Читать книгу Die Faust des Riesen. Band 1 - Rudolf Stratz - Страница 4

I.

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Draussen, vor dem Herrenhause von Seddelin in der Mark, harrte der angespannte Wagen. Die Pferde prusteten und klopften ungeduldig mit den Hufen im Sand. Das hörte Martine von Brake oben in ihrem Zimmer, im Hauptstock des langgestreckten, niederen, aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden Barockgebäudes. Es machte sie aufmerksam. Sie blickte misstrauisch auf, legte das Buch, in dem sie geblättert hatte, aus der Hand, erhob sich plötzlich und eilte an das Fenster. Da unten standen die Gäule. Es war, als hätte sie die beiden guten, aber ungepflegten Tiere, die mit ihren schweren Grasbäuchen und struppigen Fesselhaaren einen bäuerlichen Eindruck machten, und den unrasierten, in einen blindknöpfigen Mantel gehüllten alten Kutscher noch nie in ihrem Leben gesehen, so unheimlich gespannt und feindselig, mit einem gequälten Ausdruck auf den schönen Zügen, schaute sie hinunter. Ein Zittern überlief sie. Sie trat wieder in das Zimmer zurück, wie um sich selber zu beweisen, dass es sie gar nichts anginge, was da vor dem Tor geschah, und blieb stehen und kämpfte mit sich. Dann riss sie mit einem jähen Entschluss die Scheiben auf, beugte den dunkelblonden blossen Kopf in die rauhe Nebelluft des Oktobermorgens hinaus und rief: „Philipp!“

Der verschlafene alte Kerl schrak empor und nahm gewohnheitsmässig eine stramme Haltung an, während er den vertrunkenen Grauschädel, seinen widerhaarigen Zylinder in der Rechten haltend, nach oben wandte: „Gnädige Frau?“

„Wer hat denn befohlen anzuspannen?“

„Der gnädige Herr!“

„Wohin fährt er denn?“

„Auf die Station!“

„Zum Zug nach Berlin?“

„Jawohl!“

Die junge Frau frug nicht weiter. Sie blieb mit zuckenden Lippen an dem offenen Fenster stehen. Ihre unregelmässigen, stossweisen Atemzüge kräuselten sich in der eindringenden Herbstkälte. Sie sah geistesabwesend vor sich hin, als wäre das alles ein Traum. Um sie war es ganz still wie in einem Schattenland, kein Mensch ausser dem Alten unten zu erblicken. Die Dorfstrasse vor dem Herrenhaus dehnte sich öde nach rechts und links in das Grau. Die welken Blätter der alten Linden auf beiden Seiten bedeckten sie feucht und dicht. Ab und zu raschelte immer noch erstorbenes Laub aus den kahlen Zweigen, wenn ein Windzug den dampfenden Herbstnebel etwas lichtete. Undeutlich und doch ganz nah hoben sich in der dichten, schweren Luft ringsum die reifbedeckten, hellglitzernden Bauerndächer des Dorfes Seddelin. Sie drängten sich eng um das Gutshaus, wie die Küchlein um die Glucke, so wie sie es seit sechshundert Jahren, seit die Brake hier auf ihrer Scholle sassen, in guten und bösen Tagen getan. Dort drüben, zur Linken, bewegte sich etwas langsam vor dem trüben Himmel hin und her. Ein grosses schwarzes Stück Dachpappe hing da in Fetzen, im Winde schaukelnd, von einem der Scheunenfirste des Herrenhofes herab. Es flatterte so schon seit einem Jahr. Darunter hauste Sturm und Regen im Gebälk. Martine sass und dachte sich, ohne es zu wollen: ‚Das stürzt nächstens ganz ein. Es hätte längst gebessert werden müssen. Aber er lässt ja alles verkommen und verderben. Alles, was hier ist ...‘

Und vor ihren Blicken begann es da draussen zu flimmern und zu beben, als empörten sich die leblosen Dinge wider ihren Herrn, als ständen drüben, wo der Turmhahn des Dorfkirchleins im Zwielicht ragte, die toten Brake auf und forderten Rechenschaft von dem Sachverwalter, dem ungetreuen Erben anvertrauten Guts. Sie hielt es nicht mehr aus — sie wandte sich vom Fenster ab — sie stand mitten im Zimmer mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten, den Kopf in den Nacken geworfen, in einem lautlosen Krampf, in dem ihr schlanker Körper zuckte und ihre Lippen sich verzweifelt aufeinanderpressten. Dann auf einmal erwachte sie aus der Erstarrung. Sie sah um sich und richtete sich auf. Mit raschen, festen Schritten ging sie zur Türe und hinaus auf den Flur und eilte den entlang — sie lief immer schneller — sie sprang beinahe die breite Freitreppe hinab in die Eingangshalle, einen düsteren, hochgewölbten, steingepflasterten Raum, an dessen Wänden kein Ahnenbild, kein Hirschgeweih, kein Waffenschmuck mehr, wie sonst in friderizianischen Schlössern, die Kahlheit der weissen Tünche unterbrach. Gleich neben dem Haustor war zur Linken eine eichene Pforte. Da blieb sie stehen und sammelte sich. Ein paar Sekunden hörte sie ihr eigenes stürmendes Herzklopfen. Dann stiess sie mit energischem Griff die Türe auf und trat in das warmgeheizte Esszimmer ein.

Ihr Mann, der da beim Tee und einer dampfenden Platte von Schinken und Eiern sass, blieb bei ihrem Erscheinen ruhig in seiner ganzen riesigen Länge sitzen. Er hatte noch die straffe Haltung, den langausgedrehten Schnurrbart, die befehlsgewohnte Gelassenheit des früheren Offiziers an sich. Dem widersprach nur der eigentümlich gelbe Schein auf den Wangen, die blauen Schatten unter den Augen bei ihm, der doch erst zu Anfang der Dreissig stand. Es deutete nicht auf Krankheit, dieser Mangel an Wind- und Wetterfarbe auf dem männlich kraftvoll geschnittenen Antlitz eines Grossgrundbesitzers, wie es der Majoratsherr auf Seddelin war — dazu war seine Brust viel zu mächtig gewölbt, seine Stimme zu stark, sein Blick zu hell, scharf wie bei einem grossen Raubvogel. Er kaute noch mit beiden Backen, schluckte dann und sagte lachend und unbefangen zu seiner schönen Faru: „Guten Morgen! Na — so früh?“

Sie erwiderte ihm nichts, sondern nahm schweigend ihm gegenüber Platz. Diether von Brake beachtete das nicht. Er zog sich Schüsseln und Kanne heran und widmete sich wieder mit gesundem Hunger seinem Frühstück. Zuweilen schaute er dabei Martine gleichgültig und zerstreut über den Tisch hinüber an. Er war ein auffallend schöner Mensch. Sie sagte es sich selbst, während sie mit einem unterdrückten, innerlichen Beben sein lächelndes Gesicht und die feinen, allzu früh darin eingegrabenen Furchenlinien wie das eines Fremden, wie ein beklemmendes Rätsel musterte. Er sah jetzt noch, trotz des Wurmes, der an seinem Mark nagte, besser aus als all die tausend anderen, obwohl er gar keine Sorgfalt auf sein Äusseres verwandte. Er war durchaus nachlässig angezogen, in zerdrücktem Rock und fleckiger Weste, die Stiefel waren nicht geputzt, die Hosen nicht gebürstet. Er hatte sich auch nicht rasiert. Es schien ihm ganz gleich. Man wusste hier im Lande, wer er war. Und in Berlin, wo man das nicht wusste ... nun ... in Berlin ging er ja seine eigenen Wege ...

