Читать книгу Aeternitas - Die komplette Trilogie - Sabina S. Schneider - Страница 5
EVA 02
ОглавлениеIch starre in den Spiegel und kann meinen Blick nicht von dem Schatten auf meiner linken Schulter losreißen, während Lilly versucht meine Locken zu bändigen. Es gelingt ihr überraschend gut. Sie summt dabei. Dann steht sie auf und geht zu der Wand, hinter der sich die Waffenkammer verbirgt.
„Lilly …“, sage ich zögernd und warte, bis sie sich fragend umdreht, um fortzufahren, „ich … Ich würde heute gerne etwas Bequemes tragen, nichts Extravagantes. Etwas Schlichtes.“ Das niemanden auf dumme Gedanken bringt, füge ich in Gedanken hinzu. „Vielleicht eine Hose und ein T-Shirt … ?“, schließe ich wenig hoffnungsvoll an. Zu meiner Überraschung lächelt sie und nickt. Das war zu einfach. Und als sie mich fertig geschminkt hat und ich fassungslos in den Spiegel starre, weiß ich, dass ich nicht gewonnen habe. Lilly hat all meine Wünsche erfüllt und doch sehe ich bezaubernd aus. Unreal schön.
Ein helles Oberteil, keine Bluse, aber auch kein T-Shirt, fällt wie ein Wasserfall locker über meinen Oberkörper. Der Ausschnitt ist schräg gehalten und zeigt mein rechts Schlüsselbein, bedeckt jedoch meine Schultern. Die Ärmel sind luftig und mit silbernem Schmuck an meine Unterarmen befestig, kurz über meinen Narben. Sie sehen schwer aus, sind jedoch fast so leicht wie der Stoff selbst. Es sind einfache Armreifen, ohne jegliche Gravuren oder Verzierungen.
Ein silberner Gürtel schlingt sich um meine Taille, gibt dem fließenden Stoff meines Oberteils Form. Die hellbraune Stoffhose schmiegt sich um meine Hüften, fällt locker um meine Beine und endet kurz über meinen Fesseln in einen silbernen Bund. Meine Füße ruhen in silbernen Sandalen, die kunstvoll bis zum Ansatz der Hosenbeine meine Fesseln umschlingen. Ein niedriger, aber spitzer Absatz richtet meinen Körper auf. Das Brechen von Zehen wird heute kein Problem sein.
Wenn ich gestern eine zarte Elfe gewesen bin, strahle ich heute Menschlichkeit aus und Selbstbewusstsein. Lilly hat meine Haare an beiden Seiten am Ansatz geflochten und mit filigranen, silbernen Spangen befestigt. Meine Ohren zieren kleine, runde Stecker und als ich zu meinem dezent geschminkten Gesicht lange, streifen Krallen meine Wange. Lilly hat meine Nägel mit einer Lackschicht verstärkt und sie enden in spitzem, gefährlich glitzerndem Silber. Meine Zehennägel tragen die gleiche, dezente Kriegsbemalung. Ich grinse zufrieden, als ich meine neuen Waffen inspiziere, die wild im künstlichen Licht der Zimmerbeleuchtung funkeln. Und als wenn das noch nicht genug sei, legt Lilly mir eine dünne Kette um den Hals und lässt einen schweren, spitzen Anhänger zwischen meinen Brüsten verschwinden.
Die Frau im Spiegel sieht schön aus, doch weder zart, noch zerbrechlich. Ich lächle Lilly dankbar an. Es ist nicht ganz das, was ich wollte, doch es wird genügen müssen.
„Es ist nur ein informelles Essen. Das Outfit dürfte nicht unangenehm auffallen“, sagt Lilly und ich verdrehe nur leicht die Augen. Es ist ein Frühstück, bei dem sich die Evas und Adams ungezwungen unterhalten. Doch was für die anderen vermutlich nur Tagesroutine ist, bereitet mir Bauchschmerzen. Gleich würde ich die anderen Evas kennenlernen und müsste Zeit mit den Adams verbringen. Doch da ich während dieser morgendlichen Jagd nicht die einzige Beute sein werde, rechne ich mir gute Chancen aus, das Frühstück mit vollem Magen und unbeschadet hinter mich bringen zu können.
Die Tür springt auf, ohne ein Klopfen, ein Klingeln oder sonst ein Zeichen der höflichen Anmeldung. Michael tritt lächelnd sein. Nach meinem gestrigen Abgang habe ich eine Standpauke erwartet, keinen Abholservice.
„Darf ich Sie zum Frühstück begleiten?“, fragt er und hält mir galant den Arm hin. Da ich keine Ahnung habe, wo das Essen serviert wird, seufze ich, greife nach seinem Arm und winke Lilly Goodbye.
„Ich hoffe, Sie konnten gut schlafen und haben sich erholt. Sie sehen bezaubernd aus. Eine ungewöhnliche Kleiderwahl.“ Ich nicke und erwidere, bevor ich mich aufhalten kann: „Sie sind wegen gestern nicht wütend?“ Michael zieht fragend eine Braue hoch.
„Wegen der Nase und dem Blut …“, füge ich vorsichtig hinzu.
„Ich bin mir sicher, dass Adrian es verdient hat. Und Sie haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Gedanken vieler Männer haben sich gestern Nacht sicher um Sie alleine gedreht. In meinen Augen haben Sie alles richtig gemacht.“ Ich schnaufe bei seiner Antwort und wir gehen schweigend weiter den Gang entlang, die Treppe hinunter und betreten den Garten. Ich halte automatisch die Luft an. Die Sonne glitzert in dem noch taufrischen Gras und legt über alles einen Hauch von zauberhaftem Märchennebel.
Viele weißgrau karierte Decken sind über die grüne Wiese ausgebreitet. Auf jeder steht ein Korb, der vor Sandwichen, allerlei Obst und verschiedensten Flaschen überquillt. Mein Magen knurrt und ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Verstreut sitzen hier und da Frauen und Männer. Unterhalten sich und lachen. Keiner kommt mir bekannt vor. Nur zwei Gesichter sind mir vom gestrigen Abend im Gedächtnis geblieben und ich erspähe weder Adrian noch Lederjacke.
„Hier wird das Frühstück eingenommen. Es gibt ein kleines Zeitfenster, in dem Sie kommen und gehen können. Der Frühstücksraum wird Eden genannt. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen. Genießen Sie das Picknick!“ Dann lässt mich Michael alleine stehen. FrühstücksRAUM? Ich blicke nach oben zum blauen, wolkenlosen Himmel. Er ist schön, doch in seinem grellen Blau zu perfekt. Unbeweglich und statisch wirkt er wie ein Plakat, ein überarbeiteter digitaler Schnappschuss, bei dem der Farbkontrast zu hoch gesetzt wurde. Die Sonne ist nicht zu sehen und doch brechen sich ihre Strahlen in den perfekt geformten Tautropfen.
Mein märchenhaftes Eden verliert seinen zauberhaften Glanz, verwandelt sich in ein buntes Gefängnis und ich würde am liebsten wegrennen. Doch der künstliche Garten ist von allen Seiten von gläsernen Wandfronten umringt. Michael hat Recht. Es ist ein Raum.
Mein Magen knurrt wieder. Ich lasse meinen Blick schweifen und habe Glück. Eine Decke außerhalb ist frei und ich steuere zielsicher auf sie zu, setze mich und blicke gierig in den überfüllten Korb. Das Geschirr lasse ich links liegen, greife nach dreieckigen Sandwichen, stopfe Trauben nach, entscheide mich dagegen, die Banane zu essen, gieße mir heißen Kaffee aus einer Thermoskanne ein und schütte Orangensaft nach, vermutlich frisch gepresst.
Dann strecke ich mich zufrieden auf der Decke aus, blicke in den zu blauen Himmel, schließe die Augen und genieße die Wärme der nicht vorhandenen, morgendlichen Sonnenstrahlen. So gut ist es mir schon lange nicht gegangen und die Hoffnung, dass dieser Traum, meiner Fantasie entsprungen, sich nicht sofort in einen Alptraum verwandelt, schwelgt in meiner Brust. Der Wunsch, dass mein krankes Gehirn mir einen Moment Ruhe gönnt.
Doch ein Schatten fällt auf mein Gesicht und stiehlt mir die Wärme der fehlenden Sonne und eine mir bekannte Stimme raunt: „Die Wildkatze hat Krallen bekommen.“ Ich lasse die Augen geschlossen, lege die Hände hinter den Kopf und höre ihn scharf einatmen, als ein kühler Lufthauch meinen Bauchnabel umspielt.
„Wenn du nicht zusätzlich zu deiner gebrochenen Nase Kratzspuren willst, würde ich mich an deiner Stelle verziehen.“ Ein leises, raues Lachen erfüllt die Luft und ich spüre, wie sich die Decke bewegt. Meine kurze Rede hat Adrian nicht im Geringsten beeindruckt. Bevor ich irgendwie reagieren kann, fühle ich eine große, warme Hand auf meinem nackten Bauch und Finger, die sanft über meine Wange streicheln, als seine Worte leise geflüstert mein Ohr kitzeln: „Meinen Rücken darfst du jederzeit zerkratzen.“
Meine Augenlider fliegen hoch und meine spitzen Nägel bohren sich in das weiche Fleisch an seinem Hals. Überrascht stelle ich fest, dass seine Augen nicht hart sind, sondern warm und weich auf mir ruhen. Das Blau seiner Iris wirkt real und irgendwie greifbar. Ein starker Kontrast zum Poster-Himmel, der mir für wenige Herzschläge den Atem raubt. Ein schiefes Grinsen erhellt Adrians Züge und er rollt sich lachend auf den Rücken, stopft sich Trauben in den Mund und lässt mich verwirrt zurück. Mein inneres Gleichgewicht ist gestört. Und ich runzle die Stirn, als er sagt: „Wenn ich meinen Kopf auf deinen Schoß legen darf, ohne dass du mir die Halsschlagader aufkratzt, verspreche ich, dich heute nicht zu küssen.“ Er zwinkert in die Sonne wie ein fauler Kater und streckt sich auf der Decke aus.
Als ich nicht sofort antworte, fixieren mich seine Augen.
„Was soll es sein, Madam?“, fragt er höfflich nach. Meine Runzeln werden tiefer und ich komme nicht umhin, die Wut über so viel Dreistigkeit in mir aufwallen zu fühlen.
