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Die Idylle trügt ~ Florian Holzer
ОглавлениеFlorian Holzer
Die Idylle trügt
Weingärten, Holzbankerln, Kastanienschatten und das melodische Klingen der Henkelgläser, in denen der Gspritzte sprudelt. Alles nur Illusion.
Charlie Chaplin und sein grandioser Film »Der große Diktator«: Tomanien, ein grauer, düsterer Ort, voll von Hass, Furcht und Verfolgung, beherrscht vom Diktator Anton Hynkel und seinen Schergen. Das Nachbarland Osterlitsch indes idyllisch, voll von Musik, Liedern, Fröhlichkeit – und von Heurigen inmitten der landschaftlich malerisch gelegenen Weingärten, in denen sich all das Gute und Schöne zu Harmonie verdichtet.
Charlie Chaplin wusste natürlich, dass das nicht stimmte. Denn der Heurige mag sich oberflächlich betrachtet zwar tatsächlich als Idylle anbieten, mit seinem knirschenden Kiesboden, dem Duft welken Kastanienlaubs, dem absplitternden Lack der massiven Holztische, auf die das warme Herbstlicht fällt, der belebenden Schärfe frisch gerissenen Krens auf der gepökelten Rindszunge und dieser zauberhaft ominös-komplexen Würze des Gemischten Satzes. Und dazu das heitere Murmeln der Menschen, das ferne Klingen, wenn sie sich mit ihren dickwandigen Gläsern zuprosten.
Bei näherer Betrachtung indes ist der Heurige alles andere als ein Paradies, vielmehr ein Ort, an dem Krise, Verderben, Niedertracht und Häme ihre Heimat haben und das Übertreten von Gesetzen – geschriebenen wie ungeschriebenen – zum Alltag gehört.
Das beginnt bei Hintergehungen, an die sich der abgestumpfte Gast im Lauf der Jahrzehnte entweder schon gewöhnt hat oder die er in seiner nichtsahnenden Naivität hier einfach nicht für möglich hält. Man wagt es kaum auszusprechen beziehungsweise niederzuschreiben, aber – ich hoffe, Sie sitzen jetzt – der Liptauer wird bei Wiener Heurigen und Buschenschanken nicht immer nur mit Brimsen und Butter gemacht, weit gefehlt, oft enthält er auch Topfen und/oder Margarine!
Das ist schwer auszuhalten, ich weiß.
Aber es kommt noch dicker: Was Ihnen beim Heurigen als Gemischter Satz verkauft wird, ist keineswegs immer Wein, der aus Trauben vieler verschiedener Rebsorten, die da fröhlich in uralten Weingärten durcheinanderwachsen, gepresst wird. Nein – und jetzt halten Sie sich fest –, die Rebzeilen dürfen reinsortig auch nebeneinanderstehen!
Überhaupt gelten Moral und Anstand beim Heurigen sowieso gar nichts mehr. Sie hätten heute gern ein Bier oder einen Kaffee oder was Warmes zu essen? Kein Problem, können Sie haben. Was einst tabu war und mit Kerker oder zumindest gesellschaftlicher Ächtung bestraft wurde, ist in heutigen pragmatischen Zeiten längst zum Alltag geworden. Wer würde heute noch in Tränen ausbrechen, weil dort, wo einst der legendäre Lier war, inmitten der Heiligenstädter Weingärten, jetzt eine Designervilla im südfranzösischen Stil steht? Wer darob verzweifeln, dass der Kürassier-Hengl, der Metzger-Prillinger, der Mandahus geschlossen haben, dass der Wagner am Reisenberg eine Eventlounge wurde, der Schober-Köller unter Reihenhäusern begraben liegt, der Rieke-Humbs längst Geschichte ist und der Bacher auch nur mehr in unseren Erinnerungen lebt? Niemand, denn unsere Tränen sind längst versiegt.
Aber auch ohne Sarkasmus kann gesagt werden, dass der Heurige nicht immer nur ein friedlicher Ort beziehungsweise die Friedseligkeit nur eine vermeintliche war. Tatsächlich eignete sich der Heurige Dank der von Joseph II. erlassenen Zirkularverordnung und der damit quasi legitimierten Anarchie sehr für Verschwörungen aller Stilrichtungen. Die Heurigenszene war schließlich kaum noch kontrollierbar, jeder, der einen Weingarten besaß, durfte sein Wohnzimmer für ein paar Tage oder Wochen im Jahr zur Ausschank machen – ein Albtraum für Spitzel und von der Obrigkeit gedungene Spione.
Und die Tatsache, dass es sich zwischen Weinreben unerkannt gut flüstern lässt – die amerikanische Redewendung für vage Gerüchte, »I heard it through the grapevines«, hat zwar einen anderen Ursprung, könnte aber nicht besser passen –, nutzten die Wiener Bürger schon seit jeher für Besprechungen der konspirativen Art. So vermutet Hedwig Stoeger in ihrem Buch »Grinzing und seine Weingärten« aus dem Jahr 1923, dass Hadmar von Sunnberg, Heinrich von Kuenring, Paltram Varzo, Otte de Foro, Sigfrid Leubl und andere Edle ihre Weingärten letztlich auch für geheime Unterredungen nutzten, um König Ottokar wieder in Amt und Würden zu setzen.