Er hielt gleichmütig ihrem forschenden Blicke stand. Der schien ihn zu belustigen. Denn er lachte endlich und meinte: „Na — haste dich bald an mir sattgesehen? Mach mich nur nicht eitel, Martinchen!“

Und sie sagte langsam, immer die heissen blauen Augen auf ihm: „Ja. Ich seh’ dich an. ... Und dann frage ich mich etwas ...“

„Na ... ’raus damit!“

„Oder vielmehr: ich frage dich etwas! Ich muss dich etwas fragen. Die Zeit ist da!“

Er lachte etwas gezwungen.

„Herrjeses, was das nun wieder frühmorgens schon für grossartige Ausdrücke sind! Martine, mach es gnädig! Du weisst, ich bin ein moderner Mensch. Ich hab’ gar keinen Sinn für das Feierliche im Leben!“

„Und du wirst mir doch jetzt Rede und Antwort stehen!“

Sie sprach es in einem ungewöhnlichen Ton, der ihn beunruhigte. Er tat, als würde er ungeduldig, und schaute durch das Fenster in den Hof, wo der Wagen wartete.

„Na — wenn schon ... dann schiess gefälligst schleunigst los! Ich bin bloss noch mit einem Bein hier! Ich muss gleich fort!“

Martine von Brake hatte den Kopf auf die Hand gestützt. So sass sie am Tisch, sah ihren Mann fest an und frug unvermittelt: „Warum hast du mich eigentlich geheiratet?“

Er liess verblüfft die Gabel, die er zum Munde führen wollte, sinken. Ein kurzes Schweigen entstand. Dann zuckte er die Achseln und lachte, um rasch über die Sache wegzukommen: „Komische Frage, Martine ...“

„Gib mir Antwort!“

„Herrgott — jeder Mensch heiratet doch ...“

„Aber warum gerade mich?“

„Irgend jemanden muss man doch heiraten! Du hast mir eben gefallen, Martinchen ...!“

Sie hob das Haupt.

„Also wenn es einmal eine Zeit gegeben hat, wo ich dir gefiel, so hast du damals doch auch Pflichten gegen mich übernommen! Du musst dir doch etwas dabei gedacht haben, wie du vor sechs Jahren nach Mecklenburg zu meinen Eltern ins Haus gekommen bist und mich verlangt hast ... was hast du damals gedacht? Was hast du gewollt ...?“

Diether von Brake war gähnend aufgestanden. Er reckte sich in den breiten Schultern und sah auf die Uhr. „Kinders, nur keine Szenen auf nüchternen Magen!“ sagte er gleichmütig. „Die bekommen mir nicht! Setz mir ein andermal die Pistole auf die Brust! Aber jetzt muss ich nach Berlin ...“

„Vorgestern abend bist du aus Berlin gekommen — und bloss, um dir vom Inspektor Geld zu holen. Vorher warst du vier Wochen dort und dazwischen einen Tag hier, um Möbel wegzunehmen und zu verkaufen, und zuvor wieder sechs Wochen weg. In den letzten drei Monaten haben wir uns kaum drei Tage gesehen, im ganzen Jahr noch nicht zwei Wochen ...“

„Und wenn man dann mal mit Gottes Hilfe den Weg hierher findet, ist damit auch gleich der Deubel los! Alle zusammen fallt ihr über einen her! Und dann wundert ihr euch noch, wenn ein friedliebender Mensch wie ich bald wieder Reissaus nimmt! Nee, Kinder — das könnt ihr mir nicht übelnehmen! Dies ewige Geklöne hält auf die Dauer kein Pferd aus!“

„Aber ich bin kein Mensch, den man so in die Ecke wirft ...“

Die junge Frau war aufgesprungen und trat vor den Riesen hin, der ärgerlich am Fenster lehnte. Sie war selbst hoch und schlank gewachsen, aber sie reichte ihm doch kaum bis an das Kinn. „Es hat alles seine Grenze im Leben! An der bin ich nun angekommen ... dass du es weisst!“

Er wandte ihr brüsk den Rücken zu und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, ein paar Schritte von ihr fort, durch das Zimmer.

„Geh du zu unsern Kindern!“ sagte er gleichgültig.

„Ich komm’ von unsern Kindern. Ich war den ganzen Morgen dort! Wenn ich die nicht hätte ... Was verbindet uns denn noch ausser den zwei Kindern? Ich bin dir ja nichts mehr! Herrgott ... hab’ ich mich denn so verändert? Bin ich denn schon so verblüht? Es muss doch seinen Grund haben, dass du nichts mehr von mir wissen willst?“

„Du ...? verblüht?“ Diether von Brake drehte sich um und schaute lächelnd seiner schönen jungen Frau in das schmale, vor Leidenschaft blasse Antlitz. „Willst du so frühmorgens von mir schon Schmeicheleien hören? Willst du wirklich erst hören, wie schön du bist? ... Nein, mein Herz ... das tut doch nicht erst not!“ Er trat auf sie zu. Er merkte, als er sich ihr näherte, wie sie vor ihm zurückweichen wollte — aber sie blieb hilflos stehen und er lachte — seine Stimme füllte stählern hell das Zimmer.

„Tolle Idee ... mit sechsundzwanzig Jahren verblüht! ... Du bist so schön wie immer, Martine, und ich hab’ dich lieb wie immer! Nee — nee — Spass beiseite — wahrhaftig — ich hab’ dich furchtbar lieb. Das musst du nicht so tragisch auffassen, wenn ich mal ein bisschen länger in Berlin herummach’ ... Kind Gottes, da hilft eben nichts ... Geschäfte! ... Geschäfte! ... Ich muss jetzt auf die Bahn! ...“

Sie war unter seinen Worten zusammengezuckt. Ihr Gesicht versteinerte sich plötzlich. „Du kommst noch früh genug nach Berlin!“ sagte sie rauh. „Auch wenn du den Zwölfuhrzug nimmst! Auch mit dem um fünf! Vor Abend fängt das Spiel ja doch nicht an!“

Es war eine Pause. Dann pfiff er leise durch die Zähne.

„Natürlich ... da haben wir’s ja ...“ meinte er achselzuckend. „Das kommt doch so sicher wie das Amen in der Kirche! Wenn ihr hier nur den Mund aufmacht, dann hackt ihr schon auf dem verdammten bisschen Jeu herum ... du ... die Mama ... die Agnete ... alle ... das weiss ich schon im voraus ...“

„Das weiss jeder, wohin der letzte Groschen von Seddelin geht, seit du hier Herr bist!“

„Wenn ich hier Herr bin, dann lasst mich auch gefälligst ungeschoren, ja? ... Ihr tut alle gerade so, als ob ich zum Vergnügen spielte!“ Diether von Brake trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. „Ich danke schönstens! Abschuften muss ich mich! Im Schweisse meines Angesichts! ... Andere Leute liegen nachts im Bett! Ich sitz’ da und ... Ich sitz’ doch nun mal im Wurstkessel ... ich komm’ und komm’ nicht ’raus! Wenn ich mich mal ein bisschen in die Höhe gerappelt hab’, dann gibt’s gleich wieder ’nen Nackenschlag und ich kann von vorne anfangen! Neulich erst wieder ...“

Er wurde plötzlich heftig.

