Читать книгу Dionysos und die neue Freiheit - Sabine Hoffelner - Страница 3
Ein neues Zuhause
ОглавлениеVorsichtig wagte er einen Schritt und blieb dann wieder regungslos stehen. Er reckte aufgeregt schnuppernd seine Nase nach draußen. Wie es hier roch! So etwas kannte er bisher nur aus den Blumenkästen im Sommer. Doch der Sommer war noch weit, die Tage begannen nach dem finsteren Winter gerade erst, spürbar heller und wärmer zu werden.
Der etwas pummelige rote Kater kauerte sich auf die Türschwelle, schlang den Schwanz eng um seine Vorderpfoten und blickte sich um. Dieser „Blumenkasten“, der sich vor ihm erstreckte, war riesig. Er schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Und es gab auch fast keine von den stinkenden Brummkisten, denen er von seinem alten Stammplatz am Küchenfenster aus immer zugeschaut hatte, während sein Professor zur Arbeit weg war. Nur die schreckliche grüne Stinkekiste, in der der alte Mann ihn vor zwei Wochen hierher gebracht hatte – ohne ihn zu fragen, die stand nun regungslos ein paar Meter neben dem Eingang. Frustriert seufzte der Kater. Na, das konnte ja langweilig werden...
Plötzlich schreckte er hoch, drehte die Ohren nach hinten und spreizte sein Fell. Einen Moment später entspannte er sich wieder. Es waren nur die vertrauten Schritte seines Professors, die schlurfend auf ihn zukamen.
„Na, mein kleiner Dionysos, wie gefällt dir dein neues Zuhause? Es ist doch viel besser als unsere kleine Wohnung in der Stadt. Hier kannst du den ganzen Tag die freie Natur erkunden, Mäuse fangen und viele Katzenfreunde finden.“
Fassungslos starrte der Kater seinen Menschen an. Ein entsetztes „Mau“ flitzte aus seiner Kehle. Neue Katzenfreunde? Dionysos war froh, dass er sich bisher nicht mit Artgenossen hatte herumschlagen müssen. Und was sollte das mit dem Mäusefangen? Musste er sich sein Futter in Zukunft selbst erjagen? In seinem ganzen Leben hatte er noch keine richtige Maus gesehen. Sein Professor hatte ihm zwar einmal in einem Buch ein Bild von einer Maus gezeigt und ihm auch immer wieder Spielzeugmäuse mitgebracht, aber fressen musste er noch keine. Den Kater beschlich ein beklemmendes Gefühl. Sollte es etwa von nun an kein Kaninchen-Feinschmecker-Menü mehr geben? Und die gegrillten Lachsstreifen mit Sahnecreme... Dionysos spürte, wie sich ein dumpfes Leeregefühl in seinem Magen regte. Ach, da waren auch noch die Hühnchenhappen an chinesischem Gemüse – na gut, darauf konnte er zur Not verzichten. Aber Mäuse? Und selber fangen auch noch? Das ging wirklich zu weit!
Der Kater erhob sich, reckte seinem Professor und der freien Natur sein Hinterteil zu und spazierte entschlossen in die Küche. Dort setzte er sich neben den leeren Futternapf. Dann blickte er sich kurz um. Gut, der alte Mann folgte ihm. Als sein Herrchen den ersten Fuß in das Zimmer setzte, gab Dionysos mit einem fordernden „Mau“ seine Bestellung auf. Das Feinschmecker-Menü, wenn er bitten durfte. Mäuse fangen, von wegen! Doch der alte Mann schien die Aufforderung nicht gehört zu haben, denn er setzte sich an den Küchentisch und begann, in der Zeitung herumzublättern.
Das zweite „M – a – u“ war eine Spur lauter. Wieder keine Reaktion. Na gut, dann musste Dionysos seine Strategie ändern. Er erhob sich wieder und rieb sein Köpfchen an die Beine seines Menschen. Nach und nach arbeitete er sich so einmal von einer Seite zur anderen vorwärts und pflanzte sich schließlich mit seinem ganzen Gewicht auf die Füße des Professors. Dann setzte er seinen traurigsten Katzenblick auf und hauchte ein leidvolles „Maaauu“. Das zog immer.
Auch heute.
„Hast du Hunger, mein kleiner Genießer?“ Der alte Mann legte seine Zeitung weg. „Na, eigentlich erlaubt dir deine Figur kein zweites Frühstück. Erinnerst du dich noch daran, wie der Tierarzt mir letztes Mal ins Gewissen geredet hat?“ Er beugte sich zu seinem Wonneproppen hinunter und strich ihm über das Köpfchen. „Nun, jetzt, wo wir aufs Land gezogen sind, müssen wir uns sowieso einen anderen Tierarzt suchen.“ Zwinkernd streichelte er den Kater noch einmal. Dann schlüpfte er aus seinen Pantoffeln heraus, auf denen sich Dionysos inzwischen zufrieden räkelte, und stand auf.
Zwinkernd blickte er sein schnurrendes Fellknäuel an. „Wo hab ich bