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DER PROVOKATEUR
ОглавлениеPIERRE BOULEZ
* 26. März 1925, Montbrison
† 5. Jänner 2016, Baden-Baden
Widersprüchlicher konnte ein Mensch kaum sein.
Bereits als 20-Jähriger hatte Pierre Boulez bei einem Pariser Strawinsky-Konzert lautstark gegen dessen „neoklassische Färbung“ protestiert, obwohl er ihn bis zuletzt als sein Vorbild bezeichnete – und dieser ihn wiederum als seinen legitimen Erben ansah. Als in den 1950er-Jahren die Wiederentdeckung von Schönberg einsetzte, proklamierte er kurzerhand, dass „Schönberg tot“ sei, weil er sich zu wenig radikal von den konventionellen Satzformen entfernt hätte – einige Jahre später führte er ihn exemplarisch auf. Die Kompositionen von Alban Berg bezeichnete er als Kitsch, um an anderer Stelle seine Liebe zu ihm einzugestehen.
Obwohl ihn Otto Klemperer als den Einzigen seiner Generation bezeichnet hat, der ein ausgezeichneter Dirigent und Musiker sei und er für seine zahllosen Aufnahmen unglaubliche 26 „Grammy Awards“ erhielt, betrachtete er sich nicht in erster Linie als Dirigent.
Niemals hätte man solche Widersprüchlichkeiten bei einem anderen Künstler hingenommen – Pierre Boulez war einer der wenigen Musiker, dessen Äußerungen in jedem Falle ernst genommen wurden. Denn er war schon zu Lebzeiten zu einer Institution geworden, wobei man anmerken sollte, dass er auch gleichzeitig als einer der führenden Komponisten unserer Zeit galt.
Allerdings zeitigten seine Äußerungen auch durchaus fatale Folgen. 1967 proklamierte Boulez in einem viel beachteten „Spiegel“-Interview, dass es am besten sei, „die Opernhäuser in die Luft zu sprengen“, was neben den üblichen Verwerfungen auf den Feuilletonseiten 34 Jahre später noch ein Nachspiel hatte, als er von einem Sonderkommando der Schweizer Polizei nächtens in seinem Basler Hotelzimmer überwältigt wurde, da er zu „Sprengstoffattentaten“ aufgerufen hätte … Die wackeren eidgenössischen Gesetzeshüter konnten natürlich nicht wissen, dass diese Äußerung grob aus dem Kontext gerissen war. Der Dirigent hatte damals lediglich die an Opern übliche Routine und ungenügende Vorbereitung bemängelt, der am „elegantesten“ auf diese Art zu begegnen sei. Pierre Boulez liebte es eben, Denkanstöße zu vermitteln. Schließlich hatte er zum Zeitpunkt dieses Aufrufs schon seine ersten großen Erfolge als Operndirigent gefeiert. Wieland Wagner hatte ihn überraschenderweise dazu eingeladen, 1966 den Parsifal in Bayreuth zu dirigieren. Das Wagnis gelang: Zwar brach der 38-Jährige bewusst mit allen Traditionen und entkleidete das „sanctum sanctorum Wagners“ von jeglicher Sentimentalität, doch durch die sachliche Annäherung geriet das Weihefestspiel in ein völlig neues, weil transparentes Licht. Nach diesem viel diskutieren Erfolg wurde Boulez zehn Jahre später damit beauftragt, zusammen mit dem Filmregisseur Patrice Chereau den Jahrhundert-Ring am Grünen Hügel zu gestalten. Die Rezeption durch das Publikum war für Boulez durchaus typisch: Gerieten die Aufführungen im ersten Jahr zum handfesten Skandal, endete die letzte Götterdämmerung vier Jahre später mit 101 Vorhängen und 90 Minuten Applaus, sodass er 2004 erneut zu einem Parsifal nach Bayreuth geladen wurde, wobei durchaus bemerkenswert war, dass er das Weihefestspiel im gleichen ungewöhnlich raschen Tempo durchmaß wie fast 40 Jahre zuvor. Das überrascht nicht, denn Boulez galt als ausgesprochen vernunftgesteuerter Dirigent. Selbst bei hoch emotionalen Werken, wie etwa Mahlers Symphonien, wirkte er niemals persönlich involviert. Mit der durchaus berechtigten Frage konfrontiert, ob er denn während einer Aufführung keine Empfindungen habe, antwortete er nur, dass er sehr wohl Emotionen habe, aber nicht verpflichtet sei, sie zu zeigen.