„Und ehe ich nicht meine Schulden los bin, kann ich nicht mit dem Spielen aufhören! Sonst nehmen die Kerls mir Seddelin in Zwangsverwaltung, und wir könnten zeitlebens Hungerpfoten saugen mit ein paar tausend Märkern im Jahr! ... Das ist doch so klar wie dicke Klossbrühe! Das musst du doch sogar einsehen! ... Bedank du dich nur für das alles bei deinem lieben Schwager! Du klagst, dass der Wend und ich einander so spinnefeind sind. Du meinst, Brüder müssten sich nett miteinander vertragen! Na ... hab’ ich den Kerl nicht sozusagen kniefällig gebeten, noch vor deiner Zeit, eine Hypothek auf Seddelin aufnehmen zu dürfen um mal gründlich mit meinen Spielschulden ins reine zu kommen? Und hat er nicht die Frechheit gehabt, mir zu antworten: ‚Das Majorat ist nicht dazu da, dass du’s verjeust!‘“

„Er hat recht gehabt!“ sagte Martine.

„Gesetzlich hat er das Recht gehabt! ... Leider! Das ist ja das Verwünschte an so ’nem Majorat, dass jeder dämliche Erbe da seinen Senf dazu geben darf! Erbe ist er nun mal! Ich kann nichts dafür, dass ich nur zwei Töchter hab’! Aber wenn einem die Hände so festgehalten werden und man sich nicht rühren kann ... ja, Kinders ... der Mensch muss doch leben! ... irgendwie muss doch Geld ins Haus ... Es sollt’ nur mal einer von euch in meiner Haut stecken! Blut und Wasser schwitzt man nach Mitternacht bei der Geschichte ...“

Ein leiser Anflug von Zornesröte überlief sein gelblich getöntes, schöngeschnittenes Gesicht. „Und was hat mir das Jüngelchen geantwortet, wie ich ihm mein Ehrenwort angeboten hab’, nie wieder zu spielen, wenn ich die Hypothek bekäme? ‚Du spielst ja doch!‘ hat er ganz friedlich gesagt. Na ... da ist’s eben zwischen uns aus gewesen auf Lebenszeit ... ich danke ... so was von ’nem kleenen Leutnant ins Gesicht ... ich bin doch schliesslich ein anständiger Mensch! ...“

Er brach ab, als ihn bei diesen Worten ein seltsamer Blick seiner Frau traf, und musterte gereizt seine langen, spitz zugeschnittenen und im Gegensatz zu seiner vernachlässigten Kleidung tadellos gehaltenen Fingernägel. Zugleich hörte er Martine: „Neulich hab’ ich meinen Brillantschmuck nach Berlin zum Verkauf geschickt. Du lässt mich ja seit Jahren fast ganz ohne Geld. Der Juwelier hat zurückgeschrieben, es seien Similisteine ... vor kurzem erst eingesetzt! ... Das warst du! Niemand anders konnte heimlich an den Schmuck! Ich erwähn’ es nur eben, weil du gerade von dir sprichst! Es ist nur ein Zug unter vielen ...“

„Komm, Pluto!“ sagte der Risse am Tisch verdrossen, lockte eine grosse Dogge unter dem Stuhl hervor und fütterte sie mit den Frühstücksresten auf seinem Teller.

Martine fuhr fort: „Ich verdiene es ja! Ich verdiene alles, was mir widerfährt! Schon wie ich dich heiratete, war keiner, der mich nicht gewarnt hätte. Ich hab’s doch getan! Das Schlimmste, vorher schon, das wusst’ ich freilich damals nicht ...“

„Ach, lass gefälligst die ollen Kamellen!“

„Und wenn — ich wär’ doch nicht zurück, ich hatte dich zu lieb! Ich war so guten Muts. Ich war so dumm und dachte, ich könnte dich retten — sogar dann noch — nach dem schrecklichen Spielabend im Kasino ...“

„Ich hab’s schon zehntausendmal gesagt, dass das damals ein Missverständnis war ... mit den Karten ...“

„Ein Missverständnis? ... Wo ist denn deine Kürassieruniform? ... Hast du sie nicht ausziehen müssen? ... Warum grüsst dich denn keiner auf der Strasse? Ich allein hab’ auch da standgehalten ... Wie du meine ganze Mitgift schon im ersten Jahr verspielt hast — hab’ ich da nicht die Zähne zusammengebissen und geschwiegen? Und wie Papa mir schrieb, ich sollte wieder zu ihm, bin ich da nicht hier geblieben? — Ich habe meine alten Eltern seit Gott weiss wann nicht mehr gesehen ... ich sehe hier alle Jubeljahre mal einen Menschen ... ich sitze hier wie auf einer wüsten Insel. ... Das alles hab’ ich dir zum Opfer gebracht ... Diether. ... Wenn auch ich einmal von dir gehe, dann bist du fertig!“

„Na, komm doch heut mal mit nach Berlin!“ unterbrach er sie versöhnlich.

„Und dort?“

„Gott — wir amüsieren uns ... gehen in den Wintergarten ... oder sonst wohin ... abends fährst du dann zurück ...“

Der schwache Hoffnungsschein auf dem Antlitz der jungen Frau war erloschen. Sie sagte trocken und hart: „Genug! Wir sprechen zwei verschiedene Sprachen! ... Ich will versuchen, die deine zu reden! Also: du hast mich jetzt endlich so weit! Ich will fort von dir!“

Ihr Mann zog verblüfft die Augenbrauen hoch, die dicht und blond waren, wie das nachlässig gescheitelte Haar.

„Fort? ... Wohin denn?“

„Zu meinen Eltern!“

„Und auf wie lange?“

„Für immer!“

Sein Gesicht erheiterte sich.

„Für immer! Das ist ja ’ne nette Idee!“ Er schlug halb belustigt die Hände zusammen. „Schade nur, dass du zufällig einen Mann hast! Was soll denn der Unglücksrabe dazu sagen?“

„Du kannst dich ja von mir scheiden lassen! Ich bin gleich bereit!“

„Ich denk’ nicht dran!“

Er sprach es kurz, lächelte spöttisch und tätschelte der neben seinem Stuhl kauernden Dogge den breiten Schädel. Für ihn schien die Sache damit abgetan. Er machte Miene, ein paar auf dem Tisch liegende Papiere und Zeitungen zusammenzukramen und dann aufzubrechen. Sie trat näher.

„Sei so gut und bleibe ernst! Mir ist es wahrhaftig blutiger Ernst mit dem, was ich sage!“

Er lehnte die mächtige, ein wenig zu korpulent gewordene Gestalt in den Sessel zurück. Seine Augen funkelten spöttisch.

