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Die Kinder des Clavierbauers
ОглавлениеGänsefedern und ein wichtiger Besucher
„Was ist denn das für ein Lärm?“ , rief Johann Heinrich Harrass wütend. Wenn er so wie gerade am Arbeitstisch am Fenster seiner Instrumentenbauerwerkstatt im kleinen Ort mitten im Thüringer Wald saß und mit den ersten Schritten für die Arbeit an einem neuen Instrument beschäftigt war, hasste er es, unterbrochen zu werden. Der einzige Mensch, der ihn überhaupt an seinem Arbeitsplatz stören durfte, war seine kleine Tochter Anna. Die Fünfjährige mit dem ungebärdigen blonden Lockenkopf und den strahlend blauen Augen war schon weit für ihr Alter, aber auch ganz schön naseweis. Wenn er nicht aufpasste, rannte sie wie ein Wirbelwind durch die zwei Räume seiner Werkstatt und nahm aus purer Neugier mal dies, mal jenes in die Hand.
Aber gerade heute wollte Harrass gern in Ruhe überlegen, wie er vorgehen sollte. Er hatte soeben den wahrscheinlich wichtigsten Auftrag seines Lebens erhalten. Johann Sebastian Bach, frisch gebackener Organist in Arnstadt, hatte ein großes Cembalo in Auftrag gegeben, eines, wie es der Handwerker noch nie gebaut hatte.
Nun sah Vater Harrass seine geliebte Tochter Anna im Türrahmen stehen. Sie schien aber selbst zu spüren, dass sie heute nicht willkommen war. Im Gegenteil, so wütend hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Am liebsten hätte sie sich schnell umgedreht und wäre enttäuscht weggelaufen. Das ging aber leider nicht, denn gerade heute war Anna auf dem Weg zur Schule die Idee gekommen, dass sie ihrem geliebten Vater eine Freude machen wollte. Die Gänse, von denen jede Familie im Ort mehrere hatte, verloren gerade ihre Federn. Das kleine Mädchen hatte bei seinen Besuchen in der Werkstatt, in der es immer so gut nach frischem Holz roch, gelernt: Der Vater konnte die Kiele der Gänsefedern für die Tasteninstrumente, die er herstellte, sehr gut gebrauchen. Sie waren nämlich Teil der Vorrichtung, mit der man die Tasten zum Klingen bringen konnte. Ein bisschen so wie bei den Lauten, die in der Nachbarschaft gebaut wurden. Bei denen hatte der Fingernagel des Instrumentenspielers die gleiche Funktion.
Anna hatte ihre vielen Schulfreunde gebeten, bei ihrer Familie oder auch bei den Nachbarn alle Gänsefedern zu sammeln, die sie finden konnten, und sie in kleine Körbe zu packen. Die Kinder hatten sich danach alle vor dem Harrass´schen Haus versammelt und drängten jetzt mit ihren eingesammelten Schätzen die Treppe hoch. Ganz Neugierige versuchten Anna dabei über die Schulter in die Werkstatt zu schauen. Dabei klangen sie mit ihrem Geschnatter fast ein bisschen so wie die Tiere, denen sie gerade ihre Federn genommen hatten. Ein kleines Mädchen mitten in der Schar musste gerade fürchterlich husten, so dass die Federn aus dem Körbchen geblasen wurden. Dabei rempelte die Kleine gleich noch zwei Buben mit ihren Körbchen an, die auch schon bedrohlich in Schieflage gerieten und so aussahen, als würde bald eine ganze fedrige Wolke im Raum tanzen.
Bei diesem Anblick konnte auch Vater Harrass seinem Töchterchen einfach nicht mehr böse sein und musste selbst lachen. Schließlich hatte ihm die Kleine eine Freude machen wollen und dabei auch schon erstaunlichen Sachverstand bewiesen. Gänsekiele brauchte er tatsächlich bei seiner Arbeit. „So, jetzt stellt euch aber mal ordentlich alle in eine Reihe“, rief er. „Johann, hol doch einmal einen großen Leinenbeutel oben bei Mutter aus der Küche. Da könnt ihr die Federn dann alle hineintun, und ich stelle den Beutel hier in die Werkstatt.“ Der junge Mann, der seinem Vater sehr ähnlich sah und auch den gleichen Vornamen hatte, hatte gerade noch hinten in der Werkstatt kleine Klötzchen zurechtgesägt. Nun lief er schnell auf der schmalen Treppe hoch in die Küche, aus der es ganz verführerisch nach gebratenem Fleisch duftete.
