Читать книгу Belladonna - Rudolf Stratz - Страница 4
Die goldene Hand
ОглавлениеFabelhaft langweilig, solch eine Eisenbahnfahrt durch die bessarabischen Steppen! Endlos dehnen sie sich hinter dem träge rollenden Zuge, endlos vor ihm, der noch einen vollen Tag dahinkeuchen muss, bis er die Grenze der Kultur, die Zollstation Podwoloczyska, erreicht. Zu beiden Seiten der Coupéfenster Steppen, nichts als Steppen! Die flachen, mit braungedörrtem Grase bedeckten Bodenwellen scheinen sich so recht behaglich in die Weite zu recken und zu strecken, bis sie, in der Glut des Julitages flimmernd, fern am Horizonte mit dem blassblauen Himmel in eins zusammenfliessen.
Falle einem etwas Gescheites ein bei solcher Hitze! Mein Coupégenosse und ich haben bereits die scharfsinnigsten Bemerkungen ausgetauscht, ohne doch zu der Würze der Unterhaltung, der Meinungsverschiedenheit, zu gelangen. Wir waren stets derselben Ansicht. Wir trafen uns in der Empfindung, dass es ein Unglück sei, bei solcher Hitze in den spärlichen Bahnhof-Restaurants keine anderen Getränke als kochendheissen Tee und den unvermeidlichen Schnaps zu bekommen; wir begegneten uns in dem Ingrimm über die schneckenähnliche Fortbewegungsart des Zuges, in der Langeweile überhaupt und der Überzeugung insbesondere, dass das russische Reich unbedingt zu den verunglückten Erzeugnissen der Schöpfung gehöre. Damit schwiegen wir wieder ...
„Sie sehen übrigens schlecht aus,“ bemerkte ich nach einer Weile zu meinem Gefährten, einem blonden, bekümmert dreinschauenden Herrn in den Dreissigern. Sein lebendiges, von abenteuerlichen Einfällen sprechendes Gesicht war in der Tat nicht einmal bleich; es hatte eine direkt gelbliche Färbung, zu der das bläuliche Weiss der Augäpfel und der Lippen überraschend stimmte.
„Schlecht?“ wiederholte mein Gegenüber gedankenvoll, „... ja ... man sollt’ es glauben ...“
„Allerdings die Hitze ...“
„Nicht die Hitze,“ — der Fremdling starrte hinaus in die Steppe, „etwas anderes ...“
„Ein Abenteuer? — Erzählen Sie doch!“
Der Reiz, sich sprechen zu hören, ist gross, doppelt gross bei solch eintöniger Fahrt. Mein Gefährte sah einige Augenblicke vor sich hin und brannte sich dann entschlossen eine Zigarette an. „Ich glaube,“ meinte er, „dass wir uns nicht wieder treffen werden, wenn wir in Krakau oder Wien diese verwünschte Fahrt enden. Ich will Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen:
*
Stellen Sie sich vor, Sie flögen mir jetzt plötzlich ins Gesicht, wie Sie mir da gegenübersitzen, — oder ich Ihnen, das bleibt sich gleich! Es handelt sich dabei um eine und dieselbe Sache, einen Eisenbahn-Zusammenstoss. Ich bin viel gereist und habe Erfahrung in derlei. Sehe ich einen meiner Mitpassagiere auf mich zufliegen, so weiss ich, dass es höchste Zeit ist, das Coupé zu verlassen ...
Das tat ich denn auch vor acht Tagen auf der kleinasiatischen Bahn zwischen Haidar-Pascha und Ismidt, in der Gegend von Maltape. Das ist eine eingleisige Bahn. Die Türken hatten an jedem Ende einen Zug losgelassen und hofften, dass Allah die Sache ordnen werde. Allah unterliess das. Mich aber beschützte er und verhalf mir zu einem glücklichen Sprunge aus dem sich in seine Bestandteile auflösenden Zuge.
Es wird Ihnen wohl aufgefallen sein, dass man bei dergleichen Gelegenheiten meist mit dem Kopfe voran landet und sich hierauf überschlägt. Ich besorgte dies dreimal und fand mich alsdann unten am Rande der Böschung sitzen. Über mir stand oben der Zug, eine zwei Stockwerke hoch ineinandergeschobene Masse von Holzstücken, Eisenteilen, Polstern, Koffern und Gemüseköpfen, darauf thronend zwei fauchende und zischende Lokomotiven gleich zwei Hirschen, die sich im Kampfe mit den Geweihen verfangen haben, und zu beiden Enden der Masse eine Reihe schiefstehender Wagen, aus denen allerhand Menschen: Türken, Neger, Levantiner und anderes Volk, heraushing oder herausstob. Eine Anzahl von diesen Leuten war getötet, andere waren verwundet; am meisten schrien die unverletzt Gebliebenen.
Das erste bei solchen Gelegenheiten ist gewöhnlich, dass man sich sorgfältig von Kopf bis zu Fuss betastet und bei der Entdeckung jedes neuen, unverletzt gebliebenen Gliedes eine lebhafte Befriedigung nicht zu unterdrücken vermag. Damit war ich zu Ende; Uhr und Brieftasche fehlten auch nicht, und so stand ich denn auf, um zu sehen, was es weiter gäbe, und sah zu meinem Erstaunen, dass sie neben mir sass.
Ich sage ‚sie‘, weil ich damals ihren Namen noch nicht wusste. Aber auch sonst wusste ich nichts von ihr, kannte ich nichts als ihr Äusseres, das sich mir eingeprägt hatte, während sie auf dem Bahnhof in Haidar-Pascha in den Damenwaggon stieg. Ein etwa fünfundzwanzig Jahre zählendes weibliches Wesen, mittelgrosse, schlanke Figur, schmale Hände, schmale Hüften, noch schmalere Schultern und auf den Schultern einen Kopf, — nun, Sie werden unter den Kleinrussen häufig solche Köpfe gefunden haben: ein ovales Gesicht von mattgelbem Teint mit schmalen, blassroten Lippen, gerader Nase und unter der niederen, von schwarzen Haarbüscheln verhängten Stirn ein Paar grosse, graue Augen. Später habe ich bemerkt, dass diese Augen ihre Farbe wechselten. Auf dem Meere waren sie geradezu blau. Sie konnten auch grün werden, wenn man Olga ärgerte. Und das war gar nicht schwer. Eine Katze, der Sie das Haar gegen den Strich krauen, ist ein sanftmütiges Geschöpf dagegen.
Augenblicklich aber sass sie ganz still und fromm auf dem Boden und starrte mit grossen Kinderaugen zu dem Greuel über ihr empor. Erst nach dem Zusammenstosse war sie aus ihrem unverletzten Wagen gesprungen und die Böschung heruntergeflogen. Sie hatte sich nichts getan, das sah ich sofort; nur ein paar Grashalme in dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar und beträchtliche Erdspuren auf dem grauen Reisekleid und den gelben Handschuhen! Mir imponierte der Anblick: eine junge Dame, die ganz gefasst und ruhig, ohne jeden Schutz an der kleinasiatischen Küste dasitzt und der Dinge harrt, die da kommen sollen! Keine Tränen, kein Geschrei, nichts, was die Weiber sonst bei solchen Gelegenheiten für nötig halten.
Meine Hilfe nahm sie übrigens gern an und dankte mir, da ich ihr Russisch nicht verstand, in geläufigem, hart klingendem Deutsch. Wir waren die einzigen eigentlichen Europäer in dem Zuge, den sie, wie ich, zu einer Vergnügungsfahrt von Kadiköi aus benutzt hatte. Ein Dragoman, ein levantinischer Fremdendiener, begleitete sie. Aber der Kerl war zu nichts mehr zu gebrauchen. Halb heulte er noch vor Angst, halb schielte er schon lüstern in dem Chaos umher, das seinen seit Jahren nicht gewaschenen Diebesfingern eine reichliche Beute versprach.
Was nun machen? Von oben erschallte ein wahrer Höllenlärm. Alles rannte und brüllte auf der Unglücksstätte durcheinander. Immer noch fauchten die Lokomotiven auf der Trümmerburg, ein Heizer war tot, ein oder zwei Hamals, das heisst Lastträger, lagen im Sterben, die Kondukteure liefen auf und ab und schrien, das Volk schrie mit und stahl, was es konnte; es war ein tolles Treiben, und für einen ‚Franken‘ schien es nicht geraten, sich unter die aufgeregte Bande zu mischen. Ich merkte das, als ich versuchte, Hilfe zu bringen, und stieg die Böschung wieder hinunter.
Bei uns wäre man nun zu Fuss nach der nächsten Station gegangen. Der Orient ist aber, wie Sie wissen, das Land der Poesie. Dort gibt es noch Räuber, wirkliche Räuber mit allem Zubehör, und dass wir zwei einsam durch die türkische Ebene wandernden Europäer unzweifelhaft als beträchtliche Wertgegenstände in deren Hände geraten würden, diese Überzeugung glaubte uns bei unserem Aufbruch die versammelte Menge nicht vorenthalten zu dürfen. Und zur Bekräftigung ihrer Ansicht wiesen sie auf einen schwärzlichen Trümmerhaufen, der sich in der Nähe erhob. Vor wenigen Tagen war da ein Haus gestanden. Missvergnügte Räuber hatten es nachts angesteckt.
