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I. Winter
Оглавление»Anna!«
Die Körper tanzten nach einer Musik, die ihren Bewegungen nicht entsprach. Heiße, schweißdurchtränkte Luft, durch viele Leiber gegangen, rann stückweise vorankriechend an den Fensterscheiben des Clubs herunter, angeschoben durch die Schallwellen der Trommeln. Doch diesen Rhythmus hörte Anna nicht. Sie saß matt auf einem Stuhl, verschwitzte Strähnen versperrten ihren Blick, hinter deren Gitter blaue Augen unbewegt nach innen schauten; die Kraft nur auf ihr Wertvollstes gerichtet, die Erinnerungen an die Zeit, als der Winter noch nicht in ihr Leben eingebrochen war. Die Unumkehrbarkeit des Umbruchs verzehrte ihre letzte Kraft aus allen Sehnen, Venen zeichneten sich deutlich ab auf Hals und Armen, deren Puls den Takt der Tanzenden mit keinem Herzschlag traf.
Die Menschen ihres Alters rundherum suchten für gewöhnlich nach Erfüllung, sofern sie diese noch nicht fanden oder gar sich durch Zerstreuung von der schweren Suche abzulenken wussten. Ihre eigene Erfüllung hatte Anna längst gefunden; und wieder verloren. Dieser Verlust lag als Grundakkord unter all ihren Gedanken, an einem jeden Tag des Winters; nur durch kurze Phasen der Manipulation farblich unterbrochen, so wie in dieser Nacht, zumindest bis die nachlassende Wirkung der Chemie ihr die warme Decke von der Seele reißen sollte. Ihr Puls war seit Stunden um sein Leben gerannt, nun trat er schleichend in den Strom zurück, war bereits im Gleichschritt fast mit der unerwünschten Gegenwart; die Zeichnung des Gesichts wehrte sich noch friedlich. Es war die Stunde der Erschöpfung, kurz bevor der überspannte Bogen letzter Glücksgefühle reißen würde.
»Hier, dein Wasser.«
Eine Gestalt schob sich unscharf in ihren Blick.
»Anna?«, fragte die Person, routiniert darin, keine Antwort zu erhalten. In Annas Wahrnehmung geriet ihr ausgesprochener Name in eine Schleife, wiederholte sich, erklang verändert wieder. Erst mit der Stimme der Frau vor ihr, dann häutete die Farbe sich. Als sie ihren Namen mit seiner Stimme hörte, reagierte sie. Die Stimme fuhr fort.
»Ich habe doch gesagt, nimm nicht so viel.«
Emma, die seit zwanzig Jahren Annas Gang auf allen Wegen stützte, erhielt bloß einen Blick als Antwort still zurück, vor Liebe wund zugrunde gehend. In der neunten Klasse hatte das Schicksal sie zusammengeführt, als Anna wiederholt die Schule wechseln musste, auf der Steintreppe des Schulhofs hatten sie sich einst das erste Mal getröstet. Emma war seitdem alle Pfade tapfer mitgegangen, ließ sich lang die Arme ziehen, als Anna an dieser oder jener Zweigung tiefer nach dem rechten Wege suchen musste, doch sie ließ nie los, wenn es mal der falsche war. Die Entwicklungen der letzten Zeit vermochten die Empathie der Freundin jedoch an Grenzen zu geleiten, deren Existenz in dieser Freundschaft einst undenkbar schien.
Emma bewegte das Gefäß vor Annas Augen, diese nahm vorsichtig das Glas, stellte es aber sofort beiseite, als ein steigend dumpfer Pfeifton grell in die Musik ihrer Gedanken drang.
Es war angezählt. Die Übelkeit kroch in ihren Magen, die Zeit war knapp, um die Toilette zu erreichen. Nichts erinnerte mehr an ihre Trägheit, als sie sich erhob, um den schweren Gang nun anzutreten, doch ihre Würde war gefährdet, sich vor den Augen Unschuldiger zu übergeben. Anna wehrte sich dagegen, stand aufrecht und anmutig, als seine Worte sie ins Genick trafen.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Emma, streckte ihr dabei die Hand entgegen. Anna drehte sich um, nachdem sie ihn die Worte sprechen hörte, schüttelte langsam nur den Kopf. Da fiel es ohne Abwehr leise aus ihr heraus: »Ich liebe dich«, sagte sie zu Emma, doch sie meinte ihn.
