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Die Anreise

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Abiturjahrgang 1977. Vierzehn Mädchen, die teils blasiert, teils entgegenkommend in die Kamera blicken. Der Fotograf hat sie auf die Stufen postiert, die zur Turnhalle führen, eigentlich müßten es fünfzehn sein: Aber eine fehlt. Isabella Niemann hat die Schule abgebrochen. Nur ein paar Monate vor dem Abitur ist sie nach Berlin abgehauen, Susanne Karcher steht irgendwo vorn in der ersten Reihe.

Die anderen halten etwas Abstand zu ihr, oder ist das Einbildung? Susannes linker Fuß ist leicht einwärts gedreht, so daß die Zehen auf den Spann des anderen Fußes deuten wie bei einem kleinen Mädchen.Hör doch auf, Susanne! hat Isa gesagt. Wieso muß ich mich irgendwelchen Dingen stellen, bloß weil es sie gibt? Das Leben kann doch nicht sein wie einer dieser gräßlichen Kindergeburtstage, wo die Mama eine Spieleliste vorbereitet hat, und die wird jetzt abgearbeitet. Antreten zum Topfschlagen! Wer nicht will, ist ein Spielverderber. Und man steht da und “will nicht topfschlagen, und man will auch keinen anderen sinnvollen Vorschlag machen, an dem alle Spaß haben, sondern man will sich ganz allein raus in den Garten schleichen und heimlich über die Mauer türmen! Isa ist getürmt. Susanne blickt in die Kamera. Ihr Mund lächelt, mit fest geschlossenen Lippen, Irmgard Bauer lächelt nicht. Sie steht ganz außen in der hintersten Reihe. Sie hat den Kragen ihrer Lederjacke hochgeschlagen, ihr Blick geht knapp am Fotografen vorbei: schräg nach nirgendwohin. Als wäre außer ihr niemand da.

Susanne Karcher sitzt übrigens im Zug. ICE Hamburg-München, Großraumwagen. Raucher, Susanne raucht. Sie muß wirklich mit der Qualmerei aufhören! Aber jetzt ist auch nicht der richtige Moment dafür. Das ist das Ekelhafte bei Angewohnheiten: Es gibt keinen richtigen Moment zum Aufhören. Solange man unvernünftig ist, erscheint einem das Vernünftige wie eine Strafe.

Das denkt Susanne, während der Zug sie immer weiter von ihrer Nordseeinsel wegbringt. Susanne ist auf dem Weg in ihre Heimatstadt, wo morgen abend ein Klassentreffen stattfinden soll. Ein Jubiläum: fünfzehn Jahre Abitur. Susanne hat eigentlich keine besondere Lust, aber sie fährt trotzdem. Warum? Susanne war viele Jahre lang nicht mehr in ihrer Heimatstadt. In dem verfluchten Nest an der Ostgrenze, wie Isabella und Irmgard zu sagen pflegten, es gibt das Nest gar nicht mehr! Die Ostgrenze gibt es nicht mehr, also kann es auch die Stadt nicht mehr geben, die von ihr definiert wurde: Aber wohin fährt Susanne dann überhaupt? Susanne sieht aus dem Fenster. Draußen rattert die Norddeutsche Tiefebene vorbei. Sprühregen, feuchtes Grün, ein paar Pferde auf einer Koppel. Ein Fahrradfahrer in einem weiten gelben Regencape, das der Wind zu einem Pilz bauscht. Zu einem gelben Pilz aus Maries Kramkiste, mit Rädern dran zum Hinterherziehen, Susanne hat Glück gehabt: Sie hat einen Einzelplatz ergattert, obwohl der Zug überfüllt ist. Es ist Ferienzeit, lauter Familien sind unterwegs. Von irgendwoher riecht es nach Leberwurst. Auch Susanne kriegt allmählich Hunger. Sie packt ihr Mittagessen aus: Bio-Vollkornbrot, Naturjoghurt mit rechtsdrehender Milchsäure, natürlich erwägt sie nicht, sich etwas von dem Wägelchen zu besorgen, mit dem sich ein älterer Mann gerade wieder durch den von Reisetaschen, Aktenmappen, Kleinkindern verstopften Mittelgang quält.

Pappbrötchen, Staubkuchen, zermalmte Tierabfälle in Darm? Susanne ist etwas heikel, was das Essen betrifft, das war sie schon immer. Oder jedenfalls seit der Geburt ihrer Tochter, und das ist so gut wie immer: Marie ist im letzten Herbst sechs geworden, und an ein Leben, in dem Susanne nicht Maries Mutter war, kann sich Susanne kaum mehr erinnern. Natürlich muß es das gegeben haben. Immerhin hat es Susanne 28 Jahre lang gegeben, bevor es Marie gab, aber das war eine andere Susanne. Eine, an die Maries Mutter nicht gerne denkt.

Susanne lehnt sich zurück. Sie überlegt, ob sie dem Mann mit dem Wägelchen nicht wenigstens einen Kaffee abkaufen sollte. Er ist so offensichtlich entschlossen, sich von seinem Job nicht unterkriegen zu lassen, Susanne neigt dazu, Leuten etwas abzukaufen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen: fliegenden Händlern, obdachlosen Zeitungsverkäufern, vorbestraften Hausierern, sie weiß, daß sie nicht viel ausrichtet mit dem Erwerb einer überteuerten Seife, eines krude geschnitzten Holzpferdchens! Sie weiß, ihre milden Gaben werden die Welt nicht retten, es ist das System, das sich ändern müßte. Susanne denkt manchmal noch in solchen Begriffen: das System. Dennoch stapeln sich in ihrem Keller Postkarten aus Behindertenwerkstätten. Fensterleder, Wurzelbürsten. An der Tür abonnierte, nie gelesene Zeitschriften.

Das ist schon in Ordnung, sagt Scribbo zu ihr. Zumindest schadest du damit keinem. Scribbo ist auch so eine Angewohnheit, die Susanne hat. Allerdings eine nützliche. Es gibt ja durchaus nützliche Angewohnheiten, Zähneputzen zum Beispiel, und Scribbo kann schreiben. Scribbo ist ein mageres und potthäßliches Ding, mit Maushaaren und schlechtgeschnittener Kleidung, aber schreiben kann Scribbo, über alles und jedes. Susanne kann nicht schreiben. Das heißt, natürlich kann sie schreiben, sie hat an der Uni sogar sehr gute Seminararbeiten und Abhandlungen geschrieben, und sie hat das Staatsexamen gemacht, aber sie kann nicht über Leute schreiben oder über etwas, was sie sich ausgedacht hat, oder über sich selber. Sie würde es furchtbar gern können! Aber sie kann noch nicht einmal über sich nachdenken: zumindest nicht in der ersten Person. Vielleicht liegt es daran, daß sie sich zu lange bemüht hat, schön zu werden. Wirklich und wahrhaftig schön, so wie Isa.Vielleicht liegt es auch an etwas anderem, jedenfalls kommt Susanne sich selbst nie unter die Oberfläche. Sie geht sich nie unter die eigene unvollkommene Haut. Dazu ist eben Scribbo da. Scribbo denkt über Susanne nach, über Susannes Leben. In der dritten Person. Susanne Karcher saß im Zug und aß einen Naturjoghurt denkt Scribbo für Susanne, während draußen die Norddeutsche Tiefebene vorbeiratterte: dritte Person, und Imperfekt. Manchmal redet Scribbo Susanne auch in der zweiten Person an. Da hast du ja wieder eine Scheiße verzapft! sagt Scribbo. Verdammt, hättest du nicht besser aufpassen können? Zum Teufel noch mal, du müßtest doch langsam wissen, wie Jens reagiert, wenn du dich so aufführst!