„Das ist, als ob ich mich zwischen Pest und Cholera entscheiden müsste!“, zische ich wütend. Was für ein ungehobelter …
„Ich entnehme dieser Antwort den Wunsch nach einem Kuss. Gestern durfte ich den Geschmack deiner Lippen nicht testen. Das werde ich heute nachholen.“
„Stimmt, gestern durftest du meinen Handballen kosten. Wenn du mir nochmal zu nahe kommst, wirst du meine Krallen näher kennenlernen, als dir lieb ist, Adrian.“ Seine Augen leuchten wild auf, blitzschnell liegt seine Hand auf meiner Schulter und er zieht mich auf seine Brust. Bevor ich reagieren kann, liegt mein Ohr über seinem Herzen und er flüstert: „Es erregt mich, meinen Namen aus deinem Mund zu hören.“ Als ich versuche mich zu wehren, höre ich eine sanfte Stimme sagen: „Du hast die Dame lange genug für dich beansprucht, Adrian. Ich hoffe, du überlässt sie mir für einen kurzen Spaziergang.“
Adrians Arme lassen mich los und ich richte mich schnell auf, stoße meinen Ellenbogen mit aller Kraft in seine Rippen und ergreife die Hand, die man mir anbietet. Adrians Lachen verfolgt mich, als mich mein Retter fortführt. Seine Hand ist kräftig, aber nicht so groß wie Adrians. Mein Herz rast und er führt mich abseits zu einem Baum. Ich lasse mich in den Schatten sinken und umklammere meine Beine. Schwäche und Wut kämpfen miteinander und ich unterdrücke Tränen. Es raschelt neben mir und mein Retter setzt sich zu mir ins Gras.
„Du musst Adrian sein Verhalten nachsehen! Er war nicht immer so“, sagt er leise, entschuldigend.
„Das heißt nicht, dass ich ihm verzeihen muss, wenn er sich wie ein wild gewordener Gorilla verhält.“ Ein melodisches Lachen erklingt und mein Retter sagt: „Ja, du hast vollkommen Recht. Ich wollte damit nur sagen, dass wir nicht alle so lüsterne Barbaren sind.“ Meine Augen wandern zu ihm und ich nehme ihn zum ersten Mal wahr. Seine Augen haben die Farbe von saftigem Gras. Sein Körper ist schlank. Nicht dürr, aber auch nicht muskelbepackt. Ein schwarzes T-Shirt umspannt jede Biegung seines Oberkörpers. Er trägt eine lockere, beige Stoffhose. Braune Locken, ein paar Schattierungen heller als meine, leuchten in den Sonnenflecken, die es schaffen sich durch die Blätterpracht der Baumkrone zu schmuggeln. Er hat Grübchen, stelle ich fest und die Wut fällt unter dem Strahlen seiner Augen von mir ab. Die Angst zerschmilzt wie Eis in der Sonne.
„Ich heiße Nikk und du?“, fragt er und blickt mich neugierig an.
„E …“, beginne ich, bevor ich mich fangen kann und gefasster fortfahren kann, „Emelie.“
„Hallo Emelie!“, sagt Nikk, greift nach meiner Hand, führt sie zu seinem Mund und berührt sie zart wie ein Schmetterlingsflügel. Es stört mich nicht, dass er sie nicht loslässt, während er weiterspricht: „Willkommen im Paradies! Ich hoffe Eden gefällt dir.“ Ich versteife mich und er lässt meine Hand los.
„Es tut mir leid. Du hattest keinen guten Start hier. Wir sind wirklich nicht alle wie Adrian.“ Wiederholt er und ich will ihm glauben.
„Wird er … wird Adrian mich in Ruhe lassen?“, flüstere ich und umschlinge wieder meine Knie.
„Möchtest du denn, dass er dich in Ruhe lässt?“, fragt Nikk sanft. Mein Kopf fährt zu ihm herum und ich werfe ihm einen giftigen Blick zu. Er nickt, ohne es persönlich zu nehmen, und sagt: „Kaum einer ist stark genug, um es mit Adrian aufzunehmen. Deswegen ist keiner dazwischengegangen.“ Ich spüre einen Stich in meinem Herzen. Sie haben alle zugesehen, wie dieses Machoschwein … Hätten sie zugelassen, dass … Mir wird schlecht und ich presse meinen Rücken gegen die harte Baumrinde.
„Adrian ist das Alphatier unter den Alphatieren“, versucht Nikk zu erklären.
„Tier ist das richtige Wort!“, zische ich durch zusammengebissene Zähne. Dann ruckt mein Kopf zu Nikk und ich fühle mich blind, als ich sage: „Du bist dazwischengegangen!“ Er nickt und lächelt traurig.
„Das bin ich. Ich habe ihn gebeten, dich freizulassen. Und er hat mir meinen Wunsch erfüllt. Für heute. In einer körperlichen Auseinandersetzung habe ich keine Chance gegen ihn.“
„Sind wir hier im Zoo, in dem sich Männchen um das Recht, ein Weibchen zu begatten, prügeln?“, fluche ich entsetzt. Er bewegt keine Miene und erwidert: „Manchmal scheint es so. Wenn du dich beruhigt hast, möchtest du dich vielleicht zu Mandy und mir setzen?“ Ich versuche den Stich in meinem Herzen zu ignorieren, als ich den Namen einer anderen Frau aus seinem schönen Mund höre. Doch er scheint es zu merken. Seine Hand streicht sanft eine lose Strähne aus meiner Stirn und er murmelt leise: „Wenn ich die Kraft und den Mut hätte, würde ich um dich kämpfen, Emelie.“ Seine Worte jagen eine Schar Gänse über meine Haut. Ich weiche zurück und erhebe mich.
„Niemand muss um mich kämpfen. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen!“ Ich halte diese Worte wie ein Schild vor mich, strecke meine Schultern durch und blicke Nikk herausfordernd an, als ich ihm die Hand hinhalte, um ihm aufzuhelfen. Er ergreift sie und ich ziehe ihn auf seine Beine.
„Du wirst dich sicher mit Mandy verstehen. Sie hat darauf bestanden, dass ich dir helfe.“ Ich komme nicht umhin, bei dem Aufblitzen seiner Grübchen zu lachen, und er führt mich zu einer Decke, auf der eine schöne Frau mir durchgestrecktem Rücken und ernstem Gesicht auf uns wartet. Ihr blondes Haar ist zu einem Dutt hochgesteckt, ihr Hals ist weiß wie Porzellan und lange wie bei einem Schwan. Ihre Augen fahren von meinen Schuhen zu meiner Stirn, checken mich ab, ohne eine Miene zu verziehen. Nikk geht in die Knie, nimmt Mandys zarte Finger in seine Hand und küsst ihre Fingerspitzen.
Ein süßes Lächeln vertreibt die Ernsthaftigkeit und sie lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihnen setzen. Dann streckt sie mir ihre Hand entgegen und sagt: „Ich heiße Mandy. Willkommen im Paradies!“
„Danke! Ich bin E …“, ich mache eine Pause, denke kurz darüber nach, welchen Namen ich Nikk genannt habe und sage: „Emilia!“ Nikks Augenbrauen fahren hoch und ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe. Doch Nikk bleibt stumm und Mandy sagt: „Schön dich kennenzulernen, Emilia! Du darfst uns nicht alle wegen Adrian abschreiben. Er ist ein Tier und gewohnt, zu bekommen, was er will. Deine Art ihn abzuweisen … ist neu.“ Ein leises Lachen entschlüpft ihren Lippen. „Er hat das und mehr verdient. Er ist eine Schande für das ganze Programm.“
Ich schlucke hart und mein Mund ist trocken, als ich frage: „Wird er mich in Ruhe lassen?“
„Adrian sucht sich normalerweise einfache Frauen aus, die ihm schon verfallen sind, bevor er einen Schritt auf sie zugemacht hat. Ich … nimm dich vor ihm in Acht. Und vor seiner momentanen Eva. Sie ist ein Biest und zieht bereits jetzt über dich her.“
„Momentan?“, spreche ich meine Gedanken ungefiltert aus, „spielt ihr hier Bäumchen wechsle dich?“ Mandys Wangen färben sich rot und sie erwidert: „Manche Pärchen bleiben zusammen.“ Ihr Blick streift Nikk, als sie fortfährt: „Doch das ist nicht gern gesehen. Es bedeutet Stillstand und das Eva und Adam Projekt ist für den Fortschritt und die Entwicklung ins Leben gerufen. Aber das weißt du sicher.“ Ja, sicher. Leider habe ich nicht, die Geistesgegenwart zu nicken, und schüttle nur dümmlich den Kopf. Mandy zieht die Luft ein und flüstert leise: „Dann ist es wahr? Bist du eine Wilde?“
„Eine Wilde?“ Es hört sich an, als wäre ich eine prähistorische Frau, die nackt durch Höhlen rennt und auf Fellen schläft. Mandy hat den Anstand rot zu werden und Nikk greift ein.
„Viele halten es für ein Gerücht, dass Menschen außerhalb des Staates leben … überleben. Der vierte Weltkrieg hat doch alle in Schutt und Asche gelegt. Nur noch wenig Lebensraum ist nicht verseucht …“ Mein Herz bleibt bei seinen Worten stehen. Vierter Weltkrieg? Ich werde blass und bin dankbar, als eine Durchsage uns unterbricht.
„Alle Evas begeben sich in das Schminkzimmer. Die Adams werden in der Theaterhalle erwartet.“
Mandy rollte mit den Augen und Nikk klatscht freudig in die Hände.
„Das wird eine Show! Zeig mir, was du kannst, Baby!“ Er lehnt sich vor, drückt seine Lippen mit einem fetten Schmatzer auf ihre Wange und Mandy weicht kichernd zurück. Ich wende den Blick ab, als Nikks Augen meine treffen und kralle meine Hände ineinander, um nicht zu der Stelle zu fahren, an der Nikk mich berührt hat. Seine Augen werden dunkel, dann springt er auf und schlendert davon, während Mandy ihm hinterherruft: „Das nächste Mal bist du wieder an der Reihe!“ Sie steht auf und hält mir lächelnd die Hand hin. Ich lasse mir aufhelfen und folge ihr. Alle um uns herum kichern.
Als wir in einen großen, vollbepackten Raum kommen, steuert Mandy zielsicher auf eine Staffelei zu und greift nach kleinen Farbtuben. Dann dreht sie sich zu mir um und fragt: „Was brauchst du für deinen Auftritt?“ Meinen WAS? Mir wird schlecht und ich weiche einen Schritt zurück.
„Oh … entschuldige. Ich hatte vergessen, dass du neu bist. Wir zeigen heute eine spontane Aufführung für die Adams. Evas Verführung sozusagen. Aber es ist eher eine Talentshow. Jeder tut irgendetwas, um den Herrschaften seine Gabe zu präsentieren.“ Ich kann Mandy nur voller Entsetzen anblicken.
„Ich mache meist eine Kunstperformance. Malen ist mein Talent. Gerta begleitet mich mit der Geige im Hintergrund.“ Mein Entsetzen wächst zur Panik.
„Andere tanzen, singen, führen Zaubertricks auf. Einmal hat Caroline auf der Bühne gebacken. Das war witzig. Das ganze Theater hat Tage danach noch nach Schokosplitter-Walnuss-Keksen gerochen. Was wirst du aufführen?“ Ich schüttle den Kopf. Ich habe kein Talent, ich kann nichts.
„Jeder ist hier, weil er ein Gebiet hat, in dem er oder sie hervorsticht. Du musst auch etwas können.“ Ja, wegrennen, mich verstecken. Mandys Augen werden groß, als ich nichts erwidere. Sie tätschelt meine Hand und sagt: „Das erste Mal ist immer das Schlimmste. Es wird einfacher und irgendwann macht es Spaß! Vertrau mir!“ Wo habe ich diese Worte schon einmal gehört?
