Читать книгу Hinter der Lüge - S. N. Stone - Страница 5

2. Kapitel

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Es war gar nicht so einfach ihr immer auf den Fersen zu bleiben und nicht entdeckt zu werden. Die Male, in denen sie ihn gesehen hatte, hatte er es auch beabsichtigt, sonst war er extrem vorsichtig. Der Ort war klein und man lief sich einfach über den Weg. Er wusste was er tat, hatte es gelernt. Seit dem Abend den sie gemeinsam auf den Stufen zu seiner Terrasse verbracht hatten, war sie ihm gegenüber etwas entspannter, grüßte ihn sogar zurück, wenn sie sich begegneten. Nichts deutete darauf hin, dass sie in Gefahr war und so hatte er seine Überwachung ein wenig gelockert und war heute sogar in den Waschsalon gefahren.

Während er beobachtete, wie seine Klamotten sich in der Trommel drehten, dachte er an zu Hause, sein wirkliches zu Hause. Vermisste er die Großstadt? Irgendwie und irgendwie auch nicht, das ruhigere Leben hier tat ihm tatsächlich gut. Hier brauchte er nicht zwei Leben zu leben, zumindest nicht so extrem. Es war ihm zum Schluss so schwer gefallen sich auf seine Familie, Nicki und die Kinder zu konzentrieren.

Das andere Leben war einfacher, da war er unabhängiger, ungebunden gewesen. Nickis Vorwürfe waren also nicht aus der Luft gegriffen gewesen, als sie ihm vorgeworfen hatte, ein Fremder würde nach Hause kommen. Er hatte es einfach zu lange gemacht. Und als er dann noch während des ganz gewöhnlichen Dienstes Probleme bekommen hatte, hatte sie Schluss gemacht. Nicht weil sie ihn nicht mehr liebte, sondern weil sie die ständige Angst und den ständigen Kampf um ihn nicht mehr ertrug. Weil sie nicht mit ansehen konnte, wie er sich selbst zerstörte und auch nicht mehr damit leben wollte, dass er sie betrog. Er war in ein Loch gefallen, auch wenn er sie nicht geliebt hatte, sie hatte ihm etwas bedeutet. Seine Familie war schockiert gewesen, über die Trennung und über seinen Verfall. Erik, sein Schwager und Chef, legte ihm nahe, während des Aufenthaltes hier, Entscheidungen zu treffen.

Seine Wäsche war fertig, er packte sie in den Trockner und verließ den Salon um sich etwas zu trinken zu holen. Auf der Straße begegnete er der Frau, die ihm das Haus vermittelt hatte. Sie sah gut aus, hatte dunkle, lange Haare und eine tolle Figur. Sie begrüßte ihn überschwänglich, etwas das ihn schon die letzten Male gestört hatte. Sie liefen ein Stück gemeinsam und die Maklerin redete die ganze Zeit. Er versuchte sich krampfhaft an ihren Namen zu erinnern.

„So Herr Dunham, hier steht mein Auto, unsere Wege trennen sich nun. Ich werde Sie die Tage noch einmal aufsuchen müssen, mir fehlt noch eine Unterschrift. Ich melde mich vorher telefonisch bei Ihnen. Einen schönen Nachmittag noch und bis bald“, flötete sie und verschwand.

Anne hatte den ganzen Tag über ein schlechtes Gefühl gehabt, so als würde etwas auf sie lauern. Sie war froh, dass sie in der nächsten Zeit keine Termine hatte und sich im Büro verschanzen konnte. Auf dem Weg nach Hause hielt sie an der Pizzeria des Ortes und holte sich eine Salamipizza zum Mitnehmen. Die Sonne hatte den ganzen Tag über geschienen und es war sehr warm gewesen, jetzt kam ein angenehmer Wind auf und Anne überlegte, ob sie auf der Terrasse essen sollte. Aber da war dieses nagende Gefühl. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, ließ sie sich jetzt so einschüchtern von Alexej, obwohl er gar nicht da war? Sie hatte doch auch den Mut gefunden zur Polizei zu gehen, als sie hinter seine dunklen Machenschaften gekommen war.

