Читать книгу Traum Bub - Rupert Arthur Dillmann - Страница 6
Kindheit
ОглавлениеEs war ein Montagmorgen um zwei Uhr zwanzig im September, als das Baby zur Welt kam.
Die Geburt verlief unkompliziert. Die Mutter, Erna, war froh, dass alles überstanden war. Diese Schwangerschaft, die sich durch den Sommer hinzog, war doch sehr anstrengend gewesen, besonders an den heißen Tagen im Hochsommer. Für die Eltern war es keine neue Erfahrung. Es war schon die sechste Geburt.
Der Vater war nicht anwesend, da es mit der Geburt überraschend schnell ging. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Junge es so eilig haben würde.
Die Hebamme untersuchte das Baby, es schien gesund und vollständig zu sein, tat auch prompt seinen ersten Schrei, der von allen Babys erwartet wird. Was der Hebamme Sorgen machte, waren das geringe Gewicht und die Körpergröße des Neugeborenen. Obwohl das Baby keinen Tag zu früh das Licht der Welt erblickte, war es doch sehr klein.
Sie wollte am Morgen einen Arzt hinzuziehen und seine Meinung hören. Sie hatte große Sorge, dass das Baby nicht überleben könnte. Es war zierlich und deswegen umso niedlicher, wie eine kleine lebende Puppe.
Als die Hebamme das Neugeborene endlich der müden aber glücklichen Mutter in den Arm legte, war diese sehr angetan von ihrem Sohn, aber auch etwas erschrocken, wie zart und zerbrechlich er war.
Die Hebamme stand neben dem Bett und betrachtete die beiden und hatte wie immer nach einer erfolgreichen Geburt ein Lächeln auf dem Gesicht.
>Soll ich Ihren Mann anrufen?<
>Nein, lassen sie ihn schlafen, aber könnten sie Ihn bitte morgen früh anrufen lassen? Er fehlt mir schon, wäre schön, wenn er jetzt da wäre.<
>Haben sie denn schon einen Namen für den Bub?<
Die Mutter schaute versonnen auf ihr Baby und schien etwas zu überlegen. Sie hatte sich mit Josef, ihrem Mann, auf einen Namen geeinigt, wobei es Josef nicht so wichtig war wie ihr, welchen Namen das Kind bekam, er überließ ihr gerne diese Entscheidung.
>Eigentlich wollte ich ihn Rupert* nennen, nach einem aufrechten sehr kämpferischen Jesuitenpater aus München.<
*Pater Rupert Mayer, geboren. 23.01.1876 in Stuttgart, gestorben. 01.11.1945 in München, predigte gegen die Nazis, gehörte zum katholischen Widerstand, wurde 1987 selig gesprochen
Diesen Pater hatte sie immer bewundert, wegen seines Mutes. Seine Unerschrockenheit hatte ihr immer imponiert.
>Wenn ich mir den Kleinen so anschaue, dann wird er auch kämpfen müssen, aber darum, groß und stark zu werden.<
Das Baby war inzwischen an der Brust der Mutter eingeschlafen.
>Ja, da haben sie wohl recht. Er ist wirklich nicht sehr groß. Wir ziehen morgen früh einen Arzt hinzu, um zu überlegen, was wir tun können. Er scheint ansonsten aber gesund zu sein. Aber jetzt ist er erschöpft von der Anstrengung der Geburt. Ich denke, er ist ein ganz besonderer Bub, und das meine ich auch so. Ich nehme ihn jetzt mit auf die Säuglingsstation und sage der Nachtschwester, sie soll ihn ihnen alle zwei Stunden zum Anlegen bringen. Er muss viel trinken, damit er aufholen kann.<
Die Mutter lag in den Kissen, die Augen geschlossen, und dachte an die Geburt ihrer fünf anderen Kinder, von denen nur vier noch lebten. Sie musste besonders an ihr süßes kleines Mädchen denken, das mit zwei Jahren gestorben war. Auch sie waren alle bei der Geburt kleiner als andere Kinder, hatten dann aber aufgeholt. Aber so klein wie dieser Bub war keines der Anderen gewesen.
Sie machte sich wirklich Sorgen.
Sie hatte Josef mit fünfundzwanzig Jahren geheiratet, er war vier Jahre älter. Die ersten beiden Kinder kamen während des Kriegs auf die Welt, in einer so schwierigen Zeit.
Sie musste an ihre Mutter denken, diese war vierzehnmal schwanger gewesen, und die elf überlebenden Kinder waren alle nicht wirklich groß, aber kräftig und tüchtig geworden. Ja, ihre Mutter wird sich auch sehr über ihren neuen Enkel freuen.
Sie dachte noch einmal über den Namen nach. Der Bub musste wohl auch ein Kämpfer sein, wenn er überleben wollte. Aber waren der Name und das Vorbild nicht zu mächtig für so einen Winzling?
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und so schlief sie ein.
Auch bei den folgenden Stillzeiten war das Kind schon nach wenigen Schlucken erschöpft und schlief ein.
Als am Morgen endlich ihr Mann, der Vater des Neugeborenen, in das Zimmer der Wöchnerin trat, lächelte die Mutter dankbar. Er hatte ihr einen kleinen Blumenstrauß aus ihrem Garten mitgebracht. Er gab seiner Frau einen Kuss und nahm sie in die Arme. Es war ein zärtliches, sich gegenseitiges Festhalten und Stützen. So verharrten sie einen Moment.
>Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Die Blumen sind von den Kindern, sie lassen dich herzlich grüßen, sie wollten natürlich alle mit, um ihren neuen Bruder zu sehen.<
Sie musste lachen.
>Ja das kann ich mir gut vorstellen, dass sie lieber ihren Bruder besuchen wollen, als in die Schule zu gehen. Ja, es ist alles in Ordnung, er wirkt sehr zierlich und zerbrechlich.<
Sie musste lächeln, als sie zerbrechlich sagte, aber so kam ihr das Baby wirklich vor
>Du weißt schon, dass unsere Kinder nie als Riesen auf die Welt gekommen sind. Und in unseren Familien ist auch keiner sehr groß.<
Sie lachten beide über die Anspielung. In ihrer, sowie auch seiner Familie waren die Eltern und Geschwister nicht wirklich groß.
>Ja, aber er ist schon sehr klein, du wirst es ja sehen. Er trinkt nicht gut, schläft schon nach zwei-, dreimal Schlucken ein. Vielleicht sollten wir ihn schnell taufen lassen.<
>Ist es wirklich so schlimm? Ich gehe mal auf die Säuglingsstation und schaue ihn mir an.<
>Nein, bleib bitte bei mir, die Schwester wird ihn wahrscheinlich gleich zum Anlegen bringen.<
Der Vater hielt immer noch die Hand der Mutter.
>Hast du dich für einen Namen entschieden?<
>Ja, wenn es dir recht ist, möchte ich ihn Rupert Josef taufen, du weißt schon, Rupert nach Pater Rupert Mayer und Josef nach dir.<
Josef nahm die Hand seiner Frau und drückte einen dicken Kuss darauf und lächelte.