Und dann, während Susanne erschöpft das Gesicht wegdreht, es hinter ihren Händen verbirgt, damit Jens nicht sieht, daß sie mit Tränen kämpft, dann sagt Scribbo: Sie verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

Theatralischer Schwachsinn. Kitsch! So etwas läßt Susanne Scribbo natürlich nicht durchgehen. Scribbo neigt zum Ausufern, und deshalb kommt es Susanne zu, Scribbos Texte zu redigieren. Also, sagt sie scharf, so geht es nicht, Scribbo, das siehst du doch ein! Aufsteigende Tränen, wirklich, ich bitte dich. Hör zu, wie wäre das? Sie verbot sich das Losheulen, niemand mußte voll Zorn bei ihr bleiben, bloß weil sie litt. Sie stand auf und verließ den Raum. Besser, das mußt du zugeben, Scribbo, oder? Und dann nimmt Susanne die Hände vom Gesicht, verbietet sich das Losheulen, steht auf und verläßt den Raum. In dem Jens immer noch am Fenster steht, mit dem Rücken zu ihr.

Oder so war es, früher. Heute käme Susanne natürlich nicht mehr auf die Idee, wegen Jens zu heulen. Jens lebt nicht auf Susannes stürmischer Nordseeinsel und schon gar nicht mit Susanne und Marie und Maries Katzen und Kaninchen und Meerschweinchen in Susannes baufälliger Kate, sondern in einer aufgeräumten, etwas kargen Dreizimmerwohnung in Hamburg. Das sagt Jens: Deine baufällige Kate! Dabei brauchte das Häuschen lediglich einen neuen Anstrich. Wenn Susanne Jens besucht, ist sie immer verblüfft darüber, wie aufgeräumt Jens’ Wohnung ist. Was ist nur aus all seinen Socken, Hemden, Kaffeetassen, Lilapause-Papierchen, Zeitschriften geworden? Verkriechen sie sich schnell in den Schubladen, bevor Susanne kommt, damit keiner sie wäscht oder wegschmeißt? Aber Jens hat natürlich eine Putzfrau, die allmorgendlich hinter ihm herräumt, er hat Karriere gemacht in einer Computerfirma. Und er hat Katrin, seine Freundin, die so nett ist, daß Susanne sich gelegentlich fragt, warum Katrin Jens freiwillig erträgt.

Aber Susanne hat Jens ja auch ertragen, fast sechs Jahre lang. Susanne und Jens sind seit vier Jahren getrennt, gelegentlich fragt man Susanne, ob ihr nicht irgend etwas fehlt in ihrem Leben. Meistens stellt sie sich dumm: Was soll ihr fehlen? Sie hat ihr Kind, ihren Beruf, ihren Garten, sie engagiert sich für den Nationalpark Wattenmeer. Sie hat Haustiere, Freunde! Aber was die Leute meinen, ist etwas anderes. Sie meinen, ob Susanne ein Mann fehlt. Fehlt dir nicht was, zum Beispiel die Beulenpest? Susanne reicht es schon völlig, mit Jens zu streiten. Jens und Susanne können noch immer miteinander streiten, auch nach Jahren der Trennung. Das liegt daran, daß es Marie gibt. Wegen Marie sind sie einander noch immer nicht fern genug, um dauerhaft Frieden zu halten, was ist Jens für einer? Scribbo zuckt die Achseln: Ein Mann wie jeder Mann, harmlos.

Harmlos? sagt Susanne. Harmlos!

Scribbo nickt und sagt, Ja, bedauerlicherweise. Auch wenn er gemein werden kann oder zum Herumbrüllen neigt oder damals die Fernbedienung nach dir geworfen hat. Ich finde, dies wäre eine prima Inschrift für Jens’ Grabstein: Hier ruht Jens Appel. Er war harmlos, wenn er nicht gerade gewalttätig war.

Scribbo kann auch über Jens ganz wunderbar nachdenken. Viel besser als Susanne selbst! Das liegt vielleicht daran, daß Scribbo weder weiblich noch männlich ist, oder möglicherweise beides, und deswegen begreift Scribbo Dinge, die eine Frau allein nicht verstehen würde. Und ein Mann schon gar nicht, das sagt jedenfalls Scribbo.

Dennoch fragt sich Susanne, was das mit Jens’ Grabstein jetzt soll. Nach menschlichem Ermessen braucht Jens vorerst keinen Grabstein. Er war erst vor ein paar Tagen bei Susanne und wirkte ausgesprochen lebendig.

Er war da, um Marie abzuholen. Marie wird die ganzen Sommerferien bei ihrem Vater verbringen. Marie wird mit Jens in den Zoo gehen, ins Schwimmbad, zu McDonald’s. Sie wollen sogar eine Woche nach Italien fahren: Jens, Katrin und Marie, alle zusammen, wie eine richtige Familie. Das hat Jens gesagt. Marie hat nicht zugestimmt, nicht vor Susanne, dafür ist sie zu taktvoll. Aber sie freut sich, Susanne kann es ihr ansehen. Susanne freut sich auch, für Marie. Susanne weiß, wie es ist, keinen Vater zu haben: Ihr eigener Vater ist tödlich verunglückt, als Susanne zwei war. Sie erinnert sich nicht an ihn. Aber sie weiß, daß sie sich als Kind jeden Abend vor dem Einschlafen vorgestellt hat, er wäre noch am Leben, und eines Tages würde er kommen und Susanne zu sich holen. Eines Tages würde es klingeln, und Susannes Vater steht vor der Tür. Mein liebes kleines Mädchen! sagt er, während er Susanne in die Arme schließt, mein über alles geliebtes Kind! Jetzt bleibst du bei mir, für immer. Dann ist Susanne endlich zu Hause. Dann ist sie angekommen, und alles wird ein gutes Ende genommen haben, dergleichen Qualen bleiben Marie erspart. Marie hat Jens, was fällt es da ins Gewicht, daß Susanne ihre Tochter vermissen wird?