Als sie den Job angenommen hatte, hatte Anne geglaubt für einen seriösen Geschäftsmann zu arbeiten. Das etwas faul an ihm war hatte sie recht schnell mitbekommen. Die Leute, die für ihn arbeiteten, waren zum Teil ziemlich dubios gewesen, ebenso die Geschäftspartner. Trotz allem war er ein angesehener Unternehmer gewesen und sie hatte geglaubt, hatte glauben wollen, dass sie sich irrte. Dann hatten sie sich ineinander verliebt und eine Beziehung begonnen und Anne hatte alles ausgeblendet. In diesem Teil ihres Lebens war sie aufgeblüht. Er war zuvorkommend, rücksichtsvoll, aufmerksam und liebevoll gewesen und sie hatte es genossen. Sie hatte es ausblenden können, als sie herausfand, dass er Geldwäsche betrieb, sogar als sie erfuhr, dass er bei Drogengeschäften seine Hand im Spiel hatte. Was sie aber nicht mehr hatte ignorieren können, war, dass er mit Erpressung arbeitete und sogar vor Mord nicht zurück schreckte. Ihre rosarote Brille war verrutscht.

Anne hatte Beweise gesammelt und war zur Polizei gegangen. Er hatte um sie gekämpft, hatte darum gekämpft, dass sie zu ihm zurückkam, hatte versucht, das alles zu vertuschen, aber es hatte nicht funktioniert. Er war in Untersuchungshaft gekommen und hatte gedroht, ihr das Leben zur Hölle zu machen, bevor er sie erledigen würde. Anne war so schlau gewesen einen Teil der Unterlagen, die ihn bezüglich der in Auftrag gegebenen Morde belasteten, in Sicherheit zu bringen. Würde ihr etwas geschehen, so würden diese Unterlagen sofort an die Staatsanwaltschaft übermittelt werden, das wusste auch Alexej, aber würde ihn das davon abhalten seine Drohungen wahr zu machen?

Er hatte seine Hände überall drin und sie wusste auch, dass es hochrangige Polizisten gab, die auf seiner Gehaltsliste standen, nur wusste sie nicht wer die waren, denn deren Namen tauchten nirgends auf. Das war auch der Grund, weshalb sie es abgelehnt hatte, sich unter Polizeischutz stellen zu lassen, sie konnte nicht sicher sein vielleicht einem Beamten zu begegnen, der von Alexej Sacharow bezahlt wurde. Im Nachhinein hatte sie häufig darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn sie alles ignoriert hätte, sie hatte ein gutes Leben mit ihm geführt.

Anne bog auf ihre Einfahrt ein und stieg aus. Sie griff ihre Sachen und die Pizza und wollte hineingehen, als sie ihren Nachbarn sah. Er war im Begriff in seinen Wagen zu steigen.

„Hey“, begrüßte er sie, „willst du mit? Ich wollte nen bisschen zum Strand.“

Anne runzelte die Stirn, wieso sollte sie? Sie kannte ihn doch gar nicht richtig und würde sicher nicht zu ihm ins Auto steigen. Sie versuchte sich ein Lächeln abzuringen und schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich habe noch zu tun“, sagte sie und ging.

Jan fuhr zum Ostseebad Grömitz, das nicht weit entfernt war. Er parkte auf dem Parkplatz an der Strandpromenade und lief zur Landungsbrücke. Es war bereits Abend, aber die Promenade war voll. Touristen, die es sich an dem angenehmen Sommerabend gut gehen ließen, in einer Bar etwas tranken oder in einem der Lokale aßen. Leute, die spazieren gingen, Kinder, die ausgelassen herumtollten, Skater, die auf dem rötlichen Pflaster fuhren und Menschen wie er, die die Landungsbrücke entlang, bis weit hinaus aufs Meer gingen.

Am Ende der Brücke setzte er sich auf die Holzplanken und starrte auf den Horizont, an dem die Sonne rot im Meer versank.