„Du möchtest also wirklich hier einfach ausrücken? ... Heim zu Muttern?“

„Nenn es, wie du willst! Aber fort will ich! Muss ich!“

Sie legte den Kopf zurück und fügte zwischen den Zähnen hinzu: „Und du wirst mich nicht hindern!“

„Nee! ... Wie könnt’ ich denn das?“ sagte er gleichmütig und ganz freundlich. „Einen erwachsenen Menschen kann man doch nicht einsperren! Erstens bin ich dazu zu sehr Kulturmensch, und zweitens erlaubt’s die Polizei nicht! Nee — nee — da gilt die Politik der offenen Türe! ... Also bitte gehorsamst ...“ Er machte eine Handbewegung nach dem Ausgang. „Wenn du’s übers Herz bringst, mich und die Kinder zu verlassen ...“

„Die Kinder nehm’ ich natürlich mit mir!“

Er lachte.

„Das fehlte noch! ... Ach nee, meine Guteste, umgekehrt wird ein Schuh draus! Die Kinder bleiben hier! ... Das ist mein gutes Recht!“

„Ich hab’ das Recht als Mutter!“

„Eine pflichtvergessene Mutter hat gar kein Recht!“ Er hob sich drohend in den Schultern. Seine Stimme klang plötzlich scharf und schneidend wie früher auf dem Exerzierplatz. „Bilde dir nur das nicht ein! Für solche Scherze bin ich nicht zu haben! Ganz abgesehen davon, dass unser Evchen eben erst den Scharlach überstanden hat ...“

„Es war gar nicht Evchen, sondern Brigitte! So wenig weisst du von unsern Kindern!“

„Na, egal, welches Wurm es nun war — jedenfalls darf es vor vierzehn Tagen nicht an die Luft! Mama hat gestern noch erzählt, dass der Doktor das gesagt hat! Na — und später werde ich solche Eskapaden auch zu verhindern wissen — da verlass dich drauf!“

Mit wuchtigen Schritten ging er durch das Zimmer und murmelte noch einmal zornig: „Mir meine Kinder nehmen! Unglaublicher Einfall ...“

Sie verfolgte mit bangen, hasserfüllten Blicken seinen Weg bis zur Wand und zurück. Sie war fahl geworden. Endlich sagte sie mit erstickter Stimme: „Was hast denn du von den Kindern?“

Er blieb stehen.

„Ich liebe sie!“

Das klang erzürnt und stolz. Sie lachte hell auf.

„Das heisst: dir geben meine Eltern längst keinen Groschen mehr! ... Aber für ihre Enkelchen hast du von ihnen bis vor kurzem immer noch etwas herausgepresst ... und hoffst noch auf mehr ... ganz umsonst, hab’ ich dir schon hundertmal gesagt! ... Wenn mein Vater einmal jemandem den Stuhl vor die Türe gesetzt hat, so wie dir vor einem Jahr, so ...“

„Nun, wir werden ja sehen!“ sagte Diether von Brake geschäftsmässig. „Vorläufig hab’ ich jedenfalls das Unterpfand für weitere Verhandlungen mit dem alten Herrn in Gestalt meiner Kinder in der Hand und wär’ doch rein verrückt, wenn ich’s hergäbe! ... Nicht wahr — wir verstehen uns da, Martine? ... Und damit“ — er schob seine Schriftstücke in die Tasche — „ist die Geschichte wohl erledigt! Und du selber, Kindchen, reg dich nicht auf ... es führt ja zu nichts! ... Bleib im Land und nähr dich redlich! ... Was gibt es denn Schöneres als den Beruf der Mutter ...?“

Die letzten Worte hatte er wärmer und ernster gesprochen. Er neigte sich über sie, als ob er sie flüchtig zum Abschied küssen und dann beim Einsteigen in den Wagen schon den ganzen Auftritt vergessen haben wollte. Sie prallte zurück. Er blieb stehen und sagte erstaunt, aber immer noch aufgeräumt: „Dein Gesicht jetzt solltest du mal im Spiegel sehen! ... Herrjeses! Ich beiss’ doch nicht! Kinder ... seid doch gemütlich!“

Und in seiner guten Laune sich zur Türe wendend, fügte er hinzu: „Ich bin doch auch ein friedfertiger Mensch! Störe ich dich jemals irgendwo und in irgend etwas? — Nee! Na also! Dann möchte ich aber auch für meinen Teil ...“

Er machte stirnrunzelnd halt. Seine Frau war zwischen ihn und den Ausgang getreten. Da stand sie und sagte atemlos: „Gut! Wenn ich nicht aus diesem Hause gehen soll, dann bleib auch du! ... Bleib hier und mach mich nicht länger zum Gespött vor meinen Leuten und vor aller Welt. ... Das Versprechen verlange ich jetzt von dir ... oder es gibt ein Unglück ...“

Er sah auf die Uhr.

„Zwei Minuten hab’ ich noch Zeit! Dann ist’s höchste Eisenbahn! Wenn du bis dahin noch weitere Volksreden schwingen willst ... ich dulde still ... ich kann inzwischen grade noch so ’nen kalt gewordenen Happen nehmen. ... Nicht mal zu ’nem ruhigen Frühstück kommt man in diesem verfluchten Haus ...“

Der Teller, den er stehend, ein Knie auf den Stuhl gestemmt, an sich ziehen wollte, war ihm von Martine aus der Hand gerissen und zerschellte klirrend am Boden. Die Dogge schoss hervor und warf sich gierig über die Fleischstücke. Eine Sekunde hörte man nur das Schlappen ihrer Zunge auf den Scherben. Dann sagte Diether von Brake nur trocken: „Danke sehr! Nu wird mir’s hier zu lebhaft! ... ’Morgen!“

Damit ging er rasch, hoch aufgereckt zur Türe. Aber ehe er sie erreichte, hatte seine Frau den innen steckenden Schlüssel umgedreht. Sie zog ihn ab und liess ihn in eine Faltentasche ihres Morgengewandes gleiten.

„Heute kommst du mir nicht so durch!“ sagte sie. „Heute wird’s klar zwischen uns, Diether! ...“

Er stampfte mit dem Fuss, dass die Gläser auf dem Büfett klirrten. „Heraus mit dem Schlüssel!“ donnerte er. „Was sind denn das für dumme Witze?“

Sonst schrak sie bei solch einem Dröhnen seiner Stimme zusammen. Heute fürchtete sie sich nicht vor ihm. Sie wich nicht um Haaresbreite. Sie hielt mit fanatisch aufleuchtenden Augen seinem Blicke stand und frug leise: „Was tust du denn jetzt in Berlin?“

Er zuckte die Achseln. Seine Frau war ihm heute unbegreiflich. Er versuchte es mit Hohn. „Na, das weisst du ja, dass ich mich dem Kartendeubel verschrieben hab’!“ meinte er. „Das heult ihr mir doch stündlich vor!“

„Bis Berlin sind’s nur zwei Stunden. Wenn du hinkommst, ist’s kaum Mittag! Um die Zeit spielt kein Mensch!“

„Na ... ich such’ mir schon mein Partiechen!“

Und fast mitleidig fuhr er fort: „Überhaupt ... was weisst denn du von so Sachen?“

„Ich weiss noch nichts. ... Aber ich ahne genug ... ich fühle so etwas ... seit Wochen und Monaten ... Diether ... schau mich an. ... Gib mir dein Ehrenwort ...“