Obgleich, vermissen ist nicht das richtige Wort. Es ist eher so, daß Susanne niemals allein ist, seit es Marie gibt. Seit Marie anfing, in Susannes Bauch zu wachsen, ein Klümpchen Froschlaich, ein Kaulquäppchen, ein Lurch, ein Schatten auf den Ultraschallbildern, eine kleine Außerirdische, die Susanne zuwinkte, schließlich ein Kind mit feuerroten verklebten Haaren und tiefblauen Neugebore -nenaugen und dicken violetten Striemen quer über das Gesicht von der Zange, die Marie aus Susannes Bauch herausgezogen hatte. Händchen, die sich bewegten wie etwas auf einem Korallenriff. Seeanemonen vielleicht, in einer unsichtbaren Strömung. Sternenkind. Meermädchen. Wenn Marie nicht da ist, ist Maries Abwesenheit da, ebenso fordernd, ebenso gegenwärtig wie sonst Marie. Es ist eine Art seelischer Nabelschnur. Eine Icherweiterung, Kinder sind Icherweiterungen, das hat Susanne irgendwo gelesen.

Dennoch, Marie ist bei Jens und Katrin gut aufgehoben. Und deswegen sollte auch Susanne ihre Ferien genießen, schließlich hat sie jetzt sieben Wochen lang Zeit, fur sich ganz allein. Sieben Wochen! Das ist das Schöne an ihrem Beruf, die Ferien. So sagen die Leute, die Susanne um ihre Ferien beneiden. Susanne ist Lehrerin an einem Gymnasium, für Deutsch und Englisch. Sie bringt ihren Schülerinnen und Schülern eine Fremdsprache bei, sie erklärt ihnen, wie man Texte entschlüsselt. Wie man Texte verfaßt, Aufsätze schreibt. Scribbo findet das sehr amüsant: Ausgerechnet Susanne zeigt anderen Leuten, wie man Texte verfaßt! Zur Zeit ist Susanne allerdings müde. Sie sieht müde aus, hat Jens gesagt: fürsorglich, wie er sich gern gibt, wenn Marie dabeisteht und zuhört. Sie soll sich gut erholen in ihren Ferien. Sie soll die Zeit nutzen, um ihren Kummer zu überwinden, schon Marie zuliebe. Immerhin war der alte Mann über achtzig! Sein Ende läßt sich kaum als ein vorzeitiges bezeichnen.

Jens hat natürlich recht. Wem nützt Susannes Trauer? Alte Männer sterben. Susannes Großvater war ein alter Mann, es ist also alles normal. Ein alter, magerer Mann mit fettigdünnen, eisenfarbenen Haarsträhnen, die sich weigerten, elegant weiß zu werden, er hockte auf einem Dünenkamm, das Gewicht auf den Fersen wie ein alter Afghane, blickte mit dem Fernglas übers Wasser und rieb sich den trockenen Krebs am Kinn, der ihn nicht scherte und an dem er nicht gestorben ist. Nicht doch, Suschen, reg dich nicht auf, das ist nur mein Krebs. Die gemächliche Stimme, der ostpreußische Singsang.

Das ist mein Krebs, der tut nichts. Der ist viel zu langsam.

Es klang, als spräche er von einem Schalentier. Einem zahmen Schalentier, bizarr, aber harmlos, das er aus einem Priel gefischt und in einer Plastiktüte nach Hause getragen hatte. Das nun in einem Aquarium lebte, und Susanne konnte es ansehen, es gelegentlich mit der Hand füttern wie früher die Molche und Frösche. Wie die Eidechsen und Kröten, die Tauben und Falken, die Wachteln Zierfische Goldfische Eichhörnchen Kaninchen Meerschweinchen Spitzmäuse Finken, die Goldfasanen und Marder, die sich durch Susannes Kindheitserinnerungen ziehen wie die Figuren einer Papiergirlande. Keine Angst, Suschen, die tun nichts! Aber er hatte recht. Gestorben ist er nicht an seinem Krebs, sondern an einem Aneurysma. Vor zwei Monaten ist das gewesen, ein Blutgefäß im Bauchraum hat sich geöffnet, sein eigenes Blut hat ihn überschwemmt. Ein Gezeitenwechsel: Susanne stellt sich seine Adern als Priele vor, Priele bei Ebbe, dann kam die Flut. Kein Dammbruch, nichts dermaßen Dramatisches, schließlich ist er im Schlaf gestorben.

Er ist allein gestorben, unbemerkt. Am Morgen kommt Susanne in die Küche, und er ist nicht da. Über drei Jahre lang wohnen sie nun schon zusammen, und jeden Morgen macht er das Frühstück, aber heute ist er nicht da. Er steht nicht am Herd. Er schaltet die Kaffeemaschine nicht ein. Er preßt keinen Saft aus Orangen.

Susanne lehnt sich gegen die Kante des Küchentisches. Sie weiß sofort Bescheid. Sie kann ja sehen, was passiert ist: Die Küche ist ein Foto, aus dem der alte Mann herausgeschnitten worden ist. Mit einer Rasierklinge vielleicht oder mit einem sehr scharfen Messer, jedenfalls ist es saubere Arbeit: Der Umriß der Leere ist genau der des alten Mannes. Susanne betrachtet das Foto von ihrer Küche, in dem ein Loch ist. Sie sieht ein Büschel Rosmarin in einem Wasserglas. Sie sieht ein Hackbrett mit ein paar Krümeln. Sie sieht eine dicke weiße Kaffeetasse mit angeschlagenem Rand verkehrt herum in der Spüle stehen. Über die Tasse fährt ein blaues Schiff, verkehrt herum. Susanne blickt durch das Loch in ihrer Küche. Sie sieht den leeren Anzug ihres Vaters, der auf dem Dachboden hängt. Sie sieht ein kleines Mädchen zusammengekrümmt auf einer Dachbodentreppe. Es hat einen Buntstift in der Hand, der Buntstift malt Häuser. Er malt immer wieder dasselbe Haus, bunte Fenster Gardinen Blumen lachende Sonne, während die andere Hand an den Lippen des Kindes zupft, die Haut von den Lippen des Kindes abzieht, bis sie bluten. Damit sie bluten. Sie sieht ein Dielenfenster. Sie sieht eine Kinderhand, die sich vergeblich bemüht, den Klingelknopf zu erreichen, das unbewegte Gesicht der Mutter hinter dem Vorhang des Dielenfensters. Sie sieht das Kind, das sich wieder und wieder nach dem Klingelknopf streckt, den Blick starr auf das Dielenfenster gerichtet, hinter dem die Mutter steht und dem Kind zuschaut und nicht öffnet, solange es nicht klingelt. Sie sieht ein Kind in einem Schuppen, zusammengekrümmt hinter Gartengerät, und einen alten Mann, der den Schuppen betritt. Er trägt ein schwarzes Kaninchen auf dem Arm. Das Fell des Kaninchens ist weich, weich.

Susanne sieht den alten Mann fortgehen. Er geht auf dem Sandweg zwischen den Gärten, gemächlich. Er pfeift tonlos vor sich hin. In der Hand hat er eine Plastiktüte mit Wasserflöhen. Dann ist er verschwunden. Susanne steht vor seiner Zimmertür. Sie öffnet, ohne anzuklopfen. Sie betritt ein leeres Zimmer.

Meister, fragte der Schüler, was ist das größte Wunder auf der Welt? Hyakujo antwortete: Ich sitze hier, ganz für mich allein.