Irgendwie bereute Anne es, nicht doch mit ihrem Nachbarn mitgefahren zu sein. Sie hatte ihre Eingangstür fest verschlossen und sich mit der Pizza vor den Fernseher gesetzt. Den Mut, sich auf die Terrasse zu setzen, hatte sie nicht. Es lief irgendeine stumpfsinnige Dokusoap, der Anne nicht einmal richtig folgte und als sie die Pizza aufgegessen hatte, ging sie unter die Dusche und anschließend ins Bett.

Den Mann auf der anderen Straßenseite, der an sein Auto gelehnt da stand und das Haus beobachtete, hatte sie nicht wahrgenommen.

***

Anne schlüpfte in ihre schwarzen Pumps und steckte die kleinen Brillantohrringe an, nur um sie nach einem Blick in den Spiegel, sofort wieder herauszunehmen. Alex hatte ihr die geschenkt. Sie legte sie auf die Kommode und suchte nach einem anderen Paar. Dann zog sie sich die Lippen nach und nahm ein wenig von ihrem Lieblingsparfum. Als sie fertig war, verließ sie ihr Haus und musste feststellen, dass ihr Nachbar einmal mehr vor ihrer Auffahrt parkte und sie mit ihrem Wagen gar nicht wegkam. Genervt stampfte sie zu ihm herüber, klopfte heftiger als nötig an seine Tür und wartete. Es dauerte, bis ihr geöffnet wurde und er stand ihr, nur mit einem Handtuch um die Hüften und nassen Haaren, gegenüber.

Anne machte große Augen, man, was für ein Körper. Ihr Blick glitt eigentlich ganz unbeabsichtigt an ihm herab. Er hatte noch weitere Tätowierungen. Sie fing sich wieder, schließlich war sie nicht hier um ihn anzugaffen, sondern um ihm die Meinung zu sagen.

Sie schluckte und versuchte mit fester Stimme zu sprechen: „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie bitte nicht in meiner Einfahrt zu parken haben? Ihre offensichtliche Gleichgültigkeit diesbezüglich sucht seinesgleichen!“

Er legte den Kopf in den Nacken und grinste, was auch sonst?

„Moment“, sagte er und verschwand nach oben.

Als er kurz darauf wieder herunterkam, war er angezogen. Gemeinsam gingen sie zu seinem Auto. „Nen Date?“, fragte er.

„Wie bitte?“

„Hast du nen Date?“, fragte er erneut, so als würde er denken sie hätte ihn nicht verstanden, hatte sie aber, aber sie wollte mit ihrer Nachfrage eigentlich signalisieren, dass ihn das wohl nichts anzugehen hatte.

Da er das nicht verstand, sagte sie unfreundlich: „Ich glaube das ist meine Angelegenheit.“

Er fuhr den Wagen weg und sie konnte endlich los.

Jan hatte das Auto absichtlich dort abgestellt, so war er sicher, dass er mitbekam, wenn sie wegfuhr. Die ersten Male war es wirklich unbeabsichtigt gewesen, also besser gesagt war das mega Schlagloch der Grund gewesen, weshalb er sich dort hingestellt hatte. Nun war es für ihn eine Möglichkeit sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie fast am Ende der Straße angekommen war, fuhr er ihr hinterher.

Anne traf sich mit Ingrid bei einem Griechen in Oldenburg. Ihre alte Schulfreundin hatte sie am Nachmittag angerufen und gefragt, ob sie heute nicht das versäumte Essen nachholen wollten. Sie hatte sich noch einmal dafür entschuldigt, dass es beim letzten Mal nicht geklappt hatte, eines ihrer Kinder war krank geworden und so hatte sie absagen müssen. Anne freute sich, auch darüber, dass es einen triftigen Grund gab, warum es das letztens nicht funktioniert hatte.