„Du könntest ein Gedicht vortragen. Etwas vorlesen. Du hast eine bezaubernde Stimme.“ Mir wird schlecht und ich wende mich ab. Ein Fehler. Eine kleine, zierliche Frau packt mich an der Hand. Ihr Harr leuchtet rot, ihre Augen sind von einem Mintgrün.
„Ich bin dafür, dass die Neue als erstes auf die Bühne geht. Sie soll uns zeigen, was sie kann!“ Ich schaue in die Runde. Ein paar weichen meinem Blick aus, viele nicken zustimmend und die Rothaarige grinst.
„Lass sie in Ruhe, Harriett! Sie kann nichts dafür, dass Adrian sich ihr aufdrängt“, höre ich Mandy sagen.
„Schlange!“, zischt Harriett und will mit zu Krallen gebogenen Fingern auf sie zustürmen. Doch Mandy bringt sie mit einem kalten Blick zu Räson: „Ich wäre vorsichtig, Harriett. Du von uns allen solltest am besten wissen, was Adrian für seine Favoritinnen tut.“ Harriett wird bleich. Ich frage mich, ob ich so weiß bin wie Harriett, als Mandy sich Farbe, Pinsel und eine Staffelei schnappt und im Vorbeigehen eine hübsche Brünette fragt: „Würdest du wieder meine musikalische Muse spielen, Gerta?“ Die Brünette lächelt schüchtern, umklammert ihre Violine und folgt ihr. Wie aufgescheuchte Gänse laufen die Frauen Mandy nach, kreisen mich ein und mir bleibt nichts anderes übrig, als mit dem Strom zu schwimmen.
Ich traue meinen Augen nicht, als Mandy zuerst zu sanften Klängen zarte Linien auf die Leinwand zaubert und diese dann unter steigendem Rhythmus Konturen annehmen. Kräftige Farben vermischen sich und die abstrakten Formen werden zum Leben erweckt. Mit dem letzten verklingenden Ton lässt Mandy den Pinsel fallen und verlässt die Bühne, ohne einen Blick auf ihr Kunstwerk zu werfen. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Brust hebt und senkt sich schnell. Sie ist wunderschön und ich verstehe, warum Nikk sie zu seiner Eva gewählt hat.
Dann tritt Gerta auf die Bühne, spielt eine dramatische Melodie, die mir den Atem raubt. Danach schlängelt sich eine Blondine wie ein Reptil über den Boden, stellt Dinge mit ihrem Körper an, die mir die Schamesröte in die Wangen treiben. Eine Sängerin folgt mit einer Ballade. Als sie die Bühne verlässt, spüre ich eine Hand auf meinem Rücken, jemand schubst mich und ich kann nur noch mit viel Glück verhindern, dass ich mit der Nase auf den Holzbrettern lande. Mein Kopf schwirrt, ich richte mich auf, lasse meinen Blick über den gefüllten Raum schweifen.
Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren wird lauter. Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos dastehe, bis einer in der Menge laut „Ausziehen!“, schreit. Mein Blick fixiert den Übeltäter, bringt ihn zum Schweigen. Wut kocht in mir hoch. Was für ein beschissener Traum. Ich blicke kurz an mir herunter und bin froh, anstatt nackter Haut den hellbraunen Stoff meiner Hose zu erblicken. Verzweifelt krame ich in meinem Gehirn nach irgendetwas Sinnvollem. Aber da ist nur Leere und Dunkelheit. Hoffnungslosigkeit steigt in mir auf und meine Knie drohen unter mir wegzuknicken. Doch dann sehe ich ein Licht.
Eine Erinnerung an meine Mutter … meinen Vater. Ich sehe eine Bühne vor mir und denke an die Bewunderung, die ich empfunden habe, und an die Zeilen, die ich danach so oft gelesen habe, dass sie sich für immer in mein Hirn gebrannt haben. Die mir immer Kraft geben, wenn ich am Boden bin. Die Worte, die meinen verwirrten Verstand gefangen genommen haben und meine Gefühle so ausdrücken können, dass ich mich selbst fast verstehe. Der Monolog eines Unglücklichen, eines geistig Verwirrten. Ich schließe meine Augen, während die Worte voller Leidenschaft und Inbrunst wie ein Eid meine Lippen verlassen:
„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden? Sterben - schlafen -
Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil, 's ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben - schlafen -
Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir die irdische Verstrickung lösten,
Das zwingt uns stillzustehn. Das ist die Rücksicht,
Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,
Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte
Mit einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten
Und stöhnt' und schwitzte unter Lebensmüh?
Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod,
Das unentdeckte Land, von des Bezirk
Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt,
Daß wir die Übel, die wir haben, lieber
Ertragen als zu unbekannten fliehn.
So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen.
Ich öffne die Augen, blicke in die Menge und sehe doch nichts. Ich komme mir dumm vor. Wut packt mich, ich hebe meine Hände. Sie sind zu Fäusten geballt. Meine Mittelfinger strecken sich und meine Lippen formen lautlos: „Fuck you!“ Dann drehe ich mich um und marschiere von der Bühne. Harriett ist bleich. Sie starrt mich mit glitzernden Augen an. Wortlos gehe ich an ihr vorbei. Mandy stellt sich mir in den Weg und schlägt mir wohlwollend auf die Schulter: „Das war … intensiv! Sind die Worte von dir?“ Ich schaue sie an, suche nach Heuchelei und finde nur Ehrlichkeit.
„Shakespeare“, erwidere ich. Unverständnis blitzt in ihren Augen und sie fragt: „Ist das ein Untergrundkünstler? Ich würde gerne mehr von ihm hören.“ Ist das ihr ernst? Sie nennt mich eine Wilde und hat noch nie von Shakespeare gehört?
„Sollte ich ein Buch von ihm finden, denke ich an dich.“ Nikks Worte echoen in meinen Ohren. … vierter Weltkrieg … Was für eine kranke Welt hat sich mein kaputtes Hirn da nur ausgedacht? Während die anderen weiter die Show genießen, nutze ich die Chance und erkunde das Gebäude. Vielleicht finde ich einen Ausgang aus diesem Labyrinth. Vielleicht kann mein Körper die Drogen, die gerade in mich hineingepumpt werden, schneller abbauen, wenn mein Geist nicht mehr hier gefangen ist.
Doch egal, wohin ich mich auch wende, warten neue Biegungen auf mich, unbekannte Zimmer und verschlossene Türen. Ein paar erinnern an die automatische Schiebetür in meinem Zimmer. Andere scheinen aus Holz zu sein und haben normale und altmodische Klinken. Alle Glastüren der Fensterfront führen in den riesigen Garten, den Michael Eden genannt hat.
Ich lehne mich an die Wand, bin furchtbar müde. Meine Knie werden weich, als ich Schritte höre. Ich verspanne mich und blicke in die Richtung, aus der die Geräusche kommen. Überrascht muss ich feststellen, dass es nicht Adrian ist, der mir gefolgt ist, sondern Lederjacke.
„Wie unhöflich die Aufführungen der anderen zu verpassen!“, werfe ich ihm entgegen und suche Halt an der Wand hinter mir.
„Es gibt keinen Ausgang. Johwa öffnet Eden nur, wenn es für ihn notwendig erscheint“, sagt Lederjacke, der heute anstatt seiner Jacke eine schwarze Lederweste über einem dunkeln T-Shirt trägt.
„Ich gebe nicht auf, bevor ich nicht alles probiert habe“, sage ich und schiebe mein Kinn vor. Zwar fühle ich mich kraftlos, das ist jedoch kein Grund Schwäche zu zeigen. Nicht ihm gegenüber.
„Wenn ich keinen Ausweg finde, wirst du es auch nicht, kleines Mädchen!“ Seine Augen funkeln und ich muss lachen.
„Wie lange hast du gesucht?“, frage ich immer noch kichernd. Seine Schokoladen-Haut färbt sich dunkler und er räuspert sich, lässt mich jedoch nicht aus den Augen.
„In dein Zimmer kann dich führen. Ich kenne mich hier aus!“ Meine linke Augenbraue hebt sich und ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich sage: „So lange also?“ Er räuspert sich und dreht sich um. Ich bleibe mit dem Reif meiner linken Hand an einer Türklinke hängen und alles um mich herum verschwindet. Ist es so weit? Werde ich gleich gefesselt an ein Bett aufwachen? Ich spüre Arme die mich festhalten und die Welt wird wieder massiv.
Mit einem lauten Klack fällt mein Silberarmband von meinem Arm. Meine Hand greift automatisch zu dem Ärmel, zieht den Stoff nach unten. Doch grobe Hände öffnen den Klammergriff meiner dünnen Finger spielerisch und jemand saugt scharf Luft durch die Zähne. Wütende goldene Augen fressen meine Seele auf, als eine Stimme kalt wie Eis sich durch meine Eingeweide schneidet: „Ich bin hier, wegen einem Junkie? Man hat mich in dieses verfluchte Gefängnis mit den Schönlingen der Schöpfung gesperrt, wegen einer verfluchten Drogenabhängigen?“ Schmerz durchzuckt meinen Arm und ich keuche: „Ich bin kein Junkie!“ Mein Arm wird hochgerissen und ich starre auf die vielen kleinen Einstiche, die mich daran erinnern, was ich wirklich bin.
„Was, verflucht nochmal, ist dann das, wenn keine Fixlöcher?!“, schreit er mir ins Gesicht. Ich habe es zu oft gehört und ich zerbreche innerlich. Tränen rinnen meine Wangen herunter und ich höre mich schluchzen: „Ich wollte es nicht. Sie haben mich festgebunden und die Nadeln immer wieder …“ Ich breche ab, kann nichts mehr sagen und schließe die Augen vor dem brennenden, goldenen Braun. Hände schütteln mich und eine tiefe Stimme fragt: „Wer hat das getan? War es Luz? Hat er dir das angetan? Er muss Johwa gehackt haben und mit dir einen Virus ins System geschleust …“ Ein Virus in mir? Wer ist Luz?
Eine tiefe Stimme grollt: „Lass deine dreckigen Hände von ihr! Sie gehört mir!“ Adrian. Ich blicke hoch und sehe einen Schatten auf uns zurasen. Kurz bevor er uns erreicht, spüre ich kühles Metall an meinem linken Unterarm und seidenweichen Stoff auf meiner vernarbten Haut. Ich werde sanft auf den Boden gelegt und Adrians Faust trifft ins Leere.
„Ich wusste nicht, dass sie gebrandmarkt ist wie Vieh“, erwidert Lederweste spöttisch.
„Dann sieh genauer hin!“, zischt Adrian. Meine Hand fährt zu meiner Schulter, bevor ich sie aufhalten kann. Lederweste runzelt die Stirn.
„Verzieh dich, Neuling! Jeder weiß, dass sie mein ist“, knurrt Adrian gefährlich. Seine Stimme ist pure Aggression.