Schnell kam er mit einem großen Beutel zurück, und alle Kinder leerten vorsichtig den Inhalt ihrer Körbchen hinein. „Da seid ihr aber wirklich sehr fleißig gewesen“, lobte Harrass. „Anna hat gesagt, wir sollen so viele Federn sammeln, wie wir finden können“, rief Sebastian, der Anführer der Gruppe. Anna war nun doch sehr stolz. „Ich habe versucht, unserem Gänserich eine schöne große Feder auszureißen, weil bei uns so wenige auf dem Boden lagen“, verkündete Sebastian. „Aber der ist auf mich losgegangen und hat so fürchterlich gezischt, dass es lieber nicht gemacht habe.“ „Das war sicher weise“, lachte Annas Vater. „Wir wollen ja schließlich Federn und keine Verletzten. Wisst ihr überhaupt, wofür ich die Federn brauche?“ „Die brauchst du, damit das Simbello später Töne macht“, rief Sebastian, der durch Wissen glänzen wollte, wenn er schon bei seinem Gänserich keinen Erfolg gehabt hatte. „Das heißt Cembalo, nicht Simbello, du Dummkopf“, lachte der junge Johann. „Na ja, ist doch auch ein ganz schön schwieriges Wort“, verteidigte sich Sebastian und dachte, dass an diesem Tag für ihn alles schiefging.
„Aber Sebastian hat es schon richtig erklärt“, tröstete der Vater. „Man könnte für die Klänge auch Wildschweinborsten nehmen. Aber ich wage mir lieber nicht vorzustellen, wie die Wildschweine auf euch losgehen würden, wenn ihr versuchen würdet, denen die Borsten auszureißen. Es reicht schon, wenn jetzt womöglich die Gänse im Ort frieren müssen, weil ihr denen so viele Federn weggenommen habt.“
Die Kinder gaben die Federn alle bei Johann ab und nahmen ihre Körbchen wieder an sich. Sie wollten gerade wieder gehen, als sie von oben Mutter Harrass rufen hörten: „Ihr bekommt noch eine kleine Belohnung, kommt immer zu zweit, sonst wird es hier zu voll.“ Aus einem großen Topf duftete es verführerisch. „Der Herr Bach, der das Cembalo in Auftrag gegeben hat, hat uns gleich schon einen Vorschuss dagelassen. Da habe ich Magdalena gleich losgeschickt, um ein schönes Stück Fleisch zu holen. Davon bekommt ihr jetzt alle ein Stückchen ab.“ Die Kinder legten das Festmahl begeistert in ihr Körbchen. Sie wussten aus eigener Erfahrung, dass es bei den Handwerkerfamilien oft karg zuging, wenn es gerade keine oder nur ganz kleine Aufträge gab. Ein Stück Fleisch war da schon etwas ganz Besonderes. Nun würden in ganz Großbreitenbach abends auf alle Fälle die Familienväter sehr gute Laune haben. Wenn die Kinder ihren Anteil zu Hause abgaben, würde zuerst der Familienvater einen großen Teil abbekommen. Aber schließlich ließ sich aus einem Stück Fleisch auch noch eine gute Brühe machen. Da hatte die ganze Familie wahrscheinlich auch noch am nächsten Tag etwas Besonderes zu essen.