Bei der Vorspeise, gegrilltem Schafskäse mit geröstetem Brot, unterhielten sie sich angeregt über vergangene Tage. Der Wein war gut und die Erinnerungen an die Schule wurden von Erlebnissen der vergangenen Jahre abgelöst. Ingrid war verheiratet, lebte mit ihrem Mann und den drei Kindern hier in Oldenburg und war sehr zufrieden. Anne hielt sich ein wenig bedeckt. Sie erzählte von Berlin, ließ aber Alex aus. Es hatte große Zeitungsberichte über die Festnahme von Alexej gegeben, ihr Name war nirgends aufgetaucht, zu ihrem Schutz.

Annes Blick glitt durch den Raum und sie glaubte ihr Herz würde stehen bleiben. So eine bodenlose Frechheit! Der Mann, der gerade in Begleitung einer ziemlich aufgetakelten Frau hereinkam, war ihr Nachbar.

„Du sag mal, ist das nicht Kathrin?“, flüsterte Ingrid ihr zu und deutete auf die beiden.

Anne nickte nur, zu mehr war sie nicht fähig, zu sehr war sie empört über die Tatsache, dass er schon wieder genau dort war, wo auch sie war. Er schaute kurz zu ihr herüber und setzte sich mit Kathrin an einen Tisch.

Was für ein genialer Zufall. Diese nervige Maklerin hatte ihn angerufen, kurz nachdem er in Oldenburg angekommen und Anne Svenson bis zu diesem Lokal gefolgt war. Sie hatte sich mit ihm treffen wollen und er hatte die Gunst der Stunde genutzt und erklärt, er sei gerade in Oldenburg und wolle vielleicht noch etwas essen gehen. Sie war zu ihm gekommen. Na wenigstens wusste er jetzt wieder wie sie hieß, Katja, oder so ähnlich.

„Sie wohnt ja wohl hier in der Nähe“, fuhr Ingrid fort, „und ist verheiratet. Ihr Mann soll eine Menge Geld haben, macht in Immobilien.“

Anne konnte den Blick nicht von den beiden abwenden.

„Nett anzusehen, der Typ, den sie dabei hat.“

Anne verdrehte die Augen. Nett anzusehen, vielleicht, aber frech und ungehobelt und arrogant.

„Ob sie was mit dem hat? Man munkelt ja, dass sie es nicht so ernst nimmt mit der Treue. Naja, ihr Mann ist zwanzig Jahre älter als sie, vielleicht braucht sie es ja.“

Ingrid kicherte und der Kellner kam mit den Hauptspeisen.

„Sie ist immer noch genauso überheblich wie damals in der Schule“, sagte Ingrid, während sie sich ein Stück Fisch in den Mund schob und einen abfälligen Blick auf Kathrin warf. „Guck sie dir an, dieses falsche Lächeln“, sie schüttelte den Kopf.

Anne versuchte nicht rüber zu schauen, tat es aber doch. Kathrin turtelte, was das Zeug hielt. Sie konnte zwar nicht verstehen, worüber sich die beiden unterhielten, aber ihre ganze Körpersprache deutete darauf hin, dass sie ihrem Nachbarn ziemlich zugetan war.

„Weißt du noch, wie sie beinahe geweint hat, als ihr im Chemieunterricht ein Nagel abgebrochen ist? Und diese doofe Elke und diese abscheulich eingebildete Charlotta ihr zu Hilfe geeilt sind und überlegt haben, ob sie sie in den Krankenraum bringen.“

Ingrid lachte leise auf und auch Anne musste bei dem Gedanken daran lächeln.

„Der Mann, mit dem sie hier ist, ist mein Nachbar“, flüsterte Anne ihr zu.

Ingrid machte große Augen. „Ehrlich, und?“

„Was und?“

„Naja“, druckste ihre Freundin herum, „du bist doch ungebunden.“

„Und das soll auch so bleiben“, antwortete Anne brüskiert. „Außerdem ist er gar nicht mein Typ.“ „Ach nicht?“, fragte Ingrid lächelnd und der Schalk blitzte in ihren Augen auf. „Anne, genieße das Leben, irgendwann sitzt du mit nem Mann und nem Haufen Kindern in nem Einfamilienhaus und legst Wäsche zusammen“, sie zwinkerte ihr zu.

Um Gottes willen, niemals! Und ganz gewiss nicht mit ihm!