„Welches ...? Das grosse oder das kleine ...?“

Er zog sich eine Zigarre heraus und brannte sie umständlich an. Während er sie zwischen den Zähnen hielt, brummte er zu Martine, die schweigend zurückgetreten war: „Vorhin ödest du mich mit der alten Kasinogeschichte und dem Ehrenrat damals an ... jetzt soll ich auf einmal wieder mein Ehrenwort geben. ... Ja, liebste, beste Leute ... eines von beiden ist doch nur möglich! Ihr verlangt wirklich zu viel von ’nem schlichten Ackerbürger wie mir. ... Bring mal lieber den Schlüssel zum Vorschein. Ich kann hier doch nicht durch das Fenster klettern ... zum Gaudium für das Volk draussen ...“

Martine rührte sich nicht. Sie sprach atemlos, stossweise: „Du bleibst! ... Alles bisher hab’ ich dir verziehen ... das Spiel ... den Zusammenbruch unseres Vermögens ... die Schulden ... all den Jammer hier, bei dem eine andere schon längst über alle Berge wäre! Aber wenn du mich auch noch betrügst ...“

„Betrügst? ... Wieso?“

„Wenn du mir auch das noch antust in Berlin, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann ... dann hüte dich ...“

Sie brach ab. Er frug erstaunt: „Martine ... wie kommst du denn auf die Vermutung?“

„Ich fühl’ es ...“

„Da fühlst du aber gründlich daneben! Davon ist nun wirklich im hitzigsten Fieber keine Rede. ... Nee ... wirklich. ... Sieh mal: ein paar gute Seiten muss doch auch ein Unmensch haben ... und gerade damit nehm’ ich’s höllisch ernst! Das wird dir jeder bezeugen, der mich kennt ...“

Sie sah ihn düster und unschlüssig an. Sie wiederholte leise: „Dann hüte dich ...“

Es klang unheimlich in dem niederen, eichengetäfelten Zimmer.

Er fuhr auf: „Herrgott ... nun wird’s mir aber zu bunt. ... Wer soll’s denn sein, zum Kuckuck? ... Nenn doch einen Namen, wenn du Verdacht hast! ... Raus mit der grossen Unbekannten ...“

„Ich weiss keinen Namen ... ich weiss nichts ...“

„Na also ...“

„Aber da ... zwischen uns ... da ist etwas ... da seh’ ich etwas ... da gibt’s ein Ende mit Schrecken, Diether! Mehr sag’ ich dir nicht!“

Sie hatte es aufgeschrieen. Er war unwillkürlich einen halben Schritt von ihr zurückgetreten. Dann schüttelte er den Kopf und meinte nach einer Pause, gezwungen lachend: „Man könnte sich manchmal wirklich vor dir fürchten, Martine!“

Die junge Frau antwortete nichts. Da änderte er seinen Ton. Er näherte sich ihr wieder. Seine Stimme klang tief und warm, während er dicht vor ihr stand und seinen männlich schönen Kopf über sie neigte: „Du tust mir so sehr unrecht, Martine. ... Du denkst, weil ich den einen unglückseligen Koller hab’ mit den Karten, da müsste ich auch sonst ... nein ... du bist doch meine Frau ... Ich lieb’ dich doch! ... Ich hab’ dich zu sehr vernachlässigt ... ich seh’s ja ein ... ich will’s besser machen ... von morgen ab. ... Nur heute lass mich jetzt weg ... Donnerwetter ... schon dreiviertel neun! Ein Segen, dass der Bummelzug immer Verspätung hat.“

Seine Frau war weicher geworden. Sie bat mit erstickter Stimme, Tränen in den Augen.

„Bleib doch da ...“

„Ich kann nicht!“

„Bleib, oder ich glaub’ es dir nicht!“

„Es ist wahr! Ich schwör’ es dir bei ... bei unsern Kindern ...! Was willst du denn noch mehr ...? Was gibt es denn da draussen?“

Es hatte aussen an die Türe geklopft. Die Stimme des Hausmädchens meldete: „Gnädiger Herr, der Philipp lässt sagen, nun wäre es aber die allerhöchste Zeit ...“

„Ja doch zum Donnerwetter ... ich komme. ... Martine ... den Schlüssel her. ... Ich verstehe jetzt keinen Spass mehr ...“

Er wollte selbst mit der Hand in ihre Tasche fahren. Sie krallte ihre Rechte in seinen Ärmel, sie hielt ihn fest. So keuchte sie ihm ins Gesicht: „Warum hast du mich geheiratet?“

„Schrei nicht so! Das Haus läuft ja zusammen!“

„Mag’s hören, wer will! Warum hast du mich geheiratet?“

Er rang zornig mit ihr.

„Himmelherrgott ... lass mich los!“

„Hast du mich wirklich nur wegen meiner Mitgift genommen, weil du die Hypothek von deinem Bruder nicht zugestanden bekamst? Die Leute sagen’s ja alle! ... War ich wirklich so dumm?“

Ihr Widerstand erbitterte ihn. Das Blut stieg ihm zu Kopfe.

„Wenn ich ja sag’, ist’s dir auch wieder nicht recht!“ schrie er. „Ich sage überhaupt nichts mehr! Ich will mal sehen, wer mich hier in meinem eigenen Hause einsperrt!“

Er warf sich mit der ganzen Wucht seines Riesenkörpers gegen die Türe. Es war wie der Anprall eines Stiers. Das Holz krachte. Schloss und Angeln wankten, der eine Flügel schlug nach aussen auf und dem draussen horchenden, nicht rasch genug zurückspringenden Mädchen an den Kopf, dass es schrie. Ohne sich um sie zu kümmern, stürmte Diether von Brake an ihr vorbei und mit ein paar Sätzen durch die Halle und die Freitreppe hinab bis zum Wagen, an dem hinten ein in einen zerrissenen Kartoffelsack gewickeltes Paket festgebunden war, Brakesche Familienbilder, für deren altvergoldete und geschnitzte Holzrahmen der Trödler in Berlin noch ein paar Zehnmarkstücke gab. „Los wie der Deubel, Philipp!“ schrie er. „Fahr durch die Sandkuhle hinunter ... sonst kommen wir nimmer zurecht ...“

Der Kutscher zauderte. Der Inspektor des Gutes, breitschulterig, schwerfällig, mit unruhigen, wässerigen kleinen Fuchsaugen in dem vom Trunke geröteten Gesicht, war mit der Mütze in der Hand an seinen Herrn herangetreten und raunte ihm besorgt etwas zu. Der Riese im Wagen lachte laut. Er wandte sich unbefangen um und rief, als wäre nichts geschehen, zu seiner Frau in das ebenerdige Zimmer hinein: „Du, Martine, hörst du. ... Das ist nu der Dank von so ’nem Kerl, wenn man ihm väterlich ein paar hinter die Ohren gegeben hat! Der Gercke ... der Lump, den ich das letztemal hier weggejagt hab’, der sitzt drüben in den Kuscheln und will auf mich schiessen! ... Nee ... so was. ... Es ist eben keine Zucht mehr in der Bande ...“

Er schaute verächtlich nach vorne in den Kieferforst, der sich auf dem weisspulverigen Hügelboden bis nahe an das Herrenhaus heranzog, und wehrte dem Inspektor mit einer Handbewegung: „Kein Gegacker, Kunzelnick! ... Ich werd’ doch solch einem Mistvieh nicht aus dem Weg gehen! Vorwärts, Philipp. ... Rin in die Kuscheln! Hol’ der Deubel den Kerl, wenn ich ihn seh’ ...!“