Wir blieben also und sassen nebeneinander auf dem Rasen. Die Situation war romantisch, aber ich habe immer gefunden, dass Romantik aus der Nähe betrachtet das prosaischste Ding der Welt ist. Man hungert bei der Romantik, man durstet bei ihr, man wird von Ungeziefer zerstochen und von Gaunern gebrandschatzt, — kurzum, man muss ins Theater gehen, wenn man etwas Romantisches ohne Ärger geniessen will.
Wir sprachen denn auch nicht viel, sondern sahen nachdenklich in das verrückte Treiben vor uns. Die Kerle hatten sich nachgerade in einen förmlichen Rausch hineingebrüllt, ein Haufe verschleierter Türkenweiber watschelte und zeterte dazwischen; die einzigen Vernünftigen waren die Verwundeten, die, etwas abseits, still im Schatten einer Platane lagen. Ihr Anblick tröstete uns. Wir hatten zwar nichts zu essen und zu trinken, dafür aber ganze Knochen und die Aussicht, doch nicht ewig hier sitzen bleiben zu müssen.
Wir kamen sogar rascher weg, als ich dachte. Ein Dampfwölkchen zeigte sich in der Ferne, eine Lokomotive, die aus irgendeinem Grunde nach der nächsten Station gehen sollte, rollte heran und hielt plötzlich, wie verblüfft, hart an der Unglücksstätte. In solchen Fällen wirkt das Trinkgeld, der vielgeschmähte Bakschisch, Wunder. Für eine Medschidje nahm der Führer mich samt der Fremden auf, als er zurückfuhr. Wir befanden uns schon nach wenigen Minuten in der zuvor verlassenen Station Maltape und erreichten, da die Lokomotive beordert wurde, sofort vom Endpunkte der Bahn einen Hilfszug heranzuholen, bald darauf Haidar-Pascha, dicht bei dem Flecken Kadiköi, den wir in ein paar Minuten durchschritten. Von dort ist eine regelmässige Schiffsverbindung nach Konstantinopel. Wir setzten uns an der Landungsbrücke hin, wo wir auf das Dampfboot harrten.
Sie werden im Murray oder Baedeker diese Stelle jedenfalls mit einem Stern bezeichnet finden. Es ist auch in der Tat ein recht schöner Blick über den blauen Bosporus hinüber nach den Kuppeln und Minaretts von Konstantinopel. So aus der Ferne sieht die Stadt berückend aus. Kein Mensch ahnt den Schmutz, den dieser vergoldete Schweinestall in seinem Innern birgt.
Aber wir bewunderten die Aussicht nicht, wir dankten auch nicht, wie es unsere Pflicht gewesen wäre, dem Schicksal für unsere Rettung und sahen nicht, wie die Romanhelden, Hand in Hand in das leise aufdämmernde Abendrot; — nein, — wir wuschen uns! Das war dringend nötig. Über den Staub der Strasse hatte der Qualm der Lokomotive gewissenhaft eine dünne Kohlenschicht gestreut, und durch beides zogen sich, bei mir wenigstens, die Furchen, die der herabrieselnde Schweiss gerissen. Also wir wuschen uns, so gut oder so schlecht es ging, mit Hilfe unserer Taschentücher am Meeresstrande Gesicht und Hände. Nebenbei bemerkt ist das eine zweifelhafte Sache mit dem Seewasser. Nach vollzogener Säuberung trägt man statt des Schmutzes eine Salzkruste, — das ist der ganze Unterschied. Dann klopften und schüttelten wir die Kleider und sahen wieder so weit menschlich aus, als es im Orient nötig ist. Viel gehört ja nicht dazu. Wer sich gewaschen hat, repräsentiert durch diese Tatsache würdig genug die Kultur des Abendlandes.
Olga Féodorowna hatte ihre gelben Handschuhe abgestreift und in die Tasche gesteckt. Mit ausgestreckter Hand zeigte sie mir das Dampfschiff, das aus der Ferne heranplätscherte. Ich für meinen Teil sah nicht auf das Dampfschiff hin. Ich blickte auf die nicht allzu kleine Hand, die mir dieses wies, und sah an ihr, — ob mit Überraschung oder Genugtuung, kann ich wirklich nicht sagen, — einen dicken goldenen Reif. Sie war also verheiratet! Natürlich, dachte ich gleich darauf bei mir, junge Mädchen irren nicht so in der Welt herum. Es ist schon bei einer jungen Frau auffällig genug.
Olga Féodorowna schien das zu fühlen. Die Weiber erraten ja häufig ganz instinktiv unsere Gedanken. Sie schüttelte die Haare aus der Stirn und stiess einen leichten Seufzer aus. „Ich habe viel geweint in diesen Tagen,“ sagte sie ganz unvermittelt zu mir. Eine kurze Pause; dann fuhr sie fort: „Ich musste mich gestern von meinem Manne trennen. Er reiste nach Palästina weiter.“
„In Geschäften?“
„In Geschäften?“ wiederholte sie halb unwillig, halb befremdet. „Erbarmen Sie sich! ... In Geschäften nach Palästina? — Welcher Gedanke! ... Natürlich eine Wallfahrt!“
„Verzeihen Sie! Ich konnte es nicht wissen, ich war niemals in Russland.“
„Mein Mann ist Grosskaufmann,“ sagte Olga, ohne auf meine Entschuldigung zu hören, „erster Gilde; aber trotzdem gehört er zu den Strenggläubigen. Schon lange drückten ihn seine Sünden, und nun entschloss er sich endlich zu der Reise. Er erlaubte mir, ihn bis Konstantinopel zu begleiten, von wo ich mit dem nächsten Dampfer wieder zurück nach Odessa fahren sollte.“
„Und warum gingen Sie nicht mit ihm?“
„Ach, der Weg ist weit und so beschwerlich! Sie sehen ja, was es für ein Land ist, diese Türkei. Er wünschte es auch gar nicht.“
„Nun, Sie haben gewiss auch nichts zu büssen.“
„Wir sind alle Sünder,“ sprach Olga langsam, indem sie sinnend über das Meer blickte; „aber, was wollen Sie?“ — und damit wandte sie mir mit kindlich schalkhaftem Lächeln ihr Gesicht zu, — „er fastet ja für uns beide, mein Ossip Timaféitsch.“
Sie war in diesem Augenblick wirklich reizend. Der Seewind spielte leise in ihren kurzen Haaren und trieb ein flüchtiges Rot in ihr gelblich-blasses Gesicht; um die Mundwinkel zuckte es im Übermut, als krümmten sich da tausend kleine Schlangen, und dabei blickten die Augen gross und ernst, wie die eines Kindes, ruhig auf mich hin. Ich sah sie an und sagte so schlicht als möglich: „Ich hätte Sie an Stelle Ihres Mannes nicht allein gelassen.“
„Allein?“ rief sie halb spöttisch; „Sie sind ja bei mir. Und morgen fahre ich nach Odessa zurück, zu meinen Verwandten. Aber da ist das Dampfschiff, — kommen Sie!“
Auf dem Schiffe war es ziemlich voll. Es begann zu dämmern. So gingen wir hinunter in die Kabinen, wo ein böses Getümmel herrschte. Ein Trupp Gesellschafts-Reisender befand sich an Bord. Sie hatten Feze aufgesetzt statt eines praktischen Strohhuts, so dass Sonne, Wind und Staub den Gesichtern zusetzten; sie bestürmten den Impresario, die Männer suchten nach Bier, die Frauen medisierten über eine anscheinend bevorstehende Verlobung, — es hatten sich offenbar feindliche Parteien in der kleinen Reiseherde entwickelt, — vereinzelte Kinder quiekten, das Ganze war ein unangenehmes Ding. Olga hatte sich in eine Ecke gesetzt, schlürfte Tee und sah sich schweigend und spöttisch die Sache an. Sie redete überhaupt nicht viel. Eine merkwürdige Frau! Andere hätten an ihrer Stelle Bände von dem erlittenen Abenteuer erzählt. Aber diese Blasiertheit war bei ihr nicht gemacht. Sie musste unverkennbar schon viel erlebt haben, und doch war sie, wie sie sagte, fern von der Welt zu Hause, zu Sarátow, an den Ufern der Wolga, und wollte jetzt auch wieder über Odessa und Moskau dahin zurück.