„Das war ein richtig guter Einfall von dir“, lobte Johann Heinrich seine Frau. „Heute werden sie uns überall im Ort dankbar sein.“ Endlich hatten sich alle Kinder wieder auf den Heimweg gemacht, bevor es stockdunkel wurde. Sogar Anna war jetzt froh um die Ruhe im Haus, denn jetzt bekam endlich auch die Familie ihr Stückchen Fleisch ab. „Na ja, ich habe gedacht, es werden sicher viele neidisch sein, weil du so einen großen Auftrag bekommen hast. Und so haben wir ihnen wenigstens etwas von unserem Vorschuss abgegeben.“ „Übrigens glaube ich, eine Cousine von mir kennt die Familie dieses Herrn Bach. Da gibt es viele Musiker in Gehren, dem Nachbarort von Möhrenbach unten, bevor man zu uns auf den Berg hochgeht. Bachs Onkel ist, glaube ich, Organist an der großen Kirche dort“, berichtete Mutter Marie. „Vielleicht hat der Herr Bach auch von unseren Verwandten gehört, dass Johann Heinrich gute Instrumente bauen kann“, überlegte Annas große Schwester Magdalena. Die hatte, was typisch für sie war, bis jetzt noch gar nichts zu der Unterhaltung beigesteuert. Wie ihr Vater sprach sie nicht viel. Vom Äußeren her konnte man gar nicht recht glauben, dass die Sechzehnjährige zur Familie gehörte. Während alle anderen blonde oder zumindest dunkelblonde Haare und helle Augen hatten, war Magdalena dunkelhaarig und hatte auch dunkelbraune Augen. „Du bist wahrscheinlich vom Zigeunerwagen gefallen“, neckte Johann oft seine nur um zwei Jahre jüngere Schwester. Doch wenn man von draußen die Stimmen im Haus hörte, wusste man nicht recht, ob jetzt Magdalena oder ihre Mutter sprach, so ähnlich waren sich ihre Stimmen. Wesensmäßig glich sie sehr ihrem Vater, mit dem sie auch ihre Leidenschaft für geometrische Zeichnungen teilte. Für die praktischen Seiten des Cembalobaus interessierte sie sich nicht sonderlich- das war die Aufgabe ihres Bruders – aber wenn es darum ging, Umrisszeichnungen für die Gestalt und die Maße der einzelnen Bauteile eines Cembalos anzufertigen, war sie ihrem Vater eine große Hilfe. Eigentlich gehörte es sich nicht für ein Mädchen, sich mit handwerklichen Arbeiten zu beschäftigen, das war schließlich Männersache. Dennoch bat Johann Heinrich Harrass oft seine große Tochter um ihre Meinung. „Was wir hier im Haus machen, geht schließlich niemanden etwas an“, sagte er, wenn Magdalena einmal wieder mit freier Hand ohne Hilfsmittel die Umrisse eines Instrumentes auf dem zugeschnittenen Holz aus den umliegenden Wäldern perfekt aufgezeichnet hatte.
Magdalena war auch die Einzige in der Familie, die selbst mehr auf einem Cembalo spielen konnte als nur die Töne, die es brauchte, um das Instrument genau stimmen zu können und die verschiedenen Klangfarben zu überprüfen. Wie alle anderen Familien am Ort ging die Familie Harrass jeden Sonntag in den Gottesdienst in der schönen, erst vor wenigen Jahren eingeweihten großen Trinitatiskirche. Dem Organisten dort war aufgefallen, wie schön Magdalena singen konnte. Er hatte dann angeboten, ihr die Grundlagen des Tasteninstrumenten-Spiels beizubringen. So schlich Magdalena abends, wenn zu Hause alle Arbeiten erledigt waren, mit der kleinen Anna an der Hand in die Kirche zum Unterricht. In einer Zeit, als gerade mal wieder keine Aufträge hereinkamen, hatten Johann Heinrich und sein Sohn ihr ein kleines Spinett gebaut. Manchmal spielte Magdalena jetzt zur Unterhaltung für die Familie kleine Lieder. Anna lernte ebenfalls sehr schnell und dachte sich immer wieder selbst kleine Tanzmelodien aus, die sie zum Stolz ihres Vaters – der das jedoch nie offen zugegeben hätte – ab und zu vortrug. Für den Vater hatte die musikalische Tätigkeit seiner Töchter den unbestreitbaren Vorteil, dass sie die Klangqualitäten eines neuen Instrumentes durch ihr eigenes Spiel sehr gut beurteilen konnten. Als Belohnung durften die beiden natürlich kleine Konzerte auf den großen Auftrags-Instrumenten spielen. Oft allerdings mit dem Resultat, dass sie sich gar nicht von dem schönen Instrument trennen wollten. Trotzdem sahen sie natürlich ein, dass die Familie vom Verkauf der Cembali lebte. Die Kunden waren jedenfalls regelmäßig von der Klangschönheit der Harrass´ schen Instrumente begeistert.