Seine Stimme schmetterte über Hof und Strasse. Der Alte hieb schweigend auf die Pferde. Im Galopp flog der leichte Jagdwagen den Hang hinunter. Der Majoratsherr stand in ihm aufrecht, etwas vorgebeugt, die Hände auf den Kutschbock gestützt, kriegslustig nach vorn, nach dem Feinde spähend. Sein blonder Kopf mit dem runden Filzhut, seine mächtigen Schultern hoben sich scharf in der freien Luft vom Nebelgrau ab. Dann war er um die Ecke, und der Inspektor Kunzelnick brummte zu Pauline, der Mamsell, seiner Tochter, die eben mit einer abgetanen Gans um die Ecke kam: „Furcht hat er nicht, der Herr! ... Dat muss ihm der Neid lassen ...“

Breitbeinig stapfte er in seinen schweren Wasserstiefeln nach den Ställen zurück. Martine sah ihm nach. Sie wusste: der alte hinterlistige Biedermann war ihrem Gatten blindlings ergeben. Seine Tochter, die Mamsell, auch! Philipp, der Kutscher, auch! Alle Leute hier! Für gewöhnlich erhielten sie ja keinen Lohn. War aber einmal drüben in Berlin auf dem grünen Tuch zwischen Mitternacht und Morgengrauen ein grosser Schlag geglückt, dann kam es dem Herrn auf Seddelin auch hier draussen auf die Hundertmarkscheine nicht an. Dann schwamm die Leutestube in Geld. Das war die stete, grosse Hoffnung des Hauses. Sie, dessen Herrin, war wie eine Gefangene unter ihrem eigenen Gesinde! Diether hatte ganz recht. Es war für sie nicht leicht, zu fliehen! Wenn er nicht wollte, wurde kein Pferd aus dem Stall gezogen, um sie und die Kinder auf die Station zu bringen. Es wurden wenigstens tausend Vorwände gemacht und alles so lange verzögert, bis das Unternehmen missglückte.

Um draussen um die Grenzen von Seddelin herumzugehen, brauchte man Stunden um Stunden. Martine sah von ihrem Zimmer aus nur Brakesches Land und Brakeschen Forst, Brakesche Windmühlen und Brüche. Aber sie selber hatte oben im Kästchen ihres Schreibtisches nur noch einige Markstücke liegen. Mehr war nicht da. Man lebte von den Vorräten des Gutes. Brauchte man durchaus Geld, so musste sie Eltern oder Geschwister anborgen, stets in einem neuen Brief das Elend ihrer Ehe enthüllen ...

Ihr Auge fiel auf die zerbrochene Türe. Sie sagte gleichgültig zu der Mamsell, die gerade kam: „Man muss das reparieren! Der Herr hat es in der Eile kaput gemacht!“ Dann ging sie, äusserlich wieder ruhig geworden, hinüber in das Wohnzimmer, wo die andern Damen waren.

Die alte Frau von Brake, Diethers Mutter, sass da am Fenster im Lehnstuhl, schwarz gekleidet, wie immer seit dem Tod ihres Mannes. Sie wandte der Schwiegertochter ihr kummervolles Gesicht zu und frug: „Was war denn das vorhin für ein Lärm?“ Es klang müde, so als sei sie eigentlich teilnahmslos gegen alles, was hier und anderwärts geschah, und ebenso antwortete die junge Frau nur: „Er ist fort! Wieder nach Berlin!“

„Und er fährt mitten durch den Forst,“ sagte Agnete, Diethers Schwester. Sie war schon über die erste Hälfte der Dreissig und vor der Zeit verwelkt. Nur wenn sie einmal lachte, was selten vorkam, konnte man erkennen, dass sie früher mit ihren dunklen Haaren und braunen Augen ein hübsches Mädchen gewesen war.

Die dritte im Zimmer, Frau Hauptmann von Klützow, eine heitere, rosige und elegante Frau, die nur auf ein paar Tage bei ihrer Schwester Martine sich zu Besuch aufhielt, schüttelte den Kopf und meinte:

„Ja, ‚er‘ ...“

Es klang so, als wolle sie als Gast nichts weiter äussern. Sie sah dabei Martine an. Die nahm neben ihr Platz und sagte plötzlich: „Nein, ihr habt nicht recht an mir gehandelt! Ihr hättet mir alles sagen müssen ... damals, ehe ich ihn heiratete ...“

Sie wandte sich an die alte Dame am Fenster.

„Du hättest es mir sagen müssen, Mama! ... Hier in dem Hause — vielleicht gerade in dem Zimmer — hat sein Vater gesessen und hat einen Wechsel in der Hand gehabt, und die Unterschrift war nicht von ihm — die war von Diether gefälscht —, und er hat den Wechsel doch gezahlt und seinen Sohn in der Armee gelassen und ist an den Gewissensbissen krank geworden und gestorben und liegt drüben begraben, und Diether hat den Steinsarg, glaub’ ich, jetzt noch nicht bezahlt. Wenn man mir das erzählt hätte ...“

„Du hättest ihn doch genommen!“ sprach Frau von Klützow resigniert ... „so wie du damals warst ...“

Martine hörte nicht darauf. Sie drehte sich zu ihrer Schwägerin.

„Und wovon ist der Wechsel bezahlt worden? Von deiner Mitgift, Agnete! Und du hast keine mehr gehabt und den nicht kriegen können, den du hast haben wollen, und nun sitzt du da! Dein Leben hat er auch auf dem Gewissen! Warum hast du denn nicht damals gegen mich den Mund aufgemacht und nur ein Wort gesprochen?“

Das verkümmerte blasse Fräulein von Brake antwortete ihr nichts. Auch die anderen Frauen schwiegen und sahen vor sich hin. Mitten in die beklommene Stille klang von ferne her ein schwacher Knall, der Widerhall eines Schusses aus dem Walde, und sie schraken zusammen. Keine sprach ein Wort, alle dachten dasselbe. Endlich versetzte Agnete: „Das muss einer von den Berliner Herren gewesen sein!“

Die „Berliner Herren“ waren die Jagdpächter der Brakeschen Gemarkung. Sie kamen oft herüber. Jetzt im Herbst fast täglich. Der Schuss war gar nichts Ungewöhnliches. Aber ein leises Zittern in den Seelen blieb: „Wenn die Kugel nun ihm gegolten hat!“ ... Die alte Frau von Brake erhob sich unruhig und mühsam, auf ihre Tochter gestützt. Es war die Zeit, wo sie, von einem langen schwarzen Schleier umweht, einen Männerstock in der Hand, ein paar hundert Schritte im Park von Seddelin auf und ab zu gehen pflegte. Jetzt erst beantwortete sie die Frage ihrer Schwiegertochter von vorhin.