>Ja, das ist schön, obwohl der Name Rupert nicht sehr oft vorkommt. Und da hat er ein wirklich großes Vorbild.<
Die Frau schaute ihren Mann an.
>Und auch mit deinem Namen, Josef.<
Da mussten sie beide lachen.
Da ging auch schon die Türe auf, und die Kinderschwester brachte den kleinen Rupert zum Stillen ins Zimmer.
>Guten Morgen, machen wir einen neuen Versuch. Mal sehen, ob er jetzt mehr Hunger hat.<
>Würden sie so freundlich sein und ihn meinem Mann geben, damit er seinen Sohn ansehen und einen Moment halten kann?<
Die Kinderschwester übergab den Säugling mit einem Lächeln an den Vater. Dieser war doch sichtlich überrascht, wie leicht sein Sohn war. >Er ist wirklich sehr niedlich, aber so klein habe ich ihn mir nicht vorgestellt.<
Der Vater war etwas erschrocken, als er seinen Sohn sah, wollte aber seiner Frau nicht zeigen, wie sehr. Er wollte sie nicht noch mehr beunruhigen.
>Er wird das schon schaffen, schließlich hat er zwei tatkräftige Namenspatrone.<
Der Säugling war inzwischen aufgewacht und hatte die Augen offen, und es schien als würde er seinen Vater mit Interesse betrachten. Der Vater lachte das Baby an und wiegte es ein bisschen im Arm, dann gab er das Kind seiner Mutter, schließlich sollte es ja trinken, damit es wachsen konnte.
Diesmal war der Kleine etwas aktiver und trank etwas mehr als die vorherigen Male, bevor er wieder einschlief.
>Soll ich wegen der Taufe mit dem Krankenhauspfarrer sprechen? Ich kann am Empfang fragen, ob er im Haus ist. Ansonsten lasse ich ihm eine Nachricht da, dass er sich bei dir melden soll? Was denkst du?< >Ja, das würde mich beruhigen, wenn er getauft wäre, du siehst doch selber wie zerbrechlich er ist.< >Wenn es dir recht ist, würde ich jetzt gehen und heute Abend wieder kommen. Soll ich die Kinder mitbringen?<
>Ja, in Ordnung, aber nicht alle Kinder, erst mal die beiden großen.
Josef erhob sich und küsste seine Frau und seinen Sohn zärtlich auf die Stirn und machte sich auf den Weg, den Krankenhauspfarrer zu suchen.
Ja, seine Frau hatte recht, der Junge war wirklich klein dachte er sich.
Es wurden die beiden Paten verständigt. Das waren der Bruder von Erna, Franz, und die Schwester von ihm, Luise.
Die Eltern und die Paten trafen sich zum vereinbarten Zeitpunkt in der Krankenhauskapelle. So wurde der kleine Junge drei Tage nach seiner Geburt im Krankenhaus auf den Namen Rupert Josef notgetauft. Man konnte den Eindruck haben, dass der kleine Rupert gar nicht die Absicht hatte, den Kampf ums Überleben zu verlieren. Bei der Taufe schrie er so laut und kräftig, als wollte er dagegen protestieren, dass man ihm nicht zutraute, den Kampf ums Leben zu gewinnen.
In den folgenden Tagen nahm der Appetit des Säuglings merklich zu, aber er trank immer noch nicht die von ihm erwartete Menge Muttermilch. Die Eltern waren immer noch besorgt.
Zu Hause war schon alles vorbereitet für die Ankunft des neuen Familienmitgliedes, als Mutter und Kind nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen wurden. Alle warteten sehr gespannt auf das neue Baby. Es hatte für viel Aufregung gesorgt, in den letzten Tagen. Es wurde viel darüber gesprochen, wie klein das Baby sei, und ob es überhaupt überleben würde.
Die Freude war groß bei den Geschwistern und allen Angestellten, als der Vater endlich mit dem Auto in den Hof fuhr und Mutter und Kind ausstiegen. Die weiblichen Mitglieder des Haushaltes waren nicht mehr zu bremsen. Alle wollten das Baby sehen und halten. Die Männer standen mehr im Hintergrund und warteten darauf, der Mutter zu gratulieren. Auch wenn sie alle wussten, dass das Baby nicht groß war, staunten doch jeder, wie klein und zart das neue Familienmitglied in Wirklichkeit war.
Die Familie wohnte auf einem Bauernhof, zu dem auch ein Sägewerk gehörte. Es gab einige Angestellte im Haushalt, im Büro, in der Landwirtschaft und im Sägewerk.
So war die Ankunft des Babys eine willkommene Abwechslung, besonders für die weiblichen Mitglieder des Haushaltes. Nach kurzer Zeit war der Säugling in den Alltag integriert.
Die Mutter stillte ihn regelmäßig, zum Baden und Windelwechseln war auch immer jemand zur Stelle. Besonders seine zwei großen Schwestern unterstützten eifrig die Mutter.
Ganz langsam steigerte sich der Hunger des Kindes, und er trank immer ein bisschen mehr. Er erholte sich ganz langsam und nahm an Gewicht zu. Nur mit dem Wachsen ließ er sich Zeit. Dass er wuchs, war kaum wahrzunehmen, aber er wuchs.
Nach einiger Zeit hörten die Eltern auch auf, sich deswegen Sorgen zu machen. Sie hatten ja noch die anderen vier Kinder zu versorgen und sich um den Betrieb zu kümmern.
So wurde der Junge langsam aber stetig kräftiger und er wuchs, wenn auch sehr langsam. Das Kind wurde von allen verwöhnt, da er so klein und wirklich sehr süß war, mit seinen blonden Haaren. Es war ein freundliches und zufriedenes Kind, das viel schlief. Er lächelte meistens, wenn jemand kam und sich zu ihm hinunterbeugte oder ihn aus dem Stubenwagen auf den Arm nahm.
Wenn es viel Arbeit auf dem Feld gab, wie bei den verschiedenen Ernten, der Heuernte im Sommer, der Apfel- oder Kartoffelernte im Herbst, dann wurde er mit aufs Feld mitgenommen. So konnte ihn die Mutter regelmäßig stillen.
Als er ein halbes Jahr alt war, hatte er kein Untergewicht mehr. Er war auch gewachsen, aber immer noch klein für sein Alter. Er hatte dieses wunderbare freundliche Lachen, das zusammen mit seinen blonden Haaren, braunen Augen und seiner Größe eine unwiderstehliche Anziehung auf alle ausübte. Er war ausgeglichen und freundlich, lächelte und strahlte, wenn man sich mit ihm beschäftigte.
Als Rupert anfing zu krabbeln und später zu laufen, kam er in einen Laufstall, ein einfaches Viereck aus Holzstäben ohne Boden. Dieser war mobil und wurde oft in der Küche, hinten im Hof oder bei schlechtem Wetter auch im Büro der Buchhalterin aufgestellt. Während des Vormittags war er meistens in der Küche; da war immer ein Kommen und Gehen und das Kind hatte immer jemanden, der sich mit ihm beschäftigte.