„Ich kenne die Regeln noch nicht. Wenn ich aber einen Kratzer an ihr sehe, ziehe ich dich zur Rechenschaft!“, erwidert Lederweste. Adrian wirft den Kopf in den Nacken und lacht.
„Ich bringe sie unbeschadet in ihr Zimmer. Ich habe kein Faible für wehrlose Frauen.“ Lederweste nickt, wirft einen letzten Blick auf meinen Unterarm und geht. Ich muss all meine Kraft zusammennehmen, um ihm nicht hinterherzurufen, ihn nicht anzuflehen zu bleiben. Überraschend sanft hebt Adrian mich hoch und drückt mich vorsichtig an seine Brust. Mein Körper verkrampft sich und ich blicke zu meinen Nägeln herunter. Ihr Blitzen und Blinken beruhigt mich etwas. Ich bin nicht wehrlos.
„Schsch …“, macht Adrian, „wenn du auch nur eine feindselige Bewegung machst, sehe ich dich nicht mehr als hilflos an und fühle mich vielleicht nicht mehr an meine Worte gebunden.“ Ich versteife mich, wäge ab. Ein seltsames Gefühl schleicht sich in mein Herz. Ich fühl mich gefangen und doch sicher … beschützt. Bin ich eine weinerliche Frau, die sich auf der Suche nach Sicherheit dem nächststärksten Mann an die Brust wirft? Diese Hände haben mich schon zwei Mal berührt, sein Körper ist meinem schon so nahe gewesen. Zu nahe. Meine Wangen brennen. Er lacht leise und ich verstecke mich hinter meinen Händen. Ein barsches Wort entschlüpft meinen zusammengepressten Lippen: „Neandertaler!“ Er lacht nur noch lauter. Dann sind wir in einem Zimmer. Ist es meins? Woher weiß er, wo ich schlafe?
Adrian legt mich sachte aufs Bett und ich lasse es geschehen, leiste keine Gegenwehr, um ihm keinen Grund zu geben. Ich presse die Augen zusammen und reiße sie wieder auf, als ein Gewicht die Matratze niederdrückt.
„Du hast gesagt …“
„Dass ich dich unbeschadet in dein Zimmer bringe. Das habe ich getan“, unterbricht er mich und zeigt seine Haifischzähne. Wut über den Betrug packt mich. Ich hole aus, will meine Fingernägel in seinem Fleisch versenken. Doch er lacht wieder, weicht spielerisch meinen Krallen aus und packt dann meine Arme, presst sie über meinen Kopf in das weiche Kissen. Mein Herz schlägt schneller und ich winde mich, doch er drückt mich mit seinem Körper tief in die weiche Matratze. Leise flüstert er in mein Ohr: „Ich habe noch ein Versprechen zu erfüllen.“
Dann sind seine Lippen auf meinen. Zuerst ist der Kuss überraschend sanft, dann blähen sich seine Nasenflügel und er presst sich gegen mich. Seine Zunge drückt gegen meine Zähne und als ich sie geschlossen halte, fahren seine Finger zu meinem Kiefer, zwingen sie auseinander und er dringt in meinen Mund. Tastet zärtlich und ich kann nicht anders. Versunken in einer dunklen Vergangenheit, den Momenten meiner Niederlage, verliere ich die Kontrolle. Mein Körper zittert, ich schreie in seinen offenen Mund hinein.
Dann sind mein Lippen frei. Meine Hände immer noch gefangen, drückt sein Körper meinen tiefer in das nachgebende Gewebe der Matratze. Sein Blick ruht auf mir. Dunkel und unergründlich ist das Blau seiner Augen.
„Du brauchst keine Angst zu haben! Ich werde dir nichts tun“, dringt seine tiefe Stimme zu mir durch, klärt den Nebel, der sich um meinen Verstand gelegt hat. Ein zittriges Lachen entschlüpft meinem Mund und ich sage: „Und was ist das gerade?“ Tränen laufen meine Wangen herunter. Er lässt mich los, als hätte er sich verbrannt, rollt von mir herunter. Überrascht blicke ich zu seinem verspannten Rücken. Was hat ihn aufgehalten? Meine Tränen? Lächerlich!
Dann treffen seine Worte mein Herz wie Messerstiche: „Du bist gebrochen. Jemand hat dich zerbrochen.“ Ich schluchze auf und schlage mir die Hand vor den Mund. Er wirbelt herum. Seine Augen brennen und mit zitternder Stimme fragt er: „War es der Neue? Bin ich zu spät gekommen? Hat er dich so verletzt? Hat er sich bereits genommen, was er wollte und hat dich deswegen so leicht aufgegeben?“ Ich schüttle den Kopf. Er tritt an mich heran, reißt mir die Hose mit einem Ruck vom Leib. Ich schreie wütend auf, trete nach ihm. Er fängt meinen Fuß in der Luft auf.
„Wenn er es nicht war, wer dann?“ Ich blicke ihn verständnislos an. Der Griff um mein Fußgelenk wird stärker.
„Wer hat dich entjungfert?“, zischt er. Wie eine besoffene Kuh glotze ich ihn an und stotterte: „Niemand! Ich konnte fliehen, bevor …“ Er zieht mich an meinem Fuß, packt mein Handgelenk und ich lande in seinen Armen. Sein Gesicht ist in meinem Haar vergraben. Was ist hier los?
„Lass dich von niemandem anfassen. Hast du mich verstanden?!“, murmelt er in meine Locken. Ich nicke automatisch. Das hatte ich nicht vor.
„Niemand außer mir, darf dich berühren!“ Ich lache über die Ironie.
„Ach ja? Und du wanderst herum wie ein geiler Bock und steckst deinen Schwanz in alles, was sich bewegt, nur um sie danach abzuservieren?“ Gut, ich habe in meiner Wortwahl etwas übertrieben, gestehe ich mir ein, als seine Arme sich um mich spannen.
„Glaubst du, das macht mir Spaß?“, flüstert er.
„Äh … ja!“
„Ich suche nach dem Ausgang, hoffe, dass eine der Evas mir das gibt, was ich brauche, um hier rauszukommen.“ Bitte was?
„Sie ist ohne mich gegangen und hat mich hier alleine zurückgelassen, nachdem wir uns ewige Liebe geschworen haben. Und am nächsten Tag war sie einfach weg. Ich bin hier in Eden gefangen. Ein Spielzeug, eine Schachfigur gelenkt von einem Programm. Einem verfluchten Computer!“ Und du bist nur eine erfundene Figur in dem Gehirn einer Verrückten, füge ich in Gedanken hinzu. Ich habe Mitleid mit ihm. Meine zitternden Finger streichen ihm übers Haar. Er drückt mich wieder in die Kissen. Ich blicke ihn ernst an und sage: „Wir werden einen Weg hier raus finden. Aber das muss aufhören.“ Er blickt mich fragend an.
„Du kannst nicht einfach jemanden zu so etwas zwingen. Es gehören Gefühle dazu, Zeit und Einverständnis. Beidseitiges Einverständnis.“ Er lässt mich nicht los, grinst schief und sagt: „Es war noch nie jemand nicht einverstanden.“
„Ich bin nicht einverstanden! Du tust mir Gewalt an und daraus kann nur Schmerz entstehen. Wenn du schon so lange versuchst, auf die gleiche Weise herauszukommen und immer noch hier bist, dann machst du etwas falsch.“
„Auch wenn es sich noch so gut anfühlt?“, fragt er mit einem schelmischen Grinsen. Von wegen es macht ihm keinen Spaß …
„Selbst dann. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine blutende Nase sich so toll anfühlt.“ Er lacht leise, lässt mich los und murmelt: „Du hast keine Ahnung.“ Dann bettet er seinen Kopf in meinen Schoss. Liegt mit der Wange auf meinem nackten Bein, hält die Augen geschlossen. Ich streichle ihm über den Kopf und sage leise: „Wir werden einen Ausgang finden und du wirst deine Liebe wiedersehen, das verspreche ich.“ Ich muss nur aufwachen und in meinen realen Körper. Dann wird das alles hier verblassen und sich im Nichts auflösen.
Ich bin überrascht, als ich mir eingestehen muss, dass ein Teil von mir das nicht möchte. Der Mann, der sich mir vor wenigen Momenten noch aufgedrängt hat, schläft wie ein Junge in meinem Schoß. Meine Hand in seinem Haar verknotet, liege ich auf meinem Rücken und döse ein.
Ein Sauggeräusch und ein Ziehen an meinem Hals wecken mich. Schwarzes Haar kitzelt die empfindliche Haut unter meinem Kinn.
„Adrian! Was machst du da?“, schreie ich außer mir. Er lässt von meinem Hals ab und grinst mich frech an.
„Ich markiere dich“, sagt er, während seine Augen stolz über meinen Hals fahren. Mist!
„Wieso?“, rufe ich entsetzt.
„Nur weil ich dich im Moment nicht nehmen werde, heißt das nicht, dass ich einen anderen auch nur einen Finger an dich legen lasse. Ich werde jeden in der Luft zerreißen, der es wagt, sich dir zu nähern.“ Ich stöhne laut auf und will die brennende Stelle am Hals bedecken. Adrian fängt meine Hand ein. Seine Gesicht kommt ganz nahe an meines und seine blauen Augen lodern, als er sagt: „Nikk ist da keine Ausnahme.“ Erschrocken weiten sich meine Augen und ich sage schnell: „Nikk hat Mandy. Sie sind …“
„Ich hatte Harriett … dann kamst du.“
„Nicht jeder ist so wie …“
„Sei nicht dumm, Kätzchen! Ich habe gesehen, wie er dich ansieht, genauso wie die anderen auch. Du brennst wie ein Feuer in der Dunkelheit und alles, was wir tun können, ist zu dir zu fliegen, um in dir zu verbrennen. Aber keine Angst, ich lasse niemanden an dich heran.“ Meint Adrian das ernst? Ich studiere lange sein Gesicht, die Kurve seiner Lippen, seiner Wangen und seines Kinns. Doch ob seine Worte ernst gemeint sind, kann ich nicht deuten.
Meine Gefühle sind in Aufruhr und … mein Magen knurrt. Adrian bricht lachend auf mir zusammen. Dann hievt er sich hoch, sein Blick bleibt kurz an meinen nackten Beinen hängen und eine Flamme in seinen Augen leuchtet auf. Ich greife nach dem Armreif an meinem linken Handgelenk und positioniere es in eine sichere Stellung.
„Ich würde mich gerne anziehen“, sage ich langsam.
„Ich würde es lieber sehen, wenn du dich ausziehst, aber ich werde dich nicht aufhalten“, erwidert er mit einem Lächeln. Ich verdrehe die Augen und sage: „Sei ausnahmsweise ein Gentleman und dreh dich um, während ich mich bekleide.“ Seine Augenbraue fährt nach oben, doch er dreht sich um. Ich stehe auf, suche nach meiner Hose und hebe nur Fetzen auf. Leise seufzend, gehe ich zum Schrank, greife nach einem dunklen Rock, steige hinein und ziehe ihn über meinen Hintern. Er sitzt etwas eng, aber für eine Weile wird es gehen.