„Du sagst immer, ich hätt’ damals reden sollen, Martine, — und ich sag’ immer wieder: ich hab’ eben noch gehofft, du würdest ihn besser machen! Man hofft doch immer bei einem Sohn! Man versucht doch alles ...“

Schon halb an der Türe, fügte sie hinzu: „Und wenn es nicht recht war, glaub mir, Kind: ich bin selber genug gestraft! ... Ich hab’ hier in Seddelin dreissig so glückliche Jahre verbracht ... und nun ... komm, Agnete!“

Die Türe schloss sich hinter den beiden. Gleich darauf sprang Frau von Klützow auf beide Füsse, breitete die Fäuste aus und rief: „Donnerwetter ja ... da wollte ich, ich wär’ ein Mann, um mal in die Wirtschaft hier hereinzufahren! Na ... seien wir vernünftig! Setz dich mal, Martine, und hör zu! Ich muss nämlich morgen früh wieder fort!“

„Nein, Guste ... noch nicht!“

„Muss! ... Ich bitte dich, Schatz: eine Generalstabsfamilie mitten im Umzug. ... Mein Mann in Berlin ... die Kinder bei unsern Eltern, die Möbel unterwegs ... Pferde und Bursche Gott weiss wo — wir schlafen ja schon bald im Möbelwagen ... mit den ewigen Versetzungen! — Ich wär’ in dem Trubel wahrhaftig nicht zu dir herausgekommen, wenn ich nicht einen bestimmten Auftrag gehabt hätte. Ich sitze hier als Abgesandte von Papa. Der war dieser Tage wieder von Wismar in Berlin und hat mich zu sich bestellt und lange mit mir geredet, und lässt dir zum unwiderruflich letzten Mal sagen, du möchtest mit den Kindern zu ihm zurück ...! Wenn dein Kleinstes noch pimplich ist nach dem Scharlach, dann meinetwegen in ein paar Wochen — darauf kommt’s nicht an! Aber ich kann dir nur sagen: Papa hat die Geschichte jetzt dick bis dahin! Er hat auf das entschiedenste erklärt: Wenn du jetzt nicht kämst, dann wolltest du eben dein Schicksal, und dann kümmere er und Mama sich aber auch rein um gar nichts mehr ...“

„Er lässt mich doch gar nicht mit den Kindern fort!“ sagte Martine.

„Dein Mann! Den werden wir lange fragen! ... Was? Die Leute widerspenstig? Keine Pferde? Jesus, was bist du hier schon kleinmütig geworden! Schäme dich! Ein ausgewachsenes Frauenzimmer, wie du, wird doch schliesslich noch mit zwei Kindern am hellichten Tag den Weg bis zur Station finden, wenn dir jemand hilft. Wir sind ja alle bereit!“

Die elegante junge Hauptmannsfrau legte energisch ihre Hand auf die Schulter der andern.

„Ich wag’ es zu sagen, Tine, und sag’ damit auch nichts, was nicht schon jeder Schusterjunge weiss: Dein Mann ist ein Lump! Und bleibt’s! Also Schluss! Man hat doch auch gegen sich selber Pflichten! Und vor allem: du hast Pflichten gegen deine Kinder! Die müssen hier raus! Das ist ja alles hier Gift! Und je älter sie werden, desto mehr! ... Also gib mir ein Versprechen an Papa mit: ‚Ich komme.‘ Er will nur noch vier Wochen warten! Das hat er ausdrücklich gesagt!“

In die Wangen der jungen Frau vor ihr war eine leichte Röte gestiegen. Ihre Augen wurden unruhig. Sie stand auf.

„Ja, nicht wahr?“ sagte sie. „Ich darf doch fort! Ich hab’ das Recht dazu! Ich hab’ meine Pflicht an ihm bis zum Äussersten getan! Es war umsonst!“

„Ganz umsonst.“

„Ich wollt’ seiner Mutter näher kommen! Es geht nicht. Sie ist wie versteinert. Ich wollt’ seiner Schwester was sein. Man kann es nicht. Sie ist geknickt. Ich hab’ ihn mit seinem Bruder versöhnen wollen ... du weisst, ich hab’ mir seinerzeit noch dessen Freund hier herauskommen lassen ...“

„Den Leutnant von Malchow? ... Den hab’ ich erst dieser Tage gesehen! Er steht jetzt in Berlin ...“

„Nun, und es wurde auch nichts! Herr von Malchow war ja ganz vernünftig und nett — aber er sagte gleich: ‚Das ist ganz aussichtslos! Das wollen wir nicht erst versuchen! Der Hass zwischen den Brüdern ist viel zu gross!‘ So kommt’s, dass ich jetzt noch meinen eigenen Schwager nicht kenne! Ich kann hier nichts ausrichten und nichts bessern. Was mach’ ich denn hier! Was bin ich meinem Mann? ... Alles leidet hier an ihm! Alles geht zugrunde! ... Ihm ist’s gleich! Er ist immer guter Dinge! Er findet die Welt wunderschön, auf Kosten anderer!“

Frau von Klützow nickte.

„Na — Gott sei Dank gibst du dich endlich keinen Illusionen über ihn mehr hin! Aber wenn man mal weiss, dass an jemandem Hopfen und Malz verloren ist, dann muss man auch den Mut haben, ein Ende zu machen!“

„Das werd’ ich auch! Ich bin ganz entschlossen!“

„Also darf ich das Papa bestellen? Tine! Ja? ... Was hast du denn?“

Martine von Brake hatte das Fenster geöffnet, das nach dem Park hinausging. In dem stand draussen der Inspektor Kunzelnick, in einen dicken Flaus gewickelt, eine Flinte umgehängt, und rief empor: „Gnädige Frau ... ich will doch lieber mal nach dem Forst hinaus ... der Schuss vorhin ... der gefällt nur nich ...“

„Das waren doch die Berliner Herren?“

„Von denen ist heute keiner da!“

Der grosse, ungeschlachte Mann setzte seine Mütze wieder auf und stapfte eilig in den feinen Nebeldunst hinein, in dem sich drüben die tiefbläuliche Kiefernwaldung in das Unbestimmte verlor. Martines Antlitz war totenblass, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte.

„Es wird ihm doch nichts passiert sein, Gustel?“ frug sie mit erstickter Stimme.

„Aber Martine ...“

„Ich hab’ so Angst um ihn!“

Die junge Hauptmannsfrau trat auf die andere zu, fasste sie an beiden Händen und sah ihr scharf ins Auge.

„Siehst du — das ist das Unheil, Martine! Und deswegen kann dir niemand helfen! ... Du liebst deinen Mann immer noch!“

Martine schwieg.

„Da kann man dir lange reden und raten, Martine, von deiner unglücklichen Ehe! Begreif’s, wer mag! Aber man braucht dich jetzt nur anzusehen: du liebst ihn, weiss Gott, immer noch ...“

Martine von Brake wandte sich ab.

„Kann ich denn dafür?“ sagte sie verzweifelt, halblaut vor sich hin.

„Aber Martine — einen Menschen, der dich sozusagen mit Füssen tritt — der dir Schlimmeres antut, als dein ärgster Feind vermöchte ... Martine ... Herrgott nein ... Besinne dich doch ein wenig auf deinen Stolz ...“

„Darüber wundere ich mich ja schon die ganze Zeit!“ sagte Martine von Brake, „... nicht, wo mein Glück geblieben ist, sondern wo mein Stolz geblieben ist. Ich glaube, den hat die furchtbare Enttäuschung in mir gebrochen! Ich find’ ihn nicht wieder ... ich möcht’s ja so gern ... ich weiss ja alles ... und trotzdem ...“

„Aber ohne ein bisschen Stolz wirst du dir nicht klar, was du dir selber schuldig bist!“

Die junge Frau richtete sich auf. Ihr Gesicht war unheimlich in seiner Blässe.

