Читать книгу Die Schule der Einhörner - Ruth Rahlff - Страница 6

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Begegnung bei Mondschein

Braten, Kohl und geräucherte Salbeistängel, vermischt mit Rosenblüten und Pferdeschweiß. Wie eine Welle schlugen die Gerüche über Holly zusammen, als sie hinter einem der Schlossdiener durch die goldene Eingangstür huschte. Holly schnappte eine letzte Portion frische Luft, bevor die Türflügel hinter ihr zuknallten.

Sie stellte sich so dicht ans Kaminfeuer, dass die Hitze fast wehtat, und sah sich um.

Fackeln erleuchteten einen endlos langen Flur. An dessen Ende befand sich eine breite Treppe. Wahrscheinlich. Um ganz sicherzugehen, hätte Holly durch Gisberts Fernrohr gucken müssen.

Das Schloss war riesig – Holly fühlte sich winzig wie eine Ameise. Zumindest hier, unter der hohen Marmordecke.

Sie zupfte einen Diener am Ärmel, der mit einem Berg Decken und Kissen beladen war. „Ich suche meine Mutter.“

„Ich hab sie jedenfalls nicht“, schnauzte der Diener und wankte mit seinem Wäscheberg erstaunlich schnell davon.

Auch ein Küchenjunge und eine Kammerzofe schoben sie nur zur Seite, ohne zu antworten.

Wie reizend. Einen Moment lang überfiel sie heftiges Heimweh. Zu Hause im Smaragdwald war niemand so unfreundlich zu Fremden. Außer den Buntnasengnomen natürlich. Die fraßen kurzerhand jeden auf, dessen Namen sie nicht kannten.

Reiß dich zusammen, ermahnte Holly sich. Irgendwo musste Mahina ja sein.

Sie rannte den Flur entlang, die breite Treppe hinauf. Oben dasselbe Spiel: Fackeln und Türen in einem Gang, so lang wie ein Lindwurm.

Dreimal ging das so. Bis Holly einen Durchgang entdeckte, in dem eine Ritterrüstung stand, die sich gerade auf Hochglanz polieren ließ.

„He, hier darfst du nicht rein“, protestierte der Diener, der die Rüstung wienerte.

Wortlos drückte sich Holly an ihm vorbei und sauste eine schmale Wendeltreppe hinauf. Der Diener keuchte ihr hinterher, gab jedoch auf halber Strecke auf, als unten die Rüstung klappernd umfiel. Holly kicherte leise.

Da hörte sie Stimmen. Die Zicke von vorhin! Luise. Und wer war die andere Person? Sie schlich ein paar Stufen höher. Holly duckte sich hastig. Königin Bernadette höchstpersönlich.

Holly kauerte sich auf die Stufen. Die beiden würden da ja nicht ewig herumstehen. Großartig. Ihr erster Besuch im Schloss – und mit wem legte sie sich zuallererst an? Mit Prinzessin Luise, Tochter und Thronerbin von Königin Bernadette, Herrscherin über ganz Balisalien. Glückwunsch!

„In den nächsten Tagen trifft Sir Conrad mit seiner Tochter Yvonne ein“, sagte die Königin soeben.

„Ich verstehe nicht, wozu wir einen Verwalter brauchen“, maulte Luise. „Du kümmerst dich doch. Und für die Einhörner haben wir Dolores.“

„Der Streit mit Lord Brandur erfordert meine volle Aufmerksamkeit“, erwiderte Königin Bernadette. „Ich bin froh, dass wir jemanden gefunden haben, der das Schloss beaufsichtigt. Yvonne ist so alt wie du, und es ist doch schön, dass Dolores sie ebenfalls ausbilden wird.“

„Das ist überhaupt nicht schön!“, giftete Luise. „Du weißt genau, wie blöd ich das finde!“

„Luise, wie egoistisch. Du bist praktisch bei den Einhörnern aufgewachsen. Dolores hat dir so viel beigebracht.“

„Hat sie nicht“, widersprach Luise. „Das meiste habe ich mir heimlich abgeguckt. Ewig warte ich darauf, dass meine Ausbildung anfängt – und jetzt kommt noch jemand dazu. Das ist ungerecht!“

Es knallte dumpf. Hatte Luise eben mit dem Fuß aufgestampft? Voll albern. Aber irgendwie verständlich.

