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Kaas Jagdtanz

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Es prunkt in hell schillernden Farben

der scheckige Leopard,

Stolz ist der mächtige Büffel

auf Hörner gewaltiger Art,

. . . Doch willst du als Jäger bestehen,

halt glänzend den eigenen Pelz,

Denn Jugendstärke verkündet

des prächtigen Felles Schmelz.

. . . Und schleudert der kämpfende Büffel

den Feind zur Wolke hinauf,

Und spießt der schnaubende Sambar

den Gegner in rasendem Lauf:

Das brauchst du uns nicht mehr zu melden,

wir wissen's aus uralter Zeit.

Verschone das fremde Junge

und füge ihm zu kein Leid.

Nein, grüß es als Schwester und Bruder,

auch wenn es noch wehrlos und klein,

Es könnte die starke Bärin

des Kleinen Mutter sein.

„Ich bin im Dschungel der Stärkste!“

ruft prahlend ein junges Blut

Nach dem ersten errungenen Siege

in törichtem Übermut!

Doch groß ist der herrliche Dschungel,

und klein ist das prahlende Kind,

Bald wird es wachsen und wissen,

wer hier die Mächtigen sind.

Bis dahin laß es schwatzen,

wie es nun immer will, ...

Bald fühlt es Zähne und Tatzen,

dann wird's von selber still.

Balus Lehrsätze

Was hier erzählt wird, geschah in der Zeit, bevor Mogli aus dem Sioni-Wolfspack ausgestoßen wurde und ehe er an Schir Khan, dem Tiger, Rache nahm.

Es war in den Tagen, als Balu das Menschenjunge das Gesetz des Dschungels lehrte. Der große, würdige alte Bär freute sich, einen so gelehrigen Schüler zu haben; denn junge Wölfe wollen nur so viel von dem Dschungelgesetz lernen, als unbedingt nötig ist für das eigene Rudel, und laufen von dannen, sobald sie den Jagdspruch hersagen können: „Füße, die geräuschlos traben, Augen, die im Dunkeln sehen, Ohren, die den Wind hören, Zähne, die wie Messer schneiden – das sind die Zeichen unserer Brüder; ausgeschlossen nur sind die Hyäne und Tabaqui, der Schakal, die verhaßten.“

Aber Mogli, das Menschenjunge, hatte ein ganz Teil mehr zu lernen. Manchmal kam Baghira, der schwarze Panther, durch das Dickicht geglitten, um zu sehen, was sein Liebling für Fortschritte mache, dann schnurrte er und rieb seinen Kopf an Moglis Knie, während der Knabe seine Aufgabe hersagte. Mogli war bald im Schwimmen, Klettern und Laufen Meister, der es in den Bäumen beinahe den Affen gleichtat und im Teiche mit den Fischen um die Wette schwamm. Darum lehrte ihn der weise Balu die Wasser- und Waldgesetze; er zeigte ihm, wie er dürre Äste von gesundem Holz unterscheiden konnte, wie er mit den wilden Bienen höflich sprechen müsse, wenn er ihrem Schwarm unversehens fünfzig Fuß über der Erde begegne, wie er sich zu entschuldigen habe, wenn er Mang, die Fledermaus, beim Mittagsschlaf störe, und wie er die Wasserschlangen benachrichtigen müsse, bevor er in die Sümpfe und Teiche hineinplatsche. Die Dschungelvölker haben es nicht gerne, daß man sie aus ihrer Ruhe aufschreckt, und stürzen sich leicht blindlings auf den Störenfried. Auch lernte Mogli den Jagdruf des Fremdlings, den man, falls man in fremden Gründen jagen will, so lange wiederholen muß, bis Antwort erschallt. Der Ruf lautet: „Laßt mich hier jagen, denn leer ist mein Magen.“ Und die Antwort ist: „Jag, um den Hunger zu stillen – nicht um des Vergnügens willen!“

Ja, unendlich viel hatte Mogli zu lernen, und oftmals ermüdete es ihn, hundertmal den gleichen Spruch zu wiederholen. Das half ihm jedoch nichts, denn, wie Balu eines Tages zu Baghira sagte, als Mogli nach einer Züchtigung bockig davongerannt war: „Menschenjunges ist Menschenjunges, und alle Gesetze des Dschungels muß er lernen.“

„Aber bedenke doch, wie klein er ist!“ meinte der schwarze Panther, der – wäre es nur nach ihm gegangen – Mogli ganz und gar verzogen hätte. „Wie kann denn in seinem kleinen Kopfe für all dein langes Gerede Raum sein!“

„Klein? Ist im Dschungel irgend etwas zu klein, um getötet zu werden, wie? Darum lehre ich ihn alles das beizeiten, darum schlage ich ihn bisweilen – nur ein wenig und ganz sanft –, wenn er vergißt.“

„Sanft! Was verstehst du denn von Sanftheit, alter Eisenfuß!“ grollte Baghira. „Ganz braun und blau war sein Gesicht heute morgen – von deinem Sanftsein. Uff!“

„Besser, er hat jetzt ein paar blaue Flecke, als daß er später durch Unwissenheit zu Schaden kommt!“ antwortete Balu sehr ernst, „denn ich habe ihn lieb. Jetzt lehre ich ihn gerade die Meisterworte, Urworte der Völker des Dschungels, die ihm Schutz gewähren bei Vögeln und Schlangenvolk und bei allem, was vierfüßig auf dem Erdboden jagt. Wenn er die Worte behält, dann kann er bei allen Völkern des Dschungels Schutz und Hilfe heischen. Ist das nicht ein paar Schläge wert?“

„Na, paß nur auf, daß du das Menschenjunge nicht totschlägst. Er ist kein Baumstamm, an dem du deine stumpfen Krallen schärfen kannst. Übrigens, wie heißen denn deine prächtigen Meisterworte? Zwar bin ich gewöhnt, eher Hilfe zu gewähren, anstatt sie zu suchen“, Baghira reckte und streckte die Pranke und blickte voll Stolz auf die stahlblauen, eisenstarken Krallen – „doch möchte ich die Worte ganz gern kennen.“

„Ich werde Mogli rufen, er soll sie sprechen – das heißt, falls er will. Komm her, kleiner Bruder!“

„Mein Kopf brummt mir wie ein Bienenstock“, tönte eine mürrische Stimme über ihnen; gleich darauf raschelte es im Blattwerk, und Mogli glitt den Baumstamm herab. Er machte ein ärgerliches Gesicht und sagte trotzig: „Nur Baghira zuliebe komme ich und nicht deinetwegen, alter fetter Balu!“

„Das macht mir nichts“, sagte Balu, obgleich er sich gekränkt fühlte. „Sage also deinem Baghira die Meisterworte des Dschungels, die du heute gelernt hast!“

„Meisterworte welches Volkes?“ fragte Mogli, im Grunde froh, sein Wissen zeigen zu können. „Viele Sprachen hat der Dschungel. Ich weiß sie alle.“

„Ein paar weißt du, aber längst nicht alle. Da siehst du wieder, Baghira, wie wenig ein Lehrer Dank erntet. Noch nie ist einer der Wölflinge zurückgekommen, um mir ein Wort des Dankes zu sagen. Brrr! Und nun sage uns mal, du großer Gelehrter, wie heißt der Spruch, der allgemeine Jagdspruch?“

„Du und ich, und ich und du, wir sind vom gleichen Blute“, gab Mogli die Worte in der Bärensprache, die alle Jagdvölker benutzen.

„Gut“, sagte Balu. „Nun das Vogelwort!“

Mogli wiederholte den Spruch und schloß mit dem hohlen, langgezogenen Pfiff des Geiers.

„Jetzt das Wort der Schlangenvölker“, sagte Baghira.

Die Antwort war ein unbeschreibliches, scharfes Zischen. Dann schlug Mogli ein Rad vor Freude, klatschte sich selbst Beifall, sprang auf Baghiras Rücken und trommelte mit den Beinen gegen das glänzende Fell, während er seinem Lehrer die fürchterlichsten Grimassen schnitt.

„Das ist schon ein paar blaue Flecke wert“, sagte der Bär, zärtlich schmunzelnd. „Du wirst mir schon einmal dafür danken, mein kleiner Bruder!“ Und damit wandte er sich zu Baghira und erzählte ihm, wie er Hathi, den wilden Elefanten, gebeten habe, ihm die Meisterworte zu verraten – denn Hathi weiß alles; und wie dann Hathi Mogli selbst mit nach dem Sumpf genommen habe, um das Schlangenwort von den Wasserschlangen zu erfahren, denn das vermochte Balu nicht auszusprechen. Und nun wäre Mogli gegen alles Unglück im Dschungel gefeit, da weder Schlangen noch Vögel noch Raubtiere ihm etwas anhaben könnten.

„Keinen also hat er mehr zu fürchten“, schloß Balu seinen Bericht, sich stolz auf den pelzigen Bauch klatschend.

