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Wind

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In einem Land, weit fern von hier, wo es viel Wüste gibt, viel Hitze und wo die Sonne über einen hohen Himmel zieht, da lebt in einem Palast ein Junge. Ihm wird zur Erfrischung in wunderbar verzierten Gläsern Zitronenwasser gebracht und sein Auge kann sich an leuchtenden Farben satt sehen, denn in den Palastgärten wachsen blühende Blumen, die jeden Abend mit kostbarem Wasser gegossen werden. Er spürt dort nichts von der Wüste und der Hitze, er hat alles, was er braucht. Und trotzdem ist irgendwo in seinem Herzen ein leerer Platz. Nun ist dies keine Geschichte von einem traurigen Prinzen, der einsam in seine Pracht eingeschlossen ist. Er hat viele Geschwister und Cousins und Cousinen um sich, und es gibt auch außerhalb des Palasts junge Menschen, die ihm lieb sind. Manche besuchen gemeinsam mit ihm die Schule, und er hat Freunde unter ihnen, und auch zwei besonders gute Freundinnen. Nur gibt es niemanden, der wirklich, wirklich tief sein Herz berührt. Ich meine so tief, dass er es so richtig ganz in der Mitte seiner Person spüren würde. Aber das kann er noch nicht wissen. Er selbst glaubt noch, alles zu besitzen. Denn Liebe, ganze Liebe, hat er noch nicht getroffen, darum kann er nicht wissen, dass sie ihm fehlt. Diesen leeren Flecken in seinem Herzen — den spürt er vielleicht manchmal, irgendwie, ein kleines bisschen, aber er fällt ihm nicht auf, er kennt es ja nicht anders.

Nun wird es Frühling. Achali, so heißt der Junge, sitzt wie an jedem anderen gewöhnlichen Tag mit den beiden liebsten Klassenkameradinnen, Nahim und Zama, in einem Café zwischen der Schule und dem Palast. Sie haben gerade die Lesebücher vor sich auf den Tisch gelegt und wiederholen, was sie heute im Unterricht über Erzählperspektiven durchgenommen haben. Aber plötzlich streift ein Gefühl seinen Körper — den Rücken, die Schultern — ein Frühlingswind. Der erhebt sich jetzt in den Dattelbaum, unter dem das Cafétischchen steht, und raschelt dort in den Palmblättern. Achalis Freundin Nahim klopft auf den Tisch.

„Achali! Hörst du zu?“

Er schreckt auf.

„Entschuldigung. Was war gerade?“

„Ob ein auktorialer Erzähler dasselbe ist wie ein allwissender.“

„Ach, das. Nein, das habe ich auch nicht ganz verstanden.“

„Dann fragen wir das morgen nach, oder?“

Ist der Wind noch da? Er schließt die Augen, reckt die Schultern. Dort, dort über sich hört er ihn. Dort streicht er durch die Palme. Wird er wieder hinunterhuschen? In den hohen Eukalyptusbäumen, die die gegenüberliegende Seite des staubigen Sandsträßchens säumen, rauscht auch ein Wind. Und plötzlich ist es Achali, als rufe der in den Eukalyptusblättern den, der hier gerade über seinem Kopf raschelt: Tahí! ruft er, Tahí, Tahí! Und tatsächlich steigt der nette Wind aus der Krone der Dattelpalme und fliegt hinüber zu dem anderen, der ihn gerufen hat. Aber bevor er über die Straße eilt, berührt er noch einmal Achalis Schultern. Der sieht sie jetzt nebeneinander davon sausen: Tahí ist nämlich nicht zu dem anderen in die Bäume geflogen — er fegt die Straße hinunter und wirbelt dabei ein wenig Staub vor sich her, und sein Bekannter springt rauschend von Eukalyptus zu Eukalyptus. Jetzt ist es windstill. Achali blickt ihnen noch nach. Tahí, glaubt er, ist sicher ein Junge in etwa seinem Alter. Der andere schien größer zu sein — vielleicht ein älterer Cousin?

„Achali!“

„Was? Ich habe doch gesagt, ich weiß es auch nicht!“

„Guten Morgen! Und wir haben doch schon gesagt: Wir fragen morgen noch mal nach!“

„Ach, stimmt. Tut mir leid. Ich habe gerade wieder nicht zugehört.“

„Hörst du jetzt zu?“

„Ja, versprochen.“ Die Winde sind ja auch fort.

Also schlagen sie die Geometriebücher auf. Dort gibt es in rechtwinkligen Dreiecken Hypotenusen und pro Hypotenuse zwei Tangenten und a-Quadrat plus b-Quadrat gleich c-Quadrat. Die Hypotenuse liegt dem rechten Winkel gegenüber. Die Formel heißt Satz des Pythagoras, obwohl Pythagoras vielleicht gar nichts mit dieser Formel zu tun hatte. Gut, hier verstehen sie alles. Als Achali und Nahim schon gähnend und erleichtert die Bücher zuschlagen, bricht Zama über die Tangenten in Lachen aus:

„Ich bin eine Tang-Ente!“, quakt sie.

Sie quaken und lachen alle drei und plaudern noch ein bisschen, dann trennen sie sich. Achali rennt die Straße zum Palast hinunter und kickt im Laufen den Staub, damit er ein wenig aufwirbelt. Er läuft zu seinem Zimmer, freut sich schon auf das, was er sich vornimmt: Kurz darauf sitzt er nämlich mit einem herrlich dicken Märchenbuch im Garten. Die Orangenbäume blühen gerade und er hat es sich zwischen ihnen im kühlen Gras gemütlich gemacht. Durch die Zweige springen kleine Vögel. Manchmal schaut er auf und sieht ihnen zu. Dann liest er weiter und träumt sich in eine verzauberte Welt voller Abenteuer hinein. Sogar als schon der frühe Abend den Horizont farbig spült, sitzt er noch immer dort. Seefahrer, die sich dunklen Meeren stellen, ihre Heimat eintauschen gegen wild schaukelnde Schiffe. Helden, die sich gegen zornige Herrscher auflehnen, sich trotzig verbarrikadieren in flirrenden Wüsten.

Der Zuwanderer oder Achali und Tahí

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