„Er passt wie angegossen“, sagt Adrian mit belegter Stimme.
„Ich habe noch nicht gesagt, dass du dich umdrehen kannst!“, fiepe ich erschrocken, sehe seinen Rücken und begegne seinen Augen im Spiegel.
„Du Schuft!“, rufe ich und kann nicht verhindern, dass ich rot anlaufe. Er grinst einfach nur. Ich greife nach einem dunklen Schal und binde ihn mir um den Hals. Adrian hebt eine Augenbraue, sagt jedoch nichts. Ich schiebe mein Kinn vor und er bietet mir seinen Arm an. Gemeinsam gehen wir in den Speiseraum, der sich nicht weit vom Garten befindet. Wir betreten den Saal und alle Unterhaltungen ersterben. Stille beherrscht jeden Zentimeter des riesigen Raumes, als wir eintreten. Adrian stellt sich hinter mich und bevor ich etwas tun kann, zieht er den Schal herunter und berührt meinen Hals mit seinen Lippen.
Entrüstet rufe ich: „Adrian!“, und schlage nach ihm. Doch er weicht mir aus und zieht mich zu einem freien Tisch. Ein leiser Schrei zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, dann sehe ich nur noch rotes Haar, als jemand aufspringt und aus dem Saal rennt. Harriett! Mein Herz krampft sich zusammen und mein erster Impuls ist es, ihr hinterherzulaufen. Doch Adrian legt seine Hand auf meine und schüttelt den Kopf.
„Ich sehe, du hast dein Wort nicht gehalten“, sagt eine Stimme hinter mir und ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es ist. Adrian lächelt und erwidert: „Ich habe nichts getan, was sie nicht wollte.“ Meine Hand fährt automatisch zu meinem Hals. Adrian sieht es, grinst schief und verbessert sich: „Fast nichts.“
Lederweste geht an mir vorbei, beugt sich zu Adrian herunter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Adrians Augen verengen sich zu Schlitzen und seine blaue Iris brennt, als er mich fixiert. Abermals tastet meine rechte Hand nach dem Armreif an meinem linken Arm und Adrians Blick folgt ihr. Ich habe wieder einen Fehler begangen. Doch er sagt nichts. Ein Kellner tritt an unseren Tisch und Adrian bestellt, ohne mich zu fragen, was ich essen möchte.
Schweigend mustert mich Adrian und ich scheine unter seinem Blick zu schrumpfen.
„Dein Auftritt heute Morgen war … interessant“, höre ich eine Stimme hinter mir und ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Nikk zieht einen Stuhl von einem anderen Tisch herbei und setzt sich zu uns.
„Heißt interessant langweilig?“, frage ich mit einer hochgezogenen Braue und kassiere ein Aufblitzen seiner Grübchen.
„Nein, es war alles andere als langweilig. Nicht wahr Adrian?“ Nikks Augen werden dunkel und sein Gesichtsausdruck ernst, als er zu Adrian blickt. Der runzelt die Stirn und erwidert kein Wort. Nikk beugt sich dann verschwörerisch zu mir und fährt fort: „Ich würde es als aufwühlend bezeichnen. Adrian hier ist wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und aus dem Saal gerannt. Dein Auftritt hätte keinen bleibenderen Eindruck hinterlassen können.“ Nikk streckt seine Arme aus und bevor ich etwas erwidern kann, lehnt er sich zu mir vor, sein Gesicht direkt vor meinem. Als ich überrascht zwinkere, fühle ich, wie er Stoff um meinen Hals legt. Mein Schal! Sanft streift seine Hand meine Wange und er sagt: „Ich glaube, du hast das hier verloren.“
Dann steht er auf, macht eine leichte Verbeugung und sagt: „Das nächste Mal solltest du eine nicht ganz so aufreizende Performanz hinlegen. Dann können es ein paar von uns langsamer angehen lassen. Mandy und ich würden uns freuen, wenn du uns heute Nachmittag Gesellschaft leisten würdest …“
„Sie wird die ganze Zeit in meinem Zimmer verbringen“, zischt Adrian. Nikk hebt eine Augenbraue, sieht ihn direkt an und sagt: „Du zerrst eine Dame in dein Zimmer, ohne dir die Zeit zu nehmen, sie vorher kennenzulernen?“
„Ich weiß genug über sie!“, erwidert Adrian und funkelt Nikk böse an.
„Dann kannst du mir sicher ihren Namen verraten. Ich hatte ihn bei ihrer Vorstellung nicht gehört.“
„Verschwinde! Oder ich vergesse, dass wir einmal Freunde waren“, presst Adrian zwischen seinen Zähnen hervor. Nikk erwidert nichts und lächelt nur. Dann blickt er zu mir und sagt: „Mein Angebot steht, Emil … ia. Du HAST die Wahl!“ Mir entgeht sein Zögern bei der Endung meines Namens nicht und meine Wangen röten sich. Doch ich nicke und schenke ihm ein dankbares Lächeln. Ich blicke ihm verträumt nach, spüre dann einen Druck auf meiner Hand.
„Ich mag es nicht, wie er dich anschaut und noch weniger gefällt mir dein Blick“, sagt Adrian und der Druck wird stärker. Ich blicke ihm gerade heraus in die Augen und erwidere: „Du tust mir weh!“ Etwas Dunkles flackert in dem Blau seiner Iris, dann lässt er mich los.
„Setz dich auf meinen Schoß!“, befiehlt er und ich traue meinen Ohren nicht.
„Wie bitte?“, frage ich.
„Du hast mich verstanden. Wenn so ein Feigling wie Nikk es wagt, dich in meiner Gegenwart zu berühren, werden sich die anderen auch ein Herz fassen. Vielleicht nicht wenn ich da bin, aber sicher, wenn sie dich alleine irgendwo antreffen. Entweder ich zeige ihnen jetzt, dass du mir gehörst oder ich weiche nie wieder von deiner Seite. Du hast die Wahl, … Emilia!“ Seine Wortwahl ist durchdacht und treibt mir die Röte ins Gesicht. Ich verkrampfe mich und ein schiefes Grinsen umspielt Adrians Mund. Er bekommt bei beiden Optionen, was er will. Ich rühre mich nicht und er sagt: „Weise gewählt! So haben wir mehr Zeit für uns!“ Er meint doch nicht etwa auch die Nächte?
„Erzähl mir etwas von dir, Emilia. Ich möchte mehr über die Frau wissen, mit der ich nun so viel Zeit verbringen werde.“ Ich verdrehe die Augen und sage: „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ Ich habe die letzten Monate auf der Flucht verbracht, nachdem ich aus der Irrenanstalt geflohen bin. Du und diese ganze Welt seid in meinem kranken Gehirn entstanden und du wirst dich, wenn ich wieder aufwache, in Luft auflösen und mit dir das Paradies. Meine Gedanken sind klar, doch kein Wort verlässt meine Lippen. Das ist nichts, was man beim Mittagessen bespricht.
„Du bist also bescheiden“, sagt Adrian und lächelt. „Was war das für ein Text, den du auf der Bühne rezitiert hast?“
„Shakespeare“, sage ich und füge, als kein Funke der Erkenntnis leuchtet, hinzu, „ein unbekannter Untergrundkünstler. Was führst du bei solchen Veranstaltungen vor?“
„Ich jongliere.“ Das Bild von Adrian mit einer Clownsmütze auf einem Einrad drängt sich mir auf und ein Kichern entschlüpft meinen Lippen, bevor ich es aufhalten kann. Adrian zieht die Augenbrauen hoch und ich will mich gerade entschuldigen, als er nach den Tellern und Untertassen greift, aufsteht und tatsächlich die Dinger nacheinander in die Luft wirft und wieder auffängt. Er schiebt den Stuhl mit dem rechten Bein beiseite, um sich Platz zu schaffen, und dreht sich dabei auch noch.
Fasziniert starre ich ihn an. Er wirft mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Irgendetwas bringt ihn aus dem Rhythmus und seine Hand greift ins Leere. Ein lautes Klirren lässt neugierige Augen zu uns wandern, als ein Teller zerbricht. Geschickt fängt er jedoch die anderen auf und stellt sie zurück auf den Tisch. Er kniet sich hin und sammelt die Scherben auf. Im ganzen Raum herrscht Stille. Ich eile an seine Seite und will ihm helfen. Doch er packt meine Hand und sagt: „Du machst dich schmutzig.“ Ich ziehe eine Braue hoch und frage: „Und?“
„Du wirst dich verletzten“, fügt er irritiert hinzu.
„Pa!“, rufe ich aus, bevor ich darüber nachdenken kann, „ich habe schon schmutzigere Arbeiten gemacht und so tollpatschig bin ich nun auch nicht.“ Kaum sind die Worte aus meinem Mund, bereue ich sie und fühle ein Brennen an meinem linken Zeigefinger. Ich drücke ihn in den schwarzen Stoff meines Rockes.
„Was für Arbeiten hast du gemacht?“, fragt Adrian neugierig. Jemand kommt mit einem Feger und scheucht uns zu einem anderen Tisch. Ein Gespräch über dreckige Toiletten ist weder passend beim Essen, noch ein Thema, das man an einem Ort diskutieren sollte, der Eden oder Paradies genannt wird. Verräterische Wärme kriecht in meine Wangen und ich lenke ab: „Wo hast du so jonglieren gelernt? Hast du in einem Zirkus gearbeitet? Elefanten dressiert und auf Löwen geritten? Kannst du Feuerspucken?“ Ich verfange mich in den Bildern, die mein Geist erschafft.
„Bettzy und Peter würden sich nie dressieren lassen und ich denke nicht, dass die beiden letzten lebenden Löwen zum Reiten gedacht sind.“ Die letzten Löwen? Ich blicke ihn an und murmle: „Das hört sich an wie die Arche.“
„Ja, vor der Zählung und dem DNA-Test war ich Teil des Arche-Projekts. Mich wundert, dass du von ihm gehört hast. Nicht viele kümmern sich um das Überleben von anderen Spezies und Rassen, wenn das eigene auf dem Spiel steht.“ Ich blicke ihn an. Eine Arche? Adam und Eva? Was soll das? Ich war nie sehr gläubig und mein Gehirn hat keinen Grund, diese Sache biblisch werden zu lassen.
„Während den letzten beiden Weltkriegen wurde viel Lebensraum zerstört. Nicht nur für uns, auch für die Tiere. In der Arche haben wir …“
„Von jeder Tierart ein Männchen und ein Weibchen gerettet“, ergänze ich seinen Satz und werde bleich. Ich versuche das seltsame Gefühl abzuschütteln und sage: „Das ist doch mal eine gute Seite von dir. Du bist also tierlieb“, ich lächle bei dem Gedanken, „habt ihr auch Ratten, Hängebauchschweine, Wölfe und Jacks?“ Adrian blickt mich seltsam an und fragt: „Wie alt bist du, Emilia?“ Ich lache verlegen und sage: „Das fragt man eine Dame nicht!“
„Nun, die Tiere, von denen du sprichst, sind vor circa 150 Jahren ausgestorben.“ Es gibt keine Hängebauchschweine mehr? Was ist das für eine kranke Welt?