„Sein eigenes Volk ausgenommen“, brummte Baghira leise und dann laut zu Mogli: „Meine Rippen! Du schlägst sie mir ja kaputt, kleiner Bruder. Was soll denn das Herumgetanze immerwährend?“

Mogli hatte versucht, die Aufmerksamkeit der beiden Freunde auf sich zu lenken, deshalb zauste er kräftig Baghiras haariges Fell und trommelte ihm mit den Füßen gegen die Rippen. Als sie endlich hörten, rief er aus vollem Halse: „Und ich werde einmal mein eigenes Volk für mich haben, jawohl, und werde es von morgens bis abends durch die Baumstraßen führen!“

„Was ist denn das wieder für eine Dummheit, du Traumhans?“ fragte Baghira.

„Jawohl! Und dann werde ich Äste und sonst noch allerlei auf den alten Balu hinabwerfen. Das haben sie mir versprochen! Jawohl!“

„Wuf!“ Balus große Tatze fegte Mogli von Baghiras Rücken; und als der Knabe zwischen den Vordertatzen des Panthers lag, konnte er sehen, daß sein Lehrer ergrimmt war.

„Mogli!“ brummte Balu, „du hast mit den Bandar-log gesprochen, dem Affenvolke!“

Mogli schielte zu Baghira hinauf, um zu sehen, ob auch der Panther ärgerlich war, und Baghiras Augen blickten grünlich und hart wie Jadestein.

„Was? Bei den Affen bist du gewesen? Bei den grauen Narren – den Leuten ohne Gesetz – den Allesfressern? Oh, Schmach und Schande!“

„Als Balu mich das letztemal schlug“, sagte Mogli, immer noch auf dem Rücken liegend, „bin ich fortgerannt, und die grauen Affen kamen von den Bäumen und hatten Mitleid mit mir. Niemand sonst hatte es.“ Seine Stimme war ein wenig unsicher.

„Mitleid bei den Affen!“ schnarrte Balu. „Sprich lieber von der Stille des reißenden Bergbaches, der Kälte der glühenden Sommersonne. Und was geschah dann, Menschenjunges?“

„Und dann, und dann gaben sie mir Nüsse und allerlei schöne Dinge zu essen, und sie ... sie trugen mich in ihren Armen in die höchsten Wipfel und sagten, ich sei ihr Blutsverwandter – nur der Schwanz fehle mir, und eines Tages würde ich ihr Führer sein.“

„Sie sind stets führerlos“, rief Baghira. „Sie lügen. Immer haben sie gelogen.“

„Sehr gut waren sie zu mir und baten mich, wiederzukommen. Warum habt ihr mich nie zu dem Affenvolk gebracht? Aufrecht stehen sie auf den Füßen wie ich. Sie schlagen nicht mit harten Pranken. Sie spielen den ganzen Tag. Laßt mich auf! Böser, alter Balu, laß mich aufstehen! Ich will zu ihnen und mit ihnen spielen!“

„Höre, Menschenjunges“, sagte der Bär, und seine Stimme grollte wie Donner in schwüler Nacht. „Ich lehrte dich die Gesetze aller Völker des Dschungels, mit Ausnahme des Affenvolkes, das in den Bäumen haust. Ihr Volk hat kein Gesetz; rechtlos sind sie. Nicht einmal eine eigene Sprache haben sie, sondern stehlen sich Wörter von anderen, deren Gespräche sie belauschen. Nein – ihre Art ist nicht unsere Art. Führerlos sind sie und denken nur an den Augenblick. Sie prahlen und schwatzen und machen Geschrei, daß sie ein mächtiges Volk wären und bald Großes vollführen würden im Dschungel; wenn aber Nüsse fallen, dann ist alles vergessen, sie kichern und toben. Wir vom Dschungel haben nichts mit ihnen gemein. Wir trinken nicht, wo Affen trinken, wir meiden die Plätze, wo Affen hinkommen, wir jagen nicht, wo sie jagen, wir sterben nicht, wo sie sterben. Hast du mich jemals bis heute von den Bandar-log sprechen hören?“

„Nein!“ flüsterte Mogli – denn Schweigen herrschte im Walde, als Balu verstummte.

„Die Dschungelleute sprechen nicht von ihnen und halten es nicht für der Mühe wert, an sie zu denken. Zahlreich sind sie, diese Affen, böse, schamlos, schmutzig, und ihr einziger Wunsch ist – falls sie überhaupt einen bestimmten Wunsch haben –, von den Dschungelvölkern bemerkt zu werden. Aber wir beachten sie nicht, nicht einmal, wenn sie Nüsse und Unrat auf unsere Köpfe herabwerfen.“

Kaum hatte er geendet, als ein wahrer Regen von Nüssen und Zweigen aus den Bäumen herabprasselte. Man hörte heiseres, ärgerliches Bellen und Husten und Umherspringen hoch oben in den Wipfeln.

„Die Affenvölker sind ausgestoßen aus dem Verkehr der Bewohner des Dschungels!“ sagte Balu. „Ausgestoßen! Hörst du? Und denke daran! Denke daran!“

„Ausgestoßen!“ echote Baghira. „Aber dennoch scheint es mir, Balu hätte dich beizeiten vor ihnen warnen sollen!“

„Ich? Warum? Wie konnte ich ahnen, daß er sich mit solchem Schmutz abgeben würde? Affenvölker! Pfui!“

Ein neuer Schauer kam auf sie herabgehagelt, und die beiden nahmen Mogli in die Mitte und trabten mit ihm davon.

Was Balu von den Affen erzählte, war durchaus richtig. Sie hausten in den Baumwipfeln, und da Tiere selten ihren Blick nach oben erheben, lag keine Notwendigkeit für die Dschungelvölker vor, mit den Affen in Berührung zu kommen. Aber sobald die Affen einmal einen kranken Wolf oder einen verwundeten Tiger aufspüren, kommen sie sogleich in Scharen herbeigesprungen und quälen den Wehrlosen. Und auf alles Getier im Dschungel werfen sie Nüsse und Zweige herab, nur um sich zu belustigen oder um sich bemerkbar zu machen. Dann heulen und kreischen sie sinnlose Gesänge und fordern die Dschungelvölker spöttisch auf, zu ihnen auf die Bäume zu kommen und mit ihnen zu kämpfen. Oder sie beginnen um nichts und wieder nichts wütende Schlachten untereinander, und ihre Toten lassen sie offen liegen, damit die Völker des Dschungels sie sehen können. Immer haben sie die Absicht, sich einen Führer zu wählen und sich eigene Gesetze und Sitten zu schaffen – aber niemals kommt es soweit, denn ihr Gedächtnis reicht nicht über den Tag hinaus. So täuschen sie sich darüber hinweg und versichern sich gegenseitig: „Was die Bandar-log heute denken, wird der ganze Dschungel morgen nachbeten!“, und das tröstet sie sehr. Kein anderes Tier vermag sie in ihren Behausungen zu erreichen, aber dafür schenkt auch niemand ihnen die geringste Beachtung, und deshalb waren sie so erfreut, als Mogli sie aufsuchte, um mit ihnen zu spielen.

Mehr wollten sie nicht, wie sie überhaupt nie etwas Bestimmtes wollten. Aber diesmal kam einer von ihnen auf eine, wie er meinte, glänzende Idee und verkündete sie gleich allen, daß nämlich Mogli sehr nützlich für den Stamm werden könnte, denn er verstünde Zweige zusammenzuflechten als Schutz gegen den Wind, und wenn man ihn einfinge und behielte, dann könnte er sie darin unterrichten.

Mogli besaß als Sohn eines Holzfällers vererbte Instinkte aller Art, und er hatte sich oft damit vergnügt, aus Zweigen und Buschwerk kleine Hütten aufzubauen, ohne zu wissen, warum er das tat und woher er diese Fertigkeit besaß. Die Affen hatten seinem kindlichen Spiele von den Bäumen aus zugesehen und hielten es für etwas ganz Wunderbares. Diesmal – so sagten sie – wollten sie sich wirklich einen Führer wählen, und dann würden sie das klügste Volk des Dschungels werden, von allen beachtet und beneidet. Daher folgten sie vorsichtig und geräuschlos Balu, Baghira und dem Jungen durch den Dschungel, bis die Zeit der Mittagsruhe herankam. Mogli hatte sich sehr geschämt und beschlossen, sich nie mehr mit dem Affenvolk abzugeben, und nun legte er sich zwischen Bär und Panther schlafen.