„Es ist eine Ehre, dass Dolores euch zu Hüterinnen ausbilden will“, erklärte Königin Bernadette streng. „Und nun reiß dich zusammen! Sonst überlege ich mir das noch mal mit deiner Ausbildung.“

Stille.

Das muss sie erst mal verdauen, dachte Holly und rieb sich lautlos das linke Bein, das unangenehm kribbelte.

„Hast du nicht gesagt, dass Yvonne erst in ein paar Tagen kommt?“, fragte Luise auf einmal. „Wer war dann vorhin das rothaarige Mädchen im Schlosshof?“

Genau diesen Moment suchte sich Hollys Bein aus, um vollständig einzuschlafen. Holly verlor den Halt und rutschte nach hinten. Alles andere als lautlos landete sie auf dem nächsten Treppenabsatz. Über ihr tauchte das Gesicht der Königin auf.

„Und wer bist du?“, fragte sie missbilligend.

„Ähm, Holly“, antwortete Holly und spürte, wie ihr Gesicht dieselbe knallrote Farbe annahm wie ihre Haare.

Zum Glück drängelte sich Luise an ihrer Mutter vorbei und half ihr hoch. Königin Bernadette schaute Holly prüfend an. „Bist du Mahinas Tochter?“

Holly nickte.

„Mahina ist die großartigste Hexe weit und breit“, platzte es aus Luise heraus. „Sie hat mal einem unserer Einhörner als Fohlen das Leben gerettet.“

„Wirklich?“, fragte Holly. „Davon wusste ich gar nichts.“

„Wir sehen uns zum Abendessen in der Halle“, verabschiedete sich Königin Bernadette und verschwand.

Luise reichte Holly die Hand. „Frieden?“

Holly zögerte.

„Tut mir leid, dass ich vorhin so biestig war. Ich dachte, du wärst …“

„Yvonne“, vollendete Holly den Satz und grinste.

Luise war echt zickig gewesen. Sie selbst allerdings auch … Außerdem kannte sie sonst niemanden im Schloss. Was sich schleunigst ändern musste. Schließlich würde sie hierbleiben, wenn Mahina zu Lord Brandur weiterreiste, um den Streit mit ihm zu schlichten.

Im Norden von Balisalien lag eine gewaltige Wüste. Dahinter begann das Reich von Lord Brandur. Der seit Neuestem von Königin Bernadette verlangte, sich von einigen der kostbaren Einhornstuten zu trennen. Denn Einhörner waren außerhalb von Balisalien höchst begehrt. Doch die meisten Einhörner lebten nur für begrenzte Zeit im Schloss. Nach ihrer Ausbildung suchten sie sich selbst aus, in welchem Teil des Landes sie künftig bleiben wollten. Niemand konnte ihnen etwas vorschreiben. Und sie erst recht nicht irgendwohin verfrachten.

„Na gut“, willigte Holly ein. „Aber du musst mir verraten, wo die Einhörner sind.“

„Wieso? Im Stall“, antwortete Luise verwundert.

„Ich habe heute nicht mal den klitzekleinsten Einhornschweif gesehen, als ich im Stall war.“

Luise kicherte. „Die Einhörner sind vorhin erst aus den Ferien zurückgekommen. Die ganze Herde ist über die Brücke gedonnert!“

„Aber das hätte ich mitkriegen müssen“, sagte Holly bestürzt. „Ich war doch den ganzen Tag hier.“

Fast. Bis auf die letzten zwei, drei Stunden. Da war sie in den Dünen und am Strand herumgestromert. Verflixt!

„Mach dir nichts draus. Abends lässt Dolores niemanden mehr in den Stall. Aber morgen früh kannst du sie dir ansehen.“

Holly nickte unglücklich.