„Ich habe … über diese Tiere in irgendeinem Buch gelesen …“, stottere ich zusammen und bin froh, als uns das Essen gebracht wird.
„Du hast mir immer noch nicht verraten, wo du jonglieren gelernt hast“, sage ich und schiebe mir ein saftiges Stück Lachs zwischen die Kiemen. Als der Geschmack meine Nerven trifft, lasse ich die Gabel fallen. Das ist so viel besser als ein Euro Burger! Mein Blick gleitet zum Fisch, ich packe die Gabel wie eine Waffe und versuche jeden Bissen zu genießen. Doch mein Instinkt ist stärker, als meine Genusssucht. Ich stopfe den Fisch in mich hinein und sinke zufrieden an meine Stuhllehne, als das göttliche Essen sicher in meinem Magen ist und es mir niemand mehr wegnehmen kann.
Wie lange ich in meinem Foodkoma schwelge, weiß ich nicht. Adrians entgeisterter Blick rüttelt mich wach. Ich unterdrücke einen Rülpser und sage kleinlaut: „Entschuldigung.“ Adrians Gesicht entgleist und sein Lachen erfüllt den Raum, bis er hilflos nach Luft japst. Ist mir das peinlich … Als er sich nach seinem Anfall wieder beruhigt hat, tanzen seine Augen zu meiner Wange, ich greife erschrocken an die Stelle, in Erwartung ein herrliches Stückchen Fisch hätte sich dort eingenistet. Er hält sich wieder vor Lachen die Seite und der Anblick von dem großen, bösen Mann, zusammengekrümmt vor Lachen, bringt meine Mundwinkel dazu sich zu heben und ich sage schulterzuckend: „Ich mag nun mal Fisch!“ Er wird still, sein Blick findet meine Augen, wandert zu meinen Lippen.
„Wenn das bei dir Mögen bedeutet, würde ich gerne sehen, wie du über etwas herfällst, das du liebst!“ Seine Finger strecken sich nach mir aus. Er berührt zart meine Wange und steckt sich den Finger in den Mund. Er nickt und sagt zustimmend: „Wirklich köstlich.“
„Wenn ich es das nächste Mal schaffe, mich zusammenzureißen, lasse ich dich probieren.“ Leises Gekicher im Hintergrund, lässt meine Wangen brennen. Meine Fresseinlage ist nicht unbemerkt geblieben. Ich seufze tief und widme mich mit leuchtenden Augen dem Salat. Adrian lässt mich während meines Schmauses in Ruhe. Erst als alle Teller um mich herum leer sind, fragt er: „Was würdest du jetzt gerne machen?“ Ich streichle über meinen gewölbten Bauch und sage: „Schlafen!“ Er lacht leise und haucht: „Führe mich nicht in Versuchung, kleine Wildkatze!“ Er rutscht näher mit seinem Stuhl an mich heran, legt seinen Arm um meine Schulter und streicht mir eine verirrte Strähne aus der Stirn.
„Ich hatte mich schon gewundert, dass du dich während dem Essen so zurückgehalten hast“, kommentiere ich sein Verhalten und versuche Distanz zwischen uns aufzubauen und erinnere mich, dass ich immer noch nicht weiß, wo er jonglieren gelernt hat.
„Ich habe mit Tieren gearbeitet und weiß es besser, als eine Wildkatze bei der Nahrungsaufnahme zu stören.“
„Ja … ich hätte dir wohl den ein oder anderen Finger abgebissen, wenn du meinem Essen zu nahe gekommen wärst“, stimme ich ihm nickend zu.
„Was würdest du heute gerne machen?“ fragt Adrian erneut.
„Was kann man hier denn tun?“ Ich weiß nicht mehr, wie man sich vergnügt, was man in der Zeit anstellt, in der man nicht arbeitet, flieht, sich versteckt oder kämpft.
„Wir könnten einen Film schauen, musizieren. Du könntest mir beim Aktzeichen Modell stehen. Wir können interaktive Computerspiele zocken. Ein Themenzimmer erkunden, Tennis …“
„Habt ihr hier einen Swimmingpool?“, unterbreche ich ihn und ernte einen heißen Blick.
„Ich glaube nicht, dass ich bereit bin, dich in einem Badeanzug zu sehen“, erwidert Adrian, wendet den Blick ab und fährt sich durchs wilde schwarze Haar. Aber als Aktmodell würde er mich nehmen, wundere ich mich, spreche meine Gedanken jedoch nicht aus.
„Dann zeig mir die Räumlichkeiten. Wo sich was befindet, was man alles hier so treiben kann“, sage ich stattdessen.
„Das kann dauern. Wir sind in Eden. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt.“
„Ich habe Zeit“, erwidere ich und lege meine Hand auf seinen Unterarm, nachdem wir aufgestanden sind und meine Führung beginnt.
„Das Paradies ist mit dem Garten Eden als Mittelpunkt aufgebaut. Der Palast umschließt den Garten komplett. Das Wetter ist immer perfekt, daher picknicken wir zum Frühstück.“ Ich erinnere mich an das Gefühl der Sonne auf meiner Haut. Es ist eine schöne Art, in den Tag zu starten.
„Die Quartiere der Evas befinden sich im ersten Stock des Südflügels, die Speiseräume und das Theater im Erdgeschoss.“ Die habe ich bereits gesehen.
„Wie viele Stockwerke gibt es?“, frage ich und blicke zu der Treppe, die ich am ersten Tag mit Michael heruntergekommen bin.
„Im Moment sind es fünf, glaube ich.“ Adrian runzelt nachdenklich die Stirn.
„Wie soll ich das verstehen?“ Seine Antwort verwirrt mich.
„Das Paradies baut sich nach den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Evas und Adams.“ Das macht für mich keinen Sinn und das scheint mein Gesicht auch auszudrücken, denn Adrian fügt erklärend hinzu: „Jeder Kandidat bringt Kenntnisse, Fähigkeiten mit, von denen die anderen lernen können. Wenn jemand Neues nach Eden kommt, der sagen wir, fechten kann, und es noch keinen passenden Raum gibt, baut sich ein solcher Raum. So kann der Kandidat seine Fähigkeiten trainieren und den anderen etwas beibringen. Wir lernen voneinander. Wir ergänzen uns. Bis wir perfekt sind.“
„Und dann?“, frage ich.
„Und dann was?“, entgegnet Adrian.
„Was passiert, wenn jemand vollkommen ist?“ Adrian schweigt und sagt nach einer Weile: „Ich weiß es nicht. Nur wenige haben diese Stufe erreicht. Und die … Angelique … sie ist einfach verschwunden.“ Ich verstehe und die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme schneidet in mein Herz wie viele kleine Rasierklingen.
„Was für Zimmer wohl nach Lederwestes Ankunft hinzugekommen sind?“, frage ich um ihn und mich abzulenken. Adrian legt seine Hand über meine und blickt mir tief in die Augen: „Was Kyle hier verändert hat, ist nicht wichtig. Was mich mehr interessiert: Was hast du hier bewirkt.“ Lederweste heißt also Kyle … ich schüttele das aufsteigende Bild ab und konzentriere mich auf Adrian.
„Was sind deine Fähigkeiten? Was wirfst du in den Pool der Talente und des Wissens?“, bohrt Adrian nach. Gute Frage … eine schlechte Darbietung von Hamlet? Ich werde bleich, als ich an eine riesige Gummizelle denke, die vollgestellt ist mit weißen Betten, an deren Enden Riemen baumeln und ein Arsenal an Spritzen, die liebevoll nach Größe sortiert auf einem Stahltisch liegen. Entsetzt schüttle ich dieses Bild ab. Das hatte nichts in einem Paradies zu suchen.
Als mich Adrian immer noch fragend ansieht, zucke ich die Achseln und sage: „Ich bin gut im Weglaufen. Vielleicht eine Rennbahn?“ Er lacht, schüttelt den Kopf und sagt: „Die haben wir schon. Gehört zur Grundausstattung.“
„Was hast du in den Pool geworfen? Einen Zoo?“, versuche ich ihn abzulenken. Und er lächelt anerkennend.
„Etwas Ähnliches. Es ist ein Zimmer, mit vielen Statuen, interaktiven Hologrammen und Bildern.“
„Eine Art Tiermuseum?“, frage ich begeistert. Ich mag Tiere und Musen. Eine Kombination muss einem Freizeitpark gleichen. Bei dem Gedanken an einen integrierten Streichelzoo jucken vor Aufregung meine Fingerkuppen.
„Ja, und je mehr ich lerne, desto größer wird der Raum, genauer und füllt sich immer weiter.“ Mehr Schafe, Katzen, Ziegen und Affen zum Spielen?
„Und wie lernst du?“, frage ich und versuche meinen Spieltrieb zu kontrollieren.
„Ich lese“, erwidert Adrian simpel.
„Haha!“
„Nein, wirklich! Jeder erweitert mit seinem Wissen die Bibliothek. Ich bin mir sicher, dass wenn ich jetzt in der Zoologie Abteilung blättere, würde ich ein neues Buch über Hängebauchschweine finden“, führt er seine Erklärung näher aus.
„Liebliche Kreaturen“, sage ich verträumt.
„Das verrät der Name“, erwidert Adrian und ich muss grinsen.
„Ihr habt also alle eure Gebiete, lehrt die anderen euer Wissen und erforscht euer Thema“, summiere ich die neu erworbenen Informationen. Adrian nickt, beugt sich zu mir herunter und flüstert: „Eine Eva hat ein Zimmer voll von Sexspielzeugen und mit einer Galerie, in der jede Sexstellung dargestellt ist, die existiert.“ Meine Augen werden rund und ich sage: „Du lügst!“ Er hebt nur eine Augenbraue und lächelt schief. Meine Wangen brennen und mein Interesse ist geweckt. Wem gehört wohl solch ein Zimmer?
„Ich verrate dir einen Namen, wenn du mir sagst, in was du gut bist.“ Ich presse die Lippen aufeinander und wünschte, dass es da etwas gäbe … irgendetwas. Doch da ist nur der Gedanke, dass ich nicht hierhergehöre. Also schüttele ich den Kopf und frage: „Wo ist dein Zimmer?“
„Das nenne ich doch mal schnellen Fortschritt! Gestern brichst du mir noch die Nase und heute bist du begierig darauf, in mein Zimmer zu gelangen.“ Er lacht leise und ich schlage ihn etwas mehr als spielerisch auf den Oberarm.
„Nun gut, wenn du mir dein Talent nicht verraten willst, ist das okay. Ich werde es eh bald erfahren“, sagt Adrian und reibt sich den Oberarm.
„Wie meinst du das?“, frage ich und meine Alarmglocken klingeln.
