Читать книгу Von den Göttern verlassen IV - Sabina S. Schneider - Страница 4
ROSA KINDHEIT
Оглавление„Lucel ... Lucel ... “, angenehm klang die sanfte Stimme in seinen Ohren. Wie ein Singsang lullte sie ihn tiefer in den Kokon, in dem er es sich bequem gemacht hatte. Er roch das Gras, fühlte den Wind und die warmen Strahlen der Sonne auf seiner blassen Haut. Grashalme kitzelten sein Gesicht, seinen Nacken und seine Arme. Er spürte alles und war doch nicht Teil vom Ganzen. Wie ein Fremdkörper abgestoßen, driftete sein Geist im Nirgendwo, erschuf eine Welt für sich.
„Lucel!“, rief die Stimme verärgert, zerrte an den Fäden seines Kokons und riss Löcher in seine kleine Welt, abseits von allem. Er kniff verärgert die Augen fester zu, brummte unzufrieden. Dann durchzuckte ihn ein kleiner Blitz, als er eine Hand auf seiner Brust fühlte. Ungeduldig rüttelte sie an ihm. Noch in seiner Welt gefangen, reagierte sein Körper instinktiv. Er packte den Arm und zog sie zu sich ins Grass, rollte sich auf sie und bedeckte sie mit seinem schlanken Körper.
Es war ihr Geruch, der den Kokon sprengte. Widerwillig öffneten sich seine Lider langsam und er blickte in weit aufgerissene Augen, grün wie das Gras, ihr Haar leuchtete golden wie die Sonne. Die Wangen waren gerötet, ihre vollen Lippen bebten. Unter seiner rechten Hand spürte er etwas Weiches. Verwirrt tastete er entlang, quetschte und rubbelte.
Selena stöhnte leise auf und das Rot ihrer Wangen wurde kräftiger. Lucel schloss die Augen wieder, legte seinen Kopf direkt neben ihren, genoss das seidenweiche Haar an seiner Wange und sog ihren Duft ein. Eine Wiese mit weißen Maiglöckchen erschien vor seinem inneren Auge. Er verlor sich in dem Blumenmeer. Doch Selenas Stimme zerrte ihn wieder in die Welt, in der er sich nicht komplett fühlte.
„Lucel! Wir sind keine Kinder mehr. Geh runter von mir!“ Ihre Worte waren barsch.
Lucel seufzte.
Was hatte sich in den sechs Jahren so geändert, dass er nicht mehr mit Selena im Arm einschlafen durfte? Sie waren immer zusammen eingeschlafen, hatten sich Gutenachtgeschichten erzählt und waren lachend Arm in Arm ins Land der Träume abgeglitten.
Dann plötzlich, aus heiterem Himmel, hatten ihre Eltern ihnen verboten im selben Bett zu schlafen, ja sogar im selben Raum.
Seit sechs Jahren schlief er nun alleine in einem großen, kalten Bett. Anfangs hatte sich Selena in sein Zimmer geschlichen, doch nachdem Vater sie erwischt und es ein riesen Donnerwetter gegeben hatte, war Selena nicht mehr zu Lucel gekommen.
Lucel hatte versuchte sich in ihr Zimmer zu schleichen, doch sie hatte ihn mit den Worten: „Wir sind keine Kinder mehr“, immer wieder weggeschickt. Lucel hatte diesen Satz satt. Was hatten Alter und Kindheit damit zu tun, ob er neben Selena schlafen durfte oder nicht?
„Lucel!“ Selenas Stimme klang drängend, fast ängstlich.
Hatte sie Angst vor ihm?
Bei dem Gedanken schmerzte seine Brust. Lucel rollte sich von Selena und starrte in das Blau des Himmels. Er liebte den Himmel und doch gab es Augenblicke, in denen sein Anblick ihn unendlich traurig machte. So nahe, war er doch unerreichbar.
Neben ihm raschelte es, als Selena sich aufsetzte. Immer noch mit geröteten Wangen sagte sie maulig: „Du hast auch keine Scham! Eine junge Frau da einfach so zu berühren! Unverschämter Kerl!“
„Hab ich dir wehgetan?“ Lucel musterte Selena sorgenvoll, suchte jeden Zentimeter ihres Körpers nach Verletzungen ab. Er durfte niemandem wehtun, aber vor allem nicht ihr! Der Gedanke war immer da, eng verbunden mit seiner ersten, klaren Erinnerung: Selenas tränennasse Gesicht, seine blutigen Hände und braunes bewegungsloses Fell.
„Nein! Nein, mir geht es gut“, erwiderte Selena schnell, als sie den Schatten über Lucels Gesicht huschen sah. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Er machte sich Sorgen um sie, empfand mehr als Geschwisterliebe.
„Na dann“, erwiderte Lucel plötzlich völlig desinteressiert, rollte sich zur Seite und schloss die Augen.
Serenas Wunschgedanke zerplatzte wie eine Seifenblase. „Lucel!“ Verärgert über ihn und über ihre eigene dumme Schwärmerei, rüttelte Selena ihn, „die Abschlusszeremonie beginnt gleich! Alle warten nur auf dich.“
Lucel gähnte gelangweilt. Zeremonie war ein sehr großes Wort für eine Abschlussfeier von fünf Abgängern. Sie waren mit sechzehn nun im Erwachsenenalter und bereit für den Ernst des Lebens. Keine Schulbank mehr drücken. Doch Lucel mochte die Schule und für ihn gab es nichts zu feiern. Während dem Unterricht konnte man sich einfach hinter einem Buch verstecken und schlafen. Jetzt musste er sich mit der Zukunft beschäftigen, Arbeit, Karriere, Lebenserwartungen, Wünsche und Hoffnungen.
„Vater wird schon ungeduldig“, Lucels Ohren zuckten leicht. Er rieb sich über die leicht zugespitzte Kante.
„Mutter wartet!“ Selena seufzte innerlich, als Lucel sofort auf die Beine sprang und rief: „Warum trödelst du? Wir müssen los!“ Es war ein Wunder, dass er anstatt gleich loszusprinten, Selena ungeduldig die Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen.
Für Mutter tat Lucel alles.
Wenn er die Wahl zwischen ihrer Mutter und Selena hätte, würde er sich für ihre Mutter entscheiden. Das stand außer Frage. Selena ergriff beleidigt Lucels Hand. Seine Finger waren schlank, aber stark. Er zog sie mühelos in die Höhe. So schwungvoll, dass Selena das Gleichgewicht verlor und gegen seine Brust fiel. Sie hörte sein Herz schlagen und ihr Puls raste, presste das Blut schneller durch ihre Adern.
„Selena! Benimm dich! Ihr seid Geschwister!“, raunte sie sich selbst gedanklich zu und stopfte der Stimme den Mund mit einem erdachten, stinkigen Socken, die ihr leise ins Ohr säuselte: „Er ist nicht dein leiblicher Bruder.“ Ihr Vater würde sie steinigen, wenn er wüsste, dass sie Gefühle für Lucel hatte, die über Geschwisterliebe hinausgingen. Auch wenn ihre Mutter Freudentänze aufführen würde. Seit dem Tag, als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte Laura ihre Tochter in Lucels Arme getrieben. Wortwörtlich! Geschubst hatte sie sie und das nicht nur einmal. Allein um dem selbstgefälligen Lächeln ihrer Mutter nicht ausgesetzt zu werden, würde Selena nie zugeben, dass der Plan aufgegangen war.
Auch wenn es ihr schwer fiel, einfach dabei zuzusehen, wie die kleinen Weibsbilder des Dorfes sich Lucel anbiederten, ihm Geschenke machten und leise kicherten, wenn er vorbeiging. Sogar die Jungs rauften sich um den Platz neben ihm in der Klasse.
Verächtlich verzog Selena das Gesicht. Niemand von ihnen hatte Lucels Großartigkeit gesehen, bevor er, der schmächtige Junge, der immer nur apathisch in die Gegend glotzte oder schlief, Marikal die Stirn geboten hat.
Marikal war der größte Junge im Dorf und ein bulliger Macho, dem es Spaß machte, Kleinere zu ärgern, vor allem Mädchen. Eines Tages hatte er Selena zu seinem Opfer auserkoren und sie so lange an den Zöpfen gezogen, bis sie weinte. Lucel war in aller Ruhe zu ihm hingegangen, hatte ihn am Hals gepackt und solange in der Luft gehalten, bis Marikal keuchend um Verzeihung bettelte.
Er war der Held des Tages, der Schule und vor allem Selenas Held gewesen. Selena hatte nie wieder Probleme mit Marikal oder irgendeinem anderen Jungen. Und an jenem Tag war in ihren Augen ihr kleiner Ziehbruder von einem folgsamen Hündchen, das dem kleinen Mädchen überall hin folgte, zu einem begehrten Objekt des anderen Geschlechtes geworden. Sie hatte sich doch tatsächlich mit sieben Jahren in den kleineren, verträumten Lucel verliebt.
Eine Schwärmerei, aus der sie mit den Jahren hinauswachsen würde, pflegte sie sich zu sagen und huldigte Lucel in aller Stille an ihrem geheimen Schrein, ohne ihm ihre Gefühle zu gestehen. Sie wartete jeden neuen Frühling darauf, dass ihr Herz nicht mehr verräterisch klopfen und sie nicht bei jeder Berührung zusammenzucken würde. Doch in den neun Jahren wuchs Lucel, überholte Selena und wurde zu einem attraktiven Jungen, der nicht mehr nur ihr Herz höher schlagen ließ.
Selena machte sich schnaubend von Lucel los und stampfte, dicht gefolgt von ihrem Stiefbruder, zu dem Holzhaus, das sich auf einer Anhöhe im kleinen Dorf Krem befand. Ungeduldig wurde sie von Frau Schimmerlin empfangen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch den Schülern mit schwingender Rute hinterherrannte.