Isa pflegte das zu sagen, früher. Sie hat es auf jedes ihrer Schulhefte geschrieben, Susanne am Inselstrand sieht den Vogelschwärmen zu, die von den Sandbänken auffliegen. Die Ebbe läßt Schaumspuren zurück, die zu gelben Krusten trocknen. Grau und öde, sagt Scribbo. Od und leer das Meer, wieso fährst du nicht in Urlaub, Susanne?

Nach Gran Canaria, nach Bali. Nach Honolulu Kenia Aruba, Susanne hat keine Ahnung, das ist das Problem. Aber es ist auch egal. Kalt vom Regen und von der Nacht, auf der Düne, wo der alte Mann zu hocken pflegte, sieht sie den Sterntauchern zu, die über den Sandbänken durcheinanderwirbeln in wüsten Schwärmen.

Unsinn, sagt Scribbo. Im Sommer gibt es keine Sterntaucher hier.

Das stimmt natürlich. Sterntauchern ist es zu warm an Susannes Strand: obwohl die Insel nicht warm ist, sondern kalt und regnerisch. Die Touristen haben Pullover an und Regenjacken und Gummistiefel, wenn sie über den kleinen Inselfriedhof schlendern und die verwaschenen Inschriften auf den Grabsteinen zu entziffern versuchen, die an der Friedhofsmauer lehnen. Ausstellungsstücke. Erinnerungen an Sturmfluten: Die Große Mannsdränke, das versunkene Rungholt, Seeleute, die ihren Frauen erschienen in Sturmnächten, und die Salzwasserpfutze auf der Türschwelle am anderen Morgen galt sogar den Behörden soviel wie ein Totenschein. Tage später wurden dann Planken angespült, Bootsteile. Ölfarbenreste darauf, kaum zu entziffernde Bootsnamen,

Kommt Isa? hat Susanne Irmgard am Telefon gefragt. Habt ihr auch Isa eingeladen?

Eingeladen ja, hat Irmgard gesagt. Oder Gaby Hirmer hat eine Einladung an Isas Tante geschickt, die wird sie schon weiterleiten. Aber daß Isa kommt, kann ich dir natürlich nicht versprechen. Ich meine, du kennst ja Isa.

Was eigentlich nicht wahr ist.

Susanne steht an Gleis 5 des Würzburger Hauptbahnhofs und wartet auf den Anschlußzug, der sie in ihre Heimatstadt nahe der ehemaligen Ostgrenze bringen soll. Sie findet nicht, daß sie Isa kennt, das bildet sie sich nicht ein. Sie hat Isa seit elf Jahren nicht mehr gesehen: seit jenem Sommermorgen 1981, als Isa, die vorübergehend in Susannes Münchner Studentenbude campierte, mal eben zum Brötchenholen ging. Am nächsten Tag fand Susanne eine Karte in ihrem Briefkasten: Alles klar, mach dir keine Gedanken, bis bald, Isa. Seitdem hat Susanne nie wieder von Isa gehört.

Auch Isa ist inzwischen vierunddreißig. Das ist eine Tatsache, obwohl Susanne sich eine vierunddreißigj ährige Isa schwer vorstellen kann, aber vielleicht fährt Susanne ja deshalb zu diesem Treffen. Vielleicht fährt sie, um ihr Vorstellungsvermögen zu erweitern.

Susanne, an Gleis 5 des Würzburger Hauptbahnhofs, sieht Isa vor der Frittenbude stehen. Isa trägt einen alten Anorak und schwarze Stiefel mit Plateausohlen und schiefgetretenen Absätzen und engergenähte Cordhosen und einen grellgrün-orange gestreiften Pullover aus Kunstfaser. Es ist 1972. Der Radikalenerlaß ist verkündet. An der Ecke beim Coiffeur Haber hat ein Sexshop eröffnet. Baader, Meinhof und Ensslin sind im Gefängnis, Palästinenser haben in München die israelische Olympiamannschaft überfallen, alle Neubauten kriegen ein Flachdach, im Obstladen gibt es zum erstenmal Kiwis, David Bowie hat Silberlidschatten, die meisten anderen Leute auf den Postern in Berners Schallplattenladen sind bereits tot. Isa ist vierzehn. Sie ist gerade erst in Susannes Klasse gekommen. Isas Tante hat in der Gegend ein Haus geerbt, und in dieses Haus ist sie mit Isa eingezogen, in die obere Etage. Die untere ist vermietet, Isas Tante ist arm. Sie ist Malerin, und sie vernachlässigt Isa.

Das sagt Susannes Mutter.

Es ist sträflich, wie die das Kind vernachlässigt! sagt Susannes Mutter zu Gaby Hirmers Mutter. Diese Aufmachung, in der sie das Mädchen herumlaufen läßt! Aber na ja, es ist ja kein Wunder. Ich meine, eine Malerin. Dazu noch erfolglos! Und sie sieht ja selber keinen Deut besser aus.

Die kocht ja noch nicht einmal regelmäßig! sagt Gaby Hirmers Mutter zu Susannes Mutter. Das Kind bekommt zu Hause nie etwas Anständiges zu essen, asoziale Verhältnisse nenne ich das!

Susanne steht daneben und hört zu. Susanne, die Unvernachlässigte. In ihrem Faltenrock, wegen dem die anderen in der Klasse sie immer hänseln, in ihrer weißen Bluse. Sie spürt das warme Mittagessen in ihrem Bauch. Sie schmeckt es noch auf ihrer Zunge, Leber und Stampf. Widerlich mehlige Leber und Stampf, Susanne muß alles aufessen. Auch die Leber muß sie aufessen. Besonders die Leber! Sonst setzt es was. Susannes Mutter steht hinter Susanne, Susanne wird eine fangen, wenn sie auch nur einen Moment lang aufhört, immer weiter Leber zu essen, Aber andererseits! sagt Susannes Mutter nun und erhebt den Finger. Andererseits kann Isa ja noch dankbar sein, daß sie die Tante hat! Schließlich ist sie unehelich, ihr Vater hat sich ja niemals blicken lassen, und ihre Mutter ist kurz nach ihrer Geburt gestorben, wirklich, froh und glücklich kann Isa sein, bei Licht betrachtet!

DieVaterlosigkeit haben Susanne und Isa also gemeinsam.

Aber Isa vermißt ihren Vater nicht.

Was willst du mit einem richtigen Vater? sagt Isa zu Susanne.Väter erziehen doch bloß an einem herum. Oder sie sind nicht da, genauso als wenn sie schon tot wären, frag mal die Irmi! Die hat schließlich einen!

Irmgard Bauer steht neben Isa. Irmi hat Jeans an und eine Lederweste mit Fransen und auf den Lippen den hellrosa Lippenstift, den alle so schick finden und den Susannes Mutter Susanne niemals erlauben würde, Irmi sagt: Der ist echt nicht die reine Freude, mein Vater. Der macht immer nur meine Mutter fertig, sonst macht er gar nichts. Und ich darf es dann hinterher ausbaden.