Tief war sein Schlaf. Da fühlte er sich plötzlich an Armen und Beinen von kleinen, harten Händen ergriffen; er glaubte zu träumen – aber schon fuhren ihm die Zweige ins Gesicht, und die Blätter schlugen ihm rauschend um die Ohren. Erschrocken starrte er hinab durch die schwingenden Äste auf die Erde und sah, wie Baghira mit gefletschten Zähnen an dem Baumstamm hochkletterte, während Balu den schlaftrunkenen Dschungel mit lautem Gebrüll weckte. Die Bandar-log heulten triumphierend und eilten hinauf in die höchsten Kronen, wohin Baghira nicht zu folgten wagte. Von dort krähten sie hernieder: „Er hat uns bemerkt! Baghira hat uns beachtet! Alles Dschungelvolk bewundert uns nun ob unserer Schläue und Geschicklichkeit!“ Dann machten sie sich auf die Flucht, und so eine Flucht der Affenvölker durch das Baumland ist einfach nicht zu beschreiben. Sie haben ihre regelrechten Straßen und Kreuzwege, gipfelauf und gipfelab, immer fünfzig bis hundert Fuß über der Erde, und auch bei Nacht können sie über die Hochwege wandern. Zwei der stärksten Affen griffen Mogli unter die Arme, und fort ging es in mächtigen Sprüngen über zwanzig Fuß breite Abgründe. Wären sie unbehindert gewesen, so hätten sie zweimal so schnell davoneilen können, doch das Gewicht des Jungen hielt sie zurück. Mogli schwindelte der Kopf, und dennoch genoß er unwillkürlich den rasenden Flug durch die Baumwipfel – er hatte bisher das Gefühl der Furcht nicht gekannt, als er aber jetzt die Erde tief unter sich liegen sah und als die Äste nach jedem Satze mit furchtbarer Gewalt schwankten und ausschlugen, da wurde ihm seltsam zumute, und das Herz pochte ihm, als wolle es aus der Brust herausspringen. Hinauf zur Baumkrone ging es, bis die dünnen Zweige sich krächzend bogen, dann warfen sich seine Begleiter in den leeren Raum unter ihnen und hingen im nächsten Augenblick an den stärkeren Zweigen des nächsten Baumes. Manchmal konnte Mogli meilen- und meilenweit den ruhig daliegenden grünen Dschungel übersehen, als ob er mitten im Ozean auf dem höchsten Maste eines Schiffes säße, dann aber schlugen ihm wieder die Zweige ins Gesicht, und wieder war er mit seinen beiden Begleitern fast auf dem Boden angelangt. Springend, rutschend, bellend und heulend – so stürzte der ganze Stamm der Bandar-log vorwärts durch die Baumstraßen mit Mogli, ihrem Gefangenen.

Zuerst hatte er Angst, daß er fallen würde – dann wurde er zornig, war aber zu klug, um sich während dieser schwindelnden Flucht zu wehren. Schließlich begann er über seine Lage nachzudenken. Vor allen Dingen mußte er Balu und Baghira Nachricht senden, denn bei der ungeheuren Schnelligkeit der Flucht waren diese weit zurückgeblieben. Mogli sah zuerst zur Erde nieder, als ob er von dort Hilfe erwartete – aber Bäume, Sträucher, ganze Landschaften glitten wie im Fluge an seinen Augen vorüber, so daß er nichts Bestimmtes zu unterscheiden vermochte. Wie er dann aber aufblickte, sah er hoch oben im Äther Tschil, den Geier, der in der Luft schwebte und sich wiegte und Wache hielt über den Dschungel, lauernd auf den Tod der Geschöpfe da unten. Tschil bemerkte, daß die Affen etwas davontrugen. Ob es da etwas für ihn gab? Vor Überraschung stieß er einen langen Pfiff aus, als er sah, wie Mogli in die höchste Spitze einer Palme gezerrt wurde. Da tönte Moglis Hilferuf zu ihm auf: „Du und ich und ich und du, wir sind vom gleichen Blute!“ Im nächsten Augenblick schlossen sich die dichten Zweige wie Meereswogen über den Flüchtlingen. Tschil schoß mit ein paar Schlägen der mächtigen Flügel vorwärts und stand über dem nächsten Baumwipfel, gerade als das kleine braune Gesicht wieder auftauchte.

„Halte meine Fährte!“ rief Mogli ihm zu. „Berichte Balu vom Sionirudel und Baghira, dem Panther!“

„Und von wem kommt die Botschaft, Bruder?“

Tschil hatte Mogli noch nie gesehen, obgleich er natürlich viel von ihm gehört hatte.

„Ich bin Mogli, der Frosch. Menschenjunges nennt man mich. Folge meiner Fährte!“

Er gellte diese letzten Worte mitten in einem ungeheuren Sprunge durch den leeren Raum. Tschil nickte und flog auf und stieg, bis er nicht größer aussah als ein schwarzer Punkt. Dort hing er im Äther und beobachtete mit seinen scharfen Augen das Wogen der Bäume, in denen Moglis Begleiter dahinjagten.

„Weit geht ihre Reise nie“, lachte Tschil spöttisch. „Sie vollenden nie, was sie begannen! Immer greifen sie nach etwas Neuem, diese Bandar-log. Aber diesmal, scheint mir, werden sie sich die Pfoten verbrennen; denn mit Balu ist nicht zu spaßen, und Baghira kann mehr als Ziegen würgen, das weiß ich.“

So segelte er auf mächtigen Schwingen, die Fänge dicht an den Körper gezogen, und wartete ab.

Mittlerweile stand es schlimm mit Balu und Baghira. Sie rasten vor Wut und Kummer. Baghira kletterte wie niemals vorher; doch die dünnen Zweige brachen unter seiner Last, und er glitt zur Erde, die Krallen voller Borke.

„Warum hast du ihn nicht gewarnt, das Menschenjunge?!“ brüllte er den armen Balu an, der immer noch hoffte, mit seinem plumpen Trabe die Affen einzuholen. „Warum ihn prügeln und halbtot schlagen, anstatt ihn beizeiten zu warnen!“

„Schnell! Schnell nur! Vielleicht ... vielleicht erwischen wir sie noch“, keuchte Balu.

„Mit deinem Zotteltrab könntest du nicht einmal eine angeschweißte Kuh erwischen, Jungenprügler, wenn du noch eine Weile so fortwackelst, dann platzt dir am Ende der Bauch. Setze dich lieber hin und denke nach. Mache einen Plan! Hinterherlaufen hat keinen Sinn. Kann sein, sie lassen ihn fallen, wenn wir ihnen zu nahe kommen.“

„Urrula! Whua! Vielleicht sind sie jetzt schon seiner müde geworden und haben ihn zur Erde geworfen! Wer kann den Bandar-log trauen? Bedecke meinen Kopf mit toten Fledermäusen! Gib mir alte Knochen zu fressen! Rolle mich in die Waben der wilden Bienen, daß sie mich zu Tode stechen, und begrabe mich mit der Hyäne, denn ich bin der elendeste aller Bären! Urrula! Whua! O Mogli! Mogli! Warum habe ich dich nicht vor dem Affenvolke gewarnt, anstatt dir den Kopf zu zerschlagen? Ach, vielleicht habe ich ihm alles herausgeprügelt, was er gelernt hat, und nun weiß er nicht mehr die Meisterworte und kann sich nicht helfen im Dschungel!“

Verzweifelt schlug sich Balu die Pranken gegen die Ohren, rollte hin und her und stöhnte jämmerlich.

„Ach was! Er hat mir noch vor kurzem alle Meistersprüche richtig hergesagt!“ knurrte Baghira ungeduldig. „Balu, erinnere dich daran, was du dir selbst schuldig bist. Hast du denn alle Selbstachtung verloren? Was würde der Dschungel dazu sagen, wollte ich, der schwarze Panther, mich wie Ikki, das Stachelschwein, zusammenrollen und heulen?“

„Was schert mich der Dschungel! Ach Mogli, mein Frosch ... vielleicht ist er jetzt schon tot.“

„Mir ist nicht weiter bange um das Menschenjunge, sofern sie ihn nicht etwa rein zum Spaß fallen lassen oder ihn aus Langeweile töten, weil sie nichts Gescheiteres zu tun wissen. Mogli ist klug und gewandt, und vor allem hat er Augen, vor denen die Dschungelvölker zittern. Eins nur ist schlimm: Die Bandar-log haben ihn in ihrer Gewalt, und sie fürchten unsere Völker nicht, weil sie in den Bäumen leben.“ Baghira leckte gedankenvoll eine Vorderpfote.

„Ach, ein Narr bin ich! Ein fetter, brauner, wurzelfressender Narr!“ rief Balu und setzte sich aufrecht. „Wahr ist, was Hathi sagte, der wilde Elefant: ›Niemand ist ohne Feind‹; und sie, die Bandar-log, fürchten Kaa, die Riesenschlange! Kaa klettert so gut wie sie; er raubte des Nachts ihre Jungen. Beim bloßen Klange seines Namens erschauern sie. Komm – wir müssen zu Kaa!“

„Was wird er viel für uns tun. Er gehört nicht zu unserer Sippe, da er fußlos ist – und den bösen Blick hat er“, meinte Baghira.

„Sehr alt ist er und sehr verschlagen. Und vor allem hat er ewig Hunger“, antwortete Balu hoffnungsvoll. „Versprich ihm recht viele Ziegen.“

„Einen ganzen Monat lang liegt er und schläft, hat er sich einmal vollgefressen. Vielleicht hält er gerade jetzt seinen Schlaf. Aber selbst angenommen, daß er wach ist ... meinst du nicht, er würde es am Ende vorziehen, sich seine Ziegen selbst zu würgen?“ Baghira, der nur wenig von Kaa wußte, war mißtrauisch.

„In diesem Falle könnten zwei alte Jäger, wie wir, ihn vielleicht auf eine gute Fährte bringen.“ Hier rieb Balu seine verblichene braune Schulter gegen den Panther, und beide machten sich auf den Weg zu Kaa, dem Felsenpython.