Mit wiedererwachtem Gehör saß Anna auf dem Klodeckel, hörte dumpfe Bässe durch gekachelte Wände hindurch. Dieser Gang war so schwer wie wenige zuvor gewesen, doch sie hatte ungedemütigt ihr Ziel erreicht, auch wenn sie sich an vielen fremden Leibern stützen musste. Das Schmerzmittel verlor an Wirkung, ihre Beine taten weh, es pulsierte in den Narben.
Anna war bleich wie ein Handtuch. Der kalte Schweiß juckte in den Flächen ihrer Hand, ihre Haarwurzeln richteten sich auf, die Kralle alter Ängste streifte sie am Nacken, die Kälte kehrte heim. Lange wehrte Anna sich, die einzige Handlung zu unternehmen, die ihr noch Linderung verschaffen konnte, dann ergab sie sich. Sie zog das Telefon aus ihrer Hosentasche, tippte ein »Ich kann nicht mehr«, versendete die Nachricht. Sie wischte schnell nach unten, Hunderte von ihr verfasste Sätze fielen durch das Display zwischen ihren matten Knien hindurch, dann erschien sein letztes Wort. Es war, schlicht und einfach Abschied nehmend, »Schlüssel?«.
Durch die Kabinenwand hindurch hörte Anna die Toilettentür aufgehen. Ein Schwall der äußeren Musik stürmte wild herein, verebbte wieder zu den Bassfrequenzen von zuvor, als die Tür zurück in ihre Fassung fiel. Nachdem die Klackergeräusche der vier eingetretenen Absätze vor dem Spiegel schwankend festen Stand erlangten, fragte eine heisere Frauenstimme, ob sie bei der anderen übernachten könne. Diese keifte bebend desinteressiert zurück, dass man ihr den Schlüssel an die Hand nageln sollte. »Ja«, hauchte es abwehrend, »ich habe meine Schlüssel halt vergessen.«
Wieder hämmerte das Echo seiner Stimme gegen ihr Bewusstsein, dieses Mal von vorne, mitten in den Bauch hinein.
»Ich habe meine Schlüssel vergessen.«
Die Worte begannen einander zu umkreisen, bis ihre Fliehkräfte sie packten und Anna zurück in die Erinnerung rissen. Das Telefon fiel ihr aus der Hand, sie betrachtete die Flugbahn. Ihre Gedanken rasten mit einer solch flirrenden Geschwindigkeit umeinander, dass sich Annas Wahrnehmung der Außenwelt bis zum Stillstand hin verlangsamte, in zeitloses Schweben geriet, noch bevor das fallende Objekt den Boden erreichen konnte.
Das Herbstblatt fiel. Ein spätsommerlicher Windstoß hatte das protestierende Blatt vom Zweig gelöst, legte es in schaukelnden Bewegungen auf die Wurzel des Baumes nahe am Bordstein, an dessen Straßenseite vereinzelt Autos im orangenen Licht der Straßenlaternen geparkt waren. Vorsichtig wurde es aufgehoben.
»Was tust du da?«, fragte Anna, während sie sich neugierig die Brille den Nasenrücken hinaufdrückte.
»Das erste Herbstblatt – für dich«, erwiderte die Stimme des Mannes ohne Brille, während er das Blatt ihr überreichte. Dies war Anno.
»Oha!«, bemerkte er ein weiteres.
»Das ist deins!«, sprach Anna, als er ihr auch dieses Blatt noch reichen wollte.
Anno fiel auf, dass sie leider bereits wieder vor der Haustür standen, an der er Anna zuvor abgeholt hatte. Er bedankte sich, es sei ein wirklich schöner Abend gewesen. Als er sich sein Herbstblatt in die Hosentasche steckte, stockte er, denn es fehlte etwas Wichtiges darin.
Es sei ihm äußerst unangenehm, aber sie könne ihm aushelfen, wenn sie wolle. Doch natürlich sei es auch kein Problem, wenn sie einfach »Nein« sage.
Anna dachte nicht daran, ihn weiterhelfend zu fragen, worum es sich handele, sie wartete still, sehr gespannt und lächelnd ab. Also fuhr er fort.