Susanne und Irmi und Isa stehen vor der Bude und essen Fritten. Susanne sagt nichts. Sie überlegt, daß es gar nicht so schlecht wäre, wenn zwischendurch mal jemand da wäre, der ihre Mutter fertigmacht. Wenn mal ein anderer Wut und Unwillen der Mutter auf sich ziehen würde: jemand, der nicht Susanne ist. Der aber auf Susannes Seite steht. Der mit Susanne gemeinsame Sache macht, in diesem Moment denkt Susanne nicht an ihren Vater. Sie denkt nicht daran, daß es klingelt und ihr Vater kommt und sie in die Arme nimmt und sie rettet, noch nicht einmal, als jetzt am Horizont eine Staubwolke auftaucht. Staubfahnen, von Pferdehufen aufgewirbelt, fegen über die Prärie auf die einsame Farm zu. Susanne und die, die mit ihr gemeinsame Sache machen, springen auf. Die harten Absätze von Susannes Stiefeln knallen auf den Bretterboden der Veranda. Die Fransen von Susannes Jacke flattern im Wind. Mit der Hand beschattet sie ihre Augen. Sie steht locker, dabei gespannt, eine Hand in die Hüften gestützt, von denen der Faltenrock verschwunden ist. Susanne (während sie nicht an ihren Vater denkt, der kommen und sie retten soll) kann die Reiter jetzt beinahe erkennen. Sie trägt Lederhosen und klirrende Sporen, sie schreitet die Verandatrepp e hinunter. Den anderen bedeutet sie mit einer Geste zu warten: Sie kann jeder Gefahr entgegentreten, sie steht nicht allein. Allein tritt sie den Reitern entgegen, die sehr schnell näher kommen. Die jetzt zu einem weiten Halbkreis ausschwärmen, die Farm abriegeln.

Es ist ein Novembernachmittag, grau und eklig wie kalte Brühe. Irmi kickt eine Coladose in den Rinnstein. Isa pfeift einen monotonen Doors-Song: There’s a killer on the road His brain is squirming like a toad, Susanne ergänzt stumm den Text zu dem, was Isa pfeift.

So hängen sie also vor der Frittenbude herum, mit ketchupbekleckerten Fingern und Tüten in der Hand, die das Fritierfett allmählich aufweicht: während auf Gleis 5 des Würzburger Hauptbahnhofs nun endlich Susannes Anschlußzug einfährt und Irmgard Bauer in ihrem Laden einer Kundin die Funktionsweise eines Korkenziehers erklärt, der aussieht wie eine Fischgräte. Wie das, was von einem fachmännisch zerlegten Fisch übrigbleibt.

Das sagt Irmi natürlich nicht. Das kommt ihr nicht einmal in den Sinn, Irmi denkt, daß der Korkenzieherfisch ein ästhetisch gelungenes und technisch ausgereiftes Gerät ist. Das zu denken ist klug von Irmi. Es ist klug, etwas schön und nützlich zu finden, was man verkaufen will. Irmi ist davon überzeugt, daß der Erfolg ihres Ladens auf ihrer Fähigkeit beruht, selber tief und dauernd an die Schönheit und Nützlichkeit ihrer Ware zu glauben. Das hat nichts mit positivem Denken oder solchem Unsinn zu tun, weiß Gott nicht. Es ist nur so, daß die Leute im allgemeinen nicht so dämlich sind, wie man annimmt. Sie merken es, wenn man ihnen irgendwelchen Müll erzählt, den man selbst nicht glaubt.

Wenn Irmi ihre Kunden berät, dann merkt jeder, daß sie überzeugt ist von dem, was sie sagt. Das ist wichtig, gerade in einer Kleinstadt. Irmis Laden steht in dem Ruf, keinen Allerweltskrempel, kein billiges Kunstgewerbe zu führen, sondern ausschließlich besondere Stücke. Stilvolle Stücke, mit denen sich die stilvolle Besitzerin Irmgard Bauer persönlich identifizieren kann. Es ist Irmis persönliche Integrität, die die Kunden zum Kauf von Vasen, Aschenbechern und Lampen bewegt. Was sonst? Schließlich haben Irmis Kunden schon alles, was sie brauchen. Aber in Zeiten wie diesen, Zeiten sozialer Kälte, sehnen sich die Menschen natürlich nach jemandem, dem sie vertrauen können, Irmi kann ihre Preise glatt um 20, 30 Prozent höher kalkulieren als die Konkurrenz! Irmi hat keine Konkurrenz, dazu ist sie zu teuer. Sie muß teuer sein, sonst ginge das Vertrauen ihrer Kundschaft flöten. Sonst wäre der diskrete kleine Aufkleber auf Irmis Verpackungen, auf dem ihr Name steht und sonst nichts, für immer entwertet. Dann wäre Irmi hoffnungslos out, erledigt.

»Ich habe mir diesen Korkenzieher ja sogar selber genommen!« Irmgard wispert, als weihe sie ihre Kundin in ein persönliches Geheimnis ein. »Sicher, er ist nicht ganz billig, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Es ist kein Allerweltsstück. Ich habe ja überhaupt nur fünf Stück geliefert bekommen!« Während die Kundin nach der Kreditkarte kramt, verpackt Irmgard den Korkenzieher als Geschenk. Dünne Wellpappe, Bindfaden, Bast. Naturmaterialien, recyclingfähig. Der Korkenzieher ist für Thomas Scheling. »Von der Polstermöbelfabrik Scheling, du weißt schon, Irmi, der Thomas wird doch heute fünfzig, kommst du eigentlich auch?« Irmi murmelt etwas, während sie ihre Kundin zur Tür begleitet. Gute Kundinnen bringt sie immer zur Tür, wie liebe Freundinnen. Viele ihrer Kunden sind tatsächlich auch Irmis Freunde. Oder was man eben so Freunde nennt, gute Bekannte.

Als Irmi die Tür öffnet, dringt ein Schwall warmer Abendluft in den Laden. Das Gartenfest bei den Schelings verspricht zumindest wettermäßig ein voller Erfolg zu werden. Auf jeden Fall ist es ein Erfolg für Irmi, die Schelings nämlich werden heute abend nicht nur den Fischgräten-Korkenzieher, sondern auch einen enorm teuren Federhalter, einen postmodernen Champagnerkühler und einen im Stil der Fünfziger gehaltenen Cocktailshaker nebst professionellem Barmixer-Zubehör von Bast und Wellpappe und dem diskreten kleinen Aufkleber zu befreien haben.

Und den Wein liefert ihnen natürlich Hubertus.

Hubertus ist Irmis Mann. Oder ihr Lebensgefährte, sie sind nicht verheiratet. Früher hat Hubertus mal Biologie studiert, aber das ist lange her. Jetzt ist auch er Inhaber eines Geschäfts, für Weine und italienische Feinkost, auch Hubertus ist konkurrenzlos. Irmi und Hubertus wohnen in einer Altbauwohnung mitten in der Stadt. Renovierter Altbau, sehr stilvoll, und ruhig ist es außerdem: Die Wohnung geht nach hinten hinaus, auf den Park.