Ich hielt es für angemessen, ihr auch einiges über meine Persönlichkeit zu sagen. Zu interessieren schien es sie nicht. Ein Kaufmann, der in Geschäften von Hamburg nach Konstantinopel und zurück fährt, das ist allerdings eine alltägliche Sache: „Sie sind das erstemal im Orient?“ fragte sie zerstreut, „... ich auch. Nehmen Sie sich nur in acht. Es wird einem hier alles gestohlen. Mir hat man meine Uhr genommen, mein Portemonnaie, — und was weiss ich sonst noch!“
„Daran sind die unpraktischen Damenkleider schuld,“ meinte ich; „ich möchte den Dieb kennen lernen, der mir mein Portefeuille abknöpft! — Sie sehen, ich habe es an einem Lederriemen um den Hals hängen. Man müsste mich schon gerade totschlagen, um ...“
Ein starkes Krachen belehrte uns in diesem Augenblicke, dass wir den Hafen von Konstantinopel erreicht und die Dunkelheit dazu benutzt hatten, längsschiffs an einen vor Anker liegenden mächtigen Indienfahrer anzurempeln. Wie ein gereizter Elephant schaukelte das uns turmhoch überragende Fahrzeug hin und her. Wütend brüllte es von dort herab, kräftige Flüche antworteten von uns unten, ein paar Balken unserer Bordwand splitterten ab und fielen in das plätschernde Wasser. Dann war der kleine Zwischenfall erledigt. Wir legten an und stiegen in Galata ans Land.
Die unterirdische Strassenbahn, die von hier nach Pera, dem Europäer-Viertel, hinaufführt, war nicht mehr in Betrieb. Wir mussten zu Fuss die steile Treppengasse überwinden. Es war ja selbstverständlich, dass auch Frau Olga in einem der dortigen Hotels wohnte, und zufälligerweise war es dasselbe, in dem auch ich abgestiegen.
Durch den Einbruch der Dunkelheit gewinnt das innere Konstantinopel bedeutend. Man sieht den Schmutz nicht mehr. Man fühlt ihn höchstens, wenn man einmal beim Auftreten mit dem Fusse keinen Boden findet. Und dann ist man meistenteils in eines der Hundelöcher geraten, in denen oft ganze Familien dieser mageren, gelben Tagediebe hausen. Sie kläffen und belfern ringsumher, aber sie wagen keinen Angriff. Auch die scheusslichen Bettlergestalten sind jetzt von den Strassen verschwunden, das Gebrüll der Verkäufer und Pferdetreiber ist verstummt, Konstantinopel liegt in tiefer Ruhe; das heisst, es ist jetzt nicht mehr Lärm, als nachmittags auf einem mittleren deutschen Jahrmarkt. Und darüber ragt in grauen Massen der uralte Genueser-Turm zum Nachthimmel empor, in der Ferne glitzert der pfeilschnell flutende Bosporus und leuchten die weissen Minaretts, — die Traumstimmung des Orients liegt über der Landschaft. Olga aber wandte sich zu mir und sagte einfach: „Ich habe einen furchtbaren Hunger.“
Und nicht lange darauf sassen wir in Yannis Restaurant an der Grande Rue; vor uns schäumte das echte Münchener Bier, der griechische Kellner brachte die Speisekarte, und wir, — wir dachten gar nicht mehr daran, dass wir uns vor wenigen Stunden noch fremd gewesen waren. Wir lachten und plauderten, und ich glaube fast, dass uns mancher für ein Ehepaar auf der Hochzeitsreise hielt.
Allmählich wurde Olga ganz ausgelassen. Sie bestellte Champagner, um unsere Errettung zu feiern, sie trällerte ein Kosakenlied vor sich hin und schüttelte sich vor Lachen über einen etwas angeheiterten englischen Kapitän, dem der Kellner beim Zahlen mit ernstem Gaunergesicht eine Sammlung aller wertlosen Münzen des Orients aufhalste. Eine Zigarette zwischen den schmalen Lippen, sah sie belustigt um sich. Ihr ganzes Gesicht sprühte vor Heiterkeit, nur in den Augen blieb der ernste, beinahe forschende Ausdruck. Und sie gefiel mir immer mehr. Sie war nicht eigentlich schön oder wenigstens nur in einzelnen Augenblicken schön, aber es war etwas so Unbestimmtes an ihr, etwas Fesselndes und Geheimnisvolles, das den meisten Frauen abgeht. Wie sie so dasass, rauchend und lachend, konnte man sie für eine Zigeunerin halten, und doch verriet wieder jede Bewegung, jedes Wort die Dame der guten Gesellschaft. Freilich würde eine solche sich in Europa nicht mit einem fremden Herrn zeigen, aber schliesslich ... eine Russin ... und ausserdem ... die Seltsamkeit der Umstände entschuldigte viel.
Olga schwieg wieder einmal, was, wie gesagt, ihre merkwürdigste Eigenschaft war. Nachdenklich lächelnd blies sie den Zigarettenrauch von sich und sah den bläulichen Wolken nach.
„Wo mag Ihr Mann jetzt sein?“ erkundigte ich mich plötzlich.
„Wer?“ ... Olga Féodorowna fragte das ganz zerstreut und setzte dann schnell hinzu: „Ach so ... mein Mann! ... Der Himmel allein weiss es, wo er ist! Irgendwo auf dem Wege nach Palästina ... Nun ... Gott mit ihm!“
Und wieder huschten zuckend die Schlänglein um ihre Mundwinkel.
„Olga Féodorowna,“ bemerkte ich ernst, ihr Champagner eingiessend, „niemand zwingt Sie, mir die Wahrheit zu sagen.“
„Und doch tue ich es,“ meinte sie gelassen. „Gott sieht die Lüge. Oder glauben Sie etwa wirklich, dass ich lüge?“ — Eine Beleidigung schien sie darin nicht zu finden. — „Nun, so kommen Sie doch mit nach Odessa! Dort werden Sie meine Verwandten treffen. Man wird Ihnen alles bestätigen, wird Ihnen Odessa zeigen.“ — Und schon wieder halb träumerisch: „Es ist eine schöne Stadt.“
Kommen Sie mit nach Odessa! — Wie sich solch ein Gedanke doch blitzschnell in den Kopf bohrt. Ohne dass ich es wollte, begann ich ihn zu erwägen. Zu tun hatte ich in Konstantinopel nichts mehr; ich konnte jeden Augenblick abreisen, und da ich mit der Zeit nicht zu geizen brauchte, kam es auf den Umweg nicht an.
„Man fährt in sechsunddreissig Stunden von hier nach Russland,“ liess sich die Stimme der Versucherin wieder vernehmen. „Morgen mittag geht die ‚Rossija‘ aus dem Hafen ab. Bis dahin können Sie bequem Ihren Pass auf dem russischen Konsulate visieren lassen. Um zwölf muss man an Bord sein, um eins wird der Anker gelichtet, um drei sind wir im Schwarzen Meer und um vier“ — ein leichter Seufzer — „seekrank.“
„Und warum reden Sie mir zu, Olga Féodorowna?“
„Oh,“ sagte sie halb verächtlich, „es ist ja geradezu eine Schande, so nahe an unserem heiligen Russland zu sein und es nicht kennenzulernen! Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet für heute; darum lade ich Sie ein, in meine Heimat zu kommen. Sie werden es nicht bereuen. — Aber wie Sie wollen! — Nein, sagen Sie jetzt gar nichts mehr. Ich will nichts mehr hören! Es wird sich ja zeigen, wer morgen an Bord der ‚Rossija‘ ist!“
Und mit diesen beinahe triumphierend gesprochenen Worten steckte sie sich eine neue Zigarette an und sah gleichmütig ins Leere. Es war schon spät. Nur wenige Gäste sassen noch an den kleinen Tischen. Mit einer raschen Bewegung stand Olga auf. „Lassen Sie uns ins Hotel gehen!“
Ich zahlte. Sie sah zu und bemerkte lächelnd: „Ich gebe Ihnen auf dem Schiffe meinen Anteil wieder.“ Dann schritt sie an meinem Arme zu dem nahen Hotel. Auf der Treppe drückte sie mir kräftig die Hand. „Auf Wiedersehen!“ Und damit war sie verschwunden.
Ich schätze, dass ich diese Nacht wenig geschlafen habe. Um Sonnenaufgang war ich schon wieder wach und trat ans Fenster. Der Morgennebel umhüllte noch die Stadt, das Meer, die Minaretts. „Lá illahê illehâ!“ ertönte es von einem der Türmchen, und vom nächsten scholl dröhnend die Antwort: „Mahomed rasûl Allâhi!“ Allah ist Allah, Herr Mohammed ist sein Prophet! Und aus der Ferne verklang es: „Eine Stunde bis zum Tode!“ ... „Beten ist besser als Schlaf!“ und wiederum: „Allah ist Allah!“
Bei Allah ... mein Entschluss stand fest! — So fest und unerschütterlich, wie es nach meiner Erfahrung eben nur der schrankenlose Eifer bewirkt, mit dem wir unsere hervorragend törichten Streiche ausführen. Und es kam auch nicht das geringste Hindernis, auf das ich halb noch heimlich hoffte. Die Rechnung wurde bezahlt, der Pass mit Hilfe eines Backschisch unerhört schnell visiert, ein Billett erstanden, und um zwölf Uhr stieg ich, aus einem regellosen Gewirre von Lastkähnen und brüllenden Bootsleuten auftauchend, das Fallreep empor an Bord der ‚Rossija‘.