»Ich habe meine Schlüssel vergessen.«
Hinter ihrer Brille schoben sich die Augenbrauen ernst nach oben. Er habe nicht viele Defizite, fuhr er rechtfertigend fort, aber mit Schlüsseln sei er noch nie klargekommen. Als dem trotz langer Wartezeit nichts weiter folgen wollte, fragte Anna schließlich nach, wie es sich denn mit den anderen verhalte, doch darauf ging er weiter nicht mehr ein, auch wenn er flüchtig überlegte, ob jetzt der rechte Augenblick für sein Geständnis sei, dass er äußerst ungern tanzte, doch die Gedanken führten an kein Ziel, denn die Formung ihrer Lippen lenkte ihn sehr leicht von seinen Defiziten ab. Nach einer zögerlichen Pause fragte Anno, ob er sie küssen dürfe. Seiner Frage folgte eine weitere Stille, von Anna derart formuliert, als dass seine Hoffnung Wurzeln schlagen konnte. Sie stimmte der Fortführung des Abends zu und sprach, bevor er sich ihr nähern konnte: »Du müsstest nur noch pumpen.«
Entgegen der Befürchtung Annas schien das aufgepumpte Gästebett nicht undicht zu sein; zumindest lag Anno schon mehr als zwei Stunden darauf, ohne dass es an Härte nachgelassen hätte. Sie hatten es diagonal von Annas Bett aus in der entgegengesetzten Ecke ihres Zimmers aufgestellt. Beide lagen unter den Decken ihrer separierten Betten, hörten noch Musik über die Anlage, welche an einem langen Kabel mit dem Telefon in Annos Hand verbunden war. Er suchte nach dem letzten Titel, den er vor der Nacht noch mit ihr teilen wollte, die Klänge setzten ein.
»Ernsthaft, Coldplay?«, hinterfragte sie die Wahl.
»Ja, ich mag es halt.«
»Ja, das mögen viele«, kam es abwertend zurück, er konterte, mit Musikvorlieben sei nicht zu spaßen, er sei nur ganz zu haben oder eben gar nicht. Anna unterbrach, befahl ihm unbeirrt den nächsten Titel. Anno schmunzelte, als er bedeutungsvoll den Namen wiederholte. Ihr gewünschtes Lied, es hieß »Matilda«.
Anna wollte es sich nicht eingestehen, doch rang sie schon seit einiger Zeit mit ihrer Müdigkeit, um den schönen Abend ein wenig nur noch fortzuführen, dann ergab sie sich, nahm ihre Brille ab und legte sie neben die einzige noch brennende Lampe ihres Zimmers auf den Nachttisch.
»Machst du bitte das Licht aus?«
Anno vergewisserte sich, ob sie die Lampe an ihrem Kopf, in der anderen Ecke des Zimmers meine, ohne sich zu trauen, die getarnte Bitte einer Annäherung auch als solche zu verstehen. Sie meine genau diese. Anno schlug die Decke auf, kroch balancierend aus dem Luftbett. Anna sah nur noch verschwommen, doch es genügte, um folgende Gedanken anzustoßen: Er hätte sich wahrlich eine weniger gemusterte Unterhose anziehen können. Doch zumindest sei damit die Vermutung entkräftet, er habe seine Schlüssel vorsätzlich vergessen oder aber sein Modegeschmack gehöre, wie auch die Wahl seiner Musik, zu seinen Defiziten; da könne man aber dran arbeiten. Als Anna mit ihren Gedanken fertig war, stand Anno schon an ihrem Bett und betrachtete sie eine Weile. Sie bat ihn, näher zu kommen, da sie ihn auf die Entfernung nicht klar sehen könne. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinunter. Bevor es ihr zu nahe war, sagte sie ihm kalt, dass sie ihn verprügeln würde, wenn er jemals den Verstand verlieren sollte. Erst überlegte Anno noch, sie zur Nacht zu küssen, doch dann entschied er sich entmutigt, nach einem anderen Weg zu suchen. Er atmete tief ein und hielt die Luft an, verlangte dann von ihr, es ebenfalls zu tun. Als beide den Bogen zur Nacht eingeatmet hatten, knipste er die Lampe aus, bevor er beim Zurückgehen noch schmerzhaft an zwei Gegenständen dumpf entlangstieß, die er niemals dort vermutet hätte; hatte er auf dem Hinweg doch Augen nur für sie.
Ein anderes Mal, in ihrer späteren gemeinsamen Wohnung, hatte Anno wieder Augen nur für seine Schlüssel. Er rannte durch den Flur, schob Zeitschriften beiseite, inspizierte genau umliegende Regale, dann auf seinen Knien den Boden. Er erhob sich, dachte aufrecht nach, wo er sie hingelegt haben könnte, hielt sich beide Hände vor die Augen, um nicht visuell von der gedanklichen Rekonstruktion des Ablegevorgangs abgelenkt zu sein. Es klopfte.