In einer Kleinstadt kann man sich so was eben leisten!

Das sagen Irmis Freunde, wenn es sie gelegentlich aus ihren diversen Großstädten hierher verschlägt und sie dann staunend die sieben riesigen Zimmer durchwandern. Sieben Zimmer und zwei Bäder und eine Dachterrasse, für ein kinderloses Paar.

Seid bloß froh, daß ihr auf Nachwuchs verzichtet habt!

Auflachend, aufstöhnend wird diese Bemerkung an jede Anekdote drangeklebt, die Irmgard sich über anderer Leute Kinder anhören muß. Irmgard ist froh. Durchaus! Sie hat sich noch niemals ein Kind gewünscht. Sie liest gern, sie geht viel ins Kino. Sie spielt Tennis, sie läuft Ski. In der Wohnung, in der sie mit Hubertus lebt, hat sie ihr eigenes Arbeitszimmer, ihr eigenes Schlafzimmer, ihr eigenes Bad.

Und sie ist ja auch nicht immerzu hier. Schließlich muß sie einkaufen, Trends erforschen, auf dem laufenden bleiben. Das kann man nicht von der Provinz aus, beim besten Willen nicht. Irmi ist eine Menge unterwegs, London Milano Paris Madrid, eigentlich ist es ein Wahnsinn! Die Zeit, die Kosten, und immer nur für höchstens drei Tage! Nun ist es Irmi, die lacht und stöhnt. Schon die lange Fahrt bis zum nächsten Flughafen! Freilich, man lebt hier nun mal in der tiefsten Provinz, ja natürlich lebe ich gern hier, aber ehrlich! Wenn ich nicht hin und wieder hier rauskäme, dann würde ich blöd.

Irmi macht keinen Hehl daraus, daß es ihr manchmal in ihrer Geburtsstadt zu eng wird. Warum auch? Es ist ja reiner Zufall, daß sie hier lebt.Vor neun Jahren ist ihr Vater gestorben und hat ihr eine ziemlich große Summe hinterlassen, und so hat sie eben den Laden eröffnet. Natürlich hätte sich Irmi damals auch allein aus dem Sumpf ziehen können, da ist sie ganz sicher. Irmi hat schon oft genug vor dem Abgrund gestanden, und bisher ist ihr noch jedesmal etwas eingefallen! Aber Tatsache ist, daß es ihr damals nicht allzugut ging.

Das hat nichts damit zu tun, daß Irmi ihren Vater übermäßig betrauert hätte. Wie kann man um jemanden trauern, der seine Familie ein Leben lang mit eingebildeten Krankheiten terrorisiert hat? Der sich tagtäglich mit Irmis Mutter darüber stritt, wer in dieser Ehe mehr litt und also ein Recht auf die schlimmeren Krankheiten hatte. Nun also, er hatte endlich gesiegt! Er war zuerst tot, was gab es da groß zu betrauern? Und Irmi hatte damals mit ihren eigenen Schmerzen zu tun. Mehr als genug, ihr Leben war ja völlig im Eimer! Ihr Schlüsselbein war gebrochen, ihr fehlte ein Zahn. Irmi war fertig, damals.

Irmi ist auf dem Weg nach Hause. Sie beeilt sich nicht, sie schlendert. Die Straßen sind noch immer belebt, es herrscht Feststimmung, weil es so heiß ist. Die Straßencafes sind überfüllt, Weißbier Prosecco Cappuccino Soft Frozen Yoghurt, Irmi schnappt Gesprächsfetzen auf, Gelächter dringt zu ihr. Sie wird von vielen gegrüßt, grüßt zurück. Sie geht übrigens nicht auf das Schelingsche Gartenfest. Thomas Scheling hat ihre Absage sehr bedauert, aber er wird Irmi nicht vermissen, er war lediglich höflich. Wie sollte er Irmi vermissen, bei über hundert geladenen Gästen! Irmi findet es manchmal sehr anstrengend, unter Leuten zu sein. Wo sie doch schon den ganzen Tag im Laden von Leuten belagert wird, die sie vollquatschen. Die an sie ranreden bis zum Schwindligwerden, was erwartet Irmi denn? Irmis Kunden berichten von ihren Männern, ihren Kindern. Ihren beruflichen Zielen, sie schmieden Urlaubspläne in Irmis Laden: Sie wissen, was sie vom Leben erwarten. Sie erzählen Irmi, wie es gewesen sein “wird, ihr Leben, wenn es eines Tages vorbei ist. Und bis dahin leben sie gern hier.

Auch Irmi lebt gern hier! Natürlich tut sie das, sonst gäbe es doch überhaupt keinen Grund für sie, hierzubleiben. Bloß möchte sie heute lieber auf ihrer Dachterrasse sitzen, es reicht schon, daß morgen dieses Klassentreffen ist! Irmi hat ernsthaft überlegt, ob sie überhaupt hingeht. Warum soll sie sich einen Haufen gealterter Abiturientinnen ansehen? Die sich zweifelsohne alle miteinander nette, aber meist abwesende Ehemänner, Kinder im Gymnasium, gutbürgerliche Berufe, Abos im Fitneßstudio, kreative Hobbys und Krähenfüße zugelegt haben, Irmi kann sich doch denken, was aus ihnen geworden ist. Und ohnehin kann Irmi darauf verzichten, den Lebensweg von Leuten weiterzuverfolgen, von denen sie sich längst verabschiedet hat. Nostalgie gehört nicht zu Irmis Lastern, Irmi durchwü hlt keine Fotoalben auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie fotografiert nicht einmal. Sogar auf ihren Reisen hat sie nie fotografiert, viele Leute sind davon schockiert: Irmi ist um die Welt gefahren, ohne ständig ein Auge zuzukneifen! Aber sie hat ihr Leben nicht danach ausgerichtet, daß ihre Motivwahl die Zurückgebliebenen beeindruckt. Sie hat ihre Erfahrungen nicht in nachträglich glorifizierbare Bilder zerlegt, um sie erst dann zu erleben, wenn sie vorbei sind, gefahrlos und chemisch gereinigt, wie auch? Bei Irmis Erfahrungen!

Irmi schließt die Wohnungstür auf und streift die Schuhe ab. Sie geht in die Küche und nimmt eine Flasche Campari aus dem Kühlschrank, dabei ruft sie: »Hubertus?« Es ist nur der Form halber, Hubertus ist natürlich nicht da. Er ist auf dem ScheHngschen Sommerfest und trinkt den Wein, den er Thomas Scheling gestern geliefert hat. Daß Irmi keine Lust auf die Schelingsche Meute hat, heißt schließlich nicht, daß Hubertus zu Hause bleiben muß, Hubertus und Irmi sind nicht albern: In einer Beziehung muß man dem anderen Freiräume lassen. Und davon abgesehen wäre es Irmi natürlich auch lästig, wenn Hubertus jetzt heimkäme und sich neben ihr auf einem Liegestuhl ausstrecken würde, Irmi liebt Hubertus! Natürlich tut sie das, aber sie ist sehr gern allein. Irmi hat Shorts angezogen und ein T-Shirt von Hubertus, gegenüber, auf der anderen Seite des kleinen Parks, blitzen ein paar Fensterscheiben in der Abendsonne auf. Der Himmel ist wolkenlos, man wird heute nacht die Sterne sehen können. Wenn Irmi zu dem Klassentreffen geht, könnte sie Susanne einladen, ein paar Tage zu bleiben und mit ihr hier draußen zu sitzen.