„Wirst du jetzt hier bleiben?“, fragte Ingrid nun wieder ernst.

„Ich weiß es nicht genau. Ich habe noch etwas in Berlin zu erledigen, danach werde ich mich entscheiden.“

„Du arbeitest mit dem alten Sanders zusammen, stimmts?“

Anne nickte.

„Und wie ist er so?“

„Er ist sehr nett, seine Frau auch, sie ist unsere Sekretärin.“

Der Job war gut und Herr und Frau Sanders waren auch die einzigen, die Bescheid wussten über das, was in Berlin geschehen war. Anne war froh hier sofort Arbeit gefunden zu haben, das lenkte sie ab. Und sie hatte das Angebot auch weiterhin dort arbeiten zu können und sogar das Geschäft zu übernehmen, wenn Herr Sanders sich zur Ruhe setzte. Die Sanders hatten in der kurzen Zeit so etwas wie die Rolle von Eltern für Anne übernommen.

Zu ihren Eltern hatte sie wenig Kontakt. Sie lebten mittlerweile in Hamburg und kümmerten sich kaum um sie. Geschwister hatte Anne nicht und auch zu weiteren Verwandten bestand so gut wie kein Kontakt. Ihr wurde bewusst, dass sie ziemlich alleine war und freute sich umso mehr über das Treffen mit Ingrid und das der Abend wirklich sehr nett und lustig war, bis auf…

Er hatte ihr zugezwinkert, als sie hinausgegangen waren. Mit dem Versprechen sich recht bald wiederzusehen, verabschiedeten sich die beiden Freundinnen schließlich voneinander und Anne fuhr nach Hause.

***

Jan hatte Anne Svenson nicht den ganzen Tag beobachtet. Sie war zum Büro gefahren, er hinterher, und dann war sie nicht mehr herausgekommen. Er hatte sich erkundigt und die Information erhalten, dass sie keine Außentermine hatte. Wie auskunftsfreudig die Frau am Telefon doch gewesen war. Kurz entschlossen war er zu einem großen Möbelhaus gefahren und hatte sich einen einfachen Sessel mit Holzgestell zum selber zusammenbasteln geholt, einen Couchtisch und einen kleinen Fernseher. Zur Not würde er die Sachen hier lassen, wenn er wieder zurück nach Berlin ging. So wie die Vormieterin ihm die Kaffeemaschine und die Mikrowelle hinterlassen hatte, würde er dann seine Sachen hier lassen und irgendwann würde irgendein Mieter ein vollständig eingerichtetes Haus haben, dachte er schmunzelnd.

Jan war gerade dabei den Laptop von dem Karton zu nehmen und ihn durch den Fernseher zu ersetzen, als Anne aufgelöst in seiner Tür stand, die er nicht geschlossen hatte.

„Ich brauche Ihre Hilfe“, hauchte sie atemlos.

„Was ist los?“

„Jemand war in meinem Haus.“

Er runzelte die Stirn.

„Meine Eingangstür war nicht mehr abgeschlossen, als ich eben nach Hause kam, nur zugezogen“, erklärte sie.

„Gibt es im Inneren Anzeichen dafür, dass jemand eingebrochen ist?“

„Ich war gar nicht drinnen, ich bin sofort zu Ihnen herüber gekommen.“

Jan ging ein paar Schritte auf sie zu.

„Könntest du es vergessen haben, als du heute Morgen gegangen bist?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, ich vergesse das nie, ich schließe immer zwei Mal rum.“

„Sicher?“

„Ganz sicher, immer, ich vergesse das nie. Vielleicht ist da noch jemand.“

Jan wusste, dass sie durchaus recht haben könnte. Er ging an ihr vorbei, herüber zu ihrem Haus. Sie folgte ihm.