Sie zeterte laut vor sich hin und scheuchte die beiden Zuspätkommer durch die Tür in den Klassenraum. Alle Stühle waren besetzt, viele Eltern standen. Laura Oberson jedoch saß auf ihrer alten Schulbank in der ersten Reihe und winkte ihren beiden Kindern aufgeregt wie ein kleines Schulmädchen entgegen.
Selena blickte peinlich berührt zur Seite, während Lucels Augen in einem ungewohnten Glanz erstrahlten.
Wie schon so oft fragte sich Selena, wie sie mit ihrem ruhigen, würdevollen und eleganten Wesen nur von dieser kindischen Person abstammen konnte? Ein leiser Zischlaut entschlüpfte ihren Lippen, als Lucel lächelnd zurückwinkte. Das musste ein Irrtum sein. Lucel war Lauras leiblicher Sohn und Selena war eine weit entfernte, adoptierte Cousine, nicht umgekehrt.
Ein Blick in Lucels schläfriges Gesicht sagte Selena, dass sie wieder die Stunden, in denen sich Frau Schimmerlin in Rage reden und gerührt von ihren eigenen Worten weinen würde, damit verbringen durfte, Lucel mit Elenbogenstößen wachzuhalten. Wie konnte man nur so viel schlafen? Ergeben in ihr Schicksal, stellte sie sich neben die anderen drei Absolventen und hielt ihren Ellbogen bereit. Wie gelang es Lucel nur im Stehen einzuschlafen?
Für das kleine Dorf Krem war das Haus der Obersons so groß wie ein Anwesen. Als Merez Oberson die Aufgabe des Obermeisters seinem Schwiegersohn überließ, zog er mit seiner Frau aus dem Hauptgebäude in ein Nebenhaus. Wie so oft, aßen sie auch heute alle gemeinsam zu Abend. Merez und Linda, Laura Oberson mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Dass Lucel nicht ihr leiblicher Enkel war, ließen sich die stolzen Großeltern nicht anmerken. Nach dem Essen verabschiedeten sie sich und Laura machte es sich wie immer mit ihrem Mann, Selena und Lucel vor dem Kamin bequem.
Selena würde es nie offen zugeben, aber sie liebte diesen Moment. Wie Kinder lümmelte sie sich mit Lucel auf den Fellen am Boden vor dem Kamin. Obwohl sie bereits Spätfrühling hatten, waren die Abende noch kühl und die Nächte kalt.
Selena starrte ins knisternde Feuer, beobachtete die Flammen bei ihrem Tanz, während Lucel mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und vermutlich schlief. Sicher konnte man sich da nie bei ihm sein. Er erinnerte Selena an einen großen, zotteligen Hund oder einen toten Käfer, wenn er so auf dem Rücken lag, alle Viere von sich gestreckt. Manchmal musste sie bei dem Anblick auch an eine hilflose Schildkröte, die auf dem Rücken lag und sich alleine nicht umdrehen konnte, denken.
Sanil Oberson, der den Namen seiner Frau angenommen hatte, einfach weil Laura den Klang Oberson besser gefiel als Wandik, lag ausgestreckt auf dem Sofa, während seine Frau im Schaukelstuhl saß und wieder einmal etwas strickte. Auch wenn der Winter vorbei war, würde der nächste mit Sicherheit kommen, pflegte sie zu sagen. Es dauerte nie lange, bis Laura mit dem Geschichtenerzählen begann. Auch heute nicht. Mit einem Lächeln der Erinnerung auf den Lippen räusperte sie sich und entführte die Familienmitglieder in eine fremde Welt.
Lucel spitzte seine Ohren, Selena kuschelte sich tiefer in das Bärenfell und Sanil legte sein Buch zur Seite, um der schönen Stimme seiner Frau zu lauschen. Sie alle kannten die Geschichte. Hatten sie schon tausendmal gehört. Und doch freuten sie sich jeden Abend darauf.
„Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem abgelegenen Dorf ein junges Mädchen namens Serena. Da ihr Vater verschwand, als sie noch sehr klein war, wohnte sie alleine mit ihrer Mutter in einer Hütte am Dorfrand. Obwohl Serena mit ihren schwarzen Locken und Augen in der Farbe des Himmels eine wahre Schönheit war, mieden die Dorfbewohner sie. Denn sie war immer ernst, lachte nie und weinte nicht. Alara, Serenas Mutter, war eine große Heilerin und hatte schon so manches Leben in dem kleinen Kreis der Gemeinschaft gerettet. Dennoch mieden die Bewohner auch sie, da auch sie nie lachte und nicht weinte. Doch die beiden machten sich nichts aus menschlicher Nähe und lebten in Ruhe vor sich hin.
Eines Tages jedoch kam ein Fremder mit einem Mädchen ins Dorf. Sie war klein und stämmig, hatte Haare rot wie Feuer und Augen so grün wie Gras. Wie ein dressierter Hund, folgte sie dem Mann überall hin. Denn sie war nichts anderes als eine abgerichtete Sklavin und so behandelte der Mann sie auch. Wenn er wütend war, schrie er sie an, wenn er betrunken war, prügelte er sie.
[Selenas Herz klopfte wütend und wie immer biss sie bei dieser Ungerechtigkeit in den nächstbesten Gegenstand. Heute war es das Fell, in das sie sich gekuschelt hatte. Haare klebten an ihrer Zunge und sie röchelte leise, als ein paar ihr in den Rachen rutschten. Lucel lachte leise und Laura reichte ihrer Tochter ein Glass Wasser, ohne in der Geschichte innezuhalten.]
Serena wurde seit dem Verschwinden ihres Vaters von einem kleinen, runden Mann namens Zorghk, der alleine tief im Wald lebte, in der Kampfkunst unterrichtet. So war Serena stark und wusste sich zu wehren. Als sie sah, wie der Mann auf das am Boden liegende Mädchen mit der Peitsche einschlug, konnte sie nicht an sich halten und eilte zur Rettung des armen Geschöpfs. Der Mann fiel bei dem Handgemenge zu Boden, schlug mit dem Kopf auf einen spitzen Stein und blieb reglos am Boden in seinem eigenen Blut liegen.
Doch Serenas Herz kannte kein Mitleid für ihn. Sie ließ ihn, wo er war, und brachte das schwerverletzte Mädchen zu Zorghk, ihrem Lehrmeister. Als er den Rücken des kaum noch atmenden Mädchens sah, schickte er nach Alara. Nur mit Mühe gelang es Serenas Mutter die Verletzte dem Tode zu entreißen. Die Sklavin würde leben. Doch ihr Herr war tot. In manchen Augen mag das Gerechtigkeit sein, doch nicht vor dem Gesetz, das wusste Zorghk und drängte Serena, mit dem Mädchen noch in derselben Nacht zu fliehen.
Gemeinsam liefen sie Tage und Nächte durch den dunklen Wald, der seit jeher das kleine Dorf umgab, immer in der Angst, verfolgt und gejagt zu werden. Das Mädchen war aus der Rasse des Bergvolkes und lebte seit seiner Geburt bei den Vostoken als Sklavin. Ohne Rechte, ohne Stimme, ohne Namen. Serena taufte sie Aira und versprach, sie zu ihrem Volk zu bringen, wo sie in Freiheit und Frieden leben könnte.
Am fünften Tag erzitterte der Wald vor wildem Geheule. Ein Rudel Wölfe hatte die Spur der Mädchen aufgenommen. Serena nahm die kurzbeinige Aira huckepack und lief so schnell ihre Beine sie trugen. Doch sie hatte keine Chance, den wilden Tieren zu entkommen. Nur mit einem Stock bewaffnet, stellte sich Serena den hungrigen Bestien entgegen. Doch trotz ihrer Kampfausbildung hatte sie keine Chance. Als gerade einer seine scharfen Zähne tief in Serenas Arm vergrub, erschien ein stattlicher, junger Mann und schlug mutig die Biester in die Flucht.
[Lucel fuchtelte mit den Armen und spießte imaginäre Gegner auf. Selena entschlüpfte ein leises Kichern und sie flüsterte seufzend: „Mein Held!“ Lucels Hände gefroren in der Luft und seine Wangen röteten sich leicht, als er sich verlegen räusperte.]
Da Mikhael, ihr Retter, ein Edelmann von Herzen war, konnte er die zwei jungen Damen nicht alleine im Wald herumirren lassen. Er beschloss, sie zu begleiten und mit seinem Leben zu beschützen. Sein Entschluss war nicht nur reiner Natur, denn sein Herz schlug, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, für die schöne Serena. Doch obwohl Mikhael die schönsten Augen der Welt hatte, die meist verschmitzt wie Bernsteine funkelten, blieb Serenas Herz unberührt.
Auf ihrem Weg hielten sie in einem Gasthaus, um sich auszuruhen und für die kommende Reise zu stärken. Dort begegnete ihnen Molly, eine junge, fröhliche Kellnerin, die den ganzen Tag nur lachte und deren Herz in freudiger Erwartung auf kommende Abenteuer pochte und Serena sofort entgegenflog. Molly schloss sich der Gruppe an.
Zu viert reisten sie durch Täler und Wälder, vorbei an Häusern und Feldern. Auf ins unbekannte Land, das vor ihnen noch niemand betreten hatte. In einem Wald mit Bäumen, die so groß waren, dass sie den Himmel berührten, traf die muntere Truppe auf das Waldvolk. Riesige Gestalten mit spitzen Ohren, die sangen, anstatt zu sprechen. Sie durchsuchten die Sachen der erstaunten Gefährten, die auf ihrer Reise zu Freunden geworden waren und fanden bei Aira ein Amulett.