Als er so um die zwei Jahre alt war, wollte er auch mit den anderen Kindern mit. So wurde seine zwei Jahre ältere Schwester oft nicht ganz freiwillig zum Babysitter.
Im dritten Lebensjahr änderten sich Ruperts Leben und das der ganzen Familie radikal. Seine Mutter fühlte sich nicht wohl und wurde krank. Es wurde nicht besser; sie musste ins Krankenhaus, wo Krebs festgestellt wurde. Es verblieben den Kindern und Josef nur noch wenige Monate mit ihrer Mutter und Ehefrau. Am Morgen des Pfingstsonntages kam ein Anruf aus dem Krankenhaus mit der Mitteilung, der Patientin gehe es sehr schlecht, am frühen Morgen wäre schon der Pfarrer dagewesen, um die letzte Ölung zu geben. Josef lag mit einer schweren Pleuritis im Bett. Seine Frau war vor wenigen Tagen operiert worden. Die Operation war zu spät erfolgt, die Ärzte konnten nichts mehr ausrichten gegen den Krebs.
Nun lag seine Frau im Sterben; er musste zu ihr ins Krankenhaus, egal wie krank er war.
Nach kurzer Zeit war er angezogen und auch die Kinder wurden schnell zum Ausgehen gerichtet.
So fuhr Josef mit starkem Fieber und seinen fünf Kindern ins Krankenhaus, inständig hoffend, nicht zu spät zu kommen, um seine Frau noch lebend zu sehen.
Als die Familie in das abgedunkelte Zimmer der Mutter und Ehefrau trat, lag diese blass, schwach und mit geschlossenen Augen in den Kissen.
Josef, mit dem Kleinsten auf dem Arm und der Zweitjüngsten an der Hand, gingen direkt von der Türe zum Krankenbett, die drei größeren Kinder gingen um das Bett herum und standen rechts davon. Es war eine gedrückte aber friedliche Atmosphäre im Krankenzimmer. Die Kinder waren sehr erschrocken, als sie ihre Mutter so blass und mit eingefallenem Gesicht im Bett liegend vor sich sahen. Sie hatte die Augen geschlossen. Sie war doch immer voller Energie und guter Laune gewesen.
Jetzt schien sie sogar zu schwach zu sein, um überhaupt die Augen zu öffnen.
Josef ließ die Hand seiner Tochter los und nahm die Hand seiner Frau, er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn, streichelte sie sanft über die Wange.
Da öffnete Erna ihre dunklen Augen, sie schienen riesig zu sein in diesem eingefallenen Gesicht. Sie schaute einen Moment verwirrt, richtete dann ihren Blick auf ihren Mann, dann auf jedes einzelne ihrer fünf Kinder, verharrte einen Moment bis der Blick zum nächsten Kind wanderte. Der Hauch eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. Dann hörte sie auf zu Atmen. Es schien, dass sie mit dem Sterben gewartet hatte, um sich noch von ihren Liebsten verabschieden zu können.
Josef hielt noch immer ihre Hand und konnte es nicht fassen, dass seine geliebte Frau nicht mehr lebte. Die Kinder standen stumm da, sie schienen nicht zu begreifen, dass sie nun keine Mutter mehr hatten. Das kleine Mädchen rückte instinktiv ganz nahe zum Papa und drückte sich an ihn. Die Größeren kamen um das Totenbett herum und stellten sich auch sehr dicht zu ihrem Papa. Die Kinder hatten sich gegenseitig an den Händen genommen. Rosa, die älteste Tochter wollte ihrem Papa den kleinen Bruder abnehmen. Aber Josef drückte ihn nur noch fester an sich, während die Hand seiner toten Frau immer noch in seiner ruhte.
So stand die Familie eine ganze Weile stumm. Josef gab den Kleinsten seiner Tochter. Dann nahm er die Hände seiner Frau und faltete sie auf ihrer Brust. Mit einer zärtlichen Geste schloss er ihre Augen. Dann fing er an zu schluchzen, dann zu weinen. Nun brachen die Trauer und der Schmerz auch aus den Kindern. Sie ließen Ihren Tränen freien Lauf. Josef drehte sich von seiner toten Frau weg, hin zu den Kindern und nahm sie alle zusammen in seine Arme. So standen sie weinend und elend, sich durch die Nähe gegenseitig tröstend am Bett, als eine Krankenschwester das Trauerzimmer betrat.
Die Nonne führte die verstörte Familie aus dem Totenzimmer in einen kleinen Raum mit einer Bank und Stühlen, um ihnen in diesem Moment der Trauer einen geschützten Raum zu geben.
Da saß die Familie nun immer noch stumm, bis Klara ihren Papa fragte, ob ihre Mama nun im Himmel sei. Er konnte nur nicken und ihr über den Kopf streichen.
Rupert weinte auch leise vor sich hin, weil alle weinten. Er verstand nicht warum, nur dass seine Mama nicht mit ihnen gesprochen hatte, da sie wohl sehr müde war und sie eingeschlafen war. Aber warum weinten alle, das verstand er nicht.
Josef telefonierte nach Hause, um mitzuteilen, dass Erna gestorben sei. Gleichzeitig bat er darum, dass er und die Kinder abgeholt würden, da er nicht in der Lage sei zu fahren.
Rupert merkte, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war, begriff aber nicht, was es war. Die Geschwister hatten verweinte Augen, genauso wie die Erwachsenen. Die Stimmung im Haus war sehr bedrückt, sie machte den Jungen ratlos und unsicher. Er suchte den Kontakt zu den größeren Schwestern und den Frauen im Haushalt. Diese fingen oft an zu weinen, wenn sie den armen kleinen Jungen sahen. Da konnte es geschehen, wenn sie ihn auf den Arm nahmen, dass er ihnen tröstend mit seiner kleinen Hand über die Wangen fuhr und ihnen einen Kuss darauf gab. Diese kleine Aktion zauberte dann ein Lächeln auf das verheulte Gesicht, und der Bub schmiegte sich noch enger an sein Gegenüber. Sein Vater verhielt sich auch anders als sonst, was ihn sehr verunsicherte; ihm ging er in diesen Tagen lieber aus dem Weg.
Die tote Mutter wurde in einem Zimmer im Haus aufgebahrt, inmitten von vielen Blumen und Kränzen.
Da ging der kleine blonde Bub auf die Wiese hinter dem Haus und pflückte einen kleinen Blumenstrauß .
Er wollte ihn seiner Mutter in die Hand geben, war aber noch zu klein, um sie zu erreichen. Jemand musste ihn hochheben, und so konnte er sein kleines Sträußchen oberhalb ihrer kalten, gefalteten, Hände auf die Brust legen. Er konnte nicht begreifen, warum seine Mutter so stumm und mit kalten Händen zwischen all diesen Blumen lag.
In den Trauertagen war im Haus ein stetes Kommen und Gehen. Die Nachbarn und die Verwandten kamen, um Ihr Beileid auszusprechen. Im Zimmer, in dem die Tote aufgebahrt war, wurden Rosenkränze gebetet. In der Wohnstube wurde den Besuchern Getränke gereicht, und sie saßen mit den Familienmitgliedern beisammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Manchmal wurde es auch etwas lebhafter. Die Verwandten versuchten, die Kinder etwas aufzumuntern und abzulenken.