Wie viele seiner Kollegen wollte Boulez eigentlich Pianist werden. Schon mit sieben Jahren erhielt er seinen ersten Klavierunterricht. Nachdem er mit dem Besuch eines mehrjährigen Intensivkurses in Mathematik den Wünschen seines Vaters gefolgt war, wandte er sich 17-jährig endgültig der Musik zu, wurde aber „wegen Unfähigkeit“ nicht zum Klavierstudium am Pariser Konservatorium zugelassen. So studierte er dort eben Harmonielehre und Komposition bei Olivier Messiaen sowie Analyse und Komposition bei René Leibowitz, einem leidenschaftlichen Verfechter der reinen Zwölftonlehre. Dirigieren brachte er sich in erster Linie selbst bei.
Nach einem Intermezzo als Leiter, Arrangeur und Komponist der Bühnenmusik bei der Compagnie Renaud-Barrault trat er zunächst als Komponist in den Vordergrund. Zwar dirigierte er von 1953 bis 1957 die Konzerte des von ihm begründeten Domaine Musical und übernahm 1959 die Leitung der Donaueschinger Musiktage. Dass er schließlich doch häufiger dirigierte, lag einfach daran, dass er „es nicht mehr ertragen konnte, die Musik unserer Zeit schlecht interpretiert zu hören“, wie er in einem Zeitungsinterview sagte. Woraufhin ihm nichts anderes übrig blieb, als selbst Hand anzulegen. Auf einen Taktstock verzichtete er von Anfang an, weil man mit den Händen mehr ausdrücken könne als mit einem Holzstäbchen, das er mit einem Schwert verglich.
Das Schlüsselerlebnis, das ihn schließlich endgültig mit dem süßen Gift des Dirigierens infizieren sollte, hatte Boulez Ende der 1950er-Jahre in Donaueschingen, wo er Hans Rosbaud, den Leiter der dortigen Musiktage, kurzfristig bei einem Konzert mit Béla Bartóks Tanzpantomime Der wunderbare Mandarin ersetzen musste: „Ich war grässlich aufgeregt. Und dann habe ich den Mandarin ganz wild gemacht, so wild wie seitdem nie mehr. Es war ein großer Erfolg. Damit hat alles begonnen“, schilderte er weiter.
Nach einem Streit mit den Pariser Kulturbehörden zog er 1958 nach Baden-Baden um, wo ihn der Südwestfunk, der Heimat seines Mentors Hans Rosbaud, mit offenen Armen aufnahm und sich damit das Recht erwarb, alle Uraufführungen seiner Werke zu senden. 1963 sollte er kurzzeitig nach Paris zurückkehren, um dort mit Le Sacre du printemps im Konzertsaal und mit Wozzeck an der Oper Furore zu machen. Erst als der experimentierfreudige Wieland Wagner ihn schließlich nach Bayreuth berief, wurde er auch als Dirigent der Musik des 19. Jahrhunderts bekannt.
