Читать книгу Die Schlossbewohner - S. in der Heiden - Страница 5
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ОглавлениеAusnahmsweise sind Bernd und Lisa heute nicht in der Arbeit. Gemütlich haben sie mit ihren Söhnen gefrühstückt. Üblich ist das nicht, Papa Bernd ist morgens meistens bereits auf einer Baustelle, wenn Ben und Moritz aufstehen und heute fehlt die morgendliche Hektik. Üblicherweise verlassen Mama Lisa und die Zwillinge morgens die Wohnung gemeinsam. Sie gehen gemeinsam zum Busbahnhof. Die Zwillinge von dort weiter zur Schule und Lisa besteigt Linie 12, um zu ihrer Arbeit zu kommen. Wenn die Zwillinge spät dran sind, nehmen sie das Rad.
Heute ist es mal anders. Solche Tage, an denen Papa und Mama Zeit haben, sind bei Wörners selten und die Zwillinge genießen es.
Nachdem die Kinder aus dem Haus sind, wird es auch Zeit für Lisa und Bernd. Denn die Beiden haben heute etwas ganz besonderes vor. Sie erhoffen sich, heute ihren lange gehegten Traum erfüllen zu können. Hatten sie doch in der Zeitung gelesen, dass ihr Traumobjekt versteigert werden soll. Der kleine Artikel hat sie beide sehr erschrocken. Sofort und ohne zu zögern haben sie auf der Gerichtskasse die üblichen 10 % des Objektwertes eingezahlt und für heute nun ist um 11.30 h die Versteigerung angesagt. Ihr Glück wollen sie zumindest versuchen, wenn sie auch wenig Hoffnung haben. Den Kindern haben sie mit Absicht nichts von ihrem Vorhaben erzählt. Denn wenn ihnen die Ersteigerung nicht gelingt, bricht für die Jungs eine Welt zusammen. Diese Enttäuschung ist einfach zu groß und große Hoffnung machen sich Bernd und Lisa Wörner eh nicht. Sie hofften nur. Eigentlich ist heute ein trauriger Tag, denn beide gehen davon aus, ihren Traum, das alte Schloss Mötefiendt, nicht zu bekommen. „Sicher wird es sehr viele Bieter geben“, meint Lisa traurig zu Bernd gerichtet, der sich gerade seine Zähne putzt, während Lisa ihr Haar richtet. Im Hintergrund läuft das Radio und gerade kommt der Wetterbericht. Es wird sehr heiß werden an diesem Tag im Mai.
„Was soll ich nur anziehen?“ ruft Lisa kurz darauf aus dem Schlafzimmer. „Normale Straßenkleidung!“ kommt die Antwort von Bernd und so entschließt sich Lisa für Jeans und blaugeblümte Bluse. Das steht ihr gut, denn sie ist groß und schlank. Auch Bernd ist schlank, trägt Jeans und dazu sein rotgelbblaukariertes Lieblingshemd.
Und auf geht‘s …
Etwas später im Humbacher Gerichtsgebäude:
Der Rechtspfleger betritt den Saal. Ein großer, schlanker, dunkelhaariger, sehr gepflegt wirkender Mann mit modischer Brille so um die dreißig. Trägt trotz dieser schon fast unerträglichen Hitze einen nougatbraunen Anzug, beiges Hemd, braune Krawatte. „Eher langweilig gekleidet für so einen jungen Mann“, bemerkt Lisa flüsternd zu Bernd gerichtet. „Ich würde mich darin totschwitzen“ bemerkt Bernd flüsternd zurück. „Doch es ist immerhin noch Mai. Wahrscheinlich hat der junge Mann nicht damit gerechnet, dass es heute so außergewöhnlich heiß wird“, bemerkt Lisa.
Immer mehr Menschen betreten den Saal, was von Bernd und Lisa mit ängstlichen Blicken wahrgenommen wird. Lisa greift nach Bernds Hand. Ihre Hände sind total verschwitzt, dabei hat der Tag doch erst begonnen, aber es ist nicht nur der Hitze wegen, nein, eher wegen der Aufregung. Denn gleich wird ihr geliebtes Schloss von jemand Unbekanntem ersteigert werden. Ihr Traum wird heute zerplatzen wie eine Seifenblase. Bernd und Lisa sind traurig. Tränen stehen bereits in den Augen der Beiden. Sie halten ihre feuchten Hände fest umschlungen und gedrückt.