Olga Féodorowna, die ich den Morgen über nicht gesehen hatte, promenierte bereits auf dem Hinterdeck. Ohne einen Schimmer von Erstaunen hielt sie mir gelassen die Hand hin. „Guten Morgen! Wie haben Sie geschlafen?“ ... Das war alles.
Ich erwiderte auch nicht viel. Ihre Zuversicht verdross mich wirklich ein wenig. Schweigend standen wir nebeneinander und sahen in das bunte Treiben unter uns. Um unser Schiff, einen grossen schlanken Dampfer, schwammen Hunderte von Nussschalen, Frachtboote, Kähne mit Hotelgästen und deren Gepäck, die Schaluppen der Steuerbehörden, niedere Kaïks mit Dragomans und Händlern, früchtebeladene Jollen ... ein tolles Gewirr. Und dazwischen rasselt und dröhnt der Dampfkran, schreien die Matrosen, läuft alles auf Deck wild durcheinander, bis endlich das Signal ertönt, der Anker rasselnd und schlammtriefend aus der Tiefe emporsteigt und mit erschütterndem Ächzen die Schraubenflügel ihre Umdrehung beginnen.
Und dann glitten wir den Bosporus hinunter, vorbei an den zahllosen im Sonnenglanze schimmernden Palästen und Dörfern, an den kahlen, leuchtenden Hügelketten, dem lieblichen Flecken Bujukderé, weiter und immer weiter dem Schwarzen Meere zu. Schwere Windstösse verkündeten seine Nähe. Weisse Schaumspritzer tanzten auf den blauschwarzen Wogen, — ‚die Hasen kommen heraus‘, sagt nach Olgas Versicherung der Russe —, die Rahen knarrten, und im Kielwasser schnalzten in tollen Sprüngen die Delphine. Bald begann das Schiff leicht zu schwanken. Erst wankte es zögernd hin und her, als ob es nicht recht wisse, auf welche Seite es sich legen solle; dann versuchte es einmal, die Spitze unter die anrollenden Wellenkämme zu schieben, steckte gleich darauf plötzlich wieder den Bug so tief als möglich in die Flut und entschied sich schliesslich endgültig zu einer wunderlichen Bewegung, die, halb aus Rollen und halb aus Stampfen bestehend, die Kajütenlampen in der Linie einer schrägen Ellipse pendeln liess.
Ich hatte bemerkt, dass Olga Féodorowna immer bleicher wurde. Ihr Gesicht nahm einen müden leidenden Ausdruck an, sie seufzte wiederholt schwer auf. Plötzlich reichte sie mir die Hand: „Adieu ... ich lege mich hin ... ich werde seekrank.“ Und damit ging sie in ihre Kabine und wurde seekrank; ich aber, dem das Meer noch nichts anhaben konnte, blieb recht missmutig zurück. Der Himmel hatte sich umzogen, der Wind pfiff, das Schiff rollte, und aus der Ferne zog blitzschnell eine graue, prasselnde Wand herauf. Eine Regenbö ging über uns nieder, so dass ich machte, dass ich hinunter in den Salon kam.
Was nicht seekrank war, sass da beisammen an der reichlichen Mittagstafel: ein paar griechische Kaufleute, ein englischer Kabinettskurier, ein Jude aus Malta, russische Viehhändler —, eine kleine, aber keineswegs gewählte Gesellschaft. Den Kapitän hatten wir hier unten noch nicht zu Gesichte bekommen. Er blieb auf der Kommandobrücke, bis sein Schiff sich weit genug von der gefährlichen Küste entfernt hatte. Die Unterhaltung wurde stockend geführt, zumeist in schlechtem Französisch, — ad und zu ein paar russische Brocken dazwischen. Sie drehte sich, wie immer auf See, um das Wetter. Jeder wollte schon schrecklichere Stürme erlebt haben als sein Nachbar, und in die erregten Schilderungen klang das Glucksen und Gurgeln der Wogen an den Schiffswänden, und aus den in den Speisesaal mündenden, fest verschlossenen Kabinen das Stöhnen der Seekranken. Es herrschte eine recht muffige Luft in dem engen Raum, es roch nach Maschinenfett und Petroleum und mancherlei anderem; der Tisch schaukelte auf und nieder, es war kein Vergnügen, an ihm zu speisen. Mag man bei solcher Gelegenheit den gefüllten Suppenlöffel noch so fest auf den Mund richten, man stösst ihn sich doch an die Nase; man giesst sich den Rotwein im vollsten Sinne des Wortes hinter die Binde, so dass die Purpurflut die Hemdbrust tränkt, man rennt sich die Gabel in die Wange, während einen der Steward von oben mit Bratensauce salbt; — kurz, ich gab das Speisen auf, setzte mich in eine Ecke und hörte dem Gespräche der übrigen Passagiere zu.
Das Seethema war erschöpft, man behandelte jetzt das Ereignis des Tages, die Ermordung des Gouverneurs von Odessa. Zwei junge Männer hatten ihn auf der Promenade hinterrücks erschossen, waren ergriffen und aufgehängt worden.
Nihilisten natürlich! — Nur leise sprach man das geheimnisvolle Schreckenswort aus. Es war, als ob keiner dem andern traute, als ob ein verkappter Spion mitten unter der Gesellschaft sässe.
„Und woher wissen Sie, dass kein Nihilist hier im Salon ist?“ erwiderte, auf die von mir gemachte Bemerkung mich forschend anblickend und in greulichem Französisch einer der griechischen Kaufleute. Das schien einem anderen denn doch eine zu gewagte Ansicht; begütigend setzte er hinzu: „Oder dass wenigstens kein Nihilist sich an Bord des Schiffes befindet.“
„Wenn das der Kapitän hört ...“ sagte schüchtern irgend jemand.
„Der Kapitän? — Was geht es den Kapitän an! Ist der Pass des Reisenden in Ordnung, so hat er weiter nichts zu, fragen! Und gefälschte Pässe ...“
„... Kauft man in Moskau zu zehn Rubel das Stück,“ ergänzte eine tiefe Bassstimme.
„Sie können gar nicht wissen, Väterchen,“ wandte sich ein dicker, bleicher Russe zu mir, „wer hier alles in den Kabinen steckt. Sie sind von innen verschlossen. Niemand bekommt den Passagier zu Gesicht —.“
„Je nun,“ meinte ich, „einmal werden sie schon herauskommen.“
„Und wenn? Was dann? — Glauben Sie, diese Menschen sehen anders aus als wir? Es sind sogar meist kleine, schwächliche Leute, — Frauen in Menge, — allerhand Volk.“
„Sehr hübsche Frauen sogar!“ schmunzelte ein bräunlicher, Levantiner, „denken Sie an die Perowskaja, Väterchen.“
„An Wera Sássulitsch!“ rief ein anderer.
„An Jesse Helfmann!“ ergänzte eine dritte Stimme. „Nun also,“ meinte der bleiche Russe wieder, „hier auf dem Schiffe sind auch Frauen. Diese Dame zum Beispiel, mit der Sie vorhin sprachen. — Kennen Sie sie näher?“
„Erst seit gestern.“
„Ich will nichts gegen sie sagen ... aber belieben Sie sich selbst zu erwägen ... eine junge Frau, die allein durch die Welt reist ... Gott weiss, zu welchem Zweck —“
„Sie begleitete ihren Mann, der nach Palästina weiter pilgert,“ erwiderte ich gereizt. „Er fuhr gestern ab.“
„Gestern?“ mischte sich einer der andern Russen ein, ein kleiner Herr, der bis dahin schweigend zugehört hatte, „sagte sie selbst Ihnen das?“
„Ja! Mit einem Dampfer der ‚Messageries Maritimes‘.“
„Dann melden Sie doch der Dame,“ sagte der Kleine etwas spöttisch, „dass die Messageries Maritimes seit vierzehn Tagen, der drohenden Cholera wegen, Jaffa nicht mehr anlaufen.“
Das war ein harter Schlag. Aber die anderen bestätigten die Tatsache. — Ich stand auf und ging hinaus. Auf Deck strömte der Regen. So musste ich meine Koje aufsuchen.
Das Ungemütlichste an solch einer Schiffskabine ist der Umstand, dass man sie zumeist mit mindestens noch einem Reisenden teilen muss. Und jedesmal gewinnt man hierbei von neuem den Eindruck, dass das Schicksal gerade den widerwärtigsten Kerl unter der Sonne zu diesem Zweck ausgesucht hat: einen Menschen, der alle seine Sachen planlos in dem engen Raume zerstreut, der, wenn er sich in dem gemeinschaftlichen Becken die Hände wäscht, das Wasser nicht wegschüttet und mit dem Handtuche seine Stiefel säubert, der stets bei Tage in die Koje hereinpoltert, sobald man durch ein Schläfchen die Langeweile töten will, und der bei Nacht sich betrunken auf das Bett wirft, um sofort ein Schnarchkonzert zu beginnen.