Zeit seines Lebens dirigierte Boulez nur Werke der Komponisten, die zu ihrer Zeit in die Zukunft verwiesen haben: Beethoven, Bruckner, Wagner, Mahler – den er als Bindeglied zwischen Wagner und der Wiener Schule ansah –, daneben Berlioz, den frühen Strawinsky, Bartók, Ravel, Debussy, Varèse, Messiaen und zahlreiche zeitgenössische Komponisten. Tschaikowsky hat er niemals dirigiert, Brahms betrachtete er als „bourgeois und selbstgefällig“, Prokofjew gar als „unbedeutendes Talent“, selbst Britten und Schostakowitsch lehnte er als „konservativ“ ab. Zwar gab er von 1967 bis 1972 als ständiger Gastdirigent regelmäßig Konzerte mit dem Cleveland Orchestra, dennoch sollte es noch einige Jahre dauern, bis er sich fest an ein Symphonieorchester band. 1969 verpflichtete sich Boulez als Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra in London und wurde 1971 als Nachfolger des gänzlich anders gearteten Leonard Bernstein Musikdirektor des New York Philharmonic Orchestras, der er bis 1977 blieb. Danach beschränkte er sich wieder auf Gastdirigate und widmete seine restliche Zeit der Komposition und der Erforschung neuer Klänge.
1976 übernahm er in Paris die Präsidentschaft des neu gegründeten Ensembles InterContemporain (EIC) und des Institute de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique (IRCAM), das sich der Forschung von neuer Musik widmete und dessen Leiter er bis 2002 blieb. Um den „verlorenen Sohn“ näher an sein Heimatland zu binden, wurde ihm vom französischen Staat ermöglicht, die Cité de la Musique in Paris zu gründen. Zugleich trat er eine Professur für technische Neuerungen und musikalischen Ausdruck am Collège de France an.
Im Jahre 2003 hatte Boulez seine Lehrtätigkeit wieder aufgenommen, übrigens aus einem ähnlichen Grund, aus dem er ursprünglich das Dirigieren begonnen hatte. An der Lucerne Festival Academy, die er begründete und dessen Leitung er innehatte, wurden junge Instrumentalisten ausschließlich in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ausgebildet.
Obgleich er in den Jahren vor seinem Tod meinte, dass „wir“ – damit meinte er Karlheinz Stockhausen, Bruno Maderna und Luigi Nono, mit denen er die ehedem revolutionären Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besucht hatte – „damals nicht weit genug gegangen“ sind, war Boulez im Alter besonnener geworden: „Ich bin unbedingt dafür, nach vorne zu schauen …, was nicht unbedingt heißt, dass man überall gleich Feuer legen muss“, meinte er in einem Interview. Allzu weit wollte er mit seiner Konzilianz dann doch nicht gehen. Der Provokateur aus Leidenschaft fügte an gleicher Stelle hinzu: „Ich liebe immer noch den Kampf, unter der Bedingung, dass mir der Gegner ebenbürtig ist.“
Und einen solchen hatte er bis zu seinem Tod nicht gefunden, denn wer wagt es schon, sich mit einer Institution anzulegen?
FRAGEN AN PIERRE BOULEZ
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit irgendeinem Komponisten, ob tot oder lebendig, einen Abend zu verbringen, mit wem wollten Sie sich treffen und was würden Sie ihn fragen?
Lieber würde ich einen Schriftsteller oder Maler treffen. Das wäre für mich interessanter. Wenn ich etwa Monteverdi treffen würde, was könnte ich mit ihm besprechen?
In welcher Zeit hätten Sie als Komponist am liebsten gelebt?
In der Gegenwart.
Auf der Bühne entfernt man sich immer mehr vom Urtext, während man sich im Orchestergraben diesem immer mehr nähert. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Die Musik ist viel präziser als der Text, den man auf vielfältigere Art interpretieren kann. Als Regisseur hat man viel mehr Freiraum als ein Musiker. Wagner etwa hat die Handlung aus seiner Zeit heraus gesehen, während seine Musik außerhalb der Zeit steht.
Seit dem 20. Jahrhundert besteht das Konzertprogramm zu 90 Prozent aus Musik schon längst verstorbener Komponisten. Worin liegt Ihrer Meinung nach die Begründung dafür?