Der Rechtspfleger hat eine dunkelbraune Aktentasche dabei, die er nun auf dem Schreibtisch ablegt und sogleich bereits im Stehen öffnet. Bernd und Lisa beobachten interessiert jeden seiner Handgriffe. Er entnimmt der Aktentasche Unterlagen, die er fein säuberlich auf dem Tisch sortiert und mit auffallend schlanken Händen in Form rückt. Dann legt er ein Mäppchen mit Stiften, einen Locher und ein Diktiergerät daneben. All diese Dinge bekommen fein säuberlich ihren Platz auf diesem Pult. Ganz offensichtlich ist dieses hier nicht die erste Versteigerung, die er durchführt, obwohl der Rechtspfleger recht jung an Jahren ist, macht er einen sehr routinierten Eindruck. Nun setzt er sich hin, legt seine schlanken Hände gefaltet auf das Pult und schaut langsam in die Runde und dann die Stuhlreihen entlang, auf denen sich heute mindestens dreißig Personen eingefunden haben. Langsam schlägt er, ohne seinen Kopf vom Publikum abzuwenden, die Unterlagen auf und sagt in einem ganz ruhigen Ton:
„Versteigert wird heute das Wasserschloss Mötefiendt zur Aufhebung der Erbengemeinschaft.
Verkehrswert des Objekts: 390.000,-.“
Und nun liest er lethargisch aus den Unterlagen vor.
„Insgesamt 1.600 m² Wohnfläche, 40 Zimmer, Grundstück von 9.845 m², sehr gute Lage, Sanierungsbedarf am gesamten Schloss“. Dann blickt er kurz von seinen Unterlagen auf, macht eine kurze Pause und sucht Blickkontakt zu einem schlanken dunkelblonden Mann, etwa in gleichem Alter, in blauem Anzug und blauweiß gestreiftem Hemd und blauer Krawatte, der vorne mittig in der ersten Reihe Platz genommen hat. „Das Schloss,“ so fährt er dann weiter fort, „liegt in einem verwilderten Park mit großem See, Baujahr des Schlosses um 1250. Es handelt sich hierbei um eine vierflügelige Anlage mit je vier Geschossen. Um das gesamte Schloss führt ein noch teilweise gut erhaltener Wassergraben. An der Südseite führt eine ebenfalls sanierungsbedürftige Brücke über diesen Wassergraben.
In diesem Objekt, in dem die Statik, das Dach teilweise und die Fassade 2000 unter dem Denkmalschutz erneuert wurden, befinden sich sehr wertvolle alte Fresken, eine Stuckdecke, eine große Terrasse, zwei Rittersäle, eine Bibliothek und Räume zum Wohnen. Das Gebäude ist Lastenfrei. Die Gemeinde erhebt keine Ansprüche auf dieses Schloss“. Wieder hebt er den Kopf und schaut in die Runde und lässt seinen Blick kurze Zeit auf dem dunkelblonden Mann im blauen Anzug ruhen.
„Bietet einer der Eigentümer mit?“ fragt der Rechtspfleger dann mit erhobenem Kopf und über seinen Brillenrand schauend schwenkt er seinen Kopf ganz langsam von rechts nach links, als müsse er genau schauen, um niemanden zu übersehen oder zu vergessen und lässt dann seinen Blick wieder ganz kurz auf dem Mann im blauen Anzug liegen. Sein Blick wird von diesem erwidert.
Im Publikum werden Blicke gewechselt, doch niemand sagt etwas. Keinerlei Reaktion auf die Frage des Rechtspflegers. Stille im Saal. Nur ein leises Rascheln von Papier ist irgendwo zu vernehmen.