„Bald werden sicher Kyles und dein Raum vorgestellt, damit wir unsere Zeitplanung anpassen können.“ Mir wird schlecht und ich frage bleich: „Was meinst du mit Zeitplanung?“
„Du wurdest auf das hier wohl nicht sonderlich gut vorbereitet, oder?“, fragt er verwirrt. Ich schüttle den Kopf.
„Wir haben hier ein Punktesystem. Nach individuellem Profil bekommst du für Kurse eine bestimmte Anzahl von Punkten. In der Woche musst du auf 100 Punkte kommen“, verwirrt mich Adrian mit seiner Ausführung noch mehr.
„Und wenn nicht?“, frage ich, den Fehler im System suchend.
„Wenn nicht was?“ Unschlüssig schaut Adrian mich an.
„Wenn jemand nicht auf seine 100 Punkte kommt?“, hake ich nach.
„Das ist meines Wissens noch nicht passiert. Hier ist alles perfekt und jeder gibt sein Bestes.“ Adrian Worte stoßen in meinem Magen auf wie bittere Galle. Das Beste … perfekt … Worte, die weder ich noch irgendjemand anderes je im Zusammenhang mit mir benutzt haben.
„Was ist … was passiert, wenn jemand nicht perfekt ist?“, frage ich kleinlaut, als mein Blick sich in meiner linken Armbeuge verfängt.
„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, Emilia. Wenn du nicht perfekt wärst, wärst du nicht hier. Johwa sucht sich basierend auf DNA-Analysen die Besten der Besten aus. Er ist darauf programmiert, keine Fehler zu machen. Solltest du nicht perfekt sein und es hierher geschafft haben, bist du ein Virus.“ Ich blicke hoch und sehe keine Spur von Humor in seinen Augen. Bin ich ein Virus? Die Welt um mich verschwimmt, alles wird durchsichtig. Ich konzentriere mich auf Adrians Hand, die auf meiner liegt. Schuppen leuchten in den Farben des Regenbogens.
Ich blinzle und weigere mich, Adrian ins Gesicht zu blicken. In seiner Stimme hallt ein Zischen mit, als er sagt: „Die Bibliothek liegt im östlichen Flügel. Lass uns nach Hängebauchschweinen suchen.“ Schweigend laufe ich neben Adrian und halte den Atem an, bis ich wieder Haut sehe anstelle von Schuppen. Als das Zischen in seiner Stimme verschwunden ist, erreichen seine Worte mein Gehirn und ergeben wieder Sinn. Nicht weit von dem Theatersaal, den Adrian in seiner Tour großzügig auslässt, befindet sich ein riesiges Tor mit zwei Flügeln, die doppelt so hoch sind wie Adrian lang. Ohne Anstrengung schiebt er die Tore auf und wir schreiten hindurch.
Meinem Mund entschlüpft ein überraschter Schrei, als sich mir das Paradies für jeden Bücherwurm eröffnet. Regale, so hoch, dass man die Decke nicht sehen kann, schlängeln sich wie die Wände eines Labyrinths durch einen scheinbar unendlichen Raum. Zierliche Wendeltreppen aus weißem Geflecht recken sich wie Birken zum Himmel und schaffen ein Netz über dem Netz. Der Geruch von Leder, Pergament und Tusche überwältigt mich und ich sinke in die Knie, als ich kleine Leseoasen entdecke. Hängematten in allen Farben, Sessel, Couchs, Stühle und sogar Betten sind im ganzen Raum verteilt. Die Wand, die zur Mitte zeigt, hat als einziges keine Regale. Sonnenlicht flutet hindurch und das leise Gezwitscher von Spatzen ist zu hören, wenn ich auch nicht eine Feder erblicke.
Ich stehe mit zittrigen Knien auf, streife mit einer Hand einen runden Globus, der geheimes Alkoholversteck schreit, und mit der anderen über die Bücher. Alte, dicke Lederbände stehen neben modernen Taschenbüchern und vergilbten handgeschriebenen Heften. Meine Finger bleiben bei einem Buch hängen.
Shakespeares Hamlet. Ich greife danach in der festen Absicht, es Mandy zu geben. Adrian nimmt meine Hand in seine und sagt mit belegter Stimme: „Wunderschön!“ Mein Blick wandert zu ihm und dann wieder über das Märchenland vor mir.
„Ja, die Bibliothek ist wunderschön“, stimme ich ihm zu.
„Ja … die habe ich gemeint“, sagt er und lacht leise. Dann zieht er mich sanft durch das herrliche Bücherlabyrinth, steigt zwei Etagen auf den filigranen Wendeltreppen hinauf und geht zielsicher zu einer kuscheligen Ecke, in der auf dem Boden hunderte von Kissen eine Wiese bilden. Dann tastet sein Finger Buchrücken ab, bleibt nach wenigen Reihen hängen und er zieht ein schmales Heft heraus. Ihm entfährt ein überraschter Laut und er sieht mich mit großen Augen an.
„Was?“, frage ich ihn. Warum fühle ich mich angegriffen? Als er sich wegdreht und in dem kleinen Buch blättert, schlägt mein Herz schneller.
„Was hast du da?“, versuche ich es noch einmal, gehe um ihn herum, um zu sehen, was er liest. Doch er dreht sich im Kreis, blättert weiter und seine Augen leuchten, wie die eines Kindes. Ich weiß nicht wieso, doch ich fühle mich in meiner Privatsphäre verletzt. Irgendwas sagt mir, dass er nicht das Recht hat, dieses Buch anzuschauen, geschweige denn zu lesen. Als ich stehenbleibe und Adrian mir in seiner Pirouette entgegendreht, sehe ich das Buchcover und greife mit roten Wangen danach.
Er hebt es aus meiner Reichweite und liest laut vor. Ich möchte im Erdboden versinken. Meine Wangen brennen.
„Fred - das Hängebauchschwein. Fred hat schwarze Borsten, einen platten Rüssel und sein Kinn ist fast so dick wie sein Bauch, der beim Gehen am Boden schleift …“
„Ich war sieben, als ich das geschrieben habe!“, verteidige ich mich und springe wie ein Zirkusaffe im Kreis. Dann erwischen meine Finger Papier, ich klammere mich daran fest, mein Körper prallt auf Adrians und wir fallen. Er lacht, als er auf den Boden trifft und ich würde ihn am liebsten umbringen. Ich schnappe mir das Buch, entferne mich von ihm, setze mich in eine Ecke und funkele ihn wütend an. Die Welt verschwimmt, als verräterische Tränen sich in meinen Augen sammeln und ich hasse mich dafür, hasse ihn.
Adrian geht in die Hocke, blickt mich überrascht an und fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht, dann streicht er sich die Haare zurück. Er nähert sich mir nicht und doch ist er zu nahe, hat einen Teil von mir berührt, der nur mir gehört.
„Geh weg!“, rufe ich und presse die Lippen aufeinander. Das Zittern in meiner Stimme bereitet mir Übelkeit. Ich hasse es, schwach zu sein und verfluche mich. Warum habe ich Adrian etwas über Hängebauchschweine erzählt? Warum habe ich meinen Schatz, einer meiner wenigen Erinnerungen, in die nicht einmal Dr. Philips eindringen konnte, an Adrian verraten? Ein unberührter Teil meiner Seele und meines Geist in dem Puzzlespiel der Psychiater und Doktoren. Wie oft haben sie mich Stück für Stück, Puzzle für Puzzle auseinandergenommen, jede Information, Erinnerung herumgedreht, analysiert und mich daran zweifeln lassen, was wirklich passiert ist, was eine verdrehte Wahrheit ist und was nur pure Fantasie, geboren aus dem Bedürfnis, etwas zu verarbeiten, an das ich mich nicht erinnere.
In all den Jahren von Sitzungen, Beruhigungsmitteln und Medikamentenexperimenten war diese Erinnerung rein geblieben. Doch jetzt haben sie sich in diesem kranken Versuch, mich zu reparieren, sogar bis hierher durchgegraben. Mein Blick wird glasig und ich verliere den Kontakt zu dieser Welt. Alles um mich herum wird dunkel und verschwimmt. Zum ersten Mal habe ich keine Angst vor dem Nichts, wünsche es mir herbei, um darin zu vergessen, dass ich gebrochen bin, krank und verrückt. Ich schließe die Augen, will es willkommen heißen. Als mich eine Stimme erreicht. Tief und traurig: „Es tut mir leid, Emilia.“ Wer ist Emilia? „Ich wusste nicht … ich dachte nicht … ich wollte nicht in etwas eindringen, das dir Schmerzen bereitet.“ Schmerzen? Mir tut nichts weh. Ich fühle mich gut. Ich löse mich auf und alle Probleme mit mir.
„Ich bin ein unsensibler Ochse. Deine Reaktion war so anders … süß und verletzlich, nicht taff und selbstbewusst. Das Gefühl, eine Stelle in dir zu berühren, die noch keiner zuvor gesehen hat, war unbeschreiblich.“ Bin ich süß und verletzlich? Ich war es einmal, früher … bevor … Meine linke Armbeuge brennt, als Erinnerungen wie Nadelstiche in mich eindringen. Schmerz und Verzweiflung packen mich. Doch auch das Gefühl, Leben zu wollen und frei zu sein von den Lederarmbändern. Leben und Freiheit … Eine unbändige Entschlossenheit erfüllt mich, verbrennt alle Ängste und verdrängt das Nichts. Ich will leben! Alles, was ich durchgestanden habe, darf nicht umsonst gewesen sein.
Ich öffne die Augen und blicke in Adrians Gesicht. Er sitzt zusammengekauert ein Stück von mir entfernt und sieht mich ängstlich an. Entschuldigend. Ich wische mir über die Augen und lasse das kleine Mädchen, das die Geschichte über das Hängebauchschwein Fred geschrieben hat, wieder zurück in eine sichere Ecke meines Verstandes verschwinden. Lasse sie kurz mit ihrer Mutter den Zoo besuchen und das dicke, runde Schwein betrachten, das so hässlich ist, dass seine abstrakten Züge ihm wieder Schönheit verleihen. Dann stehe ich auf, suche Hamlet und presse beide Bücher an meine Brust.
Ich spüre Adrians Blick auf mir, doch er sagt nichts.
„Wollen wir die Tour fortsetzen?“, frage ich ihn und blicke ihm starr in die Augen. Er nickt, steht auf und bietet mir seinen Arm an. Als ich keine Anstalten mache, ihn zu ergreifen, werden seine Augen dunkel. Traurigkeit legt sich wie ein Schatten über ihn und ist doch gleich wieder verschwunden. Er lässt mir den Vortritt und ich gehe die Wendeltreppe hinunter. Die Bibliothek hat ihren Zauber für mich verloren … ihre Unschuld … und ich bin erleichtert, als sich die großen Flügeltüren hinter mir schließen.