Diesmal war mein Kajüten-Kamerad seekrank ... sehr seekrank. Ich verliere kein Wort weiter darüber. Wer das nicht mitgemacht hat, begreift ja doch nicht, dass der sanftmütigste Mensch in solch einer Nacht Mordgedanken verspürt.
Ich lag also wach und dachte an Olga Féodorowna. Bisher hatte ich mir noch immer selbst eingeredet, dass ich nicht ein wärmeres Interesse für sie hege und nur aus Wissbegier nach Odessa fahre. Jetzt, angesichts der Trauerkunde aus Jaffa, hielt diese Vorstellung nicht mehr stand. Um so grausamer war dafür der Zweifel. Wer ist Olga Féodorowna, und warum belügt sie mich? — Warum besteht sie darauf, dass ich sie begleite? — Sie gehört der guten Gesellschaft an, das zeigen ihre Umgangsformen, ihre Sprachkenntnisse, ihre einfach gewählte Toilette. — Und doch reist sie allein, Zigaretten rauchend und abenteuernd, über das Meer. Eine Nihilistin, — sieht so eine Nihilistin aus? — Unsinn! — Aber freilich, ich habe noch keine gesehen. Und so grübelte ich hin und her, und langsam dämmerte mir endlich die Erkenntnis. Irgendeine vornehme Russin, die aus irgendwelcher Laune sich in dies Abenteuer gestürzt hat und meine Begleitung auf der langweiligen Seefahrt wünscht, weil, — ja weil, — ja wer mir das Rätsel hätte lösen können!
Am nächsten Morgen ging die See ziemlich ruhig. Ein plötzliches Nachlassen in dem regelmässigen Stampfen der Maschine hatte mich geweckt. Wir dampften nur noch mit halber Kraft, als ich auf Deck stieg. Ein fliegender Nebel, eine der bekannten Tücken des Schwarzen Meeres, hielt uns zurück. Es war ein merkwürdiger Anblick. Rings um uns wogten die grauen Schwaden, sie zogen in Ballen über das Verdeck, sie hingen in rieselnden Fetzen an Masten und Rahen und schwebten als ein feiner Dunst über der fahlgrauen, plätschernden See, in welche die ‚Rossija‘ mit ermüdender Unparteilichkeit bald ihre rechte, bald ihre linke Seite vergrub. Man konnte kaum über das halbe Verdeck hinsehen. Ein arger Lärm herrschte an Bord des fast völlig stilliegenden Dampfers. Denn bei solchem Wetter ist die Begegnung mit anderen Schiffen sehr gefährlich, und um sie zu warnen, dröhnte alle Augenblicke mark- und beinerschütternd das Heulen des Nebelhorns.
Dem Lärme zu entgehen, trat ich ein paar Schritte weiter und sah zu meinem Erstaunen Olga Féodorowna, in einen grauen Mantel gehüllt, im Sterne des Schiffes stehen. Sie sah blass und leidend aus. Offenbar hatte sie nur die langsamere Bewegung des Dampfers dazu veranlasst, einen Augenblick heraufzukommen und frische Luft zu schöpfen. Ich wollte auf sie zugehen. Da sah ich ein merkwürdiges Bild. Der erste Steuermann, ein Balte, stand plötzlich, aus einer Luke auftauchend, an Deck, dicht vor Olga. Bei ihrem Anblicke trat er unwillkürlich einen Schritt zurück und sah sie mit finsterem Unwillen an.
„Sie hier?“ sagte er endlich kurz.
Olga antwortete etwas Russisches.
„Sprechen wir deutsch, dass uns die Kerle nicht verstehen,“ unterbrach sie der Steuermann, unwirsch auf ein paar Matrosen in der Nähe zeigend, „wie kommm Sie auf das Schiff?“
„Seltsame Frage! ... Wie jeder andere Passagier.“
„Und der Kapitän nahm Sie mit?“
„Sie können meinen Pass bei ihm sehen.“
„Ich kann’s nicht ändern,“ brummte der Steuermann, „aber ich warne Sie ...“
„Vor was denn?“ fragte Olga sanft.
„Ich kenne dich, mein Täubchen,“ sagte der andere kühl, „und ich schwöre dir, wenn es nach mir ginge, wäret ihr alle schon lange jenseits des Ural!“
„Wie denn, Väterchen? ... Harmlose Reisende mit Sibirien zu erschrecken ... Erbarmen Sie sich!“
„Genug,“ sagte der Steuermann, „wir wissen ja, dass Sie den Kopf immer wieder aus der Schlinge ziehen. Was auf der Eisenbahn geschieht, geht mich nichts an ... aber hier an Bord des Schiffes ...“
„Ist je schon etwas vorgekommen an Bord Ihres Schiffes?“ bemerkte Olga schnell. Ihre Augen waren in diesem Moment vollständig grün und leuchteten wie die einer gereizten Katze. „Nichts, mein lieber Karl Karlowitsch, Sie wissen es so gut wie ich! Was reden Sie also? Und nun guten Morgen! Ich bin krank und will schlafen.“
„Sorgen Sie lieber, dass Ihnen der Himmel Ihre Sünden vergibt,“ murmelte der Steuermann und sah mit finsterem Interesse der schlanken Gestalt nach, die, vorsichtig tastend und sich festhaltend, die schwankende Kajütentreppe hinunterstieg.
In den nächsten Minuten war mein Gesichtsausdruck sicherlich nicht der geistreichste. Ich sah vermutlich so scharfsinnig aus wie ein Mann, dem man eben mit einem festen Knüttel vor den Kopf gehauen hat, und starrte regungslos in das wogende Nebelmeer. Hier und dort begannen sich die grauen Schleier schon zu lichten, die Tageshelle schimmerte durch, ein frischer Wind zerriss die Wolkenwände, die sich halb auflösten, sich wieder zusammenballten, da und dorthin zogen und endlich vollständig auseinander trieben, bis die letzten grauen Fetzen gleich vom Sonnenlichte verscheuchten Gespenstern fern über die nun wieder tiefblauen Wogen dahinkrochen.
Um diese Zeit hatte ich mich so weit gesammelt, dass ich mit höflichem Grusse zu dem an der Bordwand lehnenden Steuermanne hinzutrat. Er grüsste zurück und äusserte die unvermeidliche Bemerkung, dass das Wetter wieder schön zu werden verspräche. Ich stimmte ihm bei. Dann schwiegen wir beide.
So ging es nicht weiter. Das war klar.
„Wer war eigentlich“, fragte ich, indem ich einen förmlichen Ruck im Innern empfand, „die junge Dame?“
„Welche Dame?“
„Mit der Sie vorhin sprachen.“
Der Seemann sah mich misstrauisch an. „Ich weiss nicht, wie sie heisst,“ sagte er und blickte auf das Meer hinaus.
„Aber Sie kennen sie doch.“
Mein Gegenüber schwieg eine Weile. „Man sieht sie zuweilen auf den Dampfern,“ meinte er endlich mürrisch. „Gutes bringt sie nicht mit sich ... sie fährt nach Konstantinopel, nach Varna, aber meistens nach dem Kaukasus, nach Poti oder Batum, — auch nach der Krim.“
„Und was tut sie da?“
„Wie soll ich denn das wissen?“ — Der Steuermann machte ein paar Schritte nach der Luke.
Ich liess ihn nicht los. „Merkwürdig,“ sagte ich, „es ist doch unzweifelhaft eine Dame der guten Gesellschaft ... nicht wahr?“
„Fragen Sie sie selbst,“ riet der Steuermann kühlen Tones. Er stand schon dicht an der Luke. Die Entscheidung musste fallen. „Am Ende ist sie politisch verdächtig?“ fragte ich schnell.
„Politisch verdächtig?“ Der Steuermann schob vorsichtig sein rechtes Bein hinab in das Dunkel. „Vielleicht mehr als das.“
„Mehr als das? ... Also ...“
„Ich habe ‚vielleicht‘ gesagt.“ — Der Mann versank in der finsteren Öffnung. „Ich habe überhaupt gar nichts gesagt,“ rief seine Stimme noch einmal aus der Tiefe. Dann war er verschwunden, und ich stand in trübem Sinnen da.
Also wirklich eine Nihilistin! ... Aber was wollte sie dann von mir?
Eine Möwe schrie, an mir vorbeischiessend, ordentlich spöttisch auf. Ein paar Delphine überschlugen sich höhnend in den Wogen. Mir schien es, als ob selbst die unvernünftigen Tiere mich verspotteten.
