dem Ausmarsch alles in Ordnung. Aber irgendein Zeichen bleibt doch immer zurück, etwas Asche im Herd, ein Papierfetzen in irgendeiner Ecke, feuchte Stellen vom Schnee der Nagelschuhe am Boden.
Hier war nichts zu sehen, und in das Hüttenbuch hatten sie sich auch nicht eingetragen. Das letzte Datum wies den 29. September.
Ich las nichts weiter von den gleichgültigen Namen der damaligen Ersteiger, sondern klappte das Buch zu. Wunderbar ... sehr wunderbar! Sollte ich etwa das Ganze, von dem gestrigen Abend bis jetzt, geträumt haben?
Aber nein ... da vor der Pforte zogen sich ja zwanzig Schritt weit die Schneestapfen hin, die ich in der Nacht gemacht, um den Engländern zu folgen. Und von der anderen Seite her führten meine ungleichmässigen, weiten Fussspuren vom Abend direkt auf die Hüttentüre zu.
Aber wo waren die anderen gegangen? Ich mochte schauen und schauen ... rings um das Haus lag weiss und unberührt der Schnee und breitete sich stundenweit, von keinem Fusstritt befleckt, als reiner Mantel über die Hügel und Täler der Hochgebirgsmulde.
Ich fing an zu frösteln! Geträumt hatte ich nicht. Ich hatte diese Leute gesehen und gesprochen ... ich war ihnen noch in die Nacht hinaus nachgegangen ... und doch ...
Mir graute. In aller Eile raffte ich meine Sachen zusammen, verschloss die Hütte und wanderte, als sässe mir ein Gespenst im Nacken, zu Tale.
Heute brauchte ich nicht zu befürchten, dass mich der Nebel überraschte. In wenigen Stunden sah ich das verschneite Dörfchen unter mir liegen und wieder eine Stunde später trat ich erschöpft und erhitzt bei dem Kuraten ein.
Der Hochwürdige hatte ein Teleskop in der Hand, mit dem er meine Ankunft auf der Spitze des Eiskofels feststellen wollte, und erhob sich erstaunt, als ich statt dessen plötzlich vor ihm stand.
Ich liess ihm keine Zeit zum Fragen. „Ist gestern noch eine Partie mit einem Führer auf die Hütte gegangen?“ forschte ich erregt.
„Ich bitte ...“ der Kurat lächelte erstaunt und gutmütig ... „wo soll denn eine andere Partie herkommen? Und gar mit einem Führer? ... Heut ... am heiligen Neujahrstag geht mir kein Führer vor der Messe fort ...“
„Also es ist sicher niemand hinauf ...?“
„Ich bitte ... nein! ... Aber wissen Sie, was ich fürcht’, wann ich Sie anschaue ...? Sie haben sich ein Fieber geholt ... da heroben!“
„Mag sein!“ sagte ich und trat verstört wieder auf die Strasse. Betäubt, wie vor den Kopf geschlagen, stand ich da und starrte die Dorfgasse entlang.
Und da ... mein Herz begann freudig zu pochen — da kam ja der Führer der geheimnisvollen Fremden seines Weges! Ich erkannte ihn sofort wieder an seinem gebräunten Gesicht und dunklen Schnurrbart, wie er da, die Hände in den Taschen der Lodenjoppe, durch den Schnee stapfte. Nur sah er lange nicht so finster und verbissen aus wie diese Nacht.
Also waren die Engländer einfach irgendwo umgekehrt und alles gut!
„Grüss Gott!“ ... Ich bot dem Mann die Hand, die er erstaunt und zögernd nahm ... „... Warum habt Ihr mir denn nichts gesagt, dass Ihr heut früh von der Hütte gleich wieder heruntergestiegen seid?“
„Heut’ früh ... von der Hütten oben?“ Der Mann schüttelte den Kopf ... „... Herr ... heut’ früh war ich in der heiligen Messe. Das ständ’ einem Bergführer übel an, die zu versäumen!“
„Ja ... aber ... es ist doch geschehen!“
Der Führer nickte ernst. „Wohl, Herr! Einmal ist’s geschehen ... im letzten Herbst ... Da hat sich mein Bruder durch die drei Engländer bereden lassen ... und ist mit ihnen statt in die Kirche auf den Eiskofel gegangen ...“
„Im letzten Herbst?“
„Am 29. September. Ich hab’ ihm ein Marterl setzen lassen, oben am Weg, wo sie die Geissbuben zum letztenmal geschaut haben. Denn gefunden hat man nie nix mehr von ihnen. Gott weiss, in welcher Spalte im End der Welt-Ferner die liegen ...“
„Aber ich hab’ sie gesehen ... heut nacht ... in der Hütte ...“
Der Tiroler stutzte und schaute mich misstrauisch an. Dann senkte er den Kopf, nahm die Pfeife aus dem Mund und starrte lange nachdenklich in den zertrampelten Schnee. „... ’s kunnt’ schon sein!“ ... sagte er endlich ... „... Die armen Seelen wollen leicht auch an Silvester haben ...“
Der Erzähler verstummte. In der finsteren Ecke glühte die Zigarre noch einmal auf und flog dann in feurigem Bogen quer durch das dämmernde Zimmer auf das Ofenblech.
Eine kurze Pause. Dann fragte der andere: „Und das haben Sie selbst erlebt?“
„Warum nicht ...?“
„Weil’s keine Gespenster gibt!“
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“ die Stimme in der Ecke brach ab. Es ward still im Zimmer, und eintönig rauschte draussen der Regen ...