Und dann kommt natürlich der Faktor Alkohol dazu. Der Heurige ist zwar heute ein Ort, an dem man sich ein Konglomerat aus Nostalgie, gebietstypischen Speisen mit Slow-Food-Appeal, regionalen Weinen und archaischer Gastronomie-Kultur einverleiben kann. Früher – und das ist noch gar nicht so lange her – war er aber vor allem ein Ort, an dem man sich am billigsten und unkompliziertesten einen Rausch umhängen konnte. Noch bis vor ein paar Jahrzehnten spielte das Essen tatsächlich kaum eine Rolle, das brachte man sich von zu Hause mit, besorgte es sich bei Kiosken vor Ort oder verzichtete einfach darauf. Die damals beim Heurigen getrunkenen Mengen sind heute kaum mehr vorstellbar, was natürlich einerseits daran lag, dass die Weine sehr viel leichter waren, andererseits daran, dass der Heurige unter dem Deckmantel der Weinlaubidylle als gesellschaftlich akzeptierte Form von Realitätsflucht galt. Ein soziales Ventil gewissermaßen. Raufereien, Messerstechereien oder andere Gewalttaten gehörten beim Heurigen vielleicht nicht ganz so zur Folklore wie etwa bei Kirtagen oder Bierfesten, dazu gilt die Droge Wein in ihrer Wirkung als zu »sozial«, werden aber wohl auch vorgekommen sein.
Jedenfalls ging einer der grausamsten und bizarrsten Mordfälle der Wiener Kriminalgeschichte als sogenannter »Heurigenmord« in die Chronik ein: 1952 beschäftigte Wiener Zeitungen und deren Leser der gewaltsame Mord am sogenannten »Schokoladekönig vom Alsergrund« Johann »Hans« Arthold. Er wurde in der Nacht zum 22. November 1952 mit eingeschlagenem Schädel und durchtrennter Kehle in seinem Geschäft auf der Alser Straße vorgefunden, intensive Ermittlungen ergaben recht bald, dass er den Abend davor mit der um einundzwanzig Jahre jüngeren Adrienne Eckhardt bei einem Heurigen in Grinzing verbracht hatte. Nachdem zwischenzeitlich noch von einem geheimnisvollen Fremden als Mörder gesprochen worden war, gestand das dreiundzwanzigjährige Animiermädchen nach zweiwöchigem Verhör, dass sie die Gelegenheit von Artholds Einladung zum Heurigen genutzt hatte, um sich an ihm dafür zu rächen, dass er ihr einige Zeit davor das Angebot gemacht hatte, mit einer Prostituierten »widernatürliche« Sachen zu machen. Sie deponierte zu diesem Zweck einen Fleischwolf Marke »Alexanderwerk« in seinem Geschäft, und als man sich nach dem Heurigenbesuch dorthin begab, um noch Bier aus Pappbechern zu trinken, zog sie ihm den Fleischwolf ein paar Mal über den Schädel. Und weil ihr der Röchelnde leidtat, holte sie ein Messer aus dem vorderen Teil des Ladens, um dem Leiden ein Ende zu machen. Die nach einem spektakulären Prozess ursprünglich auf lebenslänglich festgelegte Haftdauer wurde letztlich auf zwanzig Jahre reduziert, Adrienne Eckhardt, die »Mörderin mit dem Fleischwolf« oder auch »Mörderin mit dem Engelsgesicht«, wurde 1967 entlassen.
Der Heurige, der kann’s also schon auch. Die vermeintliche Idylle, in der niemand mit Bösem rechnet, in der niemand die Hand am Feitl hat, ist natürlich trügerisch; die mitunter entrische Lage am Stadtrand, bei den Weinbergen, mit kaum Zeugen, vor allem keine nüchternen, wirkt für manche ermutigend; der Wiener Gemischte Satz, der zwar nicht gerade als Rabiatperle bekannt ist, aber in der richtigen Dosierung wohl auch schon enthemmend wirken und Aggressionspotenzial verstärken kann, trägt das seine bei; die mitunter tausend Jahre alten Gewölbe und Weinkeller unter den Heurigen, kaum ausgeleuchtet und auch nur wirklich ganz selten besucht, scheinen der ideale Ort für Verbrechen der düsteren Art. Und dann singt der Typ an der Zither auch noch die ganze Zeit vom Tod. Wer da nicht auf Gedanken kommt …
Florian Holzer ist Lokalkritiker bei der Wiener Stadtzeitung „Falter“ und der Tageszeitung „Kurier“ sowie Redakteur des Lokalführers „Wien, wie es isst“ im Falter Verlag. Er schreibt für Gourmet-Magazine im In- und Ausland und ist stellvertretender Chefredakteur bei „Gault Millau“.