Die dünnen Holzbretter für den Deckel, die Seitenteile und den Resonanzboden musste immer erst einmal mindestens fünf Jahre präzise aufrecht im hinteren Raum der Werkstatt lagern, bevor es nach der Verarbeitung seine Form beibehalten würde. Das war genauso wichtig wie bei den Geigen, die zur gleichen Zeit am Fuße der Alpen in Mittenwald angefertigt wurden. Bei beiden mussten die Saiten immer mit einer gleichbleibenden Spannung befestigt werden, damit sich das Instrument nicht über die Maßen verstimmte. Wie bei Geigen waren auch die Stahlsaiten unverzichtbare Bestandteile des Instrumentenbaus. Die Metallschnüre dafür warteten, auf große Holzwalzen gewickelt, ebenfalls hinten auf ihre Weiterverarbeitung.
Anna wollte überhaupt nicht einsehen, dass sie später nicht das Handwerk ihres Vaters übernehmen konnte. Mehr als einmal verkündete sie kämpferisch: „Wenn ich erst so alt bin wie Magdalena, gehe ich auch bei Vater in die Lehre“. Und mehr als einmal wünschte sich ihr Vater, sie wäre ein Junge. Drei Söhne waren der Familie noch im Kleinkinderalter gestorben. Obwohl sie nie über ihre Trauer über die verlorenen Kinder sprachen, merkte man doch der Familie an, wie glücklich sie über ihre lebensfrohe, quicklebendige Jüngste waren. Denn sie würde – da war der Vater und insgeheim auch die Mutter überzeugt – eine bessere Nachfolgerin sein als der junge Johann. Der war sich der Verantwortung als ältester Sohn sehr bewusst, und er war ein fleißiger und geschickter Handwerker, was das Tischlern und Drechseln anging. Jedoch fehlte ihm ein wenig Magdalenas Auge für die große Form und ihre Experimentierfreude. Mit dem kleinen Wirbelwind Anna konnte er es mit seiner ruhigen Art schon gar nicht aufnehmen.
Als alle sich so richtig sattgegessen hatten und in der Runde um den Tisch saßen, richtete sich Vater Johann Heinrich auf und sagte: „Ich muss euch etwas Wichtiges sagen, das besonders meinen Sohn Johann betrifft.“ Johann schaute seinen Vater fragend und auch ein wenig ängstlich an, denn wenn er ehrlich war, hatte er Angst vor Veränderungen.
„Herr Bach hat mir gesagt, dass er ein Cembalo haben möchte, wie es die Instrumentenbauer in Norddeutschland fertigen. Er ist erst vor kürzerem dort gewesen, um beim berühmten Organisten Dietrich Buxtehude zu studieren. Bei der Gelegenheit hat er sich auch in Hamburg die Cembali der dortigen Handwerker angesehen und war von ihrem Klang ganz begeistert“, berichtete der Vater. „Er hat sich natürlich auch die dortige Bauweise erklären lassen. Allerdings war er sich damals noch nicht ganz sicher, ob er seine vorläufige Stelle in Arnstadt bekommen würde und Geld für ein solch teures Instrument haben würde. Nun hat er die Stelle fest bekommen und braucht für die Aufführung seiner Kompositionen am Hof dort ein Cembalo. Wie ihr wisst, habe ich die Ehre, es für ihn bauen zu dürfen. Nun brauche ich aber noch Konstruktionspläne aus Hamburg.