Er spähte erst durch die Fenster des Erdgeschosses ins Innere, es war nichts zu sehen und auch nichts zu hören. Dann ging er zur Tür. Sie ließ sich von außen mit dem Drehknopf einfach öffnen. Er spürte Anne in seinem Rücken. Jan öffnete die Tür und schaute in den Flur und lauschte, nichts. Er ging hinein, sie hinterher. Sie drückte sich an ihn, hielt sich an seinem Shirt fest und er konnte ihre Angst spüren, sie zitterte. Er hätte seine Waffe mitnehmen sollen, dachte er, aber die lag drüben.

Jan ging durch alle Räume, Anne mit ihm, dicht hinter ihm. Er schaute unters Bett, in die Schränke in das Badezimmer, das Gäste-WC, die Speisekammer, nichts. Im kleinen Garten war niemand, auch nicht auf der Terrasse, das hätten sie von außen ja gesehen.

Es war niemand in dem Haus.

„Fehlt irgendetwas?“, fragte er Anne, die sich immer noch ängstlich an ihn drückte.

„Nein, soweit ich sehen konnte, ist alles da.“

„Könntest du es vielleicht doch vergessen haben, heute Morgen?“

Anne überlegte. „Ich weiß nicht, ich denke immer daran, ich schließe immer ab.“

Er schaute sie prüfend an.

„Vielleicht habe ich wirklich nicht abgeschlossen“, fügte sie dann leise hinzu.

Jan hatte sie gar nicht dazu bringen wollen zuzugeben sich eventuell geirrt zu haben. Er nahm das ziemlich ernst. Er würde wachsamer sein, aber er konnte nicht 24 Stunden sie und das Haus beobachten und noch seinen Bedürfnissen nachkommen. Hoffentlich hatte sie es wirklich einfach nur vergessen.

Sie gingen gemeinsam in den Flur.

„Kann ich dich alleine lassen?“, fragte er.

„Ja natürlich. Wahrscheinlich war es ja eh nur falscher Alarm.“ Sie lächelte gezwungen. „Danke.“

„Gern geschehen, pass auf dich auf.“

Er ging zur Tür hinaus und hörte, wie sie hinter ihm abschloss.

Es hatte sie ganz schön Überwindung gekostet ihren Nachbarn um Hilfe zu bitten, aber sie hatte nicht gewusst, was sie sonst hätte tun sollen. Insgeheim war sie froh, dass er so bereitwillig mit ihr gekommen war, sie ernst genommen und nicht ausgelacht hatte. Obwohl er alles überprüft hatte, war ihr mulmig zumute, als sie sich ins Bett legte.

***

Die letzten vier Tage waren ereignislos geblieben. Jan hatte seine Möbel zusammengebaut und in den Wohnbereich gestellt. Es sah nicht so richtig gut aus, aber er hatte nun eine einigermaßen vernünftige Sitzgelegenheit. Der alte Gartenstuhl stand jetzt auf der Veranda.

Anne Svenson war zur Arbeit gefahren, zum Einkaufen und hatte sich ansonsten in ihrem Haus verschanzt. Kurz hatte er sie einmal auf der Terrasse gesehen. Ihm war langweilig und sie tat ihm leid. Er wusste von ihr, dass sie sehr speziell war, hatte es ja selber zu spüren bekommen. Er wusste aber auch, dass sie vor der Drohung von Alexej Sacharow nicht so zurückgezogen gelebt hatte wie jetzt.

Jan setzte seine Brille auf, er verzichtete auf die obligatorischen Kontaktlinsen und setzte sich vor den Fernseher. Er zappte sich durch die Programme, es gab nichts. Genervt schaltete er ihn wieder aus und warf die Fernbedienung auf den Tisch. Wie ein eingesperrtes Tier lief er durchs Haus. Dann zog er sich seine Schuhe an, griff den Autoschlüssel und verließ seine Bleibe. Jan ging rüber zu Anne.

Anne schaute vorsichtig durch das kleine Fenster neben der Haustür. Sie erwartete keinen Besuch und war ziemlich erschrocken, als es geklingelt hatte. Es war ihr Nachbar. Sie öffnete ihm.

„Zieh dich an, nimm deine Tasche und komm mit mir mit!“

Sie runzelte die Stirn, wie bitte? Er trug eine Brille, fiel ihr auf.