Der Kleinste der Familie bekam viel Aufmerksamkeit, besonders von den Besucherinnen. Ihnen tat dieser süße kleine Bub, der so früh seine Mutter verloren hatte, so leid. Er war ja noch so klein.
Wenn er dastand und sie mit seinen blonden Haaren und dem freundlichen Gesicht anschaute, konnten die Besucherinnen nicht widerstehen. So wurde er geknuddelt, geherzt, geküsst und mit viel Aufmerksamkeit überhäuft, während seine nur zwei Jahre ältere Schwester, Klara, schüchtern in einer Ecke stand und die Leute beobachtete. Ihre kleine heile Welt, das spürte sie genau, war durch das ganze Geschehen total durcheinander geraten.
Nach dem Tag der Beerdigung kehrten wieder etwas Ruhe und die gewohnte Routine im Haus ein.
Für Rupert änderte sich der Alltag nicht so sehr, da ja immer viele Menschen im Haushalt waren, die sich um ihn kümmerten. Jetzt war zusätzlich noch eine Tante ins Haus gekommen, eine Schwester der Mutter. Sie war Witwe und sollte sich vorerst um den Haushalt und ihre Nichten und Neffen kümmern. So hatte es die Familie beschlossen. Ihre drei Kinder, die schon etwas größer waren, blieben bei der Großmutter während sie in die Schule mussten. Ihre Schulferien sollten sie dann bei der Mutter auf dem Hof verbringen. Manchmal kehrte die Tante auch für kurze Zeit nach Hause zurück, wenn es nötig war.
Die Tante führte ein sehr strenges Regiment und war ganz anders als Erna. Nach einiger Zeit hatten sich alle an die strenge und sparsame Art der Tante gewöhnt. Diese Art war den Kindern fremd, und sie waren nicht so sehr glücklich mit der Situation. Sie vermissten die Liebe, Zuneigung und Fröhlichkeit ihrer Mutter doch sehr. Josef war seiner Schwägerin sehr dankbar für ihre Hilfe.
Aber das Leben ging für die Kinder weiter. Rosa, die älteste, war weiterhin im Internat. Die beiden andern großen gingen in die katholische Schule, Rupert und Klara in den katholischen Kindergarten. Der war in einem Nebengebäude des Pfarrhauses untergebracht. Rupert ging gerne in den Kindergarten. Er mochte besonders seine kleine Umhängetasche aus Leder, in der immer sein Vesperbrot war. Ohne die ging er nie in den Kindergarten.
Wenn kein Kindergarten war, musste Klara oft auf ihn aufpassen. Diese wollte aber lieber mit ihren Freundinnen spielen und das nicht unbedingt mit dem kleinen Bruder im Schlepptau. So konnte es passieren, dass sich die Mädchen schnell aus dem Staub machten und der Bub alleine dastand und sich dann, wenn er seine Schwester und ihre Freundin nicht fand, weinend auf den Weg nach Hause machte. Manchmal fand ihn eine Nachbarin, die ihn dann tröstete. Wenn nicht, hatte er sich schon beruhigt, bis er wieder zuhause war. Dort gab es ja auch viele Möglichkeiten zum Spielen. Das war das Schöne an so einem kleinen Dorf; jeder kannte jeden, und das ganze Dorf war für die Kinder ein Abenteuerspielplatz.
Die älteren Geschwister versuchten sich möglichst aus dem Blickfeld der Tante zu halten. Diese hatte bei jeder Begegnung eine neue Aufgabe bereit, die erledigt werden musste.
Ein Jahr nach dem Tod von Erna lernte Josef eine Frau kennen, die ihm gut gefiel. Sie war acht Jahre jünger als er. Es war nicht so einfach für einen Witwer mit fünf Kindern, eine Frau zum Heiraten zu finden, welche auch eine gute Mutter zu seinen Kindern sein würde. Sie stammte auch von einem großen Bauernhof und aus einer großen Familie. Bei ihr konnte er sich vorstellen, dass sie sich gut mit seinen Kindern verstehen würde. Ebenso verstand sie etwas von der Führung eines großen Haushalts sowie eines Geschäfts.
Josef hatte mit seiner Art durchaus Erfolg bei Frauen. Viele der Frauen, die er kennenlernte, waren auf ein Abenteuer aus. Bei jenen, die vielleicht ans Heiraten dachten, war das Interesse schnell erloschen, wenn sie hörten, dass er fünf Kinder hatte. Von denen, die sich davon nicht abschrecken ließen, war aber keine dabei, von der er dachte, dass sie auch eine gute Mutter für seine Kinder sein würde.
Es war nicht einfach für ihn. Aber er wollte und musste wieder heiraten. So ging es zu Hause nicht weiter. Er war seiner Schwägerin sehr dankbar. Aber er wollte wieder eine Frau, und die Kinder brauchten eine Mutter und der Betrieb eine Bäuerin und Chefin.
Die neue Frau, sie musste bereit sein, eine große Verantwortung zu übernehmen. Da waren die Kinder, der Haushalt und der Betrieb.
Was würden die Kinder sagen? Sie musste von ihnen akzeptiert werden und auch von den Verwandten seiner verstorbenen Frau.
War Hedwig überhaupt bereit, so eine Verantwortung zu übernehmen? Er wollte sie als seine neue Frau und auch als Mutter für seine fünf Kinder. Es beschäftigte ihn sehr, ob und wie das alles klappen könnte.
Sie war von ihrer Art und ihrem Wesen ganz anders als Erna.
Er beschloss, sich mit seinem Schwager Alfons, dem ältesten Bruder von Erna, zu besprechen. Mit dem hatte er sich immer sehr gut verstanden. Er war auch als Vormund für die Kinder bestimmt worden. Seine Aufgabe war es somit, die Interessen der Kinder zu wahren. Dabei ging es nicht nur um das Wohlergehen der Kinder, sondern auch die Wahrung ihres Erbteils aus der Mitgift ihrer Mutter.
Josef sah durchaus die Notwendigkeit, dass seine neue Frau auch die Zustimmung der Familie seiner verstorbenen Frau finden musste. Das war ein sehr emotionales Thema, in dem er sich nicht sehr wohlfühlte. Er wollte, dass er und die Kinder weiterhin ein gutes Verhältnis zu diesem Zweig der Familie hatten.
Sein Schwager würde sich sicher über Hedwig erkundigen und dann würde er weitersehen.
Die Beziehung zu Hedwig festigte sich, und je besser er sie kennenlernte, desto sicherer wurde er, dass sie gut zu ihm und den Kindern passen würde.
Alfons meldete sich wieder bei ihm, und sie verabredeten ein Treffen, um darüber zu sprechen, wie die Familie von Erna generell zu einer neuen Heirat stand und im Besonderen zu Hedwig.
Das Treffen mit Alfons verlief sehr positiv. Er war beeindruckt von Hedwigs Familie.