Lisa und Bernd Wörner haben sich absichtlich in die letzte Reihe gesetzt. Mit der Wand im Rücken Platz genommen. Von hier aus können sie das Geschehen gut beobachten und das verfolgen sie nun sehr genau. Ihre Blicke wandern die Stuhlreihen vor ihnen langsam ab. Sie sehen nur Hinterköpfe. Aber egal. Manche haben Blocks oder Schriftliches auf dem Schoß liegen. So viel ist aus Sicht der Wörners erkennbar. Wer könnte der Eigentümer sein? Fragt sich Lisa interessiert und schaut nochmals die Reihen mit den Anwesenden ab. Wörners waren bereits eine ganze Stunde eher als notwendig auf dem Amtsgericht. Sie waren die Ersten. Bernd Wörner ist Architekt und Statiker mit eigenem Betrieb. Seine Frau ist Industriekauffrau und kümmert sich um die Büroarbeit. Lisa und Bernd sind beide um die vierzig, mittelblond, beide groß, beide schlank und haben einen sportlichen Körperbau. Sie haben zwei 13-jährige Söhne, eineiige Zwillinge. Auch mittelblond, altersentsprechende Größe, schlank, sie heißen Ben und Moritz. Moritz ist 14 Minuten älter als sein Bruder Ben.
„Wenn keine weiteren Fragen sind,“ fährt der Rechtspfleger fort, „beginnt jetzt die Biet-Zeit von 30 Minuten. Es sind jetzt exakt 12.45 h“. Dann senkt er seinen Kopf und blättert in den vor ihm liegenden Unterlagen. Lisas Blickt schweift umher. Sie schaut, wo das nervöse Papierknistern herkommt, sieht aber nichts.
Die Stühle im Saal sind bis auf einen einzigen Platz alle besetzt. Und dieser leere Stuhl steht am Ende der Reihe gegenüber der Türe am Fenster. Lisa und Bernd beobachten die Lage. Ein älterer Herr vor ihnen blättert in einer Mappe. Andere schauen stur in Richtung Rechtspfleger. Einige tuscheln leise miteinander. Die Zeit vergeht. Papier knistert. Die Luft im Raum wird langsam stickig. Am Fenster steht jemand auf und öffnet das Fenster ganz weit und entschuldigt sich für sein Tun mit Blick in Richtung Rechtspfleger. Dieser erwidert die Entschuldigung mit einem freundlichen und erleichterndem nicken. Bisher wurde noch kein Gebot abgegeben und „die Bietzeit dauert noch 5 Minuten“, wirft der Rechtspfleger nach einiger Zeit ein.
Doch auch jetzt tut sich nichts. Vorsichtig erhebt Bernd seinen Finger und sagt leise, kaum hörbar, als hätte er einen Frosch im Hals: „ Ich möchte gerne das Mindestgebot abgeben.“ Plötzlich kommt Bewegung in den Saal. Alle Augen auf Bernd und Lisa gerichtet. Ein Tuscheln, es wird ein wenig Unruhig im Saal. Papier knistert noch heftiger als zuvor. Der Rechtspfleger schaut kurz auf und dann wieder in seine Unterlagen. Kurze Zeit darauf schaut er in die Runde und verkündet dann: „Die Bietzeit ist jetzt zu Ende. Gibt noch jemand ein höheres Gebot ab?“ Wieder schaut er ruhig und gelassen in die Gesichter, bis er seinen Blick auf den Mann im blauen Anzug haftet. Der Mann im blauen Anzug hebt kurz die Hand und sagt: „Stattgegeben!“ Der Rechtspfleger verkündet: „Da sich kein weiterer Bieter gefunden hat, geht das Schloss Mötefiendt an den Herrn in der letzten Reihe. Kommen Sie dann bitte mit ihrem Personalausweis zu mir“, sagt er mit einem Blick auf Bernd gerichtet.
Bernd und Lisa können in diesem Augenblick noch gar nicht so richtig realisieren, was da gerade passiert ist. Alles ging plötzlich so schnell. Sie haben soeben ein Schloss ersteigert. Nicht ein Schloss, sondern das Schloss! Das Schloss, von dem sie beide seit Jahren träumen! Welches sie schon lange ausgemessen, von dem sie zigmal die Statik berechnet haben, die Planung der Räumlichkeit schon lange steht, es bereits ein Jugendtraum von Bernd und Lisa ist. Hier vor diesem Schloss haben sie im Sommer im Gras gelegen und sich geliebt. Heimlich auf der Wiese vor dem Schloss mit ihren Freunden gefeiert und gegrillt, ihre Freunde mit ihren verrückten Ideen infiziert und später ihre Söhne.