Bach hat damals schon nachgefragt, der Kollege dort ist einverstanden, sie mir zu geben. Abholen müsste ich sie aber selbst, denn er ist schon älter und hat erst sehr spät seine junge Frau geheiratet. Er hat zwar einen Sohn in Johanns Alter und sogar noch einen Gesellen. Aber die kann er nicht entbehren, weil er nicht mehr alle Arbeiten selbst ausführen kann. Außerdem ist es eine große bekannte Werkstatt, und die haben immer mehrere Aufträge auf einmal.“
Johann konnte sich nun schon denken, was kommen würde. Sicher würde ihm gleich sein Vater sagen, er müsse nach Hamburg gehen, um sich dort beim Cembalobauer alles genau anzusehen und die Konstruktionspläne mit zurückzubringen. Sein Herz wurde schwer, denn seit kurzem war er heimlich mit der Tochter des Müllers aus einem Nachbarort verlobt, bei dem er immer das Öl für die Behandlung des Holzes für die Instrumente holte. Eigentlich hatte er gerade heute Abend seinen Eltern von seinen Heiratsplänen erzählen wollen. Aber daran war nun überhaupt nicht mehr zu denken. Außerdem war ihm jetzt schon klar, dass er seine geliebte Sophie eine ganze Weile lang nicht sehen würde. Wer weiß, ob er überhaupt heil von einer solch gefährlichen Reise zurückkommen würde?
Magdalena, die neben ihm saß, hatte indessen ihre ganz eigenen Geheimnisse. Sie schaute lieber nicht auf, denn sie fürchtete, man würde ihren leuchtenden Augen sofort ansehen können, wie gern sie nach Hamburg gehen würde, um dort die Baupläne abzuzeichnen. Ich könnte das sicher gut, dachte sie. Außerdem würde sie in der fernen großen Stadt noch ganz andere Anregungen bekommen. Als junge Frau durfte sie nie offiziell in der Werkstatt des Vaters mithelfen. Deshalb hatte sie ihr gutes Auge für Formen auf eine typisch weibliche Art umgesetzt, gegen die niemand etwas haben konnte. Sie hütete wie einen Schatz ein altes Schulheft von Johann, in dem ein paar Seiten frei geblieben waren. Obwohl Papier knapp war, hatte sie es geschafft, das Heft nach Johanns Schulabschluss an sich zu bringen, so dass niemand davon wusste. Dort zeichnete sie heimlich Schnittmuster-Entwürfe für Kleidungsstücke und Stickmuster für deren Verzierung auf.
Zunächst hatte sie Blusen und Röcke für die kleine Anna entworfen, die Kleider hasste und am liebsten in einem Arbeitskittel und Hosen herumgelaufen wäre, wie das ihr Vater und Johann taten. Aber das kam natürlich nicht in Frage. Deshalb entwarf Magdalena Kleidung für ihre geliebte kleine Schwester, die gerade noch den Anforderungen an Mädchenkleidung genügte und Anna trotzdem gefiel. Die Mutter war immer ganz stolz, wenn sie Magdalena abends beim Nähen und Sticken zusah. Inzwischen hatte es sich im Ort herumgesprochen, dass man bei Familie Harrass nicht nur Instrumente, sondern auch schöne Kleidung in Auftrag geben konnte, die sonst keiner so hatte. Natürlich konnten sich das die Bewohner des kleinen thüringischen Ortes nur selten leisten. Aber Magdalena konnte auch Alltagskleidung mit ein paar Kniffen so abändern, dass Kleidungsstücke fast wie neu wirkten. Trotz ihrer jungen Jahre konnte sie so die Familienkasse stetig aufbessern, denn solche Aufträge kamen viel regelmäßiger herein als Anfragen wegen eines neuen Instrumentes.
Magdalena hatte noch einen anderen Grund, sich weit weg zu wünschen. Immer öfter kam Tobias, der Sohn eines Instrumentenbauers aus dem Dorf, bei Familie Harrass vorbei. Er fand immer wieder Gründe, Magdalena zu sehen. Die war von dessen Aufmerksamkeiten allerdings wenig begeistert. Sie konnte ihn einfach nicht leiden und seine zänkische Mutter noch weniger. Sie wagte nicht an eine Zeit zu denken, in der sie mit dieser Frau unter einem Dach leben müsste. Ihr Vater wäre von einer solchen Verbindung ganz begeistert gewesen, denn Tobias´ Vater baute zwar nicht so hochwertige Instrumente, dafür aber preisgünstigere, die er schneller fertig stellte. Bei ihm kamen öfter Aufträge ins Haus als bei der Werkstatt von Harrass, deshalb war die Familie finanziell auch um einiges besser gestellt.