Der Vater war ein Großbauer mit einer großen Mühle und wurde seit vielen Jahren immer wieder zum Bürgermeister des Ortes gewählt. Ein Onkel war Rechtsanwalt, ein anderer war sogar Abgeordneter im Landtag. Die Familie hatte einen tadellosen Ruf und Hedwig nicht weniger. Also gab es von daher keine Vorbehalte. Jetzt wollte Alfons die junge Frau aber noch persönlich kennenlernen.
Also wurde ein erneutes Treffen vereinbart, diesmal zwischen Alfons, Josef und Hedwig.
Josef erklärte Hedwig die Situation, und sie fand es normal, dass sich die Verwandten der Kinder einen Eindruck von ihr verschaffen wollten. Sie war sofort damit einverstanden. Das Ganze war für sie keine einfache Situation. Sie liebte Josef. Es gefiel ihr, wie er ihr den Hof machte. Er war gescheit, charmant und konnte lustig sein, war ein ganz anderer Typ Mann als die, die sie aus ihrer Gegend kannte. Sie konnte sich auch gut vorstellen, dass sie mit den Kindern gut auskommen würde, obwohl sie die Kinder noch nicht kennengelernt hatte. Josef hatte ihr Fotos gezeigt.
Aber sie würde den Platz einer anderen Frau einnehmen müssen, die allseits beliebt und anerkannt gewesen war. Und sie war die Mutter der Kinder. Man würde sie mit ihr vergleichen?
Das Treffen mit Alfons, Hedwig und Josef endete für alle Beteiligten sehr zufriedenstellend. Hedwig fand Alfons sehr sympathisch und umgänglich. Er nahm ihr auch die Bedenken, dass Ernas Familie etwas gegen eine neue Heirat von Josef hätte.
Hedwig hatte sich auch ein bisschen umgehört und wusste inzwischen auch einiges über die Familie von Erna.
Es war eine bekannte und hoch angesehene Familie. Ja sie erinnerte sich sogar noch an den Tag, als sie die Todesanzeige in der Zeitung gesehen hatte. Diese hatte sie auch ihrer Mutter gezeigt. Ihnen war das damals sehr nahe gegangen, dass nun diese fünf Kinder keine Mutter mehr hatten. Aber nicht im Traum hatte sie daran gedacht, dass sich ihre Wege mit dieser Familie kreuzen würden.
Ernas Eltern hatten auch eine Getreidemühle, Josef schien eine Vorliebe für Müllerstöchter zu haben.
Als die Mühle von Ernas Eltern einst abgebrannt war, hatten die Eltern zusammen mit den Kindern eine Produktion von Teigwaren angefangen. Die Nudeln waren sehr erfolgreich am Markt. Auch bei Hedwig zu Hause wurden diese Nudeln gegessen.
Nun kam für Josef und Hedwig der schwierigste Teil. Josef wollte Hedwig seinen Kindern vorstellen und, falls das gut ging, später dann auch seinen Geschwistern.
Er besprach sich mit seiner jüngeren Schwester Luise, die ja auch die Patin der Kinder war. Zu ihr hatte er ein sehr gutes Verhältnis. Sie bestärkte ihn in seinem Vorhaben und bot ihm an, bei dem Treffen anwesend zu sein. Sie hatte selbst viele Kinder und konnte sich gut in Josefs und Hedwigs Situation einfühlen.
Es wurde also verabredet, dass Luise mit ihrem Mann und einigen ihrer Kinder an dem entsprechenden Sonntag auch zu Besuch kämen. Das würde die Atmosphäre nicht so formell machen. Und die Kinder würden miteinander spielen und wären dann etwas abgelenkt.
Also wurde für das Treffen der nächste Sonntag vereinbart. Am Nachmittag, nicht zu spät, da Luise und Ihr Mann rechtzeitig am frühen Abend wieder zu Hause sein mussten. Sie hatten einen Bauernhof mit vielen Kühen, die gemolken werden wollten.
Josef informierte seine Schwägerin und die Kinder, dass am Sonntag Luise, die Gotte der Kinder, mit Familie zu Sonntagskaffee kommen würden, ebenso eine Freundin von ihm, diese aber schon zum Mittagessen.
Die Tante wusste natürlich sofort, was es mit der Freundin auf sich hatte. Falls sie die Idee hatte, dass sie und ihr Schwager vielleicht heiraten könnten, wenn auch nur aus Gründen der Vernunft. Beide waren sie verwitwet, und so gesehen hätten beide davon profitiert. Diese Idee war nun nicht länger aktuell. Sie musste sich eingestehen, dass sie und Josef auch nicht zusammen gepasst hätten. Eigentlich war ihr das schon lange bewusst, aber es war schwer, sich das einzugestehen.
Die Tante hatte drei Kinder und musste sie alleine durchbringen, seit ihr Mann, ein Lehrer, im Krieg gefallen war. Sie hatte nur eine kleine Witwenrente; das war nicht einfach. Für die Kinder konnte sie sich nur das Notwendigste leisten. Zum Glück half ihre Mutter mit einer mietfreien Wohnung in ihrem Haus und ab und zu mit etwas extra Geld.
Hier auf dem Hof war dagegen keine Not, und ihre Kinder genossen es sehr, wenn sie ihre Ferien hier verbringen konnten.
Josef hatte Hedwig in der Vorbereitung auf einem Foto nochmals die Kinder gezeigt und ihr die entsprechenden Namen dazu gesagt und ihr auch die anderen Personen und ihre Funktion im Haushalt erklärt. Da waren außer der Tante noch zwei junge Frauen, meist Töchter von Freunden oder Bekannten, die im Haushalt und mit den Kindern halfen.
Es war ausgemacht, dass Hedwig schon zum Essen kommen sollte. Das bedeutete, dass in der Stuben gegessen würde, wie immer bei Festen oder besonderen Anlässen.
So kam also der Sonntag.
Josef und die drei größeren Kinder sowie die Tante gingen gemeinsam in die Frühmesse. Danach wollte Josef mit den drei Kindern los, um Hedwig bei sich zu Hause abzuholen. So konnten die Kinder sehen, wo diese Freundin wohnte, und sie vielleicht auch gleich auf der Fahrt etwas näher kennenlernen. Für die Kinder war es normal, mit dem Papa Sonntagsausflüge zu unternehmen, somit war es nicht ungewöhnlich, dass er sie mitnahm.
Als sie endlich auf dem Hof von Hedwigs Familie eintrafen und aus dem Auto stiegen, fanden sie diesen Bauernhof sehr verschieden zu ihrem Zuhause. Da war auch ein großes Haus, aber eher alt. Daneben die Mühle, davor ein Mühlteich mit Enten und Gänsen, die Landschaft nicht so flach wie zuhause.