„Wünsch’ es mir und uns allen nicht,“ sagte sie, „dass ich einmal über alles klar werde! Denn dann ... vorderhand ahne ich ja nur ... ich mutmasse ... es sind Gespenster ...“

„Was denn, Tine?“

„Du sagst, ich lieb’ ihn noch! Und wie dankt er mir meine Liebe! Er verrät auch dies letzte! Er zieht auch das in den Kot. Wenn ihn jetzt eben eine Kugel getroffen hat da drüben, dann ist das der Lohn dafür ...“

Sie stand mit geschlossenen Augen da. Es zuckte um ihre Lippen. Sie rührte sich nicht. Die Schwester sah sie ängstlich an und schwieg. Eine schwere Stille war im Zimmer. In die klang aus der Ferne ein leises, sich rasch näherndes Rasseln.

„Da kommt der Wagen zurück!“ sagte Frau von Klützow.

Martine von Brake keuchte auf und stürzte zum Fenster. Man konnte nichts mehr sehen. Das Gefährt war bereits um die Ecke. Sie stiess mit bebender Hand die Türe auf. „Komm schnell!“ rief sie, „sie sind schon im Hof!“

Ihre Schwester folgte ihr und mahnte: „Renne doch nicht so! Was sollen denn die Leute denken?“ Martine hörte nicht darauf. Atemlos eilte sie hinab bis zu der Freitreppe. Da hielt der Wagen. Der Kutscher sass auf dem Bock. Sie trat mit blossem Kopf heran. „Philipp, wo ist der Herr?“

„Er ist gerade noch mitgekommen, gnädige Frau! Der Zugführer hat ’n bissken gewartet, wie er uns gesehen hat!“

Und Kunzelnick, der mit zurückgefahren war, ergänzte: „Da muss einer auf Kaninchen gewildert haben, da draussen! Anders kann ich mir den Schuss nicht erklären!“

„Ach so!“ Es war plötzlich ein höhnischer Zug auf Martines schönem Gesicht. Sie kehrte zu ihrer Schwester in die Halle zurück, scheinbar ganz ruhig geworden, und lachte: „Sie haben nicht Diether umgebracht, sondern ein Karnickel. So geht’s, wenn man sich unnütz aufregt! Er hat ganz recht, dass er sich solche Kosten spart! Er fährt jetzt seelenvergnügt nach Berlin! Er ist schon bald dort! ...“

Jetzt, da sie die Lebensgefahr von ihrem Mann abgewendet wusste, zitterte plötzlich der Hass gegen ihn heiss empor: „Und was tut er dort? Sein ganzes Leben ist Schimpf und Schande. Dem setzt er dort die Krone auf! ... Gustel ... kannst du dir das vorstellen, dass er mich betrügt?“

„Nun natürlich!“

Gustave von Klützow sagte das fest entschlossen. Sie war gewillt, jetzt reinen Tisch zu machen. Sie sah die entsetzten Augen ihrer Schwester.

„Woher weisst du das?“

„Papa hat’s mir erzählt! Der hat in Berlin wieder allerhand über ihn gehört!“

„Was denn?“

„Das Nähere hat er mir nicht verraten! Ich hatte auch gar keine Lust nach Einzelheiten! Au! Tine! ... Tu mir doch nicht weh ...“

Ihre Schwester umspannte ihr mit einem krampfhaften Griff die Handgelenke. Ihr Gesicht war fanatisch.

„Du weisst sicher noch mehr, als du sagst!“ flüsterte sie zwischen den Zähnen. „Sprich, Gustel, sprich ...“

„Nein — wahrhaftig nicht ...“

„Schwör mir’s!“

„Ja, gerne! ... Ich schwör’s! Ich hätt’ überhaupt besser den Mund halten sollen! Wenn ich gewusst hätte, dass du dich so anstellen würdest ... nach den Erfahrungen, die du leider Gottes doch schon hast ...“

„Darin nicht!“ sagte Martine. „Ich wusst’ es bisher nicht! Man denkt doch immer: ‚Irgendwo muss doch eine Prüfung ihre Grenze haben! ... Weiter geht’s nicht!‘ ... Doch ... es geht weiter ... immer weiter ... schön ... nun bin ich ja so weit ... nun kann ich endlich handeln ...“

Sie stieg rasch, ohne Besinnen die Treppe zum Oberstock hinauf und in ihr Ankleidezimmer. Da fing sie an, sich zum Ausgehen fertigzumachen. Ihre Schwester stand verblüfft daneben.

„Ja — wohin willst du denn?“ frug sie endlich.

„Nach Berlin. In anderthalb Stunden geht wieder ein Zug!“

Und den erschrockenen Blick der andern auffangend, setzte Martine hinzu: „Ich kenne doch seine Adresse dort! Er hat seit Jahren dasselbe Absteigequartier, in einem Hotel garni, nahe bei den Linden ... ich hab’ selbst da früher mit ihm gewohnt. ... Da werd’ ich schon sehen, was los ist!“

„Tine ... du bist ja viel zu aufgeregt! ... Du stürzst dich da in eine grässliche Geschichte! ... Ich bitte dich um Gottes willen, bleib da ... Frag doch lieber Papa! Der wird dir schon ...“

„Der wird mir antworten wie du: Ja, Gewisses weiss man nicht! Nein, Gustel ... Sicherheit kriegt man nur selber! Jetzt ist die Stunde da. Er stösst mich ja da hinein! Gut — ich tu’ ihm den Gefallen! Heute gibt’s endlich die Entscheidung ...“

Sie kramte fieberhaft in ihren Sachen. „Wenn man so Eile hat, findet man nie etwas!“ murmelte sie, mit zitternden Fingern alles durcheinanderwerfend: „Hake mich mal zu, bitte! ... Ich mag nicht nach dem Mädchen klingeln, so ausser mir, wie ich jetzt bin! Und bitte, halte keine Predigten mehr ... es hilft doch nichts ...“

Als die junge Frau fertig dastand und sich die Schleierzipfel über dem Hutrand zuknotete, fasste Frau von Klützow sie in letzter Angst noch einmal beim Arm. „Tine — ich lass’ dich in der Verfassung nicht nach Berlin! Gott weiss, was da passiert!“

„Was auch passiert — er will es so!“

Dann sagte Martine in verändertem Ton gebieterisch: „Gib mir mal Geld! Ich habe keins! Einen von den blauen Scheinen in deinem Portemonnaie! Dein Mann gibt dir ja morgen zwei neue dafür! Er ist ja so gut zu dir! Dank du täglich deinem Schöpfer auf den Knieen, dass du vom Leben nicht Steine hast statt Brot! Du weisst gar nicht, wie gut du’s hast ...“

Sie unterdrückte ein wildes Aufschluchzen und eilte hinab. Unten im Hof dampften die noch nassen Pferde vor dem wieder vorgefahrenen Wagen. Die alte Frau von Brake und ihre Tochter standen erstaunt daneben. Sie wussten nicht, was das bedeutete. Martine sagte hastig: „Adieu, Mama! Adieu, Agnete! ... Ich muss nur eben auf einen Sprung nach Berlin.“

„Was tust du denn dort?“

„Das weiss ich selber noch nicht!“

Sie stieg ein. „Vorwärts, Philipp! Und schonen Sie die Gäule ein bisschen! Hetzen Sie nicht so wie beim gnädigen Herrn! Es tut nicht not! Ich komm’ doch noch zu rechter Zeit nach Berlin!“

Die Faust des Riesen. Band 1

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