Aufgeregt brachten sie die Gefährten zu ihrem König, der nicht nur singen, sondern auch sprechen konnte. Er erzählte ihnen, dass vor einiger Zeit das Waldvolk und das Bergvolk sich angefreundet und als Zeichen ihrer Verbundenheit gemeinsam das Amulett Zerelf gefertigt hatten. Doch das Amulett war vor über einem Jahrzehnt verloren gegangen. Und eben dieses trug Aira um den Hals. Der König des Waldvolkes bat die Gefährten, Zerelf in seinem Namen zum Bergvolk zu bringen, um die Freundschaftsbande zu erneuern und zu stärken.
In der Hoffnung, dort ein neues Zuhause für Aira zu finden, willigten die Freunde ein. Malhim, der Sohn des Königs, hatte sich wie Mikhael auf den ersten Blick unsterblich in Serena verliebt und bat seinen Vater, die Gruppe auf ihrer Reise begleiten zu dürfen. Schweren Herzens ließ der König seinen einzigen Sohn mit fünf Außerwählten ziehen: den Kriegern Salmon, Aragar, Garif und Mof, sowie dem Magier Haril.
Ausgeruht und gestärkt machten sie sich auf, ihre Aufgabe zu erfüllen. Doch sie wussten nicht, das Morphis, ein böser Zauberer, schon lange nach dem Amulett suchte. Und so fand seine Dienerin die Freunde unvorbereitet. Sie beschwor eine Severenarmee und ergoss einen Pfeilregen über die Gefährten. Haril, der Magier riss seine Hände in die Luft und erschuf mit all seiner Kraft einen Transportzauber. Kurz bevor eine Windkugel sich um die Freunde schloss, erblickte Serena das Gesicht der Angreiferin und erkannte Alara, ihre eigene Mutter.
Harils Wirbelsturm brachte die Reisenden in ein verbotenes Gebiet, den verwunschen Wald, in dem die Magie der Bäume so stark war, dass sie alle anderen Zauber verformten und zerrissen. Magier mieden diesen Ort um jeden Preis. So auch ihre Angreifer. Doch der Pfeilhagel war nicht ohne Spuren über sie hereingebrochen. Viele waren getroffen. Die Glücklichen waren nur leicht verletzt, doch Molly erlag ihrer Wunde noch vor dem Transport.
Voller Schmerz vertrauten die Gefährten ihren Körper dem Wald und seinen Wurzeln an. Vor allem Mof vom Waldvolk hatte an ihrem fröhlichen Wesen Gefallen gefunden und Trauer um das Mädchen aus dem Flachland fand sich in seinem Herzen ein.
Trauer ergriff auch Serenas Herz, denn sie hatte Molly sehr liebgewonnen. Gefangen in ihrem Schmerz, nutzte Oril, der verwirrte Herrscher des verwunschenen Waldes, die Chance, verzauberte die schöne Serena und entführte sie auf sein Schloss. Malhim und Mikhael, deren beide Herzen für Serena schlugen, machten sich sofort auf, um sie zu retten.
[Selena seufzte verträumt. Gleich zwei gutaussehende, strahlende Helden, die eilten, um die holde Maid aus den Klauen des Ungeheuers zu befreien. Und sie musste sich im wirklichen Leben mit dem da zufrieden geben. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Lucels Ohren, die aufgeregt hin- und herzuckten. Wie machte er das nur? Ungewollt glühten ihre Wangen und Selena versteckte ihr Gesicht tief in dem Bärenfell.]
Nur mit Mühen gelang es ihnen, Serena aus den Krallen des verdrehten Geistes zu befreien. Und sie machten sich weiter auf zum Bergvolk. Doch Alara, die Dienerin des bösen Morphis, wartete mit einer Armee am Waldrand. Die Gefährten kämpften tapfer, vor allem Serena mähte einen Feind nach dem anderen nieder und es gelang ihnen trotz ihrer Unterzahl, den Feind zu besiegen. Müde und ausgelaugt erreichten sie das Bergvolk.
Doch die Angriffe ließen den Freunden keine Ruhe und sie beschlossen, ins Schneeland zu reisen, um im Morphium Kloster nach Antworten zu suchen. Und so brach Serena mit Mikhael, Krohl, der den Namen Zorghk abgelegt hatte, Malhim und Mof auf in die nördlichste Region der Welt. Während ihrer Reise begegneten sie Armirus, Mikhaels Ziehvater. Nach langen Gesprächen stellte sich heraus, dass Armirus der Bruder von Serenas Vater war und damit ihr Onkel. Von ihm erfuhr Serena auch, dass Laron, ihr Vater, noch am Leben und seit Jahren zu Unrecht in einem Verlies eingesperrt war.
Gemeinsam machten sie sich auf, ihn zu befreien und nahmen ihn mit in den kalten Norden. Wochenlang durchstreiften sie das Schneeland und fanden erst kurz vor dem Erfrieren das Kloster, das sich einsam von der weißen Schneehölle abhob. Sie gelangten durch eine geheime Tür hinter die dunklen Mauern und liefen Halif, Armirus‘ und Larons verschollenem Halbruder, in die Arme. Gemeinsam mit Nadine war es ihm gelungen, in wenigen Monaten die Kunst der Magie zu meistern. Mit ihrer Hilfe konnten sie nach einem langen Kampf den bösen Zauberer besiegen. Alara jedoch war nicht auffindbar.
Der Prinz des Waldvolkes gestand Serena seine Liebe. Seinen vor Leidenschaft glühenden, grünen Augen mit goldenen Sprenkel gelang es, die Eismauer um Serenas Herz zum Schmelzen zu bringen und sie kehrten gemeinsam in seine Heimat zurück. Kurze Zeit später bekamen sie einen hübschen Jungen, dem sie den Namen Lucel gaben.
[Sanil beobachtete aus dem Augenwinkel Selena und Lucel. Selbst mit ihren sechszehn Sommern, die sie jetzt zählten, lagen sie auf dem Fell und hörten gebannt ihrer Mutter zu. Er wusste, dass diese Tage bald vorbei sein würden und genoss jeden Abend, den sich die Jungspunde noch zähmen ließen.]
Sie lebten glücklich, besuchten oft ihre Freunde sowohl im Bergland als auch im Flachland. Es hätte ein Happy End werden können, doch plötzlich erkrankte Serena. Keiner wusste sich zu helfen, kein Heilmittel war bekannt, über die Krankheit an sich wusste man nichts. Voller Trauer bat Malhim das Bergvolk um Rat und man beschloss gemeinsam, Serena in einen Schlaf zu versetzen und ihren Körper tief im Gebirge aufzubewahren. Bis zu dem Tag, an dem man ein Heilmittel finden würde.
Sie würde keine Schmerzen leiden und die Krankheit würde ihr gemeines Werk in dem Raum ohne Zeit nicht vollenden können. Und wenn noch keiner ein Heilmittel für ihre Krankheit gefunden hat, liegt sie vielleicht heute noch dort und wartet, eingehüllt in Träume von Abenteuer, Liebe und Freundschaft, darauf, dass jemand sie retten kommt.
Selena war wie immer mit dem Ende, das keines war, unzufrieden und konnte nicht umhin, ihre traditionelle Frage zu stellen: „Wie geht die Geschichte weiter?“
Wie immer füllten sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen und es tat Selena leid, dass sie gefragt hatte.
Laura lächelte, sah voller Liebe von ihrer Tochter zu Lucel. So sehr sie sich wünschte, dass Lucel ihr leiblicher Sohn wäre, war sie doch froh für Selena, dass sie nicht blutsverwandt waren.
„Ich kenne die Geschichte nur bis hierhin. Den Fortlauf zu erzählen ist eine Sache der nächsten Generation. Vielleicht erzählst du ihn ja eines Tages deinen Kindern.“ Laura blickte wieder zu Lucel, der immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Die langen Holznadeln in ihren Händen bewegten sich rhythmisch im geübten Takt. Ihre Augen verloren sich im Feuer und sie sah ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken und blauen Augen, wie sie Lucel hatte. Es war nicht traurig und doch lachte es nicht.
Eine Träne, die sich kurz in ihren Wimpern verfing, kullerte über die Nase und tropfe auf den grünen Wollknäuel. Als sie aufblickte, starrten sie blaue Augen, die sie so gut kannte und so sehr liebte, voller Sorge an. Laura konnte nicht anders und sie schenkte Lucel ein strahlendes Lächeln.
Ihr entging Selenas Schnauben nicht und sie spürte sofort Sanils Hand auf ihrer. Die Luft vibrierte von den gemischten Gefühlen. Liebe und Eifersucht. Dann rettete sie ein Klopfen aus der peinlichen Lage. Laura legte das Strickzeug auf den kleinen Holztisch neben ihrem Schaukelstuhl, den Sanil ihr zu irgendeinem Geburtstag geschenkt hatte. Er war ein praktischer Mann und hatte nur wenig Ahnung von Romantik.
Doch er war ein guter Mann. Er hatte kein Wort darüber verloren, als Laura mit dem kleinen Lucel im Arm nachhause gekommen war und hatte die fadenscheinige Geschichte, Lucel sei der Sohn einer entfernten Cousine, die bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nicht in Frage gestellt. Sanil hatte Lucel wie seinen eigenen Sohn großgezogen, soweit es ihm möglich war. Laura wusste, dass Lucel ihm unheimlich und seine Anhänglichkeit gegenüber Laura unangenehm war. Doch Sanil gab sein Bestes, vergötterte Selena und tat alles für die Familie.
In Gedanken versunken, öffnete Laura die Tür und blickte in Augen, von denen sie nicht gedachte hatte, sie je wiederzusehen. Von einem Grün, etwas dunkler als ihre eigenen, starrten sie Laura aus einem haselnussfarbenem Gesicht entgegen. Augen, die sonst voller Güte, Freude und Fröhlichkeit waren, wirkten hart und bitter.