Andererseits, wozu sollte das gut sein? Wahrscheinlich würden sie nach dem obligatorischen Austausch diskret geschminkter Kurzbiographien doch nur von früher reden.

Wovon sonst? Irmi hat Susanne seit der Schulzeit nicht mehr gesehen. Sie kann sich allerdings gut an Susanne erinnern: an die fusseligen blonden Haare, die sie zu lang trug, an Susannes etwas staksige Grazie, das bewegliche Gesicht. Ein sehr dünnes Gesicht, verletzlich, vor ein paar Tagen hat Susanne bei Irmi angerufen. Sie hat nach Isa gefragt, Irmi ist sehr froh, daß es Susanne gutzugehen scheint! Aber Irmi hat auch keine Ahnung, wo sich Isa herumtreibt. Sie hat seit elf Jahren nichts mehr von Isa gehört (seit 1981. Seit jener letzten Karte), es ist einigermaßen unwahrscheinlich, daß Isa ausgerechnet zu diesem Klassentreffen wieder hier auftaucht. Und wer wird Isa denn schon vermissen? Niemand, außer Susanne natürlich.

Außer Susanne und Irmi. Oder?

Nun. Es wäre sicherlich spannend, Isa wiederzusehen. Aber es wäre auch ein wenig wie das Jüngste Gericht: die Stelle, wo sich die Gräber öffnen und die Toten auferstehen. Das kommt einem nicht zu jedem Zeitpunkt gelegen, daß die Toten auferstehen: und dann, was würde Isa wohl dazu sagen, daß Irmi hier lebt? In der verfluchten kleinen Stadt an der Ostgrenze! In dem Nest, in dem sie zusammen aufwuchsen, dem baldmöglichst zu entfliehen sie einander versprachen, in das niemals zurückzukehren sie sich schworen und in das Irmi zurückgekehrt ist. Was würde Isa wohl dazu sagen?

Irmi und Isa lümmeln auf Isas Matratze herum, der alten Matratze mit dem räudigen Flokati darauf, die Isa als Bett dient. Sie sind sechzehn oder siebzehn. Isa lehnt in einer Ecke. Über ihr hängt ein Poster von Armstrong auf dem Mond, Armstrong sieht man allerdings nicht: Isa hat ihn überklebt, mit einer Reklame für Teflonpfannen. Isas Haare sind fettig, sie hat sie mit Klemmen zurückgesteckt und sich das Gesicht bemalt: Um die Augen herum ist alles blau und schwarz, der Rest ist kalkweiß. Punkt Punkt Komma Strich, Isa sieht selbst aus wie ein Mond. Allerdings wie einer, der ein paar aufs Auge gekriegt hat, Isa hat ihr I Ging auf dem Schoß und liest vor, was das I Ging über Irmis derzeitige Lage zu sagen hat. Sü, das 5. Kua.

Der Ratsuchende ist in der Notwendigkeit, zu warten, liest der Mond. Die Vorhersage ist indessen doch glücklich. Das Warten wird nicht vergeblich sein. Ruhig beobachtet der begabte Mensch die steigende Wolke, die am Himmel wartet und endlich den Regen bringt.

Irmi sieht die Wolke über dem Horizont aufsteigen, regenschwer. Asphaltschwarz, vielversprechend. Die Hitze brütet. Die Luft steht, knistert vor Elektrizität. Irmi ist nicht ruhig, sie findet die Warterei zum Verrücktwerden! Irgendwann muß es doch endlich anfangen. Was? Das Gewitter. Der Sturm. Der Platzregen. Irmis Leben!

Der begabte Mensch gebraucht Gerechtigkeit und Geradheit, um in seine Einsamkeit zugehen, liest Isa. Von nichts zurückgehalten, fern und ungebunden in der Einsamkeit, weiß er aus ihr Nutzen zu ziehen. Es wird von Vorteil sein, einen großen Flußlauf zu überqueren.

Isa klappt das Buch zu und steht auf.

Komm schnell, sagt sie zu Irmi.

Wenige Minuten später rennen Isa und Irmi über die Brücke, die alte Brücke unten bei der Apotheke.

Aber das ist doch kein großer Flußlauf! ruft Irmi. Das ist ein winzig kleiner Flußlauf, ein ganz verdammt winzig kleines mickriges Rinnsal von einem Flußlauf!

Eben! ruft Isa zurück. Deswegen überqueren wir ihn ja auch so oft!

Die Farbe auf ihrem Gesicht bröckelt ab, weil sie lacht.

Irmi steht auf und holt sich einen weiteren Campari aus ihrer Küche. Sie hat in ihrem Leben so manchen Flußlauf überquert, soviel ist wahr. Die Frage ist allerdings, ob das immer von Vorteil war. Und jedenfalls ist es kein Grund, jetzt an Gino zu denken (an Gino in einem Boot. Sie überquerten den Flußlauf in einem Boot, in der Windstille vor Sonnenuntergang hing das Segel schlaff), Irmi möchte jetzt nicht an Gino denken. Sie denkt an Gino, weil sie an Isa gedacht hat, und natürlich schreckt sie nicht vor der Erinnerung an Gino zurück, das ist Unsinn. Aber es würde ihr den Abend ruinieren, an Gino zu denken (der sich umdreht. This is the right moment! sagt er. Seine Hand umspannt ihren Fußknöchel. Sie sind an der Grenze zu Maharashtra, der Fluß mündet hier ins Arabische Meer), Gino muß vorsichtig erinnert werden, dosiert, selbst an ekelhaften Novemberabenden, wenn es eigentlich ohnehin egal ist, ob einen Unruhe und Trauer überschwemmen oder nicht. Irmi denkt nicht an Gino, sondern an Hubertus.

Sie denkt daran, daß sie Hubertus dankbar ist. Doch! Hubertus hat Irmi niemals bedrängt: Das hat ihr von Anfang an so an ihm gefallen. Kennengelernt haben sie sich bei gemeinsamen Freunden, Hubertus war damals neu in der Stadt. Er hatte ein Haus geerbt, das Haus, in dem heute sein Laden ist.

So ein ulkiger Zufall, hat Irmi damals gedacht. Genau wie bei mir und bei Isas Tante damals, wirklich, der Tod anderer Leute scheint der einzige Grund zu sein, warum man in diese Gegend zieht.

Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

Am nächsten Tag ruft Hubertus sie an.