Sie fanden ihn auf einem warmen Hang in der Nachmittagssonne ausgestreckt liegen, sein neues schmuckes Kleid bewundernd. Denn die letzten zehn Tage hatte er in Zurückgezogenheit gelebt und seine Haut gewechselt. Nun erstrahlte er in neuem Glanz, schob seinen stumpfnasigen langen Leib in phantastischen Kreisen, Knoten und Verschlingungen und leckte die Lippen mit der gespaltenen Zunge in Erwartung der kommenden Mahlzeit.

„Er hat noch nicht gefressen“, grunzte Balu erleichtert, sobald er das prächtige braun und gelb gesprenkelte Kleid sah. „Sei vorsichtig, Baghira, er ist immer ein wenig blind nach dem Häuten und stets bereit, auf bloßen Verdacht hin zuzustoßen!“

Kaa war keine Giftschlange – vielmehr verachtete er die Giftschlangen als feige Brut. Seine Stärke lag in dem ungeheuren Körper, mit dem er sein Opfer umklammerte. Wer einmal in diese Umzingelung geriet, nun, über den war nicht mehr viel zu berichten.

„Gute Jagd!“ rief Balu und ließ sich in gemessener Entfernung auf die Hinterbeine nieder.

Kaa war, wie alle Schlangen seines Stammes, etwas taub und hörte zuerst den Jagdgruß nicht. Dann aber rollte er sich blitzschnell zusammen, den Kopf gesenkt, zum Kampf bereit.

„Sssss! Wer ist's?“ zischte er. „Ah, Balu! Was bringt dich hierher? Jagdheil, Baghira! Gute Jagd uns allen! Eins weiß ich! Sssss! Zum mindesten einer von uns dreien ist hungrig. Ist Wild in der Nähe? Eine Ricke vielleicht oder auch ein junger Bock? Sagt schnell. Leer und hohl bin ich wie ein ausgetrockneter Brunnen.“

„Wir sind auf der Pirsch!“ meinte Balu leichthin. Er wußte, es lohnte sich nicht, Kaa zu drängen. Kaa war zu stark.

„Soso! Erlaubt, daß ich mit euch komme!“ sagte Kaa. „Ein Schlag mehr oder weniger macht dir nichts aus, Baghira oder Balu, aber ich – ich muß tage- und monatelang auf der Lauer liegen und muß eine halbe Nacht lang herumklettern, um bei gutem Glück einen jungen Affen zu erhaschen. Psshan! Die Äste sind heutzutage nicht mehr, was sie in meiner Jugend waren. Dürres Zeug, trockene Stengel überall!“

„Vielleicht liegt das auch ein wenig an deinem großen Gewicht“, meinte Balu.

„Es läßt sich nicht leugnen – ich habe eine stattliche Länge“, antwortete Kaa ein wenig stolz. „Dennoch, glaube ich, liegt es im Grunde an dem neugewachsenen Holz. Als ich das letztemal jagte, war ich nahe daran, zu fallen – sehr nahe daran; mein Schwanz war nicht fest verankert am Stamm, und als ich rutschte und glitt, scheuchte der Lärm die Bandar-log hoch. Und mit den gemeinsten Worten hat es mich geschmäht, das Affengesindel.“

„Fußloser gelber Regenwurm“, schnurrte Baghira in die Borsten seines Bartes, als ob er versuche, sich zu erinnern.

„Sssss! Haben sie mich so genannt?“ zischte Kaa.

„Fußloser gelber Regenwurm oder so ähnlich, so riefen sie beim letzten Vollmond zu uns herab, aber wir schenkten ihnen keine Beachtung. Allerlei schwatzten sie, die Bandar-log – sie sagten sogar, daß du zahnlos seist, großer Kaa, und dich daher höchstens an ein schwaches Zicklein heranwagst, weil du – wirklich, diese Badar-log sind unglaublich frech und schamlos – weil du Angst hättest vor den Hörnern des Bocks.“ Baghiras Stimme klang wie süßer Honig.

Eine Schlange, besonders ein würdiger, alter Python, läßt sich selten den Ärger anmerken, doch diesmal konnten Balu und Baghira sehen, wie die großen Schlingmuskeln an beiden Seiten von Kaas Rachen auf und ab wogten.

„Die Bandar-log haben sich auf die Wanderschaft gemacht“, sagte er mit erzwungen ruhiger Stimme, aber hie und da zitterte sie doch ein wenig. „Als ich mich heute in die Sonne legte, hörte ich sie in den Baumwipfeln lärmen!“

„Den – den Bandar-log spüren wir jetzt gerade nach“, sagte Balu, aber die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken, denn es war seines Wissens zum erstenmal, daß einer vom Dschungelvolk offen zugab, den Affen irgendwelche Beachtung zu schenken.

„Das muß allerdings etwas ganz Außergewöhnliches sein, das zwei so große Jäger – Führer im Dschungel, ohne Frage – auf die Fährte der Bandar-log treibt!“ antwortete Kaa höflich, aber gebläht vor Neugier.

„Was mich betrifft, so muß ich leider gestehen, ich bin nichts als der alte und manchmal recht törichte Lehrer der jungen Sioniwölfe ... und Baghira hier – – –“

„Ist und bleibt Baghira!“ unterbrach der schwarze Panther, und seine furchtbaren Kiefern schnappten stählern ein, denn er spielte nicht gern den Demütigen. „Höre, Kaa, jene Nußknacker und Taugenichtse haben unser Menschenjunges gestohlen, von dem du wohl schon gehört hast.“

„Hm – ja! Ich habe etwas läuten hören von einem Menschenjungen, das sie in einem Wolfsrudel aufnahmen. Ikki erzählte mir davon, das Stachelschwein, ich wollte es aber nicht glauben. Ikki tut sich immer dick mit Neuigkeiten, die er nur halb verstanden hat und dann unrichtig ausposaunt.“

„Aber es ist wahr. Ein so prächtiges Menschenjunges hat es noch nie gegeben“, sagte Balu. „Es ist das beste und klügste und mutigste von allen Menschenjungen, mein eigener Zögling, der Balus Namen berühmt machen wird in den Dschungeln weit und breit; und im übrigen liebe ich – lieben wir ihn, Kaa.“

„Tss! Tss!“ machte Kaa, den Kopf hin und her wiegend. „Auch ich habe einmal gewußt, was Liebe ist. Ssss! Ich könnte euch Geschichten erzählen ....“

„Ein andermal. Mit leerem Magen vermögen wir nicht, sie genügend zu würdigen!“ sagte Baghira schnell. „Unser Menschenjunges ist jetzt in den Händen der Bandar-log. Wir aber wissen, daß sie von allen Wesen im Dschungel Kaa allein fürchten.“

„Ja, nur mich fürchten sie und haben guten Grund“, sagte Kaa. „Schwätzer, Narren, Gecken – Gecken, Narren, Schwätzer – das sind diese Affen. Aber so ein Menschending in ihren dummen Händen – das ist allerdings eine böse Sache. Sie werden überdrüssig der Nüsse, die sie pflücken, und werfen sie weg. Zweige schleppen sie halbe Tage hindurch mit sich herum, in der Absicht, wer weiß was für große Dinge damit zu verrichten – zerknicken sie dann und lassen sie liegen. Wahrhaftig, dieses Menschending ist nicht zu beneiden. Und sie haben mich – was war es doch gleich? – gelber Fisch genannt, nicht wahr?“

„Wurm – Regenwurm – gelben Regenwurm“, verbesserte Baghira, „und noch vieles andere sagten sie, das man sich schämen muß zu wiederholen.“

„Nun gut, wir müssen ihnen einen Denkzettel geben, so daß sie in Zukunft von ihrem Herrn und Meister mit Achtung reden! Aaa-ssp! Wir müssen ihrem Gedächtnis etwas nachhelfen! Wohin, sagst du, haben sie das Junge geschleppt?“

„Der Dschungel allein weiß es. Gegen Sonnenuntergang, glaube ich“, erwiderte Balu. „Wir dachten, du könntest uns Auskunft geben, Kaa!“

„Ich? Wieso? Ich verspeise sie, wenn sie mir in den Weg kommen, aber ich schleiche ihnen nicht nach, diesen Bandar-log, diesen Kaulquappen, dieser übelriechenden Sumpfpest. Hssss!“

„Hoch, hoch! Hoch, hoch! Hillo, illo, illo! Sieh doch, Balu vom Sionirudel!“

Balu wandte den Blick aufwärts, um auszumachen, woher die Stimme kam – und dort oben schoß Tschil, der Geier, aus dem Äther herab, und seine Schwingen flammten im Abendlicht. Es war schon fast die Stunde für Tschil, zur Ruhe zu gehen; aber weit war er gesegelt über den Dschungel und hatte den Bären lange vergeblich im Dickicht gesucht.

„Was gibt's?“ fragte Balu.

„Ich habe Mogli bei den Bandar-log gesehen. Er bat mich, euch Botschaft zu bringen. Ich folgte ihnen. Sie haben ihn zur Affenstadt geschleppt, den ›Cold Lairs‹, auf der anderen Seite des Flusses. Vielleicht bleiben sie dort eine Nacht oder zehn Nächte oder auch nur eine Stunde. Ich habe den Fledermäusen aufgetragen, während der Dunkelheit Wache zu halten. Das ist alles. Jagdheil euch allen dort unten!“

„Vollen Magen und guten Schlaf wünsche ich dir, Tschil!“ rief Baghira. „Ich werde deiner gedenken bei nächster Jagd und den Kopf ganz allein für dich zurücklegen, du bester aller Geier!“

„Keine Ursache – durchaus keine Ursache – das Menschending wußte das Meisterwort – ich tat nur meine Pflicht“, und Tschil kreiste empor, hin zum felsigen Horst.

