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Im Wald von Slawjansk

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Der blaue Redaktionsbus hatte an diesem wolkenlosen Tag im Mai 2014 Mühe, seine 160 Pferdestärken auf die Straße zu bringen. Man konnte diesen Weg auch nicht als Straße bezeichnen. Die Motorhaube war schon über und über mit Staub bedeckt.

»Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Volodimir, der jüngere der beiden, seinen Kollegen, der die Rolle des Fahrers übernommen hatte.

»Ich folge genau den Koordinaten, die mir Strelezkij gegeben hat«, antwortete Shenja und warf einen Blick auf sein GPS-Gerät. »Merk dir den Weg gut, zurück darfst du fahren!« Er lachte kurz und schrill auf.

»Wir machen es also wie immer? Du willst keine Fragen stellen?« Der Jüngere hielt schon das Mikrofon in der Hand.

»Du kennst mich doch, ich gebe dir maximal ein Stichwort, falls nötig. Ich glaube sowieso nicht, dass Strelezkij unsere Fragen beantwortet. Er wird sich selbst als Held und Anführer darstellen und uns seine Auffassungen diktieren.«

Volodimir zuckte nur mit den Schultern. Vor ihnen öffnete sich der Wald, aber ein hoher Zaun versperrte den Weg. Shenja nuschelte etwas wie ›das kleine Meshigorje von Slawjansk‹ und reichte dem Wachposten im Tarnanzug einen Brief. Nach einem Blick auf Strelezkijs Unterschrift ließ er sie passieren und wies ihnen einen Parkplatz zu.

Im Salon des zweigeschossigen Holzhauses war der ovale Tisch gedeckt: Tassen, Teller mit Gebäck, Schalen mit russischer Warenje, ein Samowar. In der Ecke des Raumes standen einige vermummte Gestalten. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie die Kalaschnikows in ihren Händen auch benutzen würden.

Einer von ihnen verkündete mit steifer Miene: »Oberst Strelezkij«, und ein schlanker Mann mit Schnauzbart und grauen Schläfen betrat den Raum. Strelezkij ging auf die Journalisten zu und gab ihnen die Hand. Dann zeigte er auf den Tisch: »Eine Tasse Tee?« Volodimir nickte und setzte sich. Als der Ältere die Einstellungen an der Videokamera überprüfte, betrat ein weiterer Leibwächter den Raum.

Shenja zuckte zusammen, als hätte er den Teufel gesehen. Er nahm den Camcorder hoch, setzte ihn auf die Schulter, zog sein Basecap tiefer ins Gesicht und begann zu filmen. Ein Name schoss durch seinen Kopf: Aslan. Als Volodimir ihm einen Stuhl zurechtrückte, zwinkerte er zweimal mit dem linken Auge. Seit ihrem gemeinsamen Fronteinsatz in Libyen benutzten sie geheime und fast unsichtbare Zeichen. Shenja begann zu filmen, als müsste er alles auf seinen Chip bannen, auch Belangloses.

Der Jüngere hatte verstanden, er stellte die erste Frage und nippte dann an einer Teetasse. Strelezkij erläuterte seinen Traum von »Neurussland«, die Leibgarde hielt sich zurück. Drei Fragen waren erlaubt, dann machte der Anführer der Vermummten eine Handbewegung und öffnete die Tür. Für die Journalisten das Signal zum Rückzug. Mehr konnten sie hier nicht erfahren.

Erst als sich der Redaktionsbus in Bewegung gesetzt und die Residenz des Separatistenführers aus seinem Augenwinkel verschwunden war, nahm Shenja die Kamera von der Schulter und legte sie auf der Rückbank ab. Er atmete erleichtert auf.

»Was war denn los? Strelezkij hat sich doch an unsere Abmachungen gehalten?« Volodimir drückte das Gaspedal durch.