Lauras Herz hüpfte ihr in den Hals und ihre Knie wurden schwach. „Ist etwas mit Serena?“ Lauras Stimme zitterte.
Die Frau schüttelte den Kopf, presste aber die vollen Lippen aufeinander, bis alles Blut aus ihnen gewichen war und sie weiß wie Marmor wurden.
„Ich komme wegen Lucel.“ Leise entschlüpften die Worte dem widerwilligen Mund.
Laura sank zu Boden, presste ihre geballten Fäuste an ihre Burst und sagte mit tränenden Augen: „Er ist zu jung. Was auch immer ihr plant. Er ist zu jung.“
„Die anderen wissen nicht, dass ich hier bin.“
Bei den leisen Worten des schlechten Gewissens, sah Laura erleichtert auf.
„Krieg droht. Dunkle Mächte haben sich in Schatten und Licht versammelt. Sie sind kurz davor, wieder die Welt zu betreten ... “
„Liebling, alles in Ordnung? Wer war denn das so spät noch an der Tür?“, unterbrach Sanil die schwarze Botschaft. Laura rappelte sich auf, strich ihr Kleid mit zitternden Händen und bleichem Gesicht glatt.
„Eine Freundin der Familie. Sie war in der Gegend und hat an mich gedacht.“
Die schweren Schritte ihres Mannes hallten auf dem Holzboden. Er warf einen besorgten Blick zu seiner Frau und musterte den Ankömmling.
Der unangekündigte Gast strich die Kapuze ab. Braune, lange Locken sprangen ungezähmt über die Schultern. Sie lächelte den Hausherrn an und sagte entschuldigend: „Es ist eine ungeplante Reise und ich hatte leider nicht die Zeit meinen Besuch anzukündigen. Ich wäre so oder so vor meinem Brief angekommen und ich musste unbedingt Lucel sehen.“
„Das macht doch nichts. Lucel wird sich sicher freuen, Frau ... ?“ Fragend sah Sanil die Schönheit an.
„Nadine, einfach nur Nadine. Ich glaube nicht, dass er sich an mich erinnert, doch ich habe ihn nie vergessen.“ Ihre zarten Hände schlossen sich um einen rosafarbenen Kristall, der an einer Kette um ihren Hals hing.
„Kommen Sie doch herein! Wir sitzen gerade alle beim Kamin und lauschen den Geschichten meiner Frau. Haben Sie zu Abend gegessen? Können wir Ihnen etwas anbieten?“ Mit einer galanten Bewegung und einer Rücksichtnahme, die Laura an ihrem Mann nicht kannte, zeigte er Nadine den Weg ins Wohnzimmer.
„Ich bin heute weit geritten. Ein kleines Mahl würde ich nicht ablehnen“, erwiderte Nadine höflich, strich sich die dunkelgrünen Reiterhandschuhe von den Händen und streckte Sanil die Hand hin.
„Wo habe ich nur meinen Kopf! Ich mache gleich etwas Tee und ein paar belegte Brote“, stotterte Laura und eilte in die Küche, während Sanil Nadine den Umhang abnahm. Zum Vorschein kam eine seltsame, waldfarbene Tunika und Stiefel, zu kurz, um nützlich zu sein. Sanil führte Nadine ins Wohnzimmer, wo sie neugierig von Selena gemustert wurde.
Eine Frau in Hosen war in Krem eine Seltenheit, vor allem in so engen. Selena bewunderte die schöne Figur, die lockigen Haare, die nussbraune Haut und Augen, grün wie eine saftige Sommerwiese. Ihr Herz sprang der Fremden entgegen, die sie freundlich anlächelte.
Dann fuhr der Blick der Frau zu Lucel und Schmerz trat in die schönen Augen.
Selenas Herz zog sich zusammen und eine dunkle Vorahnung ergriff von ihr Besitz. Angst erfüllte ihren Geist. Angst, dass diese Frau ihr Lucel wegnehmen würde. Selena schalt sich, versuchte über ihre Dummheit zu lachen, doch Wut staute sich auf, die sich nur schwer herunterschlucken ließ. Sie stellte sich dicht neben Lucel, der bei dem Eintritt der Fremden aufgestanden war, und griff nach seiner Hand.
Sie war kalt.
Lange starrten sich Lucel und Nadine an, ohne etwas zu sagen. Bis Sanil die Stille brach: „Nadine ist gekommen, um dich zu sehen, Lucel. Erinnerst du dich an sie?“
Als Laura eines Abends mit dem kleinen Jungen auf dem Arm angekommen war, hatte sie gesagt, Lucel habe miterlebt, wie seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen seien, und könne sich aufgrund des Schocks an nichts aus seiner Vergangenheit erinnern. Apathisch war er die ersten Monate herumgelegen, hatte nicht gesprochen, nichts und niemanden wahrgenommen.
Nach langen Kämpfen um seine Aufmerksamkeit war Selena es endlich gelungen, ihn aus seinem Kokon zu locken und sie würde ihren Lucel nicht einfach einer fremden Frau überlassen. Mit erhobenem Kinn funkelte sie die fremde Schönheit an.
Lucel schüttelte mit gerunzelter Stirn langsam den Kopf, als müsse er sich selbst davon überzeugen, dass er die Frau nicht kannte.
Selenas Fingernägel gruben sich tief in seine Haut, doch er spürte den Schmerz nicht, tastete nach dem Kokon, in den er sich noch nie so sehr hatte zurückziehen wollen, wie jetzt. Doch der Blick der Frau hielt ihn gefangen. Etwas an ihr rief ihn, lockte ihn.
Dann fingen seine Augen das Leuchten des rosafarbenen Anhängers ein. Ein nie gekanntes Feuer erfasste seine Seele, die Spitzen seiner Ohren schmerzten, als würde sie jemand langziehen und gleichzeitig zusammenpressen. Das Blut rauschte immer schneller durch seinen Gehörgang. Ein unbändiges Verlangen nach dem Stein ergriff ihn.
Kalter Hass und heiße Wut.
Man hatte ihm etwas Wichtiges genommen.
Nadine sog scharf die Luft ein. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass Lucels Augen sich schwarzsilber gefärbt hatten. Eine Hand um das linke Ohr gekrallt, streckte sich die rechte zitternd nach Nadine aus.
Lucels Gesicht war verzerrt vor Schmerz.
Nadine eilte zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Nacken und presste sich fest an ihn.
„Es tut mir so leid, Lucel. So furchtbar leid.“ Sachte strich sie ihm über die schwarze Lockenpracht.
Lucel hielt still.
Der Schmerz verschwand.
„Ich werde sie dir wiedergeben. Es ist Zeit, dass du dich erinnerst. Wir hätten sie dir nie nehmen dürfen.“ Die Worte waren so leise gehaucht, dass Lucel sie kaum hörte. Er legte die Arme um die Frau, die er vor einigen Sekunden noch geglaubt hatte zu hassen, und drückte sie fest an sich. Er spürte eine Wärme an seiner Brust, die ihn beruhigte und doch aufwühlte.
„Ähem!“, räusperte sich Selena laut und ungeduldig, die gezwungenermaßen Lucels Arm hatte frei geben müssen.
Lucel ließ die Frau aus seiner Umarmung und sie trat verlegen zurück. Dann kam Laura mit einem Tablett und alle setzten sich an den Tisch. Nadine nahm die dampfende Tasse Tee, roch daran und nahm genüsslich einen Schluck.
„Pfefferminz aus Selenas Garten. Dieses Jahr ist das Aroma besonders gut“, sagte Laura, rieb sich über die Oberarme und wusste nicht, wohin sie ihren Blick richten sollte.
„Man schmeckt die Liebe und den Gesang“, erwiderte Nadine mit geschlossenen Augen und einem leisen Lächeln auf den Lippen.
Selenas Ohren wurden rot. Woher wusste die Frau, dass sie ihrem Kräutergarten jeden Abend etwas vorsang? Nur leise, sodass es niemand mitbekam. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von Lucel?“, giftete Selena sie an, um die Verlegenheit abzuschütteln. Sie mochte den Blick nicht, mit dem Lucel die Frau betrachtete. Nur selten bezeugte er so viel Interesse an irgendetwas oder irgendjemandem.
„Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen! Ich heiße Nadine.“ Das Lächeln war verschwunden, die Tasse in ihrer Hand zitterte leicht, als sich ihre Augen in Lucels bohrten, der ihren Blick ausdruckslos erwiderte.
„Nadine? Wie die Zauberin in Mamas Gutenachtgeschichte!“, rief Selena verwundert und alle negativen Gefühle verschwanden. Ein aufgeregtes Glitzern ließ ihre Augen glühen.
Nadine sah verwirrt zuerst zu Selena dann zu Laura, die ihren Blick mit geröteten Wangen, jedoch mit Trotz und Kampfeswillen erwiderte. Sie würde sich nicht dafür entschuldigen und sie bereute es nicht, sagten ihre Augen, während sich ihre Finger in dem Stoff ihres Rockes wühlten.
„Ich würde diese Geschichte nur zu gerne einmal hören“, erwiderte Nadine mit hochgezogener Augenbraue.
„Mama erzählte sie jeden Abend, immer etwas anders, aber immer mit den gleichen Figuren. Nadine hat in der Geschichte auch grüne Augen und braune Locken, wie Ihr. Sie hilft, den bösen Zauberer Morphis zu besiegen. Könnt Ihr zaubern?“, fragte Selena aufgeregt. Sie mochte die Vorstellung von Magie, wenn sie auch davon nur in den Märchen ihrer Mutter gehört hatte.