„Was erlauben Sie sich?“, fragte sie brüskiert.

„Ich will dich hier raus holen. Offensichtlich vergräbst du dich. Wir haben Sommer, der Abend ist schön, ich fahre ans Wasser und du kommst mit!“

Nein! Warum sollte sie?

„Keine Widerworte.“

Er drängelte sich an ihr vorbei und griff ihre Hand. Anne schaffte es gerade noch die Tür zu schließen, dann zog er sie auch schon mit, die Treppe hinauf, in ihr Schlafzimmer. Dort ließ er sie los und öffnete ihren Kleiderschrank.

„Hey, was soll das?“

Er schaute ihre Anziehsachen durch, schob einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite, bis er offensichtlich gefunden hatte, wonach er suchte. Ihr Nachbar zog ein geblümtes Sommerkleid heraus.

„Das, das passt. Zieh dich um“, sagte er und wollte den Raum verlassen.

„Halt“, befahl sie, „was fällt Ihnen ein?“

„Ich habe doch gesagt ich nehme dich mit.“

„Und wenn ich gar nicht will?“ Sie war fassungslos.

„Du willst“, antwortete er bestimmt, ging und machte die Tür zu.

Anne stand vor dem Bett, auf das er das Kleid gelegt hatte, und starrte es an. Wollte sie? Sie betrachtete sich im Spiegel ihres Kleiderschrankes. Graue Jogginghose, T-Shirt, Pferdeschwanz, blass. Anne atmete tief ein. Dann zog sie das Shirt und die Hose aus und streifte sich das Kleid über. Sie löste den Zopf und betrachtete sich noch einmal. Besser. Ein paar flache Sandalen dazu und die Haare gebürstet und sie sah viel frischer aus als noch vor ein paar Minuten. Er war so frech und sehr von sich überzeugt.

Jan hatte unten, an der Treppe, auf sie gewartet und war ziemlich sprachlos, als er sie herunterkommen sah. Hey, sie war echt hübsch, dachte er. Ihr goldblondes Haar trug sie offen und das Kleid war kurz und zeigte ihre hübschen Beine. Bisher hatte er sie nur in Kostümen oder Jogginganzug gesehen. Er musste sie wohl ein wenig zu lange angestarrt haben, denn sie reagierte mit einem bösen Blick.

„So, dann lass uns los“, versuchte er die Situation zu überspielen und warf noch einen Blick auf ihr Dekolleté.

Sie saßen nebeneinander auf dem Boden und ließen die Beine über den Rand der Landungsbrücke hängen.

„Ich bin als Kind gerne hergekommen“, sagte Anne. „Ich habe immer gedacht, man könnte mich morgens hier absetzen und mich abends abholen und ich hätte den schönsten Tag meines Lebens gehabt.“

„Ich war letztens schon hier und ich fands auch echt cool.“

Sie schwiegen und Anne schloss die Augen und atmete die klare, reine, salzige Seeluft ein. Es wurde schon dunkel und trotzdem die Strandpromenade gut besucht war, waren sie hier ganz alleine. Später würden sich hier die verliebten Pärchen niederlassen, eng umschlungen, mit Blick auf das Wasser, in dem sich die Sterne und der Mond spiegelten, aber jetzt gehörte dieser Platz ihnen.

„Und wovor läufst du davon?“, fragte ihr Nachbar in die Stille hinein.

Anne öffnete die Augen wieder und schaute ihn an. Er hatte den Blick nicht vom Horizont genommen.

„Vor gar nichts, wovor sollte ich davon laufen?“

Nun drehte er den Kopf zu ihr und sie fand, dass durch die ganz leichte Fehlstellung seines Auges, etwas Hypnotisierendes in seinem Blick lag.

„Du verkriechst dich in deinem Haus, du gerätst in Panik, weil du vergessen hast deine Tür abzuschließen, also, wovor läufst du davon?“

Anne straffte ihren Körper. Sie überlegte, ob sie darauf antworten sollte. Vielleicht brauchte sie jemanden, dem sie vertrauen konnte, war er es?