„Das lobe ich mir!“ lachte Balu stolz. „Er hat den Kopf nicht verloren, der Prachtkerl! So jung er ist, hat er das Vogelwort nicht vergessen – und dabei noch auf der wilden Jagd durch die Baumwipfel.“

„Nachdrücklich genug ist es ihm eingetrichtert worden“, knurrte Baghira. „Aber stolz bin ich auf ihn, und nun fort, so schnell wie möglich, zur Affenstadt!“

Sie alle wußten von diesem Ort, doch nur wenige Dschungelleute waren jemals dort gewesen; denn „Cold Lairs“, wie sie es nannten, war eine alte verlassene Stadt, verfallen und halb begraben unter dem Dschungel, und zumeist meiden die Tiere der Wildnis den Ort, wo Menschen hausten. Nur das Wildschwein liebt es, in den Ruinen herumzuwühlen. Außerdem lebten die Affen dort, soweit man bei ihnen überhaupt von einem Wohnort sprechen konnte, und kein Tier, das Selbstachtung besaß, kam diesem verachteten Platz nahe – nur in Zeiten der Dürre schlichen sie unwillig herbei, wenn sich in den verfallenen Zisternen noch ein wenig fauliges Wasser gehalten hatte.

„Eine halbe Nacht brauchen wir dorthin, wenn wir auch noch so eilen“, sagte Baghira; und Balu machte ein ernstes Gesicht: „Ich werde traben, was ich kann“, meinte er bekümmert.

„Wir können nicht auf dich warten, Balu. Du mußt nachkommen. Wir müssen fort, so schnell wir laufen können – Kaa und ich!“

„Was, laufen!“ spottete Kaa. „Habe ich auch keine Füße, so nehme ich's in der Schnelligkeit noch mit euch allen auf.“

Und damit machten sie sich auf den Weg. Balu tat sein Bestes, Schritt zu halten; aber bald mußte er schnaufend und nach Atem ringend sich niedersetzen, um auszuruhen. Sie ließen ihn zurück. Baghira eilte davon in dem geschwinden Panthergalopp. Aber so schnell er auch lief, der riesige Körper der Python blieb, lautlos dahingleitend, stets an seiner Seite. Kamen sie an einen Gebirgsbach, war Baghira im Vorteil, denn mit mächtigem Satz sprang er darüber hinweg, während Kaa die quirlenden Wasser durchschwimmen mußte – aber schon im nächsten Augenblick sah er den breiten Kopf mit der spitzen Zunge wieder an seiner Seite.

„Beim gesprengten Schloß, das mich befreite“, keuchte Baghira, als die Dämmerung hereinbrach. „Ein schlechter Läufer bist du nicht.“

„Hungrig bin ich!“ sagte Kaa. „Und sie nannten mich gesprenkelten Frosch!“

„Regenwurm – gelben, kriechenden Regenwurm.“

„Das kommt auf eins heraus! Vorwärts! Kannst du nicht schneller?“ Und Kaa glitt dahin wie der Blitz, und er fand dabei stets mit sicherem Auge den kürzesten Weg.

In „Cold Lairs“ vergaß das Affenvolk ganz, daß Mogli mächtige Freunde besaß. Sie hatten den Jungen in die verlorene Stadt geschleift und waren nun für den Augenblick sehr mit sich zufrieden. Mogli hatte noch nie vorher eine indische Stadt gesehen, und wenn ringsum auch nur Schutt und Trümmer waren, schien ihm doch alles herrlich und wunderbar. Irgendein König hatte die Stadt vor langer Zeit auf einem Hügel erbaut. Man sah noch die Spuren der mit Steinen gepflasterten Straßen, die bergan zu zerfallenen Toren führten, wo letzte Splitter morschen Holzes in rostigen Angeln hingen. Bäume waren aus den Ruinen emporgewachsen; die Wehrgänge waren eingestürzt, und Schlingpflanzen hingen in dichten Büscheln aus den hohlen Fenstern der Wachttürme.

Den Hügel krönte ein weiträumiger Palast ohne Dach; der Marmor der Höfe und Brunnen war gebrochen und von grünlichem Moos überdeckt, und selbst die schweren Steinplatten im Elefantenhof des Königs waren von Gräsern gespalten, von jungen Bäumen in Stücke gesprengt. Von der Höhe des Palastes aus blickte man auf Reihen über Reihen dachloser Häuser – sie bildeten einstmals die Stadt, jetzt aber lagen sie schweigend in Trümmern und sahen aus wie leere Bienenstöcke, von Dunkelheit erfüllt. Auf dem Marktplatz, wo die vier Straßen zusammentrafen, ragte die große kopflose Steinmasse des Götzenbildes, vor dem die Brahmanen einst kniend den Boden geküßt hatten. – Statt der Andächtigen füllten nun wilde Feigenbäume die zerfallenen Tempel; und an den Straßenecken, wo man sich einst an Brunnen und Zisternen zum Plaudern versammelte, sah man jetzt Wasserlachen, auf denen grüne Pflanzen wucherten.

Die Affen nannten diesen traurigen Ort ihre Stadt und gaben vor, die Dschungelvölker zu verachten, weil sie in Wäldern lebten. Und doch wußten sie nicht einmal, zu welchem Zweck man diese Bauten errichtet hatte und wie man sich ihrer bediente. Oft hockten sie im Ratssaal des Königs im Kreise beieinander, suchten sich die Flöhe ab und dünkten sich Menschen; oder sie jagten durch die dachlosen Häuser, häuften Steine und Ziegelstücke in den verlassenen Ecken auf und vergaßen gleich darauf, wo sie die Schätze versteckt hatten. Manchmal balgten sie sich in großen Haufen und bissen und kratzten sich gegenseitig, dann rollten sie wie lebendige Bälle umher, die in jedem Augenblicke die Gestalt veränderten und schreiend und brüllend zu Boden flogen und dann wieder hoch in die Luft sprangen, bis sie plötzlich aufbrachen und Hunderte von ihnen in alle Windrichtungen sandten. Oder sie jagten sich auf den Terrassen, schüttelten die Orangen- und Rosenbäume und jauchzten vor Vergnügen, wenn die Früchte und Blumen niederfielen. Sie guckten neugierig in alle Galerien und geheimen Gänge des Palastes – sie suchten in den hundert dunklen Räumen umher, aber sie erinnerten sich niemals, was sie schon gesehen und was sie noch nicht gesehen hatten. In dieser Weise trieben sie sich herum und erzählten sich gegenseitig, wie sehr sie doch in all ihrem Tun und Lassen den Menschen glichen. Sie tranken aus den Wasserlachen, und wenn sie mit ihrem Getobe das ganze Wasser trübe und schmutzig gemacht hatten, balgten sie sich untereinander; und zu guter Letzt tanzten sie und brüllten in den Wald hinaus: „Kein Volk im Dschungel ist so weise, so klug, so stark und so edel wie die Bandar-log!“

Und dann begannen sie ihr Spiel aufs neue, bis sie der Stadt überdrüssig wurden und wieder zu den Baumwipfeln zurückkehrten in der Hoffnung, endlich von den Dschungelvölkern beachtet zu werden.

Mogli, der unter den Gesetzen des Dschungels groß geworden war, konnte dieser Lebensart keinen Geschmack abgewinnen. Es war spät am Nachmittag, als die Affen ihn in die Stadt schleppten. Anstatt nun zur Ruhe zu gehen, wie Mogli es nach den Anstrengungen des Tages gerne getan hätte, reichten sie sich die Hände, tanzten Ringelreihen um ihn herum und plärrten törichte Lieder. Einer der Affen hielt eine große Rede und verkündete, daß Moglis Fang einen Wendepunkt in der Geschichte der Bandar-log bedeutete, denn Mogli werde ihnen zeigen, wie man zum Schutze gegen Wind und Wetter Zweige und Rohrhalme zusammenflechten könne. Die Rolle eines Lehrmeisters war etwas Neues für Mogli; schnell nahm er einige Schlingpflanzen und begann, sie ineinander zu flechten. Die Affen sahen ihm eine Weile zu, juckten sich und schnitten Gesichter, dann ahmten sie ihn nach; aber nach wenigen Augenblicken schon wurden sie der Sache müde, zogen sich gegenseitig an den Schwänzen und sprangen scheltend und schwatzend fort.

„Mich hungert“, sagte Mogli zu guter Letzt. „Ich bin ein Fremdling in diesem Teil des Dschungels. Bringt mir zu essen oder gebt mir die Jagd frei.“

Zwanzig, dreißig Affen stürzten sogleich davon, in der Absicht, ihm Nüsse oder wilde Melonen zu holen; aber unterwegs zankten sie sich und bissen sich, und als die Prügelei vorüber war, hatten sie vergessen, weshalb sie eigentlich ausgezogen waren. Mogli war wund am ganzen Körper und zornig, und als ihn nun noch der Hunger zu quälen begann, machte er sich auf, schweifte durch die Stadt und ließ von Zeit zu Zeit den Jagdruf des Fremdlings ertönen – aber alles blieb stumm, und Mogli begriff, daß er an einen ganz jämmerlichen Ort geraten war.