Dieses Problem herrscht schon eine lange Zeit. Schon Berlioz hat in seinen Memoiren beklagt, dass in Paris immer derselbe Beethoven und dieselben Werke von konservativen Komponisten gespielt würden, weil man gegenüber den Neuigkeiten nicht aufgeschlossen war. Bereits im 19. Jahrhundert hat man wegen des historischen Bewusstseins viel mehr Musik der Vergangenheit gespielt, weil die gegenwärtige Musik so individuell geworden war. Es gab schon immer einen Abstand zwischen dem neu Geschaffenen und dem bereits Akzeptierten. Das ist dasselbe wie in der Malerei. Die Impressionisten etwa, die heute überall gefeiert werden, waren in ihrer Zeit keineswegs angesehen.
Es gibt immer mehr sehr gute Orchester und immer weniger herausragende Dirigenten. Woran liegt das?
Das ist eine Frage der Persönlichkeiten – und der Genetik.
Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Musik in der heutigen Zeit?
Die Musik hatte bis zu Mozarts Zeiten, in der Kirche wie auch in der Gesellschaft, die Aufgabe der Unterhaltung. Jetzt ist sie leider eine elitäre Kultur geworden, die für viele nicht notwendig ist. Das liegt an der Erziehung, bei der die Kultur immer mehr vernachlässigt wird. Zudem hat die Kirche keinen Einfluss mehr auf die Musikkultur, wodurch diese nur mehr für eine Konzertgesellschaft relevant ist, die nur eine kleine Gruppe im Vergleich zur Bevölkerung bildet. Deshalb sollte man sich viel mehr um die kulturelle Erziehung kümmern, damit unsere Nachfahren erkennen können, wie wichtig die Kultur für das Leben ist.
Wären Sie kein Dirigent geworden, welchen Beruf hätten Sie ergriffen?
Keinen, weil ich keine andere Begabung habe.
Welcher Dirigent ist Ihr Vorbild und warum?
Es gibt kein Dirigentenvorbild für mich. Ich bin ja ziemlich spät zum Dirigieren gekommen, und als ich jung war und eigentlich bis heute, steht für mich im Konzert nicht der Dirigent im Vordergrund, sondern das Werk.
Was war Ihr bewegendstes Musikerlebnis?
Es sind immer die Jugenderlebnisse, die wichtig sind, weil man zum ersten Mal etwas Bestimmtes gehört hat. Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, wo es kein Orchester gab. Erst als Student habe ich zum ersten Mal ein Orchesterkonzert erlebt, was ein großes Erlebnis war. Auch meine ersten Opern, die ich gehört habe, Die Meistersinger von Nürnberg und Boris Godunow, waren für mich eine ganz neue Welt. Diese ersten Eindrücke sind unwiederholbar.
Womit verbringen Sie am liebsten Ihre Freizeit?
Mit Dingen, bei denen ich mich geistig erfrische: Ich gehe spazieren, lese oder gehe in Ausstellungen.
Was hören Sie in Ihrer Freizeit?
Nichts.
Sind Interpretationsschemata dem Zeitgeist unterworfen?
Sicher. Wenn man etwa Furtwänglers Beethoven-Interpretationen hört, bemerkt man sehr stark den Einfluss von Wagner. Wenn man heutige Aufnahmen damit vergleicht, die von der Erfahrung mit der Barockmusik gekennzeichnet sind, ist das ein ganz anderer Gesichtspunkt. Wobei beides legitim ist. Es gibt für mich keine Authentizität. Das ist reine Fantasie.
Welche Art von wissenschaftlicher Forschung würden Sie unterstützen?
Jede Forschung, die nicht dem Kriege dient, obwohl unsere Kultur sehr oft davon profitiert hat. All die Fortschritte, die nach dem Krieg in der Wissenschaft gemacht wurden, waren zuerst für diesen entwickelt.
Würden Sie noch einmal geboren, was würden Sie anders machen?
Nichts. Vielleicht würde ich die Zeit zwischen Komponieren und Dirigieren besser aufteilen.
Welche drei Dinge würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?
Nur Notenpapier. Um in Ruhe zu komponieren.
Welches Motto steht über Ihrem Leben?
Keines. Das wäre eine Verpflichtung. Ich möchte frei sein. Schließlich ändert sich das Leben, und deshalb möchte ich auch immer mein Motto ändern können.