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Das gefallene Mädchen
ОглавлениеSie lauerten ihr auf, versteckt hinter einer Hecke am Rhoneufer. Es waren ihrer sieben, sieben Männer zwischen zwanzig und dreissig, und jeder hielt in den Händen einen Besen von Schwarzdorn und pfefferig riechenden Weidenruten, alles gut zusammengeschnürt. In ihren Augen konnte man nicht lesen, denn es war eine sternenlose Nacht, eine blinde Nacht, welche die ganze Welt auslöschte, nur nicht die Wut dieser kleinen Menschen. Aber man konnte sie reden hören. Sie sagten zueinander:
– Jetzt reicht’s. Die hat manche zum Weinen gebracht und manchen braven Kerl zum Laufen!
– Man kann sogar sagen umgebracht: Kinder, Männer …
– Ja, ein Kind haben sie erwürgt in ihrer Kammer gefunden, während sie ohnmächtig in ihrem Blut lag … Und alle, die man nicht gefunden hat! Aber Männer? Das ist übertrieben.
– So, und der, den sie in die Fremdenlegion schickte? Um ihr eine Freude zu machen, wollte er ihr ein Ballkleid kaufen. Aber er war pleite. Da hat er das Geld aus der Kasse des Meisters genommen. Es war am Fasnachtsabend. Hernach, um nicht im Gefängnis zu landen, machte er sich aus dem Staub. In einem afrikanischen Kaff ist er ums Leben gekommen. Ein Kollege von mir. Wagst du jetzt noch zu behaupten, dass nicht sie ihn getötet hat? He?
Sie alle kannten diese Geschichten und noch viele andere, aber in dieser Nacht empfanden sie das Bedürfnis, sie wieder aufzuwärmen.
– Und trotzdem bist du auch in die Person vernarrt!, warf ein Dritter ein.
– Du kannst ja sehen, wie ich sie traktieren werde.
– Mit dem Hass ist es wie mit der Liebe. Wenn es einen packt, muss man abwarten, bis es vorbei ist, fügte der Jüngste leise hinzu.
– Bist du sicher, dass sie kommt?
– Die hat genug gequält und genug Unheil angerichtet. Und seit sie bei diesem reichen Alten wohnt, sieht sie uns nur spöttisch an.
– Mit den Augen spottet sie, aber mit dem Körper lockt sie …
– Bist du ganz sicher, dass sie hier vorbeikommt?, fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.
– Jeden Abend, ja, ich weiss es, antwortete der Jüngste und sang leise vor sich hin: Sie hatte goldne Augen und hell maisgelbes Haar …
– Ich höre sie, sagte einer.
Aber es war nur ein alter Mann, der vorbeiging.
– Sie hat Lunte gerochen und kommt heute nicht.
– Sie sieht zwar dumm aus, aber sie ist raffiniert.
Diesmal war sie es wirklich. Ihre hohen Absätze hämmerten den Boden, ihr kurzer Rock schwang hin und her in der kalten Nacht. Sie konnten sie nicht sehen, aber sie errieten alles. Sie kannten das Lächeln auf ihren breiten Lippen, den welligen Gang und die langen, harten Beine. Sie wussten, dass in ihrer Brust kein Herz schlug.
– Halt!
Sie sah sich umstellt von sieben Burschen, die keinen Spass verstanden. Sie schien weder erstaunt noch verängstigt. Mit wiegendem Kopf und gedehnter Stimme sagte sie:
– Was fällt euch ein?
Sie rührte sich nicht von der Stelle, und die andern drängten sich um sie.
Plötzlich, mit gesenktem Kopf, versuchte sie zwischen zwei Körpern durchzuschlüpfen, die sich einen Augenblick verschoben hatten. Aber die Mauer schloss sich wieder. Hände packten zu. Über ihren Mund spannte sich eine Binde, und ihre Schreie erstickten im Stoff.
– Das soll dich lehren, du Aas, du Hure!
Rutenstreiche prasselten auf sie nieder, zerrissen ihr das Kleid und zeichneten die Haut mit verworrenen Striemen. Aber das reichte ihnen noch nicht. Sie mussten unter den Nägeln dieses Fleisch spüren, das in ihre Gewalt geraten war.
Mit zusammengebissenen Zähnen und halb geschlossenen Augen begannen sie das Mädchen zu kratzen. Sie zerkratzten ihr das Gesicht, um sein Lächeln zu töten, sie zerkratzten ihr die Brust, um ihr Geheimnis zu töten, sie zerkratzten den ganzen Körper. Jetzt fiel sie zusammen. Mit Fusstritten stiessen sie die unförmige Masse hin und her. Sie kannten sie nicht mehr: Sie lag so kläglich auf dem Weg wie eine tote Kröte.
Dann gingen sie weg, ohne sich nochmals umzudrehen.
Beim Dorfeingang trennten sie sich. Jeder ging nach Hause mit Ausnahme des Jüngsten. Der kehrte um.
«Nein», dachte er, «so kann man sie nicht liegen lassen!» Er begann zu laufen. «Und ich bin an allem schuld, ich habe ihnen gesagt, dass sie am Abend hier vorbeikommt. Natürlich hat sie es verdient … Aber sie in diesem Zustand zurücklassen, nein! Sie hat jetzt gebüsst. Die Männer verachten sie, aber hat sie nicht auch das Recht, die Männer zu verachten? Und diese Geschichten … Das sind vielleicht alles Lügen.» Er wollte zu ihr zurückkehren. Er wollte ihre Wunden pflegen, er wollte ihr sagen: «Ich, ich liebe dich wirklich.»
Er fand sie immer noch auf dem Boden liegen ohne Regung, ohne Form, nachtschwarz. Er beugte sich vor, kniete nieder. Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er küsste sie, und diese Küsse hatten einen Geschmack von Staub und Blut. Er legte das Ohr an ihre Brust, um das Herz schlagen zu hören. Er hörte nichts.
So stimmte es am Ende, was man sich erzählte: Sie hatte kein Herz?
Oder dann? … Er hatte sich aufgerichtet. Plötzlich fuhr er zurück und rannte davon.