„Alles, was Balu mir von den Bandar-log erzählt hat, ist wirklich wahr“, dachte er bei sich selbst. „Sie haben kein Gesetz, keinen Jagdruf, keinen Führer – nichts als dumme Worte und kleine, rastlose Hände, mit denen sie nichts anderes tun können, als sich an den Haaren zu raufen und Flöhe zu fangen. Wenn ich hier Hungers sterbe und jämmerlich zugrunde gehe, ist es ganz und gar meine Schuld. Ich muß versuchen, zum Dschungel zurückzufinden. Balu wird mich prügeln, doch das ist besser, als mich weiter herumzutreiben mit diesen blöden Bandar-log.“

Kaum war er bis zur Stadtmauer gelangt, als die Affen ihn wieder einfingen. Sie sagten ihm, er wisse gar nicht, wie gut er es habe und kniffen ihn, um ihn dankbar zu stimmen. Mogli biß die Zähne zusammen und sagte kein Wort mehr; wohl oder übel ging er mit dem lärmenden Volk zu einer Terrasse oberhalb der roten Sandsteinzisternen, die halb mit Regenwasser angefüllt waren. In der Mitte der Terrasse stand ein verfallenes Sommerhaus aus weißem Marmor, erbaut für Königinnen, die schon seit mehr als hundert Jahren in der Erde ruhten. Das gewölbte Dach war zur Hälfte eingefallen und hatte den unterirdischen Gang zum Palast verschüttet, durch den einst die Königinnen geschritten waren. Aber die marmornen Mauern waren kunstvoll durchbrochen, meisterhaft ausgehauen zu milchweißem Filigran, eingelegt mit Achat, Karneol, Jaspis, Lapislazuli – und als der Mond aufstieg über dem Hügel, strömte sein bleiches Licht durch das silberne Netzwerk und warf Schatten auf den Boden, wie schwarze Stickerei auf silbernem Grunde.

Obschon Mogli jedes Glied am Körper schmerzte, obschon er müde und hungrig war, mußte er doch laut auflachen, als die Bandar-log – zwanzig auf einmal – begannen, ihm vorzupredigen, ein wie weises, großes, gutherziges Volk sie wären, und wie albern es von ihm sei, sie verlassen zu wollen. „Wir sind mächtig. Wir sind frei. Wir sind schlechthin großartig. Wir sind das herrlichste Volk im ganzen Dschungel. Wir alle sagen es, und deshalb muß es wahr sein! Und da du ein Neuling bist und unsere Botschaft den Dschungelleuten überbringen kannst, auf daß sie in Zukunft Achtung vor uns haben, so wollen wir dir alles genau vermelden von unserem großen Volke.“

Mogli entgegnete nichts; und die Affen umschwärmten ihn zu Hunderten auf der Terrasse, um den Lobpreisungen ihrer Sprecher zuzuhören, und sobald einer in der Rede innehielt, um Atem zu schöpfen, schrien sie alle zusammen: „Sehr richtig! Das ist ganz unsere Meinung.“

Mogli nickte, blinzelte und sagte „Ja!“, wenn sie ihn fragten. Aber ihm brummte der Kopf von dem schwirrenden Lärm. „Tabaqui, der Schakal, muß die ganze Gesellschaft gebissen haben“, sagte er zu sich. „Und nun sind sie alle verrückt geworden. Gewiß, das ist Tollwut! Gehen sie denn niemals schlafen? Ah, eine Wolke schiebt sich jetzt vor den Mond! Wenn sie doch groß genug wäre, daß er ganz dunkel würde, dann könnte ich vielleicht versuchen, davonzurennen! Ach, wie müde bin ich!“

Die gleiche Wolke wurde auch von zwei guten Freunden beobachtet, die in dem verschütteten Wallgraben am Rande der Stadt auf der Lauer lagen. Denn Baghira und Kaa wußten wohl, wie gefährlich das Affenvolk als Masse war, und wünschten nicht, den Ausgang des Unternehmens unnötig aufs Spiel zu setzen. Affen kämpfen niemals anders als hundert zu eins, und niemand setzt sich gerne solcher Ungleichheit aus.

„Ich werde mich zur Westmauer aufmachen“, flüsterte Kaa. „Von da kann ich rasch den Hang hinuntergleiten und leicht über sie herfallen. Bei mir wird es ihnen nicht gleich gelingen, sich zu Hunderten über mich zu werfen, aber du ...“

„Ich weiß!“ unterbrach ihn Baghira. „Wäre doch Balu nur erst hier! Aber es hilft nichts, wir müssen tun, was sich eben tun läßt. Sobald die Wolke den Mond völlig verdeckt, springe ich auf die Terrasse. Anscheinend halten sie einen Rat über den Jungen.“

„Gute Jagd!“ züngelte Kaa grimmig und glitt fort zur westlichen Mauer. Dieser Teil der alten Stadtumwallung war zufällig noch am besten erhalten, und es dauerte eine ganze Weile, bis Kaa eine geeignete Stelle fand, um an dem Mauerwerk emporzuklettern.

Die Wolke verdeckte den Mond. Als Mogli sich eben verwundert fragte, was das nächste Narrenstück der Affen sein werde, vernahm sein scharfes Ohr Baghiras leichten Tritt auf der Terrasse. Der schwarze Panther war den Hügel fast geräuschlos hinaufgeschlichen, und nun stürzte er sich in den Knäuel der Affen, mit den mächtigen Tatzen rechts und links um sich schlagend, mit Kopf und Körper vorwärtsstoßend, ohne mit Beißen die Zeit zu vergeuden. Die eitlen Redner hielten plötzlich inne, und ein Schrei des Entsetzens und der Wut durchdrang die Reihen, die sich in dichten Knäueln um Mogli gelagert hatten. Da ertönte plötzlich eine Stimme: „Nur ein einziger ist es! Tötet ihn! Reißt ihn in Stücke!“ Wie eine vom Sturm gepeitschte, zerreißende und sich wieder zusammenballende Wolke bedeckte eine schwarze Schar von Affen den sich rollenden Baghira – beißend, kratzend, keuchend. Fünf oder sechs packten Mogli, schleppten ihn auf die Mauer des Sommerhauses und stießen ihn durch das Loch des geborstenen Dachgewölbes. Ein unter Menschen groß gewordener Knabe hätte sich bei dem Falle wohl schwer verletzt, denn die Höhe betrug mehr als fünfzig Fuß. Mogli jedoch fiel kunstgerecht auf seine Füße, wie es ihn Balu gelehrt hatte.

„Dort bleibe, bis wir deine Freunde zerrissen haben!“ brüllten die Affen. „Später spielen wir wieder mit dir ... das heißt, wenn die Giftvölker dich am Leben lassen.“

„Wir sind vom gleichen Blute, du und ich! Sssss!“ rief Mogli schnell, den Schlangenruf gebend. Rings um sich hörte er Rasseln, Klappern und Zischen, und schnell wiederholte er den Spruch ein zweites Mal, um ganz sicher zu gehen.

„In Ordnung! Nieder alle Hauben!“ zischte ein halbes Dutzend Stimmen. „Rege dich nicht, kleiner Bruder, damit du uns nicht verletzt mit deinen Füßen!“ (Jede Ruine in Indien wird alsbald zum Wohnort der Schlangen, und in dem alten Lusthaus wimmelte es von Kobras.)

Mogli hielt sich reglos auf seinem Platze. Er lugte durch die Öffnungen in der Mauer und lauschte auf das wilde Getöse des Kampfes, der um den schwarzen Panther wogte – das Gellen, Heulen und Keifen, dazwischen Baghiras tiefes, heiseres Röhren, als er rückwärts drückte, sich wand, taumelte und verschwand unter dem Haufen der Feinde. Zum erstenmal seit seiner Geburt kämpfte Baghira um sein Leben.