Nadine verschluckte sich an dem Tee und hustete laut, während sie sich auf die Brust klopfte. Mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend saß sie da, als sich ihr Rücken plötzlich durchdrückte und sie wild über die Schultern blickte. Ihre Stirn legte sich in Falten und der kalte Ausdruck in ihren Augen kehrte zurück.
„Ich habe nicht mehr viel Zeit. Er wird mein Verschwinden entdecken, wenn ich länger bleibe.“ Sie sprang auf, nahm ihre Kette vom Hals, legte sie in Lucels Hand und schloss kräftig seine Finger um den Kristall.
Lucel versteifte sich.
„Sie gehören dir. Wir hätten sie dir nie nehmen dürfen. Es gibt noch zehn weitere.“ Nadine holte eine alte, zerknittere Papierrolle aus ihrer Tunika und drückte sie Lucel in die andere Hand.
„Von denen ich erahne, wo sie sich befinden, habe ich farbige Markierungen auf dieser Karte gemacht. Halte dich von Lila und Gelb so lange fern, wie du kannst! Aber du musst sie alle finden und egal was passiert, suche den Schwarzsilbernen erst auf, wenn du alle anderen hast und dein Herz stark ist. Finde Türkis und Rot zuerst! Sie sind verbittert, haben sich jedoch ihr liebendes Herz bewahrt. Traue weder der Erde noch der Sonne!“
Nadine stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste sanft und traurig Lucels Wange und flüstere ihm Abschiedsworte ins Ohr: „Vergiss nie, Menschen begehen die schlimmsten Taten aus Angst, nicht Hass. Verzeih uns, wenn du kannst.“ Dann packte sie das belegte Brot, stürmte zur Tür, nahm ihren Mantel und war in der Dunkelheit verschwunden. Kurz, in dem Augenblick eines Wimpernschlages, wurde sie von kleinen Lichtern umschwärmt. Dann war da nur noch die Dunkelheit der Nacht.
Sprachlos stand die kleine Familie um den Esstisch. Sie alle spürten, dass ihr ruhiges Beisammensein vor ihnen in Scherben lag. Laura brach weinend über dem Tisch zusammen und Selena schrie auf, als Lucel, den Stein und die Karte umklammernd, zu Boden sank.
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Er saß weinend im Wald. Er hatte jemandem wehgetan, hatte sein Versprechen gebrochen. Würde sie ihn noch lieben? Oder würde sie ihn mit Angst in den Augen ansehen? Die Bäume standen dicht gedrängt aneinander. Ihre Kronen waren so hoch, dass sie den Himmel berührten, Sterne und Mond bedeckten. Alles war schwarz. Die Rinde des alten Baumes, der seit Urzeiten auf dieser Welt am selben Fleck weilte, drückte gegen seinen Rücken.
Dann hörte er Schritte, fuhr zusammen. Furcht stieg in ihm auf und mit ihr etwas, das er nicht freilassen durfte. Dann sah er sie. Kleine Sterne fielen aus den Kronen der Bäume, umringten ihn, lachten ihn an, küssten seine Tränen weg. Und mit ihnen kam sie. Wunderschön, in ein Meer aus Licht getaucht, von Sternenstaub bedeckt. Die Stellaryphal, vom Volk der Sternenkinder, hatten Nadine, ihre Mutter und Schöpferin zu ihm geführt.
Er fühlte sich sicher bei ihr. In ihr pulsierte die Reinheit. Sie kniete sich vor ihm hin, strich ihm über den Kopf und nahm ihn in den Arm. Der Schmerz verflog, das Drängen ließ nach. Er war wieder im Gleichgewicht, obwohl er diese Reinheit nicht verdient hatte.
Der kleine Junge schluchzte und erzählte ihr, was er getan hatte. Sein Mund bewegte sich, doch Lucel hörte die eigenen Worte nicht, wusste nicht, was er getan hatte. Ängstlich, in ihren Augen Abneigung, Vorwurf oder gar Furcht zu sehen, blickte er zu ihr auf. Doch sie lächelte, stricht ihm übers Haar und sagte: „Tut es dir leid?“
Nachdrücklich nickte er.
„Dann musst du dich entschuldigen. Hoffen und warten, dass man dir eines Tages vergibt. Es kann dauern. Wenn aber die Reue in deinem Herzen bleibt, wird Vergebung in den Herzen der anderen erblühen. Bei manchen schneller, bei anderen langsamer“, erwiderte Nadine und küsste seine Tränen weg.
„Vergebung?“, fragte er verwirrt.
„Nichts kann so schlimm sein, dass es nicht irgendwann vergeben werden kann. Manchmal muss man darum kämpfen, Wiedergutmachungen leisten. Aber wenn man auf dem Pfad der Reue und der Wiedergutmachung bleibt, wird einem verziehen. Wir können uns unsere Fehler schwer selbst verzeihen und sind meist auf die Vergebung anderer angewiesen.“
Sie hob ihn hoch und trug ihn zurück ...
Aber wohin zurück? Was hatte ihn so aufgewühlt?
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Als Lucel erwachte, lag er auf dem Boden, die besorgten Gesichter von Selena, Mutter und Vater über sich.
„Lucel?“, fragte Selena ängstlich.
„Mir geht es gut. Es ist nichts“, erwiderte er und richtete sich auf.
„Du weinst ... “ Wer diese Worte aussprach, wusste er nicht. War es Laura? War es Selena? Seine Hand fuhr zu seinen Wangen. Sie waren nass.
„Lucel!“, rief Laura heulend und fiel ihn an, warf ihn wieder zu Boden, lag auf seiner Brust und schluchzte.
Selena beobachtete die Szene mit schmerzender Brust und ihr ekelte es vor sich selbst. Wie konnte sie nur auf ihre Mutter eifersüchtig sein? Sanil nahm seine Tochter an der Hand und führte sie aus dem Zimmer. Lucel hatte in den neun Jahren, die er bei ihnen war, nicht einmal geweint. Was war nur passiert? Der Stein in seiner Hand hatte geleuchtet, Lucel für einen Augenblick umhüllt, dann war das Licht in ihm verschwunden.
Laura riss sich von Lucel los, setzte sich auf und half ihm beim Aufstehen.
„Woran erinnerst du dich?“, fragte sie. Scham lag in ihrem Blick, aber auch Freude.
„Ich erinnere mich an Nadine. Ich habe sie als Kind gekannt. Es sind nur Bruchstücke, aber ich kenne Nadine.“ Verwirrt starrte Lucel auf den Stein, der farblos in seiner Hand lag. Es fühlte sich an, als hätte er ein Stück von sich wiedergefunden.
„Noch etwas?“, fragte Laura drängend.
„Einzelne Bilder aus meiner Kindheit. ... ich habe eine Kindheit!“, Freude und Schmerz wühlten seine Brust auf, „riesige Bäume, die so hoch sind, dass sie den Himmel erreichen. Die Sternenkinder sind von ihren Kronen herabgestiegen, um mit mir zu spielen.“ Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, stieg Zweifel an seinem Verstand in Lucel auf.
Traurig strich Laura ihm eine Locke aus dem schönen Gesicht und sagte leise: „Egal, was vor dir liegt. Egal, was du von deiner Vergangenheit erfahren wirst, wisse, dass ich dich immer wie mein eigen Fleisch und Blut lieben werde.“
Lucel blickte in die Augen, die ihn, seit er sich erinnern konnte, nur mit Liebe angesehen hatten und sein Herz quoll über. Gefühle stürmten auf ihn ein. Er nahm Laura in den Arm und drückte sie fest an sich. Und sein Herz verstand, was Liebe war.
So lagen sie sich in den Armen, bis Laura sich seufzend mit den Worten von ihm löste: „Ich werde dann wohl anfangen, Reisevorbereitungen zu treffen. Du willst sicher bald los.“
„Ich will nicht weg“, rief Lucel aufgebracht.
„Vielleicht nicht jetzt, aber bald. Nadine hat zur Eile angetrieben. Es ist besser, wenn du mit der Suche so schnell wie möglich beginnst“, erwiderte Laura, ihm den Rücken zugedreht. Sie verschwand in der Küche, hantierte ungeschickt in der Vorratskammer, suchte Reisebeutel und leichtes Kochgeschirr.
Nadines Worte hallten in ihrem Geist.
Meide Lila und Gelb.
Wer hatte den lila und wer den gelben Stein? Sollte Lucel sie meiden wegen den Erinnerungen, die sie beherbergten, oder wegen den Trägern? Wer jagte Nadine, die gütigste und sanfteste Seele, die Laura je kennengelernt hatte? Statt Fröhlichkeit und kindlicher Naivität war Härte in Nadines Augen gewesen. Was war passiert?
Laura stieß einen Berg Töpfe um, als sie Schritte hinter sich hörte. Erschrocken drehte sie sich um.
„Ich werde mit ihm gehen.“ Selenas Gesicht verriet nur Entschlossenheit und den Willen zum Kampf. Herausfordernd sah sie ihre Mutter an.
Laura seufzte tief. Sie hatte nicht vorgehabt, ihre Tochter aufzuhalten und selbst wenn, wäre es ihr nicht gelungen. Den Dickkopf ihres Engels kannte Laura nur zu gut, auch wenn Selena ihr aufbrausendes Gemüt immer zu verstecken suchte, waren diese Charaktereigenschaften Teil ihres wunderbaren Wesens.
„Ich wusste, dass du mitgehen würdest. Aufhalten werde ich dich nicht und um Vater kümmere ich mich auch. Er wird nicht begeistert sein, dass du gehst. Dass ihr geht.“ Laura drehte ihrer Tochter wieder den Rücken zu.
Selena war bei den Worten ihrer Mutter sprachlos. Sie hatte fest mit einem Kampf gerechnet und die Energie, die sie in Erwartung eines Wortgefechtes aufgebaut hatte, verpuffte in der Luft.