Danach gehen sie öfter mal miteinander aus, Hubertus und Irmi. Sie gehen zum Essen, ins Kino, manchmal ins Theater. Sie gehen auch miteinander ins Bett. Irmi lebt damals schon lange allein, von ein oder zwei unbedeutenden Sachen mal abgesehen. Sie denkt am Anfang, daß auch Hubertus solch eine unverbindliche Sache ist. Aber eines Abends sieht Irmi Hubertus an, wie er redet. Und dann beobachtet sie nur noch seinen Mund beim Reden, ohne weiter auf die Worte zu hören, weil plötzlich ein komisches kleines Gefühl von Zärtlichkeit da ist und sie denkt: Für dich ja.

Zuerst weiß sie selbst nicht genau, was sie damit meint. Hubertus hat jetzt aufgehört zu reden, er sieht Irmi an, und dann sagt er: Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.

So ähnlich muß es gewesen sein. Irmi ist sich nicht mehr ganz sicher, die Erinnerung macht ja aus allem eine Anekdote, wenn man nicht aufpaßt. Aber zumindest weiß sie, “was sie damals gemeint hat mit ihrem ›doch, für dich ja‹: Ich würde dir niemals etwas antun. Dich will ich nicht leiden sehen. Aber sie denkt auch jetzt nicht an Gino (an Orangenschalen, die sich auf dem Ofen krümmen. An den Widerschein des Feuers auf Ginos Gesicht, dem Gesicht eines Fremden, die Schatten unter den Wangenknochen sind so dunkel, als hätte ihn einer geschlagen, aber erst später sind diese Wangenknochen zertrümmert, erst später quillt Blut zwischen diesen Lippen hervor und Kotze, noch nicht, dies ist eine Zwischenstation, es ist eine Pritsche in einem heruntergekommenen Guesthouse in Kabul, das inzwischen in Trümmern liegt, es ist die Hochebene von Kabul, über die der Februarwind fegt, die Russen sind noch nicht da, Irmis Stiefel stehen bereit, sie kann sie sofort wieder anziehen), sie mag nicht. Wozu der Vergangenheit gestatten, daß sie sich in Irmis Leben hineindrängt? Oder der blödsinnigen Hoffnung auf irgendeine Zukunft. Irmi will keine Zukunft, das fehlte noch! Nostalgien, Utopien, Worthülsen, die vor zwanzig Jahren en vogue waren, Sehnsucht nach dem, was es nie gegeben haben wird: Irmi weiß längst, Utopia heißt Nirgendwoland. Sie kennt jede Straße, jeden Feldweg im Nirgendwoland! Irmi will nicht, daß das Unerwartete über sie hereinbricht. Sie will auf ihrer Terrasse liegen und zusehen, wie es dämmert und die ersten Fledermäuse über dem Park auftauchen. Sie will glücklich darüber sein, daß sie Hubertus hat und ihren Laden und ihre schöne Wohnung und ihre Freunde, natürlich, gelegentlich haben auch Hubertus und Irmi einander verletzt. Das ist nun mal so, die Abmachung, einander nichts anzutun, muß gebrochen werden: Die Ernsthaftigkeit, die Liebe entsteht mit der ersten Verletzung, die man verzeiht.

Die man natürlich verzeiht, was bleibt einem übrig? Aber Hubertus ist nicht der Typ für schwere Konflikte. Hubertus ist kühl, er überlegt lange, bevor er handelt. Er ist souverän: Das sagt Irmi von ihm. Er giert nicht danach, daß das Unerwartete über ihn hereinbricht, er ist seßhaft. Hubertus’ souveräne Kühle ist in gewisser Weise die Voraussetzung ihrer Beziehung: Irmi behält ihren Körper, mit Hubertus. Freilich leiht sie ihn aus: aber nur zum Vögeln, und da ist es der Sache durchaus dienlich, daß Hubertus ein ausgezeichneter Liebhaber ist. Danach nimmt Irmi ihren Körper wieder in Besitz. Danach wäscht sie ihn, füttert ihn, zieht ihn an, macht ihn wieder wie unberührt, und Hubertus ist klug genug, das Warnschild nicht zu mißachten: Do not trespass.

So soll es bleiben. Irmi hat abgeschlossen mit dem Leidenschaftsblues! Mit der Sehnsucht nicht nach einem bestimmten Kerl, der nett plaudert und einen guten Charakter hat, sondern nach einem bestimmten Hintern. Nach ganz bestimmten Schenkeln, nach genau diesen Schultern, Armen, Handgelenken, Fingern, nach diesen Beinen und dem Schwanz zwischen den Beinen, nach dem Geschmack dieses Schwanzes, dem Geruch dieser Achseln, nach diesem Gewicht auf dem eigenen Körper, dem den Nerven aufs Gramm bekannten Gewicht. Die Fußzehen biegen sich in den Schuhen nach innen, die Muskeln von Hintern und Vagina spannen sich an, und so soll man einkaufen gehen? So soll man Gemüse putzen, telefonieren, mit der Freundin einen Cocktail trinken? Es ist nicht angenehm! Es ist eine Zumutung, wenn man nicht mehr man selbst ist. Wenn man nicht mehr allein sein kann, fern und ungebunden in seiner Einsamkeit, und alles nur wegen einer bestimmten Männervisage, der man sich entgegenwenden will wie der Wintersonne, wegen eines bestimmten scheißarroganten Lächelns, wegen einer Stimme, die eines Nachts rauh wurde und gebrochen und dann etwas gesagt hat, was sie wieder sagen soll, wieder und wieder, und dergleichen kann man sowieso nie besitzen! Noch nicht mal, wenn man sich und den anderen um den Verstand vögelt. Gesichter, Stimmen haben nichts zu tun mit dem Schwanz, den man sich immerhin aneignen kann. Aber das reicht einem ja nicht mehr, wenn man bis hinauf in die Gebärmutter glaubt, daß man so einen Kerl liebt.

Und natürlich geht man davon aus, daß das Liebe ist. Liebe kriegt man von jemandem, -wie den Schnupfen.Von jemandem mit einem Namen, einem Wintermantel, einer Vergangenheit, und der soll nun diesen Schmerz füttern. Er ist eine Ansteckungsquelle, eine Bakterienschleuder! Und er soll einen um Himmels willen nicht etwa gesundmachen. Er soll den Schmerz füttern und selber unter ihm leiden, soll lautlos in sich hineinstöhnen, Irmi will das nie wieder haben! Sie will keine Sehnsüchte mehr, sie ist fertig damit.

Es ist inzwischen sehr dunkel geworden auf Irmis Terrasse. Aber Irmi kann sich nicht dazu entschließen, ins Bett zu gehen. Sie ist jetzt unruhig, sie steht auf, aber dann setzt sie sich wieder, sie weiß ja nicht, wo sie hingehen soll. Es ist immer noch sehr warm. Am liebsten würde sie jetzt doch noch auf Thomas Schelings Gartenfest gehen, aber dazu ist es natürlich zu spät. Oder Hubertus soll zu ihr kommen, sofort! Aber dazu ist es wiederum noch viel zu früh.

Nachthaut

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