Beide gehen sie zum Rechtspfleger und legen ihre Ausweise vor. „Wie wollen Sie aufteilen?“ werden sie gefragt. „Halbe halbe“, sagt Lisa geistesgegenwärtig und Bernd nickt zustimmend. Eine sehr elegant wirkende alte Dame mit hellblauem Hut auf silbergrauem mittellangem Haar und hellblauem Etuie-Kleid erhebt sich vom Stuhl, stampft mit ihrem schwarz glänzenden Gehstock kräftig auf und sagt laut und mit kraftvoller Stimme in den Raum: „In dem Schloss da spukt‘s!“ Dreht sich in Richtung Türe, die ihr ein älterer grauhaariger Herr in dunklem Anzug und weißem Hemd öffnet. Sie verlassen gemeinsam den Saal. Papier knistert, was von niemandem registriert wird. Erstaunt schauen sich Bernd und Lisa an. Bernd muss lachen und Lisa lacht mit. „Was war denn das für ein Auftritt von dieser alten Dame?“ Sie gehen beide nicht weiter darauf ein. Lisa und Bernd sind total erleichtert, ihre Ängste sind verschwunden. Sie können kaum fassen, was gerade geschah. Ihr Traum ist gerade zur Realität geworden. Lisa hätte den Rechtspfleger am liebsten vor Freude umarmt.
Beide freuen sich nun auf die Sanierungsarbeiten und können es kaum erwarten. Dieses Schloss ist seit ewigen Zeiten ihr Traum. „Was werden wohl die Kinder sagen?“, meint Lisa. „Die werden genauso erstaunt sein wie wir“, antwortet Bernd.
Solange Bernd in Humbach lebt, und das tut er seit seiner Geburt, hat sich Familie Wörner für dieses Schloss interessiert. Vor allem sein Vater. Ebenfalls Architekt, interessierte er sich für dieses Anwesen. Besonders nachdem sein Freund, der Graf von Mötefiendt, Selbstmord begangen hatte und die Witwe, ebenso wie alle Angestellten, das Schloss verlassen hatten. Seit mittlerweile 60 Jahren ist das Schloss unbewohnt. Damals, kurz nach dem Tod des Grafen von Mötefiendt, hatte Bernds Vater Interesse an dem Schloss bekundet, doch die Witwe lehnte ab und erteilte der gesamten Familie Wörner gleichzeitig ein Verbot, das Schloss und den dazu gehörenden Park zu betreten. Das hatte seinen Grund. Denn die Witwe von Mötefiendt war über die Besuche von Herrn Wörner bereits zu Lebzeiten ihres Gatten nie erfreut.
Auch Lisa wuchs hier in auf Humbach. Fast täglich trafen sich die damaligen Teenager, Lisa und Bernd, heimlich am Schloss. Oft auch mit ihren Freunden und später kamen die Kinder dazu. Auf dem Grundstück des Schlosses Mötefiendt spielte sich alles ab. Wie oft sind Bernd und Lisa heimlich durch das Schloss geschlichen. Ein großes Schild am windschiefen Tor „Betreten verboten“ haben sie dabei völlig ignoriert. Oft lagen sie am See des Parks in der Sonne, die Blicke sehnsuchtsvoll auf das alte Gemäuer gerichtet. Ach wäre es doch unser. Jede Ecke, jeden Winkel des Schlosses kannten sie. Der jammervolle Zustand tat ihnen weh. Sie mussten mit ansehen, wie das wundervolle Gebäude Jahr für Jahr an Schönheit verlor. Sie haben das Schloss immer wieder vermessen und die Statik neu berechnet. Haben Pläne erarbeitet und immer wieder überarbeitet. Und geträumt. Viel geträumt. Und nun ist es wahr geworden. Vor dem Gerichtsgebäude liegen sich Bernd und Lisa in den Armen. Sie küssen und umarmen sich immer wieder. Hand in Hand, mit klopfendem Herzen und von der plötzlichen Realität überrascht schlendern sie zum Auto. „ Wie werden die Kinder und unsere Angestellten reagieren?“ fragen sie sich immer wieder und freuen sich auf deren Gesichter.