„Das Märchen, das du immer erzählst, ist kein Märchen. Nadine ist echt.“ Selena hatte immer den Wunsch gehegt, Teil des Märchens zu sein, das sie seit der ersten Erzählung so sehr liebgewonnen hatte.
Laura hielt in ihrer Bewegung inne und sagte leise: „Was davon wahr ist und was nicht, werdet ihr auf eurer Reise noch früh genug erfahren. Ich ... “ Die Selbstbeherrschung verließ Laura, sie ließ alles fallen und umarmte ihre Tochter stürmisch.
„Egal, was passiert, kommt gesund wieder zu mir zurück! Ich liebe euch, vergesst das nie!“
Dann packten die zwei Frauen zwei Bündel. Alles, was man für die Reise brauchen könnte, war doppelt und dreifach vorhanden. Als hätte sich jemand auf diesen Tag lange vorbereitet.
Lucel besah sich Selenas roten Kopf, der über der Karte hing. Das Pergament war alt, hatte hier und da Risse und viele handschriftliche Nachträge. Vermutlich von verschiedenen Personen. Einige Städtenamen waren schön geschwungen geschrieben, andere klobig und kaum leserlich. Hätte Lucel es nicht besser gewusst, hätte er den Klecks, der Krem darstellen sollte, als Fettfleck interpretiert. Die Buchstaben waren unbeständig und unregelmäßig, als hätte ein Kind, das gerade das Schreiben gelernt hatte, die Buchstaben K R E M hinzugefügt, um den Fettfleck wie einen Eintrag aussehen zu lassen.
Es waren auch Schriften vorhanden, die Lucel nicht lesen konnte. Er seufzte leise und erntete einen bösen Blick von Selena.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Karte, als würde sie die Lösung für ihr Problem dort finden.
„Wir müssen in den Norden, wenn wir nach Tarahalm wollen. Der türkise Kreis ist definitiv bei Tarahalm“, murmelte sie vor sich hin.
Neun farbige Kreise waren im Gegensatz zu dem Rest fein säuberlich eingetragen. Neben dem türkisen befand sich ein kleinerer roter Punkt. Gelb und Lila waren im Senjyougebiet im Südwesten eingezeichnet, zusammen mit Orange und Grün. Warum mussten sich so viele an einem Ort aufhalten, vor allem bei denen, von denen er sich fernhalten sollte? Im Nordwesten, im Teffelofgebirge, befanden sich drei weitere: Braun, Grau und der schwarzer Punkt mit dem silbernen Kern.
Auch tabu.
Ihnen blieb nur der Norden.
„Wir müssen in den Norden ... “, wiederholte Selena leise und ernst. Als würde diese Information ihnen helfen. Dass sie in den Norden mussten, war ihnen noch vor dem Tag der Abreise klar gewesen. Doch es brachte nichts, Selena in ihrem Tantrum zu stören.
Dickköpfig starrte sie auf das Pergament. Als würde sie dort die Antworten auf alle Fragen des Universums finden.
Lucel drehte sich weg und schloss die Augen. Ihr Problem bestand darin, dass sie nicht wussten, wo Norden lag. Da er sich sicher war, dass Selena dieses Problem durchaus nicht unbekannt war, zog er es vor, zu schweigen.
Also rollte Lucel sich auf die Seite, genoss den Geruch nach Kiefern, Waldbeeren und Gras. Der Duft von weißen Maiglöckchen mischte sich in den Wald, wühlte ihn auf, obwohl er ihm so vertraut war. Vielleicht, weil er ihm so vertraut war? Lucel hatte nicht einmal protestiert, als Selena verkündet hat, dass sie ihn begleiten würde. Vater hatte sie nur dunkel angesehen und sich bis zum Schluss nicht von ihnen verabschiedet.
Lucel seufzte.
Weit waren sie nicht gekommen, als Selenas Pferd von einer kleinen Blindschleiche aufgeschreckt worden war und durchging.
Es war panisch querfeldein in den Dunkelwald gelaufen und Lucel hatte Mühe gehabt, Selena einzuholen. Als sich Quiver beruhigt hatte, waren sie irgendwo im Nirgendwo. Um sie herum nur Bäume und weit und breit kein Anhaltspunkt, wo sich ein Weg befinden könnte. Die dichten Kronen ließen nur wenig Sonnenlicht durch und Selena musste sich sehr anstrengen, im Dämmerlicht etwas auf der Karte entziffern zu können.
Lucel seufzte erneut, stand auf und kletterte geschickt auf einen Baum und sah der Sonne beim Untergehen zu.
„Lucel! Was machst du da oben? Komm sofort herunter!“, rief Selena aufgeregt, war jedoch, noch während sie sprach, auch schon dabei, ihm nach zu klettern. Dank der Tunika und der Hose, die sie anstelle ihres Kleides trug, war sie geschwind neben Lucel und sie sahen gemeinsam der Sonne dabei zu, wie sie die Welt in ein wunderschönes Rosarot tauchte.
„Wir müssen runter, solange wir noch etwas sehen können“, sagte Selena, während sie ihre Augen nicht von dem Schauspiel losreißen konnte.
Lucel stieg als Erstes hinab und half Selena herunter.
„Jetzt wissen wir, wo Westen ist und wenn wir bis morgen Mittag warten, auch wo Norden“, sagte Lucel und verlor die Balance, als Selena in freudig ansprang.
„Aber was machen wir solange?“, fragte Selena, als ihr Magen Lucel laut anknurrte.
„Essen, schlaffen, essen?“, erwiderte Lucel mit einem verschmitzten Lächeln.
„Wie macht man ein Feuer?“, fragte Selena und schaute ihn erwartungsvoll an.
Lucel rieb sich den Kopf. Er hatte seinem Vater immer nur beim Feuermachen zugeschaut. Selbst entzündet hatte er noch nie eins. Wenn sie auch alles dabei hatten, was man auf Reisen brauchte und mehr, fehlte es ihnen am Essentiellen: dem Wissen.
Selena runzelte wieder die Stirn, kramte in ihren Beuteln und holte triumphierend zwei Steine heraus, schlug sie so fest aneinander, dass Funken sprühten und wieder verlöschten. Aufgeregt sammelte Selena Gras, kleine Äste und Blätter.
Nach etwa einer Stunde brannte ein kleines Feuer und verlosch nach wenigen Minuten. Nach der Hälfte der Zeit brannte ein neues Feuer und es gelang ihnen es so lange am Leben zu halten, bis sie ihr Abendmahl zu sich genommen hatten. Dann schliefen sie beide, in ihre Schlafsäcke gewickelt, ein.
Ungläubig besah sich der Mann in den Schatten das Schauspiel. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, Wache zu halten, schliefen diese Kinder seelenruhig nicht einfach in der Wildnis, nein, im Dunkelwald. Hatte man ihnen denn nichts beigebracht? Selbst Feuermachen konnten sie nicht.
Der Mann kratzte sich am Bart. Er erinnerte sich nicht daran, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Gebadet hatte er auch schon länger nicht. Ein Weg, sich zumindest das Kleintier vom Leib zu halten. Seine Kleidung war zerrissen und dreckig, seine Schuhe hatte er vor Jahren weggeschmissen. Wann hatte er das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen? Konnte er überhaupt noch sprechen? Als er es versuchte, kam nur ein Krächzen heraus.
Vielleicht würde ein Schrecken am Morgen die beiden Jungspunde lehren, vorsichtiger zu sein ...
Lucel räkelte sich, als die ersten Sonnenstrahlen sein Gesicht berührten und öffnete schläfrig die Augen. Sein Rücken, der weiche Federbetten gewöhnt war, schmerzte ein wenig.
Dann durchriss ein Schrei die Luft.
Lucel sprang auf, sah sich überrascht um und entdeckte eine auf der Erde kniende Selena. Tränen des Entsetzen standen ihr in den Augen. Lucel eilte zu ihr und nahm sie in den Arm.
„Hat dich ein Tier erschreckt?“, fragte Lucel verwundert, während er ihr übers Haar streichelte.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte mehrmals Luft in ihre Lungen zu bekommen, und heulte schließlich stammelnd los: „Pferde ... Gepäck ... alles weg!“
„Quiver und Salop sind bestimmt nicht weit. Ein Tier hat sie sicher aufgeschreckt und sie haben sich losgerissen.“ Hatten sie die Pferde überhaupt angebunden? Lucel war sich nicht mehr sicher.
„Von Tieren erschreckt? Ist das deine Antwort auf alle Probleme? Und das Gepäck? Haben sie das auch mitgenommen?“, rief Selena verärgert, schubste Lucel um und warf ihm einen giftigen Blick zu, als er leise erwiderte: „Möglich wäre es schon.“
Selena lief mit tränennassen Wangen im Kreis herum, sank dann auf die Knie und heulte so laut, dass die Bäume erzitterten: „Wir werden sterben! Verhungern, verdursten. Von wilden Tieren zerfleischt werden. Ich will noch nicht sterben!“
Ein verächtliches Schnauben kam aus den Bäumen und ihr Gepäck landete mit einem Plumps auf dem Boden. Ihm folgte ein menschenähnliches Wesen.
Selena und Lucel starrten es verwundert an. Es öffnete seinen Mund und ein Krächzen kam heraus. Dann räusperte es sich und sprach mit heiser Stimme: „Ich wollte euch eine Lektion erteilen, aber dein Geheule und Geschreie wird den ganzen Wald aufwecken. Es gibt Wesen, die man besser schlafen lassen sollte.“
Selena eilte zu dem Gepäck, sammelte es auf, drückte es an die Brust, warf dem Wesen einen giftigen Blick zu und rief aufgeregt: „Was hast du mit Quiver und Salop gemacht, du Unmensch!“
„Unmensch?“ Das Wesen kam ganz nahe an Selena heran und keifte: „Wenn ich ein Unmensch wäre, hätte ich euch im Schlaf die Kehle aufgeschlitzt und eure Leichen den Wölfen, Bären und Ghröfle überlassen.“
Selenas Augen füllten sich mit Angst und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals.