Da kamen schon Leute aus dem Haus, drei Frauen, eine davon schon älter, und ein Mann. Sie gaben Josef die Hand und wünschten einen guten Morgen. Dann wurden die Kinder auch von jedem mit Handschlag begrüßt, wobei eine der jungen Frauen die Kinder beim Namen nannte. Die waren etwas verblüfft, dass diese Frau ihre Namen kannte. Dies musste die Freundin vom Papa sein. Da fragte der Mann, ob sie schon mal eine Mühle mit Mühlrad gesehen hätten. Wenn sie wollten, würde er sie ihnen zeigen. Die Kinder waren froh, von den Erwachsenen weg zu kommen; die waren nur am reden, und das war etwas langweilig. So zeigte Max, der Bruder von Hedwig, den Kindern das große Wasserrad, mit dem die Mühlsteine angetrieben wurden. Es war alles mit sehr feinem Mehlstaub bedeckt, und die Kinder mussten aufpassen, dass sie ihre Sonntagskleider nicht schmutzig machten. Das hätte sonst sicher zu Hause eine Szene mit der Tante gegeben.
Als sie zurückkamen, drängte Josef auch schon zur Rückfahrt. Er wollte rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause sein.
Auf der Fahrt versuchte Hedwig ein Gespräch mit Josefs ältester Tochter. Sie war schon fast vierzehn und war extra aus dem Internat nach Hause gekommen. Da Hedwig das Internat kannte, hatten sie ein Gesprächsthema. Am Abend würde sie von Josef wieder zurückgebracht werden, wenn dieser seine Freundin nach Hause bringen würde. Das Internat war nicht so weit von Hedwigs Heimatort entfernt.
Die Kinder fanden Hedwig freundlich und sanft, und es entstand ein kleines Gespräch.
Die jüngere Schwester, Elsa, war mit ihren elf Jahren ein bisschen schüchtern, während sich der Bruder, mit seinen zehn Jahren der Jüngste von den Dreien, ohne Scheu mit Hedwig unterhielt.
Josef beobachtete das Ganze schweigend. Bis jetzt ging es doch recht gut, dachte er.
Zu Hause wurde die Rückkehr von Josef und den Kindern gespannt erwartet, besonders die „Neue“. Alle wollten endlich die vielleicht neue Frau von Josef sehen.
Als dann das Auto auf den Hof fuhr, kamen die beiden kleinen Kinder angelaufen. Die Tante und die junge Frau, die im Haushalt half, kamen auch aus der Türe, jede mit einer Schürze um.
Als die junge blonde Frau aus dem Auto stieg, verharrten Rupert und Klara in sicherem Abstand bis ihre große Schwester sie aufforderte, den Gast zu begrüßen.
Hedwig ging in die Hocke und gab erst Klara die Hand, dann dem blonden Buben, in den sie sich sofort verliebte. Sie drückte die Kleinen instinktiv an sich und lächelte sie an. Die beiden ließen sich das gefallen, die Frau schien sehr nett zu sein. Sie fragte, ob sie auch so Hunger hätten wie sie. Und da schauten sie sich an und konnten nur nicken.
Da kam auch schon Josef und stellte die Tante und das Hausmädchen vor. Hedwig ließ die Kinder los und richtete sich auf, um die beiden Frauen zu begrüßen. Von den zwei Kleinen nahm jedes Hedwig an einer Hand und hielten sie fest.
Bei der Tante merkte Hedwig sofort, dass es mit ihr nicht so einfach werden würde.
Die ganze Gruppe ging ins Haus; es war Zeit zum Essen. Die Kinder merkten, dass es ein besonderer Anlass war, da in der Stube gegessen wurde.
Die Tante brachte die Suppe und setzte sich mit an den Tisch. Die restlichen Gänge wurden vom Hausmädchen serviert, wobei die Tante es sich nicht nehmen ließ, ab und an in die Küche zu gehen, um sicherzustellen, dass alles klappte.
Nach dem Essen zeigte Josef Hedwig den Hof und das Sägewerk. Die beiden kleinen Kinder blieben immer dabei, wenn auch nicht an der Hand von Hedwig, die wurde von Josef gehalten.
Die Kinder hatten gehört, dass ihre Gotte käme. Da freuten sie sich sehr; sie mochten ihre Gotte und deren Kinder sehr.
So war die Freude groß, als das Auto der Gotte mit einem Teil ihrer Familie an Bord auf dem Hof eintraf. Es war verblüffend, wie viele Kinder neben den zwei Erwachsenen in dieses Auto passten.
Die Kinder begrüßten ihre Gotte und deren Mann, waren dann aber schnell nicht mehr zu sehen. Sie hatten sich mit ihren Vettern und Basen zum Spielen über den Hof zerstreut.
So hatten die Erwachsenen Zeit, sich zu unterhalten. Sie setzten sich an den Tisch, der unter dem Vordach am hinteren Ausgang des Hauses stand.
Luise und Hedwig verstanden sich sofort. Da hörte sie ganz auf ihr Gefühl. Bei Hedwig hatte sie ein sehr gutes Gefühl.
An diesem Nachmittag konnten sich die beiden Frauen eine ganze Weile ungestört unterhalten. Das positive Gefühl, das Luise für Hedwig hatte, verstärkte sich im Laufe dieses Nachmittags. Ab und zu kamen die kleineren Kinder von Luise und Erna angelaufen und wollten auf den Schoss von Luise und Hedwig. Bei einem dieser Momente, als Klara auf dem Schoss von Hedwig saß, brachte sie ihr Gesicht ganz nahe an Hedwigs Ohr und fragte sie leise,
>Wirst du jetzt unsere Mama?<
Hedwig drückte das Mädchen und flüsterte ihr ein „vielleicht“ ins Ohr.
Kurz nachdem es Kaffee und Kuchen gegeben hatte, mussten Luise und ihre Familie auch schon wieder nach Hause. Luise freute sich, dass ihr Bruder so eine nette Frau gefunden hatte. Beim Abschied nahm sie Josef kurz zur Seite und gratulierte ihm zu seiner Freundin.
Es dauerte einen Moment, bis die ganze Familie von Luise wieder im Auto verstaut war und sie sich auf den Weg nach Hause machen konnten.
Josef wollte auch aufbrechen, um seine älteste Tochter Rosa zurück ins Internat zu fahren und dann noch etwas Zeit mit Hedwig alleine zu haben.
Als Hedwig sich von den Kindern verabschiedete, drückte sie jedes einzelne feste an sich und versprach wieder zu kommen. Der Kleinste gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.
Der Besuch schien ein voller Erfolg gewesen zu sein, sowie auch die folgenden Besuche bei Josefs Geschwistern und auch die wiederkehrenden Besuche auf dem Hof.
Im November wurde dann die Hochzeit gefeiert. Es wurden viele Gäste eingeladen, da die Familien von Josef, Erna und Hedwig sehr groß waren. Hedwig und Josef wollten alle drei Familien bei der Hochzeit dabei haben. Sie waren nicht voneinander zu trennen.
Diese Hochzeit ist die erste bleibende Erinnerung von Rupert: Die vielen Tanten, die ihn immerzu drückten und küssten, die Onkels, die ihm nachdenklich über den Kopf streichelten, die Pelzmäntel, die alle einen eigenartigen Geruch nach Mottenkugeln verströmten .