Schweigend gehen wir den Gang entlang und Adrian führt mich in einen Raum, der vollgestopft ist mit Instrumenten. Geigen, Gitarren, Trommeln, Schlagzeug, Flöten, Harfen, Trompeten, alles, was ich mir erdenken kann, befindet sich in diesem Zimmer. Ich erblicke sogar eine Sammlung von Triangeln. Gehört Gerta das Musikzimmer? Wie viele Instrumente kann sie spielen? Als hätte Adrian meine Gedanken gehört, sagt er: „Gerta hat die meisten der Instrumente nach Eden gebracht. Doch mit jedem Kandidaten sind neue hinzugekommen. Gerta liebt es, neue Instrumente auszuprobieren und zu erforschen. Ihr dabei zuzusehen, ist, als ob man ein autistisches Kind beobachtet, das völlig in seiner Welt gefangen ist. Nichts kann sie ablenken und sie hört nicht auf, bis sie es perfekt beherrscht.“
„Welches von den Instrumenten ist von dir?“, frage ich und gehe zu den kleineren Blasinstrumenten, nehme eine kleine, abgegriffene Plastikflöte in die Hand. Meine Finger zittern und ich fühle mich aufs Neue geschändet. Zu meinen zwei Büchern gesellt sich die Flöte. Adrian kommentiert meinen Sammeltrieb nicht und sagt: „Ich bin recht unmusikalisch und kenne nur die üblichen Instrumente. Ein paar der Musikstücke sind vielleicht auf meinen Mist gewachsen. Doch genau sagen, kann ich es nicht. Gerta hört sich die Lieder aller an und transferiert sie zu Noten für ihre Instrumente. Sie braucht sie natürlich nicht. Sie sind für uns, für den Unterricht.“
„Den Unterricht?“, frage ich und gehe zu einem Tisch voller Notenbücher. Zwei liegen ganz oben. „Die kleine Nachtmusik“ und „Beethovens 9“. Mir wird kalt und ich streiche über die frisch geschriebenen Buchstaben. Zwei Lieder aus meiner Vergangenheit. Zwei Stücke, die mein Vater immer und immer wieder gehört hat. Stundenlang. Ich ziehe meine Finger zurück, als hätte ich mich verbrannt. Das hier muss meiner Fantasie entsprungen sein. Niemand weiß diese Dinge über mich. Zumindest kein Arzt. Entweder haben sie neue Methoden entwickelt, mich zum Sprechen zu bringen, oder diese ganze Welt ist reine Fantasie. Dann sehe ich etwas, das ich nicht zuordnen kann. Ich kann nicht einmal sagen, ob es zur Einrichtung gehört oder ein Instrument ist.
„Das Ding kann nur Gerta bedienen. Es hört sich an wie eine Mischung aus Trompete und Saxophon. Sie nennt es ein Sofret … oder so ähnlich.“ Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit in die Bibliothek zu gehen und mir ein paar Bücher zu schnappen, deren Titel mir absolut nichts sagt. Wir gehen zum nächsten Zimmer. Adrian ist für seine Verhältnisse still und zuvorkommend. Er hält mir Türen auf, berührt mich nicht, gibt mir genug Raum zum Atmen und langsam entspanne ich mich.
Eines der Zimmer ist komplett aus Spiegeln. Hier und da sind lange Stangen verteilt. Horizontale und auch Vertikale. Adrian lächelt, als er mein überraschtes Gesicht sieht und sagt einfach nur: „Harriett.“ Macht sie neben Ballett auch Poledance, frage ich mich und kann ein leises Lächeln nicht unterdrücken.
Danach betreten wir das schönste Zimmer, das ich bisher gesehen habe, nachdem die Bibliothek ihren Zauber verloren hat. Es herrscht ein geordnetes Chaos. Einzelne Tische stehen im ganzen Raum verteilt. Alle individuell und schön. Auf einem kleinen Tisch, aus dunklem Holz und mit Schnörkeln verziert, liegen Pergamentblätter, ein Tuschefässchen und eine lange, weiße Feder, deren Ende angespitzt und schwarz eingefärbt ist. Auf einem einfachen Tisch aus hellem Holz steht eine Schreibmaschine. Ein Laptop ziert einen gläsernen Tisch. Die restlichen Geräte erkenne ich nicht, bin mir jedoch sicher, dass sie einem Zweck dienen: dem Schreiben. Die Wände sind voll von Gemälden und Poster, deren Darstellungen und Abbildungen sich stetig ändern.
Eine Wand besteht aus einer kompletten Fensterfront und die Landschaft dahinter wechselt kontinuierlich. Ein rauschender Wasserfall ist zu sehen und zu hören, dann ein Urwald mit riesigen Bäumen. Vögel zwitschern und leise Tierrufe hallen durch das sanfte Prasseln von Regen. Ein Feld voller wilder Blumen. Dann sind plötzlich hunderte Bilder von Mandy zu sehen. Und ich weiß, ich befinde mich in Nikks Raum. Die Erkenntnis nimmt mir den Atem, als sich sein Gesicht mit allem, was sich hier befindet, verbindet und seine Züge mehr Charakter bekommen. Eine einseitige Intimität entsteht, die mir unangenehm ist. Ich möchte nicht so tief in ihn dringen, ohne dass er es weiß, ohne die Erlaubnis erhalten zu haben.
Abrupt drehe ich mich weg, will fliehen und das Gesehene vergessen. Die Wandelbarkeit seines Wesens und den Kern seiner Leidenschaft vergessen. Doch wir durchschreiten die Tür wenige Sekunden zu spät. Die Glaswand wird zu einer riesigen Leinwand und ich sehe, wie eine Elfe in einem weißgrünen Kleid die Treppe heruntersteigt. Wortlos starre ich sie an. Ein zartes Leuchten umgibt sie, hebt sie über alles Weltliche und verleiht ihr eine unbeschreibliche Heiligkeit. Mir wird schlecht. Auch wenn mir nie solch eine Anmut aus dem Spiegel entgegengeblickt hat, weiß ich, dass ich das bin. So wie Nikk mich sieht.
Adrian flucht, schmeißt die Tintenfässchen um, ergreift meinen Oberarm und zerrt mich grob aus dem Zimmer. Es ist das erste Mal, dass er mich seit dem Vorfall in der Bibliothek berührt. Meine Wangen brennen und ich kann nicht verhindern, dass mein Herz einen freudigen Sprung macht. Der Wunsch, ich könnte das perfekte Wesen sein, das Nikk in mir sieht, keimt in meiner Brust. Adrian lässt mich los, doch meine Haut brennt noch dort, wo er mich gepackt hat.
Wir besuchen noch das Sportquartier. Es ist neutraler Boden und ich bin froh darüber. Ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll, brauche Zeit, um alles zu verarbeiten. Von einem Fußballfeld, über Tennis- und Golfplatz bis zur Bowlingbahn ist alles da. Einige Räume sind der Waffenkunst gewidmet. Ich sehe Schwerter, Armbrüste, Bögen, Pistolen, Maschinengewehre und kleine Waffen, die wie Laserspielpistolen aussehen. Adrian runzelt die Stirn und blickt zu mir. Sie scheinen neu zu sein. Ich schüttle den Kopf. Die sind nicht auf meinen Mist gewachsen.
Anstatt die Runde zu vollenden, drehen wir um und Adrian bringt mich zu meinem Zimmer. Er versucht nicht einmal hineinzugehen, lungert jedoch längere Zeit vor meiner Tür. Ich sehe ihn fragend an. Er runzelt die Stirn, öffnet den Mund, schließt ihn wieder, nur um dann barsch zu sagen: „Wir sehen uns zum Abendessen im Saal.“ Bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich um und geht. Seine Schritte sind schnell, als würde er vor etwas fliehen oder zielsicher etwas Wichtigem entgegengehen.
Wenn das hier meine Fantasie ist, eine Welt entstanden aus der Kombination von Drogen und einem kranken Geist, muss ich mir keine Sorgen machen. Dann existiert nichts außerhalb meiner Reichweite, dann verschwindet Adrian im Nichts, sobald ich ihn nicht mehr sehe und Nikk ist nur ein Anker, der auftaucht, wenn ich ihn brauche und verschwindet, wenn ich es möchte. Doch warum verkrampft sich mein Herz bei diesem Gedanken? Warum umnebelt mich Sorge um Nikk? Und warum möchte ich weinend zusammenbrechen, als Adrian nicht mehr zu sehen ist und ich nur in einen langen, leeren Gang blicke?
Ich gehe in mein Zimmer und sehe Lilly, die mich lächelnd erwartet. Ihr Blick wird traurig, als sie den Rock sieht, mit dem ich die zerrissene Hose ersetzt habe. Schuldgefühle überkommen mich.
„Es tut mir leid, Lilly. Die schöne Hose ist …“, versuche ich, mich zu entschuldigen. Doch ihr wütender Blick nimmt mir die Kraft zum Sprechen. Sie muss sehr böse auf mich sein.
„Ihr habt Euch nicht zu entschuldigen!“, fährt sie mich wütend an, „ich bin mir sicher, dass es nicht Ihr wart, die den Stoff zerfetzt hat!“ Dann wird sie bleich und schlägt die Hand vor den Mund. Sie zittert, als sie leise fragt: „Hat er … hat er euch wehgetan?“ Tränen stehen in ihren Augen. Ich lasse die Bücher und die Flöte fallen, gehe mit schnellen Schritten auf sie zu, nehme sie in den Arm und sage: „Es ist alles in Ordnung. Niemand hat mir wehgetan. Mir geht es gut. Aber ich würde gern ein Bad nehmen, bevor ich zum Essen gehe.“ Vielleicht würden sich all die widersprüchlichen Gefühle einfach wegwaschen lassen.
Lilly nickt, wischt sich Tränen von den Wangen und eilt ins Badezimmer. Ich blicke mich um. Das Bett ist gemacht, die zerstörte Hose ist nirgends zu sehen. Ich hebe Hamlet, Fred und die Plastikflöte auf und lege sie auf meinen Nachtisch. Als ich mit dem Gedanken spiele, mich für wenige Minuten hinzulegen, höre ich Lilly rufen, das Bad sei fertig. Also gehe ich ins Badezimmer und lasse mich verwöhnen.
Als Lillys geschickte Hände über meinen Körper gleiten, alle kleinen Knoten herausmassieren und mich einseifen, sage ich: „Ich hoffe, du wirst für deine Arbeit hier fürstlich entlohnt. Niemand kann so gut massieren wie du.“
„Entlohnt?“, fragt sie und hält inne. Ich schlage die Augen auf und blicke in ihren verwirrten Gesichtsausdruck.
„Du bekommst doch sicher Geld dafür, dass du dich um mich kümmerst“, versuche ich mich zu erklären.
„Was will ich im Paradies mit Geld?“, fragt sie, lacht und massiert meinen rechten Fuß weiter, „unsere Belohnung ist es, hier zu sein, im Paradies, anstatt da draußen. Hier ist es sicher und schön.“ Ich runzle die Stirn.
„Wie ist es denn da draußen?“, frage ich vorsichtig.
„Das müsst Ihr doch am besten wissen. So, Ihr seid jetzt sauber und wir müssen uns noch ein Outfit überlegen. Etwas, das Stärke, Kraft und Selbstbewusstsein ausdrückt.“ Ein schwarzes Lederkorsett und eine Peitsche kommen mir in den Sinn.