»Es geht nicht um Strelezkij!« Shenja kaute unruhig auf seiner Unterlippe herum. Volodimir sagte nichts, sondern fuhr von der Straße herunter auf eine kleine Wiese und hielt an. Mit einem Griff holte er unter seinem Sitz eine Flasche hervor und hielt sie seinem Freund und Kollegen hin. Der nahm einen großen Schluck und gab sie zurück.

Dann fragte er: »Hast du die Männer seiner Leibgarde gesehen?«

»Ja, natürlich. Worauf willst du hinaus? War einer von denen an der Ermordung von Wladimir Rybak beteiligt oder an der Entführung von Alexej Demko?«

»Keine Ahnung! Es ist nur so …« Shenja zögerte, mit der rechten Hand massierte er seinen Nacken.

Volodimir legte seine Hand beruhigend auf den Unterarm seines Kollegen. »Junge, wir sind gesund aus der Höhle des Löwen gekommen. Es hätte auch anders ausgehen können. Du weißt, in Kramatorsk sitzen einige unserer Kollegen in irgendwelchen Kellerlöchern, und das nicht freiwillig! Lass es raus, in dir brodelt es doch!«

Er erntete einen dankbaren Blick.

»Du hast keine Vorstellung!« Shenja stützte beide Hände auf die Oberschenkel. »Du hast die Tschetschenen gesehen?«

»Hmm.«

»Ich sage jetzt mal der Einfachheit halber – Kaukasier. Ich habe sie beim Studium im Kubangebiet kennengelernt, vor allem Adygäer.«

Volodimir nahm noch einen Schluck.

»Aslan, er hieß Aslan, wohnte im Nachbarzimmer. Seine Familie hatte Geld und Beziehungen. Immer große Klappe, nichts dahinter. Und kalte Augen. Ein braunes und ein grünes.«

Schweigen.

»Ich habe ihn wiedererkannt. Verstehst du? An den Augen und an einer kleinen Narbe über dem linken Jochbein.«

Jetzt nickte Volodimir. »Hattest du mit ihm Probleme?«

Shenja schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm aus dem Weg gegangen. Er war mir unheimlich. Aber Jahre später, im Tschetschenienkrieg, sah ich ihn wieder…«

Der Jüngere bekam große Augen. »Aber du warst doch gar nicht in Grosny!«

»Nein, war ich auch nicht. Aber in der Agentur ging ein Mitschnitt rum. Du erinnerst dich sicher, gefangenen russischen Soldaten, die nicht zum Islam übertreten wollten, wurden die Kehlen durchgeschnitten.«

»Ich erinnere mich.« Durch seinen Körper ging ein Zittern. »Grausam.«

Shenja fuhr fort: »Aslan persönlich hat das Messer geführt, mit einem Grinsen im Gesicht. Ich konnte das Video nicht bis zu Ende ansehen. Mir ging es durch und durch. Aslan musste sich nie dafür verantworten, er wurde nie geschnappt.«

»Davon erzählst du mir das erste Mal«, wunderte sich Volodimir.

»Tagsüber konnte ich das bisher gut verdrängen. Diese Szenen waren gut weggeschlossen, gefangen in der hintersten Ecke meines Gedächtnisses. Aber nachts … nachts kommt immer wieder alles hoch.« Shenja schluckte. »Unter den Ermordeten war mein Schulfreund Alex. Fahr los! Wir müssen sofort in die Redaktion.«

Wortlos setzte der Kollege den Bus in Bewegung.

»Den kriegen wir dran!« Auf Shenjas Gesicht machte sich ein entschlossener Ausdruck breit. Er nahm sein Handy in die Hand.

»Shenja, denk daran, der Weg nach Den Haag ist mit Zinksärgen gepflastert.«

»Ich weiß, Volodja, ich weiß. Das Risiko muss ich eingehen, schon meinem Freund zuliebe. In Gedanken habe ich es ihm oft genug versprochen«, erwiderte der Ältere und wählte die Nummer des Innenministers.

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