Luise knuffte sie in die Seite. „Bis zum Abendbrot ist noch Zeit. Soll ich dir das Schloss zeigen?“

Holly seufzte. „Ist gut.“

Holly schlug die Augen auf. Das kühle, milchige Mondlicht schien ihr direkt ins Gesicht.

Benommen rollte sie sich auf die Seite. Sekunden später fiel ihr wieder ein, wo sie war.

Sie lauschte. Hinter den Vorhängen des Himmelbetts an der gegenüberliegenden Wand ertönte leises Schnarchen. Mahina schlief tief und fest. Ansonsten war alles still.

Holly tastete die Bettdecke ab. Nichts. Yella war auf Mäusejagd.

Mit einem Mal fühlte sich auch Holly putzmunter. Sie kroch aus dem Bett und tappte zum Fenster.

Der Schlossgarten badete im Mondlicht. Er war ein rätselhaftes Labyrinth aus Büschen und Bäumen. Und mittendrin eine große, dunkle Fläche. Der See.

Holly lehnte sich hinaus. Bestimmt war es schon weit nach Mitternacht.

Kurz entschlossen schlüpfte sie aus dem Zimmer und nahm die erstbeste Treppe nach unten.

Glück gehabt! Anstatt in der Schlossküche oder in der Waffenkammer zu landen, fand sie sich kurz darauf im Kräutergarten wieder. Von hier aus war es nicht weit bis zum See.

Holly lief quer über die Wiese, das Gras kitzelte an ihren nackten Füßen.

Grillen zirpten um die Wette, und unter den Bäumen am See schwirrten winzige Lichtpunkte umher.

Holly setzte sich ans Ufer, dorthin, wo der Glühwürmchenschwarm am dichtesten war.

Sie zog die Beine an und schaute über das Wasser.

Mit einem Mal hörte sie ein Plätschern. Ganz in der Nähe.

Sie hob den Kopf. Was war das?

Ausgerechnet jetzt verschwand der Mond hinter einer Wolke.

Gänsehaut überzog ihre Arme und Beine. Etwas näherte sich. Etwas Großes.

Holly war wie gelähmt. Hilflos starrte sie auf den hellen Sandstreifen, der Wasser und Wiese trennte.

Und genau dort tauchte es auf.

Holly kniff sich in den Arm. Fest genug für einen blauen Fleck. Der würde sie morgen daran erinnern, dass das hier kein Traum war.

Das große Etwas kam näher. Im nächsten Moment zog die Wolke weiter, und silbriges Licht fiel wie ein Scheinwerfer auf das Wesen.

Holly hielt den Atem an. Vor ihr stand ein zierliches fliederfarbenes Einhorn. Ein schöneres konnte es nicht geben! Seine violette Mähne fiel in seidigen Wellen über den zarten Hals. Sein Schweif streifte die Grashalme. Das lange, gedrehte Horn war dunkelviolett, ebenso wie die Augen, die Holly jetzt aufmerksam betrachteten.

Geh nicht weg. Bitte, bleib hier!, fuhr es Holly durch den Kopf.

Entweder, das Einhorn konnte Gedanken lesen, oder es hatte sowieso vor zu bleiben. Lautlos sank es neben Holly ins Gras. So nah, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um es anzufassen. Sollte sie?

Wieder kam ihr das Einhorn zuvor.


Holly überlief ein Schauder, als seine feinen Nüstern ihre Hand berührten, den Arm entlangschnupperten und schließlich durch ihr Haar wuschelten.

Zaghaft streichelte sie seinen Rücken. Weich, warm und seidenzart fühlte sich das Fell an.

Sie fuhr durch die Mähne, dann kraulte sie es hinter den Ohren. Wie sie es sonst bei Justus machte.

Auch das Einhorn mochte das. Genüsslich schnaubend legte es den Kopf in Hollys Schoß. Es war kaum auszuhalten!

Seite an Seite saßen Holly und das Einhorn beieinander und schauten hinaus auf den See.

Später konnte Holly nicht mehr sagen, wie lange sie dort am Ufer gesessen hatte. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.

Die Schule der Einhörner

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