Eine hübsche Lage: zusammen mit einer Hochverräterin das Land der Knute zu betreten! Vielleicht hat sie Dynamit in den Taschen ... oder Proklamationen ... Gift ... Was weiss ich! Man verfolgt sie wohl schon steckbrieflich, man nimmt mich mit ihr fest ... ich sehe mich auf dem Wege nach den Bergwerken ... entsetzlich!“
Und dann kommt wieder die kühle Vernunft und raunt mir zu: „Es gibt ein deutsches General-Konsulat in Odessa. Man bestätigt dir, dass du ein unbescholtener Staatsbürger bist. Niemand kann dir etwas anhaben, sobald du dich von deiner gefährlichen Bekannten trennst. Du hast ja keine Verpflichtungen gegen sie ... überlasse sie ihrem Schicksal!“
Dagegen wäre nichts zu sagen gewesen. Aber nun erschien wieder der unselige Hang zur Romantik, der, wie ich häufig bemerkte, eines der Verhängnisse meines Daseins bildet. Reisen, das kann jeder; aber auf der Reise etwas erleben, das ist eine Kunst heutzutage im Zeitalter der Eisenbahnen und Riesenhotels! Und nun gar ein solches Abenteuer! Ein Einblick in die Mysterien des Nihilismus, eine Möglichkeit, diese geheimnisvollen Menschen von Angesicht kennen zu lernen, von denen ganz Europa spricht! Wie würde man mich zu Hause um diese Erinnerung fürs Leben beneiden. Und doch! Es war ja ein Unsinn, ein ganz handgreiflicher, lichter, verführerischer Unsinn!
So schwankte ich hin und her den ganzen Tag. Olga kam nicht zum Vorschein. Und des Abends war ich von den Zweifeln so erschöpft, dass ich trotz des Schnarchens meines Reisegefährten die ganze Nacht in tiefem Schlafe auf dem kurzen Plättbrette zubrachte, das man ein Schiffsbett nennt.
Als ich am andern Morgen erwachte, lag der Dampfer reglos still. Ein Lärmen und Poltern auf Deck belehrte mich, dass wir schon angekommen seien. Jetzt war der Augenblick der Entscheidung da, und während ich mich anzog, siegte glücklich die Vernunft. Fort von dem Schiffe, — so rasch wie möglich und ohne Olga zu sehen! Das war mein einziger Gedanke, der sich sofort zur Tat gestaltete.
Ich nahm meinen Pass in Empfang, liess meine Koffer von einem flachshaarigen, in hohen Transtiefeln und rotem Hemde steckenden Riesen in den Zollschuppen am Kai schaffen und eilte selbst hinterher. Ein Beamter, ein schmieriger, junger Mensch, begann eine flüchtige Durchsuchung, und währenddessen erblickte ich — Olga! Sie stand am andern Ende des Schuppens, mit verhaltener Wut auf die Douaniers vor ihr schauend, die ihre Koffer mit peinlichster Sorgfalt revidierten. Sie kam offenbar so bald noch nicht weg, und während ich das noch überdachte, ertönte neben mir die Stimme des Beamten: „Karaschó! ... Es ist gut!“ Ich war entlassen. Ein neben mir stehender Herr nannte mir auf Befragen das Hotel de Rome; ich stürzte mich mit meinem Gepäck auf einen der Fuhrleute, der Iswoschtschik trieb an, und wir rasten durch die Hafenstadt, vorbei an Schiffen und Schuppen, an mächtigen Herden grauen, langgehörnten Rindviehs, an Kohlenlagern und betrunkenen Bauern, vorbei an Matrosen und Kaufleuten und Zollbeamten, durch steile Gassen hinauf zu der eigentlichen Stadt, die sich am Rande des jäh abfallenden Strandes erhebt. Ab und zu wandte ich den Kopf um. Ich sah Olga nicht.
An diesem Rande oben ist, wie Sie wissen, der Boulevard, die elegante Promenade Odessas, geschmückt mit dem Denkmale des Herzogs Richelieu, der die Stadt gegründet, mit der grossen Kanone, die den Schiffen unten im Hafen die Mittagszeit verkündet, mit dem grossen Restaurant und dem Musiktempel daneben, mit der breiten Freitreppe und, links am Ende, mit dem Woronzoffschen Palais und seinem prächtigen Garten. Es sitzt sich da sehr hübsch des Abends, wenn die schöne Welt der Hafenstadt in dichtem Gedränge auf und nieder wandelt: Offiziere in weisser Kappe und dunkler Uniform, trotz der Sommerhitze den grauen Mantel um die Schultern; Herren und Damen aller Völker; verschmitzte Juden in langem Kaftan, mit gesalbtem Ringellöckchen; finstere, riesige Montenegriner mit adlerartigem Blick, waffenlos, in phantastischer Gewandung; Kosaken vom Don; Tataren, Perser, — eine wahre Musterkarte des russischen Reiches. Und ist man dieser Menschheit überdrüssig, so gleitet der Blick auf der andern Seite endlos dahin, über das weite, blaue Meer, in dem da und dort vereinzelt weisse Segel schimmern, oder wo der lange Qualmstreifen eines Dampfers aufsteigt, und über den trostlos öden Sandstrich der Küste. Dazu spielt die Musik ein Potpourri aus ‚Carmen‘, ein frischer Hauch steigt von der See, man grüsst, man lacht und plaudert, man ...
„Nicht wahr ... es ist hübsch hier?“ sagte eine Stimme neben mir. — Olga Féodorowna liess sich an meinem Tischchen nieder.
Sie fand offenbar durchaus nichts Auffallendes daran, streifte gelassen ihre Handschuhe ab, bestellte Tee und sah, schweigsam wie gewöhnlich, in das Menschengewühl.
So sassen wir eine Zeitlang beisammen, und mir wirbelten die Gedanken im Kopfe. Wenn sie wirklich politisch verdächtig war, konnte sie doch nicht wagen, sich hier mitten auf dem Boulevard vor aller Augen zu zeigen. Oder sie musste mächtige Gönner haben. Vielleicht beschirmte sie die Polizei selbst; vielleicht, — plötzlich fiel es mir ein, dass der Steuermann sie mehr als verdächtig genannt hatte, — vielleicht gehörte sie selbst zur Polizei, war eine Spionin! Und fast im gleichen Augenblicke gruppierten sich mir auch schon die Tatsachen. Jawohl, alles stimmte, alles: das Geheimnisvolle ihrer Erscheinung, die häufigen Reisen, die Andeutungen des Seemanns, — es konnte gar nicht anders sein, — Olga stand im Solde der furchtbaren dritten Abteilung, im Dienste der geheimen Polizei, die ja bekanntlich mit Vorliebe kluge, junge Frauen verwendet!
„Ich habe mich entsetzlich geärgert heute mittag,“ sagte Olga plötzlich, „diese Zollbeamten sind wahrhaft erschreckend. Als einzelne Dame ist man da ganz wehrlos ... Nein, nein, entschuldigen Sie sich nicht! Sie konnten mir als Fremder doch nicht helfen. Aber hätten Sie gesehen, wie die Menschen mit meinen Sachen umgingen! Meine Kleider sind zerdrückt, meine Spitzenwäsche zerrissen ... es ist ein Greuel! Übrigens, —“ sie sah mich von der Seite blinzelnd an, „Sie kamen ja sehr schnell davon?“
„Ja, ich beeilte mich,“ erwiderte ich kurz.
„Und hinterliessen mir nicht einmal Ihre Adresse! Wie unvorsichtig!“
„Nun, wir fanden uns ja rasch wieder zusammen, Olga Féodorowna.“
„Gewiss,“ sagte Olga harmlos, „einen Fremden hier zu ermitteln ist eine Kleinigkeit.“
„Mit Hilfe der Polizei,“ erwiderte ich, sie fest anblickend.
„Warum der Polizei? ... Mit ihr hat man nicht gern zu tun. Jeder der jüdischen Kommissionäre, die sich hier überall herumtreiben, bringt Ihnen für einen Rubel in einer Stunde die Namen aller Reisenden, die in den grösseren hiesigen Hotels abgestiegen sind.“
„Und wenn diese Reisenden sich falche Namen beilegten?“
„Das können sie nicht. Sie müssen ja ihren Pass auf die Polizei senden.“
Sie hatte recht. Ich schwieg einen Augenblick und sagte dann langsam: „Ich bin besorgt um Ihren Mann, Olga Féodorowna. In Jaffa soll die Cholera herrschen. Der Dampfer läuft schon seit vierzehn Tagen den Platz nicht mehr an.“
„Ganz recht,“ sagte Olga, ohne mit der Wimper zu zucken, „Ossip Timoféitsch sprach schon davon. Er wird bis Port Said fahren müssen und dann den Landweg einschlagen. Nun, um so gottgefälliger ist sein Werk.“
„Olga Féodorowna,“ — ich sah sie ernst an — „lebt Ossip Timoféitsch wirklich?“
„Hoffentlich lebt er!“ Olga führte unbefangen das dampfende Teeglas zum Munde. „Denken Sie, welch Unglück für mich, wenn mir der Mann im fernen Land stürbe!“
„Ich meine ... ist Ihr Mann wirklich in ...“
„Lassen wir Ossip Timoféitsch! Er ist nicht sehr interessant ... ich versichere es Ihnen!“
„Und doch begleiten Sie ihn so häufig auf seinen Reisen? Man sagte mir, dass Sie auf den Dampfern ...“
„Ach ... endlich ...!“ rief hier Olga plötzlich, stand auf und winkte mit erhobenem Sonnenschirm. „Da kommen meine Freunde, mein Onkel und ein guter Bekannter von uns!“
Zwei Herren von unverkennbar russischem Typus tauchten aus dem Menschengewühle vor unserem Tischchen auf, lüfteten ihre Mützen und streckten mir ohne weiteres, nach der Sitte des Landes, die unbehandschuhte Rechte entgegen. Sie nahmen neben uns Platz. Es war ein jüngerer Mann, gross und schlank, mit wehendem Vollbart und den edeln Zügen eines Apostels, und ein Greis, ein kleines, etwas unsauberes Männchen, mit spärlichem Haare, meckernder Stimme und sanftem Lächeln um den zahnlosen Mund.