Aber die schönste Erinnerung sind diese zwei großen Wäschekörbe in der Speisekammer, der eine voller Brötchen und der andere voll mit Wiener Würstchen. Die waren als zweites Frühstück für die Gäste gedacht, die eine längere Anreise hatten, sowie für die Nachbarn, denn es war Brauch, dass die Nachbarn auf einen Imbiss eingeladen wurden. Da konnte er sich nehmen soviel er wollte, ohne dass es jemand merkte. Wiener Würstchen waren seine Lieblingsspeise. Aber die Augen waren wohl größer als sein Hunger, nach nur einem Würstchen und einem Brötchen hatte er schon genug.
Die Trauung fand in der Dorfkirche statt. Die Hochzeitsgesellschaft ging zu Fuß vom Hof zur Kirche. Es war eine große Prozession, die sich da auf der Dorfstraße in Richtung Kirche bewegte, vorneweg das Brautpaar, Hedwig im weißen Kleid und Josef in Frack und Zylinder, die Kinder wurden zu dem Anlass extra neu eingekleidet. Nach der Trauung gab es ein Mittagessen für die geladenen Gäste im Festsaal des örtlichen Gasthauses und am Nachmittag Kaffee und Kuchen.
Nach der Hochzeit kehrte schnell der Alltag ein. Hedwig musste die Kinder besser kennenlernen; die waren zum Glück sehr unkompliziert und mochten sie auf Anhieb.
Dann waren da der Haushalt mit den beiden Haushaltsgehilfinnen, sowie die Tante, dann noch die Buchhalterin im Büro. Hedwig lernte schnell den umfangreichen Ablauf im Haus. Es gab nicht nur die Familie, sondern auch noch im alten Bauernhaus nebenan die Zimmer für die Arbeiter vom Hof und Sägewerk. Da war zum Beispiel Xaver, der „Schweizer“, der schon sehr viele Jahre auf dem Hof lebte. Er war natürlich kein Schweizer; so wurden die Bedienstete genannt, die für den Stall verantwortlich waren. Oder da waren Max, der Obersäger, der auch schon „immer“ auf dem Hof war, sowie die Rossknechte, die Säger und der Mann, der den „Lanz Bulldog“ fuhr, um das Langholz aus dem Wald in das Sägewerk zu transportieren. Für die Kinder gehörten sie zum Hof; sie waren schon vor ihnen da gewesen, also waren mit ihnen aufgewachsen.
Alle diese Menschen bekamen Frühstück, um zehn Uhr das Vesper, dann Mittagessen und abends um sechs noch einmal Vesper, dazu immer einen großen Krug Apfelmost.
Zu den verschiedenen Ernten kamen noch zusätzliche Arbeitskräfte dazu.
Es musste gekocht, gespült, geputzt und die viele Wäsche gewaschen werden. Alle vierzehn Tage wurde zwei Tage lang gewaschen. Es gab eine extra Waschküche mit einer halbautomatischen Waschmaschine, sowie einem großen mit Holz befeuerten Kessel, um die Weißwäsche darin zu kochen, große Zinkzuber, um die Wäsche darin einzuweichen oder nach dem Waschen darin zu spülen. Es war eine anstrengende Arbeit.
Bei gutem Wetter, wurde die Wäsche auf den Leinen, die auf der Wiese hinter dem Haus standen, zum Trocknen aufgehängt, im Winter auf dem Dachboden. Dort wurde sie im wahrsten Sinne gefriergetrocknet.
Rupert mochte die Waschtage. Besonders mochte er es, zwischen den aufgehängten Laken durchzurennen, und das Gefühl, wenn die fast trockenen Laken leicht über sein Gesicht streiften.
Immer wieder wurde er ermahnt, die Wäsche in Ruhe zu lassen, aber es war für ihn zu verlockend, sich darin zu verstecken. Es hatte etwas von einem weichen Labyrinth.
Die Jahre vergingen, Hedwig war längst für ihn und seine Geschwister die Mama geworden. Sie liebte die Kinder, und die Kinder liebten sie. Die Tante war einige Zeit nach der Hochzeit wieder zurück nach Hause gegangen.
Die älteste Tochter war aus dem Internat zurück und machte nun eine landwirtschaftliche Lehre. Nun war Elsa im Internat und später Klara. Da es sehr schwierig war, vom Dorf aus in die nächste Realschule zu kommen, es gab keine Busverbindung, wurde das Internat gewählt. Dort konnte man die Mittlere Reife machen und dann die Handelsschule.
Inzwischen hatte sich die Struktur im Haushalt geändert. Nachdem die Haushälterin, Frau Riedmüller, mit Mann und Sohn zurück auf den elterlichen Hof musste, wurde keine neue Haushälterin mehr eingestellt. Die Kinder waren ja schon groß genug, um Aufgaben im Haus zu übernehmen. Auch die Buchhalterin wurde nach ihrem Weggang nicht ersetzt. Diese Aufgaben übernahmen jetzt Rosa, die frisch die Handelsschule abgeschlossen hatte, und Hedwig. Es blieb nur noch ein Hausmädchen, um Hedwig zu unterstützen. Da während der Ernte alle möglichen Früchte eingeweckt und viel Marmelade gekocht wurde, war immer noch genug zu tun. Auch während der Hausschlachtung Anfang Winter gab es extra Arbeit. Fleisch wurde eingesalzen, um dann geräuchert zu werden. Es wurden Wurst in Dosen, Dauerwürste und viele andere Produkte gemacht. Alles vom Schwein und Rind wurde verwendet. Im Herbst wurde in mehreren großen Tongefäßen Kraut eingemacht; es fermentierte dann zu Sauerkraut. Das wurde im Winter viel gegessen.
Die Kinder mussten mittags abspülen und die Küche fertig machen. Für ihre Schulbrote waren sie selbst verantwortlich, ebenso für das Putzen ihrer Schuhe. Samstags wurde das Haus geputzt. Da musste Rupert dann mit dem Staubsauger durch die Zimmer gehen.
Hedwig fing an, die überzähligen Zimmer im Haus im Sommer an Feriengäste zu vermieten. Sie war im Dorf die erste, die sich das getraute. Es war ein voller Erfolg, über viele Jahre kamen oft dieselben Familien im Sommer für einige Wochen, für deren Kinder war der Bauernhof so etwas wie eine zweite Heimat.
Die Kinder durften immer in den Ferien einige Tage bei der Oma oder bei einer der Familien der vielen Tanten und Onkels verbringen. Im Gegenzug kamen die Kinder der Verwandtschaft in den Ferien auf den Hof. Rupert liebte es, seine Ferien bei seiner Gotte zu verbringen, die liebte er heiß und innig. Aber besonders gerne ging er während der Ferien zu seiner Tante Erika, einer Schwester von Hedwig. Diese hatte auch eine große Familie und einen kleinen Edeka Laden. Ihr Mann war der Bürgermeister in dem kleinen Dorf, aus dem Hedwig stammt. Rupert durfte da immer im Laden helfen und manchmal auch ganz alleine die Kunden bedienen. Das machte ihm sehr viel Spaß, während die Kinder der Tante den Laden eher mieden, da es für sie eine eher lästige Angelegenheit war.