Balu muß in der Nähe sein. Baghira würde nicht allein gekommen sein, dachte Mogli, und dann rief er mit lauter Stimme: “Zum Wasser, Baghira! Rolle dich ins Wasserbecken! Rolle dich und tauche! Zum Wasser!“

Baghira hörte, und die Gewißheit, daß Mogli in Sicherheit war, gab ihm neuen Mut. Mit der Kraft eines Verzweifelten bahnte er sich Zoll für Zoll den Weg zur Zisterne hin. Da tönte von den Mauertrümmern zunächst der dumpfe Kampfesruf Balus. „Baghira“ schrie er keuchend. „Hier bin ich! Halte nur aus! Jetzt klettere ich über die Mauer! Ich werde gleich bei dir sein. Ahuwora! Die Steine zerbröckeln mir unter den Füßen! Wartet nur, bis ich über euch komme, ihr dreimal verfluchten Bandar-log!“

Er keuchte mühsam die Terrasse hinauf – aber kaum hatte er sich gezeigt, als er in einer Wolke schrill heulender Affen verschwand. Er setzte sich auf die Hinterbeine und umfaßte mit den Vorderpranken so viel seiner Angreifer, als er nur halten konnte. Mit grimmiger Zärtlichkeit drückte er sie an sein Herz, bis sie mit gebrochenen Rippen zu Boden sanken, und dann schlug er zu – patsch – patsch – patsch – gerade in den Haufen hinein, gleich dem schlapfenden Schlag eines Raddampfers! Ah! Ein lautes Platschen im Wasser verkündete, daß Baghira sich seinen Weg zur Zisterne durchgefochten hatte, wohin ihm die Affen nicht folgen konnten. Der Panther lag, nach Atem ringend, nur mit dem Kopfe ein wenig aus dem Wasser lugend, während die Affen sich am Rande drängten und in ohnmächtiger Wut hin und her tanzten. Das keuchende Brummen des alten Bären drang zu ihm. Doch was konnte er tun? Da lag er im Wasser, unfähig, dem Freunde zu helfen. Bei diesem Gedanken heulte er fast unbewußt den Hilferuf der Schlangen hinaus in die Nacht, denn er fürchtete, daß Kaa im letzten Augenblicke sich davongemacht habe. „Wir sind vom gleichen Blute, du und ich! Sss! Sss! Sss!“ Ein Hilferuf vom schwarzen Panther! Obwohl Balu unter der Wucht der Affen fast erstickte, lachte er dennoch laut auf. „Er hat sich's gemerkt“, dachte er. „Der schwarze Panther hat etwas von meinem Menschenjungen gelernt!“ und patsch – patsch krachten die Rippen der Affen unter den Tatzenhieben.

Kaa war es eben erst gelungen, die westliche Mauer zu erklimmen; es war eine schwere Arbeit, denn die Steine gaben unter seinem Gewichte nach und rollten laut polternd zu Boden. Nun aber war keine Minute mehr zu verlieren. Er ringelte sich und wand sich und schlug ungeheure Reifen, um zu sehen, ob auch jeder Zoll seines mächtigen Körpers biegsam und geschmeidig wäre. Unterdessen tobte der Kampf mit Balu weiter, und die Affen an der Zisterne schrien gellend gegen Baghira an. Mang, die Fledermaus, schwirrte hin und her über dem schlafenden Dschungel, Kunde bringend von der großen Schlacht in „Cold Lairs“, bis zuletzt Hathi, der wilde Elefant, erregt zu trompeten begann und verstreute Gruppen der Affenvölker hochkamen und von weit her die Baumstraßen hastend durchliefen, um den Freunden und Brüdern zu helfen. Selbst die Tagesvögel flatterten unruhig auf den Ästen.

Und nun kam Kaa, eilig, hungrig und begierig, zu töten.

Die Kampfesstärke einer Pythonschlange liegt in der furchtbaren Stoßkraft des Kopfes, der mit der ganzen Wucht und Macht des ungeheuren Körpers nach rückwärts geschnellt wird. Denkt euch, ein Sturmbock, wie er früher zum Brechen der Stadtmauern benutzt wurde, oder ein tausend Pfund schwerer Schmiedehammer besitze Leben, und in dem langen Stiele wohne kalter, berechnender Geist, der das Werkzeug regiert, dann könnt ihr euch ungefähr eine Vorstellung von Kaa, dem Kämpfenden, machen. Er war gut dreißig Fuß lang, wie ihr wißt, und eine nur vier oder fünf Fuß große Pythonschlange vermag schon einen ausgewachsenen Mann niederzustoßen.

Den ersten Stoß richtete Kaa gegen die Mitte der dichten Masse um Balu – es war ein Stoß mit geschlossenem Munde, in tiefstem Schweigen ... und kein zweiter war nötig. Entsetzen packte die Affen, und mit dem Schrei: „Kaa! Es ist Kaa! Fort! Fort!“ flohen sie davon wie Frösche vor dem Reiher.

Wie man bei uns die Kinder mit dem schwarzen Mann schreckt, so hatten Generationen junger Affen alle Untaten gelassen, wenn ihnen die Eltern mit Kaa drohten, dem Nachträuber, der auf den Ästen entlanggleitet, so geräuschlos, wie das Moos auf ihnen wächst; von Kaa, dem Gewaltigen, der den allerstärksten Affen töten kann, wenn er ihn nur mit der Nase berührt; von Kaa, dem schlauen Schurken, der einen morschen Ast oder einen alten Baumstumpf so täuschend nachzuahmen vermag, daß auch der weiseste Affe sich irreführen läßt, bis plötzlich der Baum zu leben beginnt und sein zappelndes Opfer verschlingt. Kaa war der Inbegriff alles dessen, was die Affen im Dschungel fürchteten, denn kein Wesen kannte die Grenzen seiner Macht, niemand vermochte ihm in die stechenden Augen zu sehen, und keiner war bisher aus seiner Umschlingung mit dem Leben davongekommen. Und so flüchteten sie, so schnell die zitternden Füße sie tragen konnten, von Grauen gepackt, auf die Mauern und Dächer der Häuser. Balu atmete erlöst auf; sein Fell war viel dicker als Baghiras, aber dennoch hatte er Haare gelassen in dem tollen Kampfe. Und jetzt öffnete Kaa zum erstenmal den Rachen und stieß ein einziges, langes, zischendes Wort hervor; und die Affen, die von weit her aus dem Dschungel zur Stadt herbeieilten, hielten plötzlich an und drängten sich bebend dicht zusammen, bis das beladene Geäst sich knackend bog unter der Last. Die Affen auf den Mauern und Häuserruinen verstummten, und in der Grabesstille, die plötzlich über der Stadt lag, hörte Mogli, wie Baghira triefend und sich schüttelnd dem Wasserbecken entstieg. Dann begann das Geheul von neuem. Die Affen sprangen bis zu den höchsten Spitzen der Trümmer; sie umklammerten wie hilfesuchend die großen Steingötzen und irrten ziellos zwischen den Mauerresten umher. Mogli im Sommerhause tanzte vor Freude, sah durch das marmorne Netzwerk und heulte wie eine Eule, um den Affen seine Verachtung zu zeigen.

„Hole das Menschenjunge dort aus der Falle; ich kann mich kaum noch rühren“, ächzte Baghira. „Und dann laß uns machen, daß wir fortkommen. Sie greifen vielleicht wieder an.“

„Keiner wird sich regen ohne meinen Willen. Verharrt! – Rührt euch nicht – keinen Mucks! Ssss!“ zischte Kaa, und wieder lag Grabesstille über der Stadt. „Ich konnte nicht früher kommen, Bruder, aber mir war's, als ob ich deinen Hilferuf hörte.“ Das galt Baghira.

„Eh? Meinen ... was? ... Ich ... ja, es wird wohl mein Kampfschrei gewesen sein. Übrigens, Balu, wie bist du davongekommen?“

„Mir scheint, sie haben mich in hundert kleine Bären zerreißen wollen“, brummte Balu, sich die Beine leckend, eins nach dem andern. „Wuff! Zerschunden bin ich am ganzen Körper! Kaa, ich glaube, wir schulden dir unser Leben – Baghira und ich.“

„Hat nichts zu sagen. Wo ist das Menschenjunge?“

„Hier in einer Falle. Ich kann nicht heraus“, rief Mogli. Die Wölbung des herabgefallenen Daches versperrte ihm den Ausgang.

„Hole ihn heraus, so schnell wie möglich. Er tanzt umher wie Mor, der Pfau. Er wird unsere Jungen zertreten!“ riefen die Kobras.

„Ha!“ kicherte Kaa. „Er hat überall Freunde, dieser Mannling! Tritt zurück, kleiner Mensch, und ihr, Giftvölker, versteckt euch mit euren Jungen. Ich lege die Mauer um!“

Kaa prüfte die Seitenwand sorgfältig, bis er einen wettergeschwärzten Riß fand, der eine schwache Stelle verriet. Kaa schlug zwei- oder dreimal mit dem Kopfe leicht gegen die Wand, um die Stärke zu prüfen; dann hob er sechs Fuß seines Körpers senkrecht in die Höhe und schnellte den Kopf wie einen Schmiedehammer gegen den Stein – einmal – zweimal – dreimal immer gerade mit der Nase voran. Das Gestein dröhnte, ächzte, bröckelte und fiel dann krachend und eine Staubwolke aufwirbelnd zusammen. Mogli sprang durch die Öffnung hervor, stürzte sich zwischen Balu und Baghira und schlang seine Arme um je einen mächtigen Nacken seiner Freunde.

„Bist du verletzt?“ fragte Balu, ihn zärtlich betastend.

„Hungrig bin ich und zerschunden – aber oh! wie schlimm haben sie euch zugerichtet, meine Brüder! Ihr blutet ja beide!“

„Andere auch“, sagte Baghira, seine Lippen leckend, und blickte auf die toten Affen, die auf der Terrasse und am Wasserbecken umherlagen.

„Nichts, alles nichts, wenn du nur mit heiler Haut davongekommen bist. Oh, mein bester kleiner Honigfrosch!“ grunzte Balu.