Die Mutter wusste zwar nichts von der Verlobung ihres Ältesten, aber sie kannte und liebte ihre Kinder und konnte sich sehr gut vorstellen, was gerade in den beiden vorging. Wenn Magdalena nur kein Mädchen wäre! Sie würde sich mit Begeisterung auf die Reise machen und von dort wichtige Erkenntnisse für ihr eigenes Leben mitbringen, nicht nur eine unliebsame Pflichtreise für den Vater erfüllen, die sie von sich aus nie gemacht hätte.
Anna, geradeaus wie immer und mit der Unbefangenheit ihrer jungen Jahre, stellte die Frage, die ihre großen Geschwister sicher nicht stellen wollten. „Vater, dürfen wir jetzt alle nach Hamburg reisen und uns die Stadt anschauen?“
Johann Heinrich schaute wehmütig vor sich hin und sagte: „Ach Kind, du kannst mir glauben, es gibt nichts, was ich lieber täte! Ich wünsche mir so sehr, auch einmal etwas von der Welt sehen zu können Mein Vater ist ja schon so früh gestorben. Ich hatte gar keine Wahl, als Ältester musste ich die Werkstatt übernehmen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe meinen Beruf, aber ich hätte so gern einmal Anregungen von woanders bekommen.“
„Anna, so eine weite Reise könnten wir uns gar nicht leisten. Außerdem muss doch immer jemand in der Werkstatt sein, wenn Nachfragen kommen. Und die Gänse und die Hühner brauchen schließlich auch ihr Futter. Dafür darfst du heute etwas länger aufbleiben und uns Erwachsenen zuhören.“
„Die Mutter hat es ja schon gesagt.“ Johann Heinrich sah seine Frau liebevoll an. „Sie denkt immer so praktisch. Ohne sie wäre ich mit meiner Werkstatt sicher schon lange pleite. Nein, wir können nur einen von uns nach Hamburg schicken. Das wird natürlich Johann sein. Ich beneide dich so sehr, mein Sohn. Wie gern würde ich mitkommen. Aber ich muss hier schon mit der Arbeit für den Herrn Bach beginnen. Ich weiß, du wirst mich in Hamburg hervorragend vertreten.“
Vater Harrass konnte zwar sehr streng sein, aber seine Kinder wussten, wie sehr er sie im Grunde alle liebte. Deshalb antwortete Johann ganz offen. „Vater und Mutter, ihr kennt mich gut. Sicher könnt ihr euch vorstellen, dass ich nicht gern von hier weggehe. Meine Heimat ist hier in Großbreitenbach, ich gehöre in diese Familie, die ich liebe. Aber natürlich kenne ich meine Pflichten und werde den Auftrag so gut ich es irgend vermag erfüllen.“
„Wir wissen, was wir dir damit zumuten“, wandte der Vater sich an seinen Sohn. „Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lassen würdest. Und bedenke- du wirst nur für einige Wochen weg sein, und du kommst nicht zu ganz fremden Leuten. Der Herr Bach hat versprochen, an den Clavierbauer in Hamburg zu schreiben, dass du kommst. Er sagte, die Familie sei sehr freundlich. Er kennt sie ja schließlich schon. Bach kann übrigens nicht selbst noch einmal nach Hamburg reisen. Das wäre ja am einfachsten gewesen. Aber er hat schon beim letzten Mal viel länger Urlaub genommen, als er das eigentlich durfte. Um ein Haar hätte er seine Stelle verloren. Der muss jetzt brav in Arnstadt seinen Dienst verrichten.“
„Sieh es doch mal so, Johann, eigentlich ist es eine Ehre, dass du bis nach Hamburg reisen darfst. Die anderen in Großbreitenbach werden sicher schon ganz neidisch sein. Ich habe mir übrigens überlegt, dass du mit einem unserer Buckelapotheker mitreisen könntest. Von denen geht sicher in nächster Zeit mal einer in Richtung Norden. Morgen auf dem Markt treffe ich sicher eine ihrer Frauen, die frage ich gleich“, meinte die Mutter. „Und jetzt auf ins Bett, alle miteinander, wir haben viel vor in nächster Zeit!“