»Jaha, Moment«, warf Anno melodievoll durch die Wohnungstür.
»Ich kann nicht jedes Mal warten«, sagte eine müde Herrenstimme, noch ganz außer Atem von den Stufen.
»Ja, was soll ich machen, die Tür ist abgeschlossen und anstatt dass der Schlüssel in der Tür ist, wo er hingehört, ist er woanders.«
Währenddessen war Anna, nackt und ohne Brille, aus dem Schlafzimmer gekommen, mit dem Schlüssel in der Hand. Sie klimperte mit ihrem Bund vor Annos zugehaltenen Augen herum, nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, kam jedoch nicht mehr dazu, ihn durchzuschütteln, da es erneut klopfte. Sie rannte flink zurück ins Bett, Anno schloss die Tür nun endlich auf.
Kopfschüttelnd stand der Bote da. Mild lächelte die Zeichnung seiner Züge, obwohl er ernst herüberschaute. Seine Atemlosigkeit ermöglichte ihm nur zwei Worte, in die er aber ein ganzes Universum an Bedeutung legte.
»Herr Müller …«
»Ja, Herr Schmidt, danke für die Geduld.«
Anno wackelte am Schlüssel, der sich in der Innenseite des Schlosses verkantet hatte.
»Jetzt klemmt er natürlich.« Herr Schmidt betrachtete interessiert Annos Bemühungen, den Schlüssel aus der Tür zu lösen. Schließlich fasste Anno das Problem zusammen.
»Der Riegel rastet auf halbem Weg falsch ein, wenn man zu schnell aufschließt.« Man müsse dann nur kurz von außen mit dem Schlüssel gegendrehen.
»Aber ich bekomme ihn nicht heraus.« Schließlich fiel Annos Blick auf den erst kürzlich angebrachten Nagel am Türrahmen, an dem der Ersatzschlüssel hing.
»Ach, hier ist der Ersatzschlüssel! Am Nagel für Ersatzschlüssel.« Er nahm ihn, drehte mit dessen Hilfe an der Außenseite des Schlosses entgegen und holte den inneren Schlüssel heraus. Der Äußere verblieb in der Tür, da Herr Schmidt ihm unterbrechend die Annahmebestätigung reichte. Während er unterschrieb, murmelte Anno, es sei höchste Zeit für Türen, die man mit einer App öffnen könne.
Bis dahin müsse er dennoch sein Tagespensum schaffen, entgegnete Herr Schmidt.
»Sie wissen doch, was wir täglich zu meistern haben.«
»Ja, es ist kein Leichtes.«
»Nein, es ist kein Leichtes.«
Beide nickten. Herr Schmidt fuhr fort. Es sei wirklich unschaffbar geworden seit diesem Internet.
»Die Leute werden immer fauler, holen sich Katzen, lassen sie fett werden, und ich schlepp dann die Katzenstreu hoch, damit sie ihr Geschäft verrichten.«
Anno relativierte, er sei mehr so der Hundetyp, habe sich aber einfach nicht durchsetzen können; der Kater sei ein Kompromiss gewesen. Doch der Bote unterbrach ihn, als er das Wort »Hund« hörte:
»Ich auch!«, sprach er voll Begeisterung. »Mein Ingo wurde zwölf, das ist in Menschenjahren ja, mal …« Er überlegte kurz, rechnete still nach, bis er schließlich rundete. »Achtzig, weit über achtzig!«
Anno wackelte ebenfalls beeindruckt mit dem Kopf. »Unsereiner kann schon froh sein, wenn er nicht von irgendeinem Wahnsinnigen in den Vierzigern aus seinem Leben gerissen wird.«
»Ja, ist es nicht schlimm geworden?«, fragte Herr Schmidt voller Besorgnis. Er wisse nicht mehr, ob es früher nicht genauso schlimm gewesen sei, aber irgendwie fühle man sich jetzt bedrohter von allem, was passiere.
»Man erfährt’s von allen Seiten, und alle haben eine Meinung, meistens eine schlechte.« Herr Schmidt dachte resignierend nach. Der Kater versuchte, während dieser Zeit durch den Spalt der Tür zu fliehen, doch Anno unterband gekonnt mit seinem Fuß den Anlauf. Herr Schmidt war noch immer in Gedanken.