„Da ich aber kein Unmensch bin, habe ich euch lediglich eine Lektion erteilt. Wer euch zwei Grünschnäbel so unvorbereitet auf die Welt losgelassen hat, will wohl euer schnelles Ableben“, sagte der Mann mit krächzender Stimme, als hätte er eine lange Zeit seine Stimmbänder nicht benutzt. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht und ließen nichts erkennen außer Schmutz.
Ein furchtbarer Gestank stieg Selena in die Nase. Sie hielt sie sich zu und drehte sich angewidert weg.
„Kehrt zurück zu eurem kuscheligen Nest und Mama und Papa. Kinder, wie ihr, haben nichts in der Wildnis verloren.“ Er schnaubte laut.
Selena drehte sich wütend mit zugehaltener Nase um und öffnete den Mund, um dem frechen Kerl die Meinung zu geigen, als Lucel herantrat.
„Wir waren wirklich recht unvorsichtig und sind unerfahren. Wir danken Euch für Eure gütige Lektion und erbitten die Herausgabe unserer Pferde. Wenn Ihr uns noch sagen könntet, wo Norden liegt, seht Ihr uns nie wieder. Seid jedoch unserer ewigen Dankbarkeit versichert.“
Selena vergaß sich die Nase zuzuhalten und starrte Lucel ungläubig an. Sie hatte ihn noch nie so viel auf einmal sagen hören und dann auch noch so höflich!
Das Wesen, nach Selenas Beobachtungen wohl ein Mann, wich ein paar Schritte zurück, verkrallte die linke Hand in dem zerrissenen Stoff an seiner Brust und starrte Lucel entgeistert an. Dann schallte ein freudiges Lachen durch den Wald. Die gebückte Gestalt richtete sich auf.
„Gut gesprochen, Grünschnabel! Wie heißt du?“ Seine Stimme war nun tief und angenehm, das Krächzen war völlig verschwunden.
„Lucel. Das ist meine Schwester Selena“, antwortete er und blickte den Mann unverwandt an. Etwas an ihm zog ihn an, erweckte eine Unruhe in seiner Brust, die sonst nur Müdigkeit kannte.
„Nun gut, wartet hier! Ich hole eure Pferde und ein paar meiner Sachen. Ich bringe euch durch den Wald“, sagte der seltsame Fremde und verschwand zwischen den breiten Stämmen der hohen Bäume.
Der Weg war lächerlich kurz und lächerlich einfach. Selena sah nach drei Stunden Fußmarsch, während dem sie die Pferde am Halfter führten, bereits den Waldrand. Lucel schien keine Scham zu kennen und bedankte sich bei dem Fremden, der ihnen nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Dieser nickte einfach nur bei Lucels Worten und machte keine Anstalt umzukehren.
„Ich werde euch bis zur nächsten Stadt begleiten. Wollte eh meine Vorräte aufstocken“, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf.
„Was?“, rief Selena überrascht und gar nicht erfreut.
Lucel erstarrte bei der Unhöflichkeit seiner Schwester und stieß sie mit dem Ellenbogen an.
„Was denn? Er stinkt! Egal wohin ich meine Nase drehe, rieche ich nur seinen Gestank! Ich halte das keine Stunde länger aus, ohne mich zu übergeben“, rief sie aufgebracht mit hochrotem Kopf.
Lucel rümpfte ebenfalls leicht die Nase, aber das Entsetzen in seinen Augen über ihre Worte grub sich in Selenas Herz und sie schaute peinlich berührt weg.
„Wir kennen nicht einmal seinen Namen“, murmelte sie wie ein bockiges Kind.
Zu ihrer Überraschung lachte der Fremde und sagte: „Wenn das die einzigen Einwände sind, lässt sich das schnell beheben. Ihr könnt mich Aren Leshin nennen. Und was den Geruch betrifft, nicht weit von hier fließt ein kleiner Bach, wenn ihr mir zwanzig Minuten gebt ... “
„Mach eine Stunde daraus!“, erwiderte Selena, setzte sich auf den Boden, wo sie stand, und holte etwas zu Essen aus ihrem Rucksack hervor.
Lucel schüttelte den Kopf, suchte einen Platz, um Quiver und Salop anzubinden, und gesellte sich zu ihr, auch wenn er nichts aß. Er hatte sich schon immer gefragt, wo Selena all das Essen nur verstaute, das sie in sich hineinschaufelte.
Sie war rank und schlank, nur an gewissen Stellen hatte sie in den letzten Jahren zugenommen. Seine Augen irrten zu ihrem Busen, seine Wangen röteten sich und Lucel wandte schnell den Blick ab. Wuchsen alle Mädchen, die viel aßen, nur dort? Er schüttelte den Kopf. Im Dorf hatte er schon dicke Frauen gesehen, die weniger aßen als Selena.
Etwas musste mit ihrem Körper nicht stimmen.
Von dem vielen Denken angestrengt, legte Lucel sich hin, schaute in den blauen Himmel und schlief nach wenigen Minuten ein.
Doch kaum hatte er die Traumwelt betreten, rüttelte Selena an ihm. Ihre Hände zitterten. Ihr Atem ging vor Aufregung schneller. Alarmiert sprang Lucel auf und wünschte sich, er hätte eine Waffe mitgenommen. Wieso hatte er keine Waffe mitgenommen? Auch wenn er nicht damit umgehen konnte, würde sie wenigsten ein paar Gauner abschrecken.
Ein Mann in einer blauen Tunika, die etwas aus der Mode gekommen war, aber perfekt an ihm saß, stand vor ihnen. Er trug schwarze Stiefel und noch nie gesehene Augen glitzerten ihm in der Farbe von Bernsteinen freudig entgegen. Nasse schwarze Locken waren hinter die Ohren gestrichen, der Bart durchnässte den Brustbereich der Tunika. Doch es schien den Mann wenig zu stören.
„Die schlimmste Dreckschicht ist runter, umgezogen habe ich mich auch. Ich hoffe, dass meine Anwesenheit euch nicht mehr ganz zuwider ist.“
„Aren?“, fraget Selene ungläubig.
„Das bin dann ich. Aren Lowin“, erwiderte der Mann lachend und warf sich sein Gepäck über die Schulter.
„Hast du nicht Leshin gesagt?“, fragte Selena verwirrt.
Aren gefror in der Bewegung, lachte etwas zu laut und erwiderte: „Du musst dich verhört haben. Aren Lowin ist mein Name.“
„Und du willst wirklich nicht reiten?“, fragte Aren verwundert. Selena schüttelte stumm den Kopf. Sie hatte ihm schon zehn Mal gesagt, dass sie lieber zu Fuß ging. Ihr Blick schweifte neidisch zu Lucel. Ob die Anatomie bei Männer so viel anders war als bei Frauen? Unaussprechliche Stellen an ihrem Körper schmerzten und waren wund. Griesgrämig sah Selena geradeaus. Ihr Blick bohrte sich in den Boden.
Sie waren nun sieben Tage unterwegs und sahen weit und breit nichts außer Bäume, Sträucher, Staub und Erde. Diese Reise brachte das Schlimmste in ihr hervor. Sie hatte sich vorgenommen, eine Lady zu sein. Genügsam, höflich und zuvorkommend. Doch seit sie aufgebrochen waren, hörte sie sich nur keifen. Serena aus der Geschichte hatte sich nie beschwert, hatte nicht viel geredet, war schön und klug. So wollte Selena sein und kein Bauerntrampel wie ihre ...
Sie dachte den Satz nicht zu Ende und ihre Wangen färbten sich rot. Wie konnte sie nur so über ihre eigene Mutter denken? Sie war ein furchtbarer Mensch. Vor sich hin grummelnd, ließ sie ihren Blick über den schmutzigen Weg wandern und alle schlechte Laune verflog.
Eine Stadt!
Sie hatten endlich eine Stadt erreicht.
Niedrige Holzzäune umringten einstöckige Häuser, deren Dächer mit Stroh gedeckt waren. Jedes Häuschen hatte einen Blumengarten vor der Tür und ein Gemüsebeet im Hinterhof. In dem Hof eingezäunt standen mal Ziegen, mal Hühner. Manchmal auch eine Kuh oder ein paar Schweine.
Je weiter sie in die Stadt hineingingen, desto kleiner wurde der Hof und desto höher die Gebäude. Bald schon sah man Backstein und Ziegel anstatt Holz und Stroh. Die Zäune und die Höfe verschwanden ganz. Gaststätten und kleine Läden nahmen den Platz von Gemüsebeeten und Tieren ein. Alles wurde gedrängter und hektischer. Smalt war keine große Stadt, hatte nicht einmal eine Stadtmauer. Doch für Selena und Lucel, die ihr Heimatdorf noch nie verlassen hatten, war es die erste menschliche Siedlung, die sie zu Gesicht bekamen.
Bald fanden sie auch einen kleinen Gasthof, der Zimmer vermietete. Und nach einem herzhaften Abendmahl legte sich Selena auf das weiche, fast saubere Bett und schlief in dem Moment ein, als ihr Kopf das nicht mehr ganz weiße Kissen berührte. Sie vergaß sich darüber zu beschweren, dass sie sich mit zwei Männer den Raum teilen musste, und schlief in voller Montur ein. Sie bemerkte nicht einmal, wie Lucel ihr die Stiefel auszog und sie zudeckte.