Ein anderes Traumziel für ihn die Ferien bei seiner Tante Helga, einer Schwester von Hedwig, und Onkel Rupert. Onkel Rupert war Bäcker, und sie hatten eine Bäckerei mit Laden. Alleine schon der Geruch nach frisch Gebackenem war herrlich und dann bekam er zum Frühstück immer eine Zuckerschnecke. Das war immer richtig schön. Auch mit den vielen Kindern konnte er viel unternehmen. Onkel Rupert war der einzige Mensch, den er kannte, der den gleichen Namen hatte wie er. Eigentlich mochte Rupert seinen Namen nicht, er war sehr selten. Die meisten Leute verstanden ihn immer falsch, von Robert bis Hubert. Er hätte viel lieber Hubert geheißen. Diesen Namen kannte jeder; da gab es den heiligen Hubertus, dem, als er auf der Jagd war, ein Hirsch mit einem leuchtenden Kreuz zwischen dem Geweih erschienen ist. Er hatte ein Bild davon gesehen, das ihn sehr beeindruckt hatte. So hätte er gerne geheißen.
Rupert durfte manchmal am Abend, wenn die Rossknechte die Rosse in den Rossstall brachten, die letzten Meter auf dem starken und großen Haflinger in den Stall reiten. Da setzte ein Rossknecht den kleinen Jungen auf das mächtige Pferd, das ganz freundlich war und nur zu seinem Futtertrog wollte. Bei der Stalltüre musste er seinen Kopf einziehen, sonst wäre er gegen den Rahmen gestoßen.
Im Sommer nahmen ihn seine Geschwister mit zum nahen Fluss um zu baden. Dort trafen sich die Kinder vom Dorf mit ihren Freunden.
Rupert bekam noch zwei Brüder. Nun war er nicht mehr der Jüngste. Sein jüngster Bruder war zehn Jahre jünger als er. So bekam er öfter den Auftrag, auf seinen kleinen Bruder aufzupassen.
Es war immer etwas los auf dem Hof mit den vielen Leuten und mit seinen Freunden im Dorf, die auch alle auf Bauernhöfen wohnten.
Manchmal durften sie auf der Wiese hinter dem Haus zelten. Das Zelt war dann ein Dreiecksgerüst aus Holzböcken, die man sonst zum Heu machen verwendete. Darüber wurden Planen, die man sonst in der Landwirtschaft brauchte, gelegt. Auf den Boden kam Stroh und fertig war die Behausung. Die Kinder durften da ihre Freunde einladen und auch darin übernachten. Es wurde dann die hintere Haustüre nicht abgeschlossen, falls die Kinder nachts Angst bekämen, so könnten sie zurück in ihre Zimmer. Es war schon sehr unheimlich, diese ganzen Geräusche in der Nacht so ganz nah. Und was, wenn der Räuber käme? Die offene Haustüre war öfters für die kleinen Kinder ein sicherer Rückzugsweg.
Es kam der Moment des ersten Schultages. Rupert fragte seinen Vater am Tag vorher, ob sie auch diese süßen, großen Brezeln bekommen würden. Josef rief seinen Freund, den Bäcker an und fragte nach, ob dieser daran denken würde. Der fragte, zurück, wie viele Erstklässler es denn gäbe; Josef fragte den Bub, dieser zählte alle auf, es waren sieben.
So war sichergestellt, dass es am ersten Schultag für die neuen Schüler diese für Rupert so wichtigen Brezeln gab. Schultüten waren im Dorf unbekannt.
An seinem ersten Schultag wurde Rupert seinen Geschwistern „mitgegeben“. Sie nahmen ihn mit in die Schule; das war ein kurzer Weg von einigen hundert Metern.
Es gab einen Lehrer für alle acht Klassen in einem Raum. Der Lehrer wohnte über der Schule.
Stand eine Bestrafung an, gab es Schläge mit dem Stock auf die ausgestreckte Hand oder auf den „Hosenboden“. Selbst der Pfarrer, der den Religionsunterricht erteilte, hatte einen Rohrstock, den er auch einsetzte.
Rupert war ein mäßiger Schüler, die Schule und die Hausaufgaben interessierten ihn nicht sehr. Besonders bis die Hausaufgaben fertig waren, war es eine Qual und zog sich meist unnötigerweise in die Länge. Da hörte er schon seine Freunde draußen spielen, und er saß an den blöden Hausaufgaben fest.
Das ganze Dorf war sein Spielplatz. Die anderen Kinder spielten gerne Fußball, das mochte er nicht so, die Größeren kickten den Ball immer mit ganzer Kraft. Das tat weh, wenn er vom Ball getroffen wurde. Dazu wurde er oft für das Tor abgestellt. Nein, Fußball mochte er nicht. Aber ihn faszinierte alles, was mit der Feuerwehr zu tun hatte. Es gab im Dorf eine freiwillige Feuerwehr. Immer wenn diese übte, war er zur Stelle und schaute genau zu. Später wollte er auch zur Feuerwehr, und sein Ziel war ganz klar: er wollte Feuerwehrhauptmann werden.
In der dritten Klasse wurde er „Erstkommunikant“ . Er sollte am Weißen Sonntag, dem Sonntag nach Ostern, seine erste heilige Kommunion empfangen. Dazu musste er in den Kommunionsunterricht, der vom Pfarrer abgehalten wurde.
Das Schlimmste an der Sache war, dass er Einladungsbriefe an seine „Gotte“ und seinen „Gette“ sowie an die Tante, die nach dem Tod seiner Mutter auf dem Hof geholfen hatte, schreiben musste. Das war ein etwas schwieriges Unterfangen. Es hieß nur, du musst die Einladungen schreiben. Aber niemand erklärte ihm genau, wie er das machen sollte und wie das ging. Letztendlich half ihm seine große Schwester, und die Briefe wurden geschrieben und abgeschickt.
Für diesen wichtigen Tag bekam er einen sehr schönen schwarzen Anzug und neue Schuhe. Da sah er wirklich toll darin aus. Einer der Kommentare lautete: Wie ein kleiner „Hochzeiter“.
Die eingeladenen Gäste trafen rechtzeitig ein. Es war fast eine kleine Prozession vom Haus bis in die Kirche.
Am Kommunionstag war morgens der Gottesdienst in der Kirche, dann fuhr die Mutter mit ihm zum Fotografen, um diesen wichtigen Tag im Bild festzuhalten.
Die Mutter und die Schwestern hatten das Festmahl vorbereitet.
In der Stube wurde mit Tischen ein großes U aufgestellt. Dieses war festlich mit weißen Tischtüchern und Blumen als Tischdekoration geschmückt. Irgendwie passten die Gäste und die ganze Familie an diese Festtafel.
Es wurde in einer ausgelassenen Stimmung gegessen, und am Nachmittag gab es Kaffee und Kuchen. Danach musste seine Patin Luise mit Mann wieder zurück auf ihren Bauernhof. Abends gab es noch ein Vesper. Danach verabschiedeten sich die Gäste. Die Erstkommunikanten mussten nochmal in die Kirche, um an der Abendandacht teilzunehmen.
Für den Erstkommunikanten gab es natürlich Geschenke, das war ja auch ein sehr wichtiger Teil dieses Tages.