Anno unterbrach ihn, solange nichts geschehe, solle man sich seiner Gesundheit glücklich schätzen und froh sein, seiner – das folgende Wort betonte er dezent – Arbeit nachgehen zu können.
»Ja, die Arbeit.«
»Alles Gute für Sie, Herr Schmidt!«
»Für Sie auch, Herr Müller, für Sie auch.«
Herr Schmidt beugte sich klangvoll ausatmend nach dem Paket zu seinen Füßen, hob es auf und wendete sich rasch der Treppe zu. Auf halbem Weg zum tieferen Stockwerk hatte Anno ihn dann eingeholt, um seine Sendung doch noch anzunehmen.
»Wo habe ich nur meinen Kopf?«, fragte Herr Schmidt ermüdet, unmerklich lächelnd. Anno schaute ihm auf halber Treppe lange nach, bis er um die Ecke bog, nun hörte er es laut von oben kratzen. Der Kater war entkommen und schärfte genüsslich seine Krallen an der Fußmatte des Nachbarn.
»Judas, komm rein, Essen ist da!«, rief er, mit dem Paket die Stufen hinaufhastend. Mit dem einen Fuß schob er den Kater in die Wohnung, mit dem anderen zog er die Tür ins Schloss zurück, an deren Außenseite immer noch der Schlüssel hing.
Vor der gleichen Tür kam der Nachbar einige Jahre später nicht mehr aus dem Lachen heraus, als er das Paar auf den Treppenstufen vor der Wohnung sitzend vorfand. Er schlurfte gegen Mitternacht nach Hause, schaute sehr betrunken und entsetzt die beiden an, lachte schließlich laut heraus und ging ohne jeden Kommentar durch seine Wohnungstür hinein. Anna war seit einer knappen Stunde bei nicht mehr allzu bester Laune, auch Anno versuchte anfangs zwar noch, der ganzen Lage eine Komik zu entlocken, doch sie schwiegen sich seit einer halben Ewigkeit bloß eisern an. Die Tür des Nachbarn öffnete sich wieder, ihm zerbrach ein Glas bei dem Versuch, eine Flasche Rotwein und zwei Kelche durch den Spalt zu balancieren.
»Ja, dann teilt euch eben eins«, lallte er den beiden zu, stellte die Flasche und das Weinglas zwischen ihnen auf den Boden, brachte noch heraus: »Ich muss jetzt schlafen!«, schunkelte zurück in sein Zuhause und tänzelte dabei um all die Scherben vorsichtig herum, deren Entsorgung er, »Jetzt nur noch schlafen«, auf den nächsten Tag verschob.
»Das ist sehr nett, danke!«, sprach ihm Anno nach, ergriff das Glas und schenkte sich ein wenig ein.
Die Zeitschaltung des Treppenlichts beendete die Zählung, die Dunkelheit zog klickend ein, nur noch der Mond schien durch das Buntglasfenster auf das Paar abstrakt herab.
Judas kratzte an der Tür hallend in das Treppenhaus hinaus.
»Haben wir zu essen hingelegt?«, dämmerte es Anna.
»Samstag ist dein Tag. Aber das Katzenklo habe ich gemacht«.
»Wir sind schreckliche Katzeneltern.«
Einer der Ersatzschlüssel war bei Annos bestem Freund verwahrt, doch Dominik ging nicht ans Telefon. Der andere öffnete soeben im Erdgeschoss die Eingangstür, Emma betätigte den Schalter. Nach langem Anstieg wurde sie von beiden erst erfreut, dann sehr verstimmt empfangen. Ob sie in diesem Zustand gefahren sei, fragte Anna ihre deutlich angetrunkene Freundin, die Angegriffene relativierte, es sei ein ToGo gewesen, ihr Auto sei unversehrt an seinem Platz, dann musste sie sich setzen. Anna schimpfte still mit ihren Augen, Anno hob den Kelch zum Gruße, sprach dann mahnend, es sei sehr dumm von ihr gewesen; für die Rückfahrt zahle er ihr gern ein Taxi.