„Vor meinem Ex-Lebensgefährten.“

„Er ist also ein Arschloch?“

Anne fand seine Wortwahl nicht so recht angemessen.

„Mehr oder weniger“, antwortete sie.

Ihr war nicht entgangen, wie er die Frage gestellt hatte und auf welchem Wort die Betonung gelegen hatte.

„Und Sie? Wovor laufen Sie davon?“

Sie sah ihn erstaunt. Seine coole Fassade bröckelte und unter ihr kam etwas sehr Verletzliches zum Vorschein. Er schluckte schwer. Dann sagte er: „Vor mir.“

Er fand die Fassung beinahe sofort wieder, sie hatte ihn eiskalt erwischt.

„Auch eine Ex-Beziehung. Sie hat Schluss gemacht, wollte mich nicht mehr, naja, wahrscheinlich habe ich es nicht besser verdient.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Eine lange Beziehung?“, fragte sie weiter.

„Fünf Jahre.“

„Kinder?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, keine gemeinsamen. Sie hat zwei in die Beziehung mitgebracht.“

Er wollte nicht mehr über sich reden. Es war unprofessionell. Anne Svenson schaute wieder übers Wasser.

„Wollen Sie mal eigene Kinder?“, fragte sie und er hatte das Gefühl, als würde sie sich selbst diese Frage stellen.

„Für ein erstes Date stellst du ganz schön intime Fragen“, antwortete er und wollte das Gespräch ins Lächerliche ziehen.

„Wir haben kein Date“, gab sie gereizt zurück.

„Sorry. Is schon gut, nicht gleich wieder ärgerlich werden. Nein, keine Kinder, klappt nicht.“

Mehr wollte er nicht sagen.

Was hatte sich seine Mutter gefreut, als er mit Nicki zusammengekommen war, die dann auch noch zwei Mädchen mitgebracht hatte. Nun war sie auch von seiner Seite aus Großmutter. Der hohe Stellenwert den Nicki in seiner Familie eingenommen hatte und auch immer noch einnahm, war nie ein Problem für ihn gewesen. Nicki hatte selbst keine Eltern mehr und er fand es gut, dass sie eine Familie gefunden hatte. Nicki hatte Leute, die für sie da waren, wenn er es aus beruflichen Gründen nicht hatte sein können, denn entgegen allen Behauptungen, sie hatte ihm etwas bedeutet, bedeutete ihm immer noch etwas. Aber wieder fehlte in seinen Gedanken das Wort „Liebe“.

Als sie sich von ihm getrennt hatte, focht er heiße Diskussionen, vor allem mit seiner Mutter und seiner Schwester aus. Beide waren der Meinung, er solle um Nicki kämpfen. Er konnte es nicht und wollte es nicht, es hatte keinen Sinn. Dieses Leben war nicht das was er brauchte.

„... ich kenne nicht einmal Ihren Namen“, holte ihn die Stimme von Anne Svenson aus seinen Gedanken.

Er schaute sie verständnislos an. „Was?“

„Wir reden übers Kinderkriegen und ich bin mir sicher, Sie werden mich gleich fragen, ob ich Kinder will und ich kenne nicht einmal Ihren Namen.“

„Jan, und willst du Kinder?“

Sie musste lachen. Diese Situation war so abstrus. Sie saß hier mit ihrem nervigen, arroganten und frechen Nachbarn, den sie kaum kannte, und unterhielt sich über solch fundamentale Dinge.

„Was ist?“, fragte er und sie sah ihn lächeln.

Anne lachte und lachte und dann kamen ihr die Tränen und dann wurde aus dem Lachen ein Schluchzen und dann kam die unglaubliche Traurigkeit und die Verzweiflung. Sie weinte. Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie ein kleines Stück an sich heran. Anne lehnte den Kopf an seine Brust und weinte all die Anspannung hinaus die sich in ihr angesammelt hatte. Er fragte sie nicht, was los war, sagte gar nichts, sondern ließ sie einfach weinen. Anne war ihm unendlich dankbar dafür.

Hinter der Lüge

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