„Nun, darüber werden wir später noch ein Wort zu sprechen haben“, meinte Baghira in einem Tone, bei dem es Mogli etwas unbehaglich wurde. „Aber hier ist Kaa, dem wir den Sieg verdanken und dem du, Mogli, dein Leben schuldest. Erstatte ihm Dank nach unserer Sitte.“

Mogli wandte sich um und sah den Kopf des Pythons einen Fuß über dem seinen hin und her schwingen.

„Also das ist der Mannling!“ sprach Kaa. „Sehr weich ist seine Haut und hat mit den Bandar-log rechte Ähnlichkeit. Sieh dich vor, kleiner Mann, daß ich dich nicht für einen Affen halte im Zwielicht, wenn ich die Haut gewechselt habe.“

„Wir sind vom gleichen Blute, du und ich!“ antwortete Mogli. „Du hast mich vom Tode errettet heute nacht, und es gehört dir alles, was ich in Zukunft erlege, wenn du hungrig bist, Kaa!“

„Sehr verbunden, kleiner Bruder!“ sagte Kaa mit ernsthaftem Gesichte, wenn er auch mit den Augen blinzelte. „Und was erlegt denn ein so kühner Jäger? Ich frage nur, damit ich auf deiner nächsten Pirsch deinen Spuren folgen kann!“

„Ich töte nichts – jetzt noch nicht – ich bin noch zu klein – aber wenn ich jage, treibe ich meinen Freunden wilde Ziegen zu. Darauf verstehe ich mich vortrefflich. Wenn du hungrig bist, komm nur getrost zu mir und überzeuge dich, ob ich die Wahrheit spreche. Flink und geschickt bin ich mit diesen hier“, er zeigte seine Hände, „und wenn du je in eine Falle gerätst, dann kann ich dir vielleicht die Schuld zurückbezahlen ... dir und Baghira und Balu ... denn ihr alle habt ja für mich gekämpft. Große Jagd euch allen, meine Lehrmeister!“

„Wohl gesprochen“, brummte Balu, denn Mogli hatte seinen Dank recht hübsch abgestattet. Kaa ließ seinen Kopf ein paar Fuß herab und legte ihn leicht auf Moglis Schulter. „Hast ein braves Herz, Mannling!“ zischte er. „Und eine höfliche Zunge! Damit wirst du weit kommen im Dschungel. Aber nun gehe schnell fort von hier mit deinen Freunden. Geh und leg dich schlafen, denn der Mond geht unter, und was nun folgt – das ist nichts für dich, Söhnchen!“

Die Silberscheibe des Mondes versank hinter den Hügeln, und die Reihen der zitternden Affen, zusammengeduckt auf Mauern und Trümmern, erschienen wie zerfranstes Gezack der Ruinen. Balu trabte zum Wasserbecken, um sich mit einem Trunk zu laben; Baghira leckte und putzte sein Fell. Kaa aber glitt lautlos in die Mitte der weiten Terrasse und schnappte mit klingendem Ruck die starken Kiefer zusammen, worauf die verharrenden Affen starr die Blicke auf Kaa richteten.

„Der Mond geht unter“, zischte Kaa. „Könnt ihr mich noch alle sehen?“

Von den Mauern hallte es, als ob der Wind in den Wipfeln stöhnte: „Wir sehen dich, Kaa!“

„Gut. Nun beginnt der Tanz – der Jagdtanz Kaas! Sitzt stille! Seht her!“ Er glitt zwei- oder dreimal in großem Kreise umher und schwang tänzelnd im Takte den Kopf zur Rechten und zur Linken, als höre er eine geheimnisvolle Musik. Dann begann er mit seinem Körper Schleifen und Achterfiguren zu bilden, große Knäuel und Knoten, die lebten und unentwirrbar schienen, bis sie geräuschlos im Augenblicke auseinanderschlüpften – gleitende, gebogene Dreiecke, die sich in Vierecke, Kreise und Arabesken verwandelten; und während der glatte, buntscheckige Körper plötzlich in die Erde zu verschwinden und dann wieder ringelnd zum Himmel aufzuragen schien – immer raschelnd, raschelnd, raschelnd –, tönte Kaas leiser, zischender Zaubergesang.

Balu und Baghira standen wie zu Stein erstarrt – in ihren Kehlen rasselte mühsam der Atem, ihr Nackenfell sträubte sich, während Mogli voll Staunen und Grauen zusah.

Es wurde dunkler und dunkler. Die wirren Figuren schwanden in der Nacht, aber man konnte das Rascheln der schlürfenden Schuppen deutlich vernehmen.

„Bandar-log“, sang die Stimme Kaas, „könnt ihr Hand oder Fuß noch regen wider meinen Willen? Sprecht!“

„Wider deinen Willen kann keiner von uns regen Hand oder Fuß, o Kaa“, hauchten die Affen.

„Gut. Kommt alle einen Schritt näher zu mir!“

Die Reihen der Affen schwankten hilflos nach vorn – auch Balu und Baghira folgten mechanisch dem Befehle der Schlange.

„Näher!“ zischte Kaa; wieder schwankten sie einen Schritt vor.

Mogli legte die Hände auf Balu und Baghira, um sie dem Zauber der Schlange zu entreißen; und die beiden gewaltigen Tiere schreckten zusammen, wie aus einem Traum erwacht.

„Halte deine Hand fest auf meiner Schulter“, keuchte Baghira. “Laß mich nicht los – oder ich muß hin zu Kaa – muß hin zu Kaa. Ah!“

„Was hast du? Es ist ja nur der närrische Kaa, der im Staube seine Kreise schlägt“, sagte Mogli. „Aber wir wollen fort von hier.“ Und die drei stahlen sich durch eine Öffnung der Mauer und trabten fort in den Dschungel.

„Wuff!“ ächzte Balu, als er wieder unter den stillen Bäumen stand. „Nie mehr in meinem ganzen Leben verbünde ich mich mit Kaa.“ Und er schüttelte sich am ganzen Körper.

„Er weiß mehr als wir“, sagte auch Baghira zitternd. „Wäre ich geblieben – nur noch ein paar Minuten –, so hätte ich selbst den Weg in seinen Schlund angetreten.“

„Viele werden diesen Weg wandern, ehe der Mond wieder aus den Tälern steigt“, meinte Balu. „Gute Jagd wird er haben – auf seine Art.“

„Aber was bedeutet das alles?“ fragte Mogli, der nichts von den hypnotischen Kräften eines Pythons wußte. „Ich sah nur eine große Schlange närrische Kreise schlagen, bis die Nacht kam. Und ihre Nase war ganz wund. Ha! Ha!“

„Mogli“, knurrte Baghira ärgerlich, „wenn er sich verletzt hat, so geschah es nur deinetwegen, so wie meine Ohren und Tatzen deinetwegen zerbissen sind; und sieh nur auf deinen alten Lehrer Balu, wie er zerzaust ist, es war alles deinetwegen. Wir zwei werden so bald nicht wieder fröhlich jagen können.“

„Laß nur gut sein“, brummte Balu. „Wir haben unser Menschenjunges wieder!“

„Ganz recht, aber wir haben teuer für ihn bezahlt. Denke nur, was wir an Zeit für die Jagd verloren haben und an Haaren und – vor allen Dingen – an Ehre und Ansehen. Denn, denke daran, Mogli, ich, der schwarze Panther, erniedrigte mich so weit, Kaa um Hilfe anzurufen, und Balu sowohl wie ich wurden gebannt wie kleine Vögel von Kaas Jagdtanz! Und das alles kam nur, Menschenjunges, von deinem Spielen mit den Bandar-log.“

„Wahr! Es ist alles wahr!“ sagte Mogli mit aufrichtiger Reue. „Ein schlechtes Menschenjunges bin ich, und Kummer sitzt mir in den Eingeweiden.“

„Mf! Was sagt das Gesetz des Dschungels, Balu?“

Balu hatte keine Lust, seinem Schüler noch weitere Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber mit dem Gesetz durfte man nicht Spaß treiben. Und deshalb murmelte er: „Reue schützt vor Strafe nicht! Aber bedenke, Baghira, er ist klein!“

„Ich weiß, aber er hat Unrecht begangen und muß dafür seine Schläge haben. Mogli, hast du noch etwas vorzubringen?“

„Nein, ich tat unrecht. Balu und du, ihr blutet. Ich habe Strafe verdient.“

Baghira gab ihm ein halbes Dutzend Klapse ... sanfte Schläge vom Standpunkte eines Panthers aus (sie würden kaum eines seiner Jungen aus dem Schlafe geweckt haben), doch für einen siebenjährigen Jungen waren sie eine ganz gehörige Tracht Prügel. Als es vorüber war, schüttelte sich Mogli, nieste einmal und rieb sich, aber sagte kein Wort.

„Nun, nun“, schnurrte Baghira, „auf meinen Rücken, kleiner Bruder. Wir wollen nach Hause.“

Das ist im Dschungelgesetz eine ganz prächtige Einrichtung: Wenn man seine Strafe erhalten hat, ist alles vergessen und vergeben. Da gibt es kein langes Brummen und Grollen.

Mogli legte den Kopf auf Baghiras weichen Rücken und schlief so fest, daß er nicht einmal erwachte, als man ihn in der Höhle seiner Wolfseltern niederlegte.

Und nun zurück zur ersten Geschichte.

Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch

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