Anna nahm das Glas aus seiner Hand, leerte es in einem Zug, griff nach der Flasche, goss sich nach. Anno wurde derweil auf den schweren Atem aufmerksam, der von unten lauter werdend keuchte. Dominik erschien, betrachtete das Trio ernst, als hätte er den Glauben gerade verloren, deutete auf Emma, flüsterte empört zu Anno: »Das ist jetzt nicht dein Ernst, ihr braucht mich gar nicht?«
Dieser parierte gleich: »Du hast nicht zurückgerufen!«
»Ja, was soll schon sein?! Ich bin gleich losgefahren.«
Dominik schüttelte den Kopf, begrüßte Emma, lächelte ihr zu, sprach: »Lange nicht gesehen!«
Diese kiekste unterdrückt heraus: »Ja, ja!«
Sie bot Dominik eine Zigarette an, strikt lehnte er sie ab.
»Danke, ich rauche nicht.«
»Also dann!«, erhob sich Anno aus der unbequemen Position. »Ich hoffe, du hast die Schlüssel drinnen nicht im Schloss vergessen«, kommentierte er scherzhaft, wenn auch nicht ganz unbesorgt. Anna versenkte das Gesicht in ihre Hand; leider war es ebenso.
Während vor der Tür Emma, Dominik und Anno sich nun angeregt berieten, welche Technik angemessen sei, saß Anna weiter auf der Stufe, trank und schloss die Augen. In ihrem Rücken flirrten die geliebten Stimmen ihrer Freunde, Judas kratzte wild dazu. Alles war im Grunde trotz des Ärgernisses gut, beschützt, behütet. Sie hob das Glas erneut an, um zu trinken, doch es war nicht mehr in ihrer Hand.
Das Konstrukt der Stimmen verzerrte sich in die Vergangenheit zurück, Anna öffnete die Augen und erblickte, wie das Treppenhaus zerfiel, das Telefon glitt aus ihrer Hand, stürzte schrill sich windend auf durchnässtes Klopapier, mit zittrigen Fingern hob sie es auf.
»Man sollte dir deinen Schlüssel an die Hand nageln«, erklang es unter dem Kabinenspalt hindurch. »Ja«, hauchte es abwehrend zurück: »Ich habe meine Schlüssel halt vergessen.«
Nancy, die um Asyl gebetene, solle einfach Nein sagen, wenn es ihr nicht passe. Mandy würde schon was anderes finden.
Da sei sie sich sicher, klatschte es zurück.
»Ich wollte eh mal fragen, was eigentlich dein Problem ist.«
»Als hätte ich mit dir ein Problem.«
Verständnislos erkundigte sich Mandy, wie es denn beispielsweise mal mit Hashtag »dankbar« wäre, schob die Melodie zum Ende hin in eine abnormale Höhe. »Früher oder später hätte er dich sowieso betrogen.«
»Safe!«, keifte Nancy zurück, »aber wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann nicht mit meiner BFF!«
»Ja, nicht mit der BFF. Nein. – Ja!«
Mandy nickte, kurzeitig verunsichert, ob ein Ja oder ein Nein die der doppelten Verneinung zuträgliche Antwort sei.
»Ich war halt mega druff.«
In diesem Moment übergab Anna sich in der Kabine. Angewidert hielt sich Nancy beidhändig die Ohren zu, schrie hysterisch: »Na, zu viel gesoffen, du Loch?«
Mandy begann ebenfalls zu zucken, doch aus einem anderen Grund; ihr Handy klingelte.
Zu den Würge- und Spuckgeräuschen gesellte sich ein lauter Klingelton dazu, es war »Last Christmas«.
»Ja endlich, was sage ich? – Oh mein Gott, ich kann nicht rangehen. Was soll ich tun?«
Völlig perplex rang Nancy nach den Worten: »Ihm sagen, dass er sich fucking noch mal bei mir melden soll?!«
Es begann eine Rangelei, wer von beiden den Anruf nun entgegennehmen würde; der Klingelton setzte hin- und hergerissen sein Geschrei durch die Toilette widerhallend fort. Anna hatte sich zur Gänze ausgeleert, da vernahm sie das Lied. Es riss sie hoch und setzte sie auf das Erbrochene auf der Klobrille zurück, Anna starrte in ein unbestimmtes Loch hinter der Kabinenwand hinein, die Pupillen weiteten sich bis zum Anschlag ihrer Fassung. Ihr Blick war ganz gesäumt von den rieselnd weißen Punkten überhitzter Nervenbahnen, die sich erinnernd auf den Weg in die Vergangenheit begaben, welche diesmal weiter noch zurücklag als zuvor.