„Gut, dass wir uns fanden,“ sagte Olga zu mir, während die beiden Tee bestellten, „wir hatten uns hier verabredet. Es wird nur mit der Unterhaltung schwer gehen. Sie verstehen wohl beide, was man auf deutsch sagt, aber sie können nicht deutsch sprechen.“
Nun, — das findet man bei vielen Russen. Ihre vielgerühmte Sprachkenntnis beschränkt sich ja in Wirklichkeit nur auf die Fürsten- und Gelehrtenkreise.
„Entschuldigen Sie einen Augenblick,“ sagte Olga und begann mit ihren Freunden ein lebhaftes russisches Gespräch. Ich verstand kein Wort davon und hatte Zeit, mir die Sache zu überlegen.
Sollten das Nihilisten sein? Möglich wäre es schon! Der Jüngere hatte tatsächlich etwas Romantisches, eine weiche, müde Stimme, schön gepflegten Bart und lange, auffallend saubere Hände. Die Melancholie seines Gesichtsausdruckes stand in merkwürdigem Gegensatz zu der riesenhaften Kraft, die sich im Spiele seiner Muskeln zeigte, als er einen der Tische nebenan mit freiem Arm zu sich heranhob, um sein Teeglas daraufzustellen. — Ganz anders war der Alte; der hatte etwas Lauerndes in seinem Wesen, etwas heimtückisch Wohlwollendes, hinter dem sich Gott weiss was verbarg.
Aber bald beschäftigte mich eine andere Entdeckung noch weit mehr. Olga Féodorowna war, — das musste ich nach den ersten Minuten erkennen, — verliebt in den jüngeren Fremdling, den sie Arkad Wassiljéwitsch nannte; oder sie tat doch wenigstens so! Ihr Gesicht hatte sich gerötet, in den grauen Augen lag ein feuchter Glanz, und ein sanftes, fast unterwürfiges Lächeln spielte um den sonst so spöttisch zuckenden Mund. Ich war tief betroffen. Meine dumpfe Eifersucht liess mich alle Einzelheiten ihres Benehmens erkennen, und wie die beiden so plaudernd dasassen, vom Zigarettenrauch umschleiert, die Köpfe zueinander geneigt und in dem weichen, klangvollen Russisch fast gleichzeitig zu einander sprechend, schienen sie alles um sich her vergessen zu haben und nur noch an ihre Liebe zu denken.
Der Greis, der Porphyr Porphyrowitsch angeredet wurde, blickte mit einem gewissen rätselhaften Wohlwollen auf die Gruppe, während ich mir erregt meine Zigarette anzündete. Arkad bemerkte dies. Er beugte sich höflich vor, um mir Feuer zu reichen, und in diesem Augenblicke sah ich durch das Glimmen des Streichholzes deutlich, wie der Alte und Olga einen blitzschnellen Blick des Einverständnisses tauschten. Der Blick schien mich nur zu streifen. Es war, als haftete er auf dem ahnungslosen Arkad, der, von den beiden abgewandt, mir das Hölzchen hielt.
Diese Wahrnehmung bildete für mich nur das letzte Glied einer Gedankenkette, an der ich schon die ganze Zeit schmiedete. Irgend etwas bereitete sich hier vor; das war klar! War Olga, wie ich annahm, wirklich eine Agentin der Polizei und im Einverständnisse mit dem alten Fuchs, so musste der junge Russe offenbar ein Nihilist sein, den sie in’s Garn gelockt hatte! Und so sah er auch aus. Er hatte etwas von einem Karl Moor an sich ... ein eleganter, melancholischer Revolutionär. Dann hatte auch Olga einen Grund, mich einzuladen! Die Gegenwart eines Fremden, eines Ausländers, musste ja in Arkad jeden Verdacht verscheuchen, dass er sich seinen geborenen Feinden gegenüber befinde.
Ehrlich gesagt, ich war meiner Sache gar nicht sicher, und sie kam mir durchaus nicht geheuer vor. Aber es lag doch ein eigener Reiz darin, sich in fremdem Lande auf solch geheimnisvollen Pfaden zu bewegen. Und ich riskierte ja nichts. Gerade gegenüber lag mein Hotel, ich selbst trug einen Revolver bei mir, Menschen ringsum ... was sollte da vorfallen? So blieb ich denn sitzen, erwartungsvoll wie der Jäger auf dem Anstand.
„Entschuldigen Sie,“ wandte sich Olga zu mir, „es ist recht unhöflich von uns, Sie zehn Minuten lang mit unserem Russisch zu langweilen. Ich hatte soviel von Konstantinopel zu erzählen. Aber sagen Sie, bitte, sind Sie einverstanden, wenn wir jetzt dinieren? Es fängt schon an zu dunkeln.“
„Ich bedaure,“ erwiderte ich unschlüssig, „ich möchte mich nicht weit vom Hotel entfernen.“
„Das ist auch gar nicht nötig,“ meinte Olga und wies auf ein grosses, gerade vor uns liegendes Restaurant, „gehen wir dorthin, besser können Sie es nicht treffen.“ Und damit schob sie ihren Arm in meinen. Die beiden Russen gingen voraus.
Diese Vertraulichkeit befremdete mich wieder. ‚Am Ende‘, stieg es in mir auf, während wir langsam durch das Gewühl schritten, ‚sind das alles nur Hirngespinste, ist Olga nichts mehr oder weniger als eine der vielen fahrenden Schönheiten des Ostens?‘ In diesem Augenblick kreuzte ein alter General unseren Weg. Er fasste Olga scharf ins Auge und lüftete dann, mit verbindlichem Lächeln, seine weisse Mütze. Nein ... so grüsst man nur Damen der Gesellschaft! Und doch musste der Seemann heute irgendeinen Grund gehabt haben, diese elegante junge Dame aus tiefster Überzeugung nach Sibirien zu wünschen ... also ... Immer wieder kehrten meine Gedanken zu der dritten Abteilung zurück.
„Olga Féodorowna,“ sagte ich, stehen bleibend, „wer sind Sie?“
Olga schien meine Frage überhören zu wollen; sie schlüpfte rasch über den breiten Fahrdamm, auf dem die Iswoschtschiks in ihren unförmlich auswattierten, mit bunter Schärpe gegürteten Röcken, mit weit vorgestreckten Armen die Zügel haltend, ihre kleinen, offenen Wagen dahinsausen liessen. Gleich darauf waren wir in dem Restaurant. Die beiden Herren hatten bereits in einem kleinen Extrazimmer, hinten am Korridor, Platz genommen. Als ich das hörte, hatte ich gute Lust, umzukehren. Aber man macht sich nicht gern lächerlich, und ich beschloss, mich unter allen Umständen sofort nach dem Essen zu entfernen. Mochten dann die beiden Arkad Wassiljéwitsch verraten, — denn darauf schien mir doch die ganze Sache hinauszulaufen —, mich ging das nichts weiter an. Olga musterte übrigens beim Eintreten ihren Geliebten, der bereits am Tische sass, mit einem erschreckend kalten, prüfenden Blicke, der meinen Verdacht bestätigte. Dann wandte sie sich zu dem Greis und sagte ihm ein paar Worte auf russisch. Der Alte nickte lächelnd und schaute auf Arkad. Und es war mir einen Moment, als sähe ich an dem verhängten Fenster unseres Zimmers ein paar dunkle Schatten sich hin und her bewegen. Sollte ich nicht doch Arkad warnen? Vielleicht hatte er gar nichts verbrochen, war das Opfer eines Irrtums. Ich entschied mich dafür. Die erste Gelegenheit wollte ich benutzen und dann ins Hotel zurückkehren.
Inzwischen setzten wir uns zu Tisch.