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Nadine saß in ihrem goldenen Käfig. Der Sessel war bezogen mit dem weichsten Leder, das man sich vorstellen konnte. Weiß war er, wie die Unschuld. Auch die Seidenbettwäsche und der Baldachin aus der schönsten Spitze mit Blumenmuster umhäkelt waren weiß. Das Bett selbst war aus dunklem Kirschholz, wie auch die Kommode, die Stuhlbeine, der Tisch und das Bücheregal. Auf Nadines Schoß lag ein Buch über Magie. Sie stand auf und es glitt lautlos zu Boden, federte an dem Fell, das fast den ganzen Boden bedeckte, lautlos ab.
Wie immer waren Nadines Füße nackt, doch ihre Fußsohlen hatten die ersten Freuden der Weichheit vergessen. Sie erinnerten sich noch kaum an das Glück, das sie erfüllt hatte, als Halif ihr das Anwesen zum ersten Mal gezeigt hatte. Ein eigenes Königreich, nur für sie beide, in dem sie ihre kleine Familie großziehen konnten.
Familie.
Nadines schönes Gesicht verzerrte sich in Abscheu. Wann war es passiert? Wann war aus ihrem Zuhause ein Gefängnis geworden und aus Liebe Einengung und Abneigung? War da noch Liebe für Halif in ihr? Oder war es nur Mitleid, das sie an ihn band? Kalte Augen blickten in den Spiegel, die noch vor wenigen Jahren erfüllt waren mit Glück und Liebe. Jetzt sah sie in ihnen nur die Kälte ihrer Seele.
Ihre Hand fuhr über ihren flachen Bauch. Er hatte es noch nicht bemerkt und wenn es nach ihr ginge, würde er es nie erfahren. Nicht nachdem, was er mit ihrem letzten Baby gemacht hatte. Ihr Gesicht verzerrte sich mit Hass, dann kamen die Schuldgefühle. Er hatte mit dem Baby das Gleiche getan wie mit Serena. Die Zeit angehalten, als es seinen ersten und letzten Atemzuge getan hatte. Es war nicht lebensfähig gewesen und auch ihre Magie hatte es nicht retten können.
Nadine glitt zu Boden. Ihr Körper zitterte und sie krallte ihre Fingernägel in die Oberarme. Wozu hatte sie diesen verdammten, göttlichen Funken in sich? Sie konnte eine neue Rasse erschaffen, doch ihrem eigenen Kind kein Leben einhauchen. Sie hatte sich die Schuld gegeben. Ihr Gesicht verdunkelte sich. Belogen hatte sie sich und damit das Leben ihres Babys verwirkt. Das würde ihr kein zweites Mal passieren.
Nadine richtete sich auf.
Halif hatte sich wieder in seinem Labor eingeschlossen und würde bis spät in die Nacht nicht nach ihr sehen. Zu sehr war er mit seinen widerwärtigen Experimenten beschäftigt. Eine kleine Stimme, die sich an den letzten, irrationalen Hoffnungsschimmer klammerte und an die Erinnerungen der tiefen Liebe, die Nadine für Halif empfunden hatte, flüsterte ihr zu: „Er macht es für dich, für euer gemeinsames Kind.“
„Er macht es aus Angst und Egoismus. Der Zweck heiligt nicht die Mittel!“, sprach Nadine gegen die leise Stimme laut an. Halif hatte unsagbare Dinge getan, die nicht verziehen werden konnten. Nicht verziehen werden durften. Ihr Herz zog sich zusammen. Nadine hatte Lucel um Verzeihung gebeten. Ob er die Kraft hatte, die ihr zu fehlen schien?
Ihr Handspiegel vibrierte. Es war so weit. Sie blickte hinein und eine blonde Schönheit strahlte ihr wie die Sonne entgegen. Wäre sie doch nur die Sonne und würde mit ihrer Güte über sie alle wachen. Doch die Sonne über den Landen war verseucht. Verseucht wie die Erde.
Phynissia blickte in die kalten, harten Augen, die ihr aus der glatten Wasseroberfläche entgegenstarrten. Sie schloss die Lider und dachte an liebende Augen voller Glück. Ein naives Herz, das selbst in Todesgefahr um die Seele anderer betete. Sie hatte so viel in ihnen gesehen und geglaubt, die Welt besser zu verstehen. Auch jetzt war ihr Herz erfüllt von Verständnis. Phynissia verstand, warum die Götter ihre eigene Schöpfung vernichten wollten. Lebewesen, die so etwas Reines und Vollkommenes wie Nadines Seele verdunkeln konnten, hatten nicht das Recht zu existieren.
Dann öffnete Phynissia ihre Augen und beschrieb einen Kreis in der Luft, murmelte Worte einer längst vergessenen Sprache. Sie hielt inne und fragte ein letztes Mal leise, kaum hörbar: „Bist du dir sicher, dass du das willst?“
Nadine nickte, die Augen steinhart und entschlossen.
„Er könnte dich entdecken. Das nächste Kraftfeld werde ich nicht durchstoßen können. Er hat in den Jahren viel gelernt und ist stark geworden.“
Nadine nickte ein zweites Mal.
Phynissia dachte an den Mann, den sie einst vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Kein Fünkchen Macht in sich, hatte er es doch geschafft, sich zum mächtigsten Magier der Landen aufzuschwingen. Auf eine Art, die Phynissia nicht verstand, war er mächtiger als sie, vielleicht sogar mächtiger als Lucel. Ihm war es gelungen, die Kraft ihres Enkels einzusperren, sie dazu zu bringen, sich selbst zu verschlingen.
Ein brillanter Mann, ein Genie. Der alles tat für die Frau, die er liebte.
„Wenn er weder dich noch euer Kind hat, wird er dem Wahnsinn verfallen“, und sie würden ein Ungeheuer, schlimmer als Morphis es je hätte werden können, auf die Welt loslassen.
„Halif ist bereits wahnsinnig. Er hat unser Kind mit den Ausdunstungen seiner Experimente vergiftet.“ Nadine wurde von Husten geschüttelt, wob einen Stillezauber um sich und wartete, bis der Anfall vorüberging. Die Hand, die sie sich vor den Mund gehalten hatte, war rot gefärbt. Nadine zitterte am ganzen Leib. Sie war schuld an dem Tod ihres Kindes. Sie hatte alle Anzeichen ignoriert, weil sie an Halif hatte glauben wollen.
Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.
Sorgenvoll blickte Phynissia auf das Kind des Lebens, das von Tod umgeben war. Sie atmete tief ein und aus und sagte: „Geh! Du hast fünf Minuten, bevor er dich entdeckt. Wenn er in seine Arbeit vertieft ist, vielleicht länger.“
Nadine nickte und machte einen Schritt nach vorne.
Die Luft um sie herum verschwamm wie eine senkrecht stehende Wasseroberfläche. Der Raum verflüssigte sich, bewegte sich und das verhasste Weiß wandelte sich in Schwarz. Von Dunkelheit umgeben, wusste Nadine, wo sie hin musste, auch wenn sie den Raum erst einmal betreten hatte.
Mit dem Mantel der Stille um sich gelegt, ging sie an den Regalen vorbei, blickte nicht zu den Gläsern, in deren Flüssigkeit die Zeugnisse von Halifs Gräueltaten schwammen. Ihr war nur eines wichtig. Auf einem kleinen Altar stand ein Glasbehältnis mit goldenem Deckel. Nadine griff mit fester Miene, aber zitternden Händen danach. Versuchte das Geräusch, als lebloses Fleisch gegen Glas stieß, zu ignorieren. Die Bewegung der Flüssigkeit beim Gehen nicht zu bemerken.
Die Luft flimmerte und Nadine betrat durch Wasser die Dimension der Seraflyn. Die Königin erwartete sie mit einem traurigen Lächeln. Nadine setzte das Glasgefäß vorsichtig ab, ging zu Phynissia, sank zu ihren Füßen und weinte. Entließ all die Tränen, die sie tief in ihr Herz eingeschlossen hatte, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.
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Eine dunkle Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, beobachtete, wie die Frau hocherhobenen Hauptes durch das Portal schritt, das er noch nicht hatte nachbauen können. Noch nicht. Er zog den Mantel der Dunkelheit ab, schüttelte sein ergrautes Haar und bernsteinfarbene Augen leuchteten im Dunkeln, als er leise die Worte sprach: „Ich hatte dich nicht so gierig in Erinnerung, meine Geliebte. Musst du mein Herz stehlen, wo mein Verstand mich längst verlassen hat und mir auch noch meinen Sohn nehmen?“ Halif trauerte. Wut war nicht in seinem Herzen, nur Schmerz und neugeborene Hoffnung.
Nadine war auf der anderen Seite der Dimension sicherer und glücklicher. Er hatte schon so lange nicht mehr ihr Lächeln gesehen, aus dem er immer Kraft geschöpft hatte. Sie war dort besser aufgehoben und er konnte ohne falsche moralische Fesseln arbeiten. Er war so kurz davor, das Geheimnis zu ergründen. Sein Körper erzitterte kurz, als der Gedanke ihn wieder ergriff. Halif hatte alle Tabus gebrochen, hatte sich sogar an Nadine vergangen.
Ob sie ihm je verzeihen würde?
Jetzt war sie aus seiner Reichweite, vor ihm sicher. Seine verbliebene rechte Hand zitterte und der Stumpf, der von seiner linken übrig war, schmerzte, erinnerte ihn an seine Sünden und Verfehlungen. Halif war zu dem geworden, vor dem er Nadine so sehr hatte beschützen wollen. Sein gebeugter, alter Körper, verpestet durch die begangenen Frevel, schleppte sich zu seinem Arbeitsplatz zurück, hob Säge und Lichtmesser an und schnitt in Fleisch, durchtrennte Haut, Fett, Muskeln und Knochen auf der Suche nach dem Funken des Lebens, dem Kern der Seele und des Körpers.