Solch eine russische Tafel ist eine durchaus nicht zu verachtende Sache, und unter anderen Umständen hätte ich ihr gewiss mehr Ehre angetan. Es war alles recht gut: die Sakuska, das aus Kaviar, kleinen Fischen, mariniertem Stör, kalten Eiern, eingemachten Pilzen und tausend anderen Sachen bestehende Vorgericht; dann der Schtschi, die berühmte Kohlsuppe mit den heissen, fleischgefüllten Pastetchen; das blendend weisse Stück Sterlet, mit aufrecht stehenden Krebsschwänzen garniert; das unvermeidliche Boeuf à la Stroganoff, jene wohlschmeckende Mischung von gedünstetem Fleisch, Champignons und Kartoffeln; und die jungen Steppenhühner mit dem ‚Saft‘, den eingemachten Früchten aus Kiew. Dazu tranken wir Champagner. Olga wollte es nicht anders. Es sei der einzige Wein, meinte sie, den man in Russland nicht fälsche, da man die Flaschen nicht öffnen könne. Sie trank ein Glas nach dem andern und wurde munter und gesprächig.
Allmählich war so die Stimmung gewichen, die anfangs über unserer Tafelrunde lag. Olga plauderte und lachte über die Versuche ihrer Freunde, sich deutsch auszudrücken; sie berichtete von unserm Eisenbahnunfall; sie erzählte von Konstantinopel, von dem Nebel, von tausend Dingen, und sie wurde beinahe wehmütig bei dem Gedanken, nun wieder nach Saratow zurückzukehren, an die Ufer der Wolga, in das Herz des heiligen Russlands, wohin die gleissende Kultur des Westens noch nicht gedrungen.
So kam das Ende des Diners. Olga schickte den schlitzäugigen tartarischen Kellner weg und präsentierte uns selbst den Kaffee. Die unvermeidlichen Zigaretten füllten den kleinen Raum mit dem Parfüm des bessarabischen Tabaks. Die Lichter flimmerten auf dem Tische. Es war eigentlich ganz gemütlich. Nur Arkad sass schweigend und finster da.
Ich benutzte den Moment, wo Olga auf dem Tablett den Nalifka, den süssen Fruchtlikör, eingoss. „Ich gehe jetzt,“ sagte ich leise und deutlich zu Arkad, „nehmen Sie sich in acht!“
Er schien mich nicht verstanden zu haben. Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.
„Ich warne Sie,“ wiederholte ich recht langsam; „Sie sind von Feinden umringt.“
„Belieben Sie ...!“ Olga streckte mir über meine Schulter das Tablett hin, auf dem mein Likörglas stand.
Ich nahm es dankend in Empfang. Das Zeug schmeckte recht gut. Olga goss mir, halb zerstreut mit dem Alten plaudernd, ein zweites Glas ein.
Als ich dieses getrunken hatte, wollte ich nochmals Arkad aufklären. Ich wandte mich zu ihm und sah ganz erstaunt, dass sein Auge mit einem ernsten, forschenden Ausdruck auf mir ruhte. Es wurde still am Tisch. Und dann blickten mich auch die anderen gespannt an.
*
Ich weiss nicht, ob Sie einmal einen jener Kater gehabt haben, die man sich nur in früher Jugend erwerben kann, solange der Magen noch nicht an Spirituosen gewöhnt ist. Es ist ein furchtbarer Zustand: Kopfschmerz, Übelkeit, Schwindel, völlige Erschlaffung, Lebensüberdruss, — kurz, die Empfindungen eines Menschen, der aus Versehen irgendein Gift verschluckt hat.
In diesem Zustand erwachte ich tags darauf in meinem Gasthofzimmer.
Gegen Mitternacht waren, wie sich später ergab, zwei Hausdiener des Restaurants im Hotel mit der Anfrage erschienen, ob ein fremder Herr, der schon die ganze Nacht durchaus betrunken in einem Extrazimmer liege, etwa hier zu Hause sei. Seine Gesellschaft habe ihn abends verlassen, ohne sich viel um ihn zu kümmern, und gemeint, er werde seinen Rausch schon ausschlafen.
Der Hotelportier aber war eine argwöhnische Natur. Er liess nicht nur den Fremdling, sondern bei dessen Anblick auch einen Doktor holen.
„Seien Sie froh!“ sagte der Arzt, ein geschmeidiger junger Pole, zu mir, während er meinen Puls fühlte, „Sie werden von dem Narkotikum, das Sie mit dem Likör hinunterschluckten, keinen bleibenden Schaden haben. Ihr Geld dürften Sie freilich nicht wiedersehen.“
„Mein Geld ...?“ Ich versuchte nach meiner Rocktasche zu fassen.
„Geben Sie sich keine unnütze Mühe!“ bemerkte der Arzt trocken, „es ist alles fort, auch Börse und Uhr. Wie sollte es anders sein? Unter allen Umständen hätten doch die tartarischen Kellner und die Hausdiener alles gestohlen, was Ihnen etwa ‚die goldene Hand‘ übrig liess ... Sie wird neuerdings masslos frech, diese Bande! Man hört es von allen Seiten.“
„Wer?“
„Nun, eben ‚die goldene Hand‘. Sonst arbeitet die Spitzbubengesellschaft nur auf den Eisenbahnen. Da ist ihre Spezialität, Reisende mit Chloroform zu betäuben oder auch kurzweg im Schlafe zu erdrosseln, um sie dann auszuplündern.“
„Aber wer sind die Menschen? ... Hat man sie verhaftet ...?“
„Sie sind erst seit gestern in Russland,“ sagte der junge Pole, „sonst würden Sie nicht danach fragen. Niemand weiss, wo die Leute geblieben sind, wie zahlreich die weitverzweigte Bande ist, und selbst wenn ein eifriger Beamter sie finge, was dann? Ihre Begleiterin zum Beispiel wurde schon wiederholt festgenommen. Ich sprach eben mit dem älteren Gehilfen des Staatsanwalts darüber, der hier war, um ein Protokoll aufzunehmen. Sie war schon zweimal unterwegs nach Sibirien und ist immer wieder entwischt. Verschicken sie sie morgen zum dritten Male, so ist sie nach einem Vierteljahre abermals da!“
„Und Sie meinen damit Olga Féodorowna?“ fragte ich mühsam.
„Sie hat viele Namen,“ sagte der Arzt kaltblütig, „aber sie bleibt immer, was sie ist: das gefährlichste Mitglied der ‚goldenen Hand‘, verschlagen und raubgierig wie eine Katze. Nun, einmal wird sie doch auf ihren Streifzügen das Schicksal ereilen, sei’s hier oder im Orient oder im Balkan!“
„Und die Polizei ist machtlos?“
„Es gibt hier nur eine Macht: den Rubel! Und dass die ‚goldene Hand‘ diese besitzt, zeigt Ihnen schon ihr Name. Apropos, haben Sie viel verloren?“
„Ich kann es verschmerzen,“ sagte ich ingrimmig.
„Aber ein anderes Mal seien Sie vorsichtiger! Es ist schon mancher schlimmer dabei weggekommen als Sie. Und nun halten Sie sich ruhig und nehmen die Medizin. In einigen Tagen können Sie reisen.“
Der Doktor ging. Zwei Tage darauf erhielt ich ein Darlehen von dem Konsulat, bestieg das Coupé, in dem ich Ihnen gegenübersitze, und glaube, Ihnen als ehrlicher Mann versichern zu dürfen, dass es keineswegs meine Absicht ist, noch einmal Abenteuer in Russland aufzusuchen.
*
Eben als mein Reisegefährte endete, liefen wir in der Station Birsula ein. Es entstand das übliche Lärmen und Treiben auf dem hohen Bretterperron. Ein junger Mann stieg bei uns ein; dann klang die Bahnhofsglocke, und wir fuhren hinaus in die Abenddämmerung der Steppen. Ein Kondukteur in seiner kleidsamen Uniform, der Lammfellmütze, dem Kaftan, den Kniestiefeln und bauschigen Hosen, das Georgskreuz vom Türkenkriege her auf der Brust, trat ein, zündete die Kerzen im Coupé an und ging weiter.
„Tut sehr not,“ bemerkte der neue Mitreisende, offenbar froh, einen Anknüpfungspunkt zu finden, „die Beleuchtung meine ich. Nun, jetzt werden sie ohnedies auf den Zügen aufpassen. Es geht ja jede halbe Stunde eine Ronde durch die Waggons und sieht nach, ob noch alles lebendig ist!“
„Was ist denn geschehen?“ erkundigte ich mich.
„Wissen Sie es nicht? Ich komme eben von Kiew. Gestern nacht wurde im Moskauer Schnellzuge der Ehrenbürger Wassiljeff, — Sie wissen, der Krösus von Kiew, — erwürgt vorgefunden.“
„Und von den Tätern keine Spur?!“ sagte melancholisch mein Gegenüber.
„Man fahndet auf sie,“ erwiderte der Reisende aus Kiew. „Die Sache macht doch zu viel Aufsehen. Denken Sie sich ... ein zwanzigfacher Millionär! Und wissen Sie, was die Mörder bei ihm fanden? Achtzig Papierrubel und einige Kopekenstücke!“
Mein Genosse erwiderte nichts. Der Zug rollte weiter, und die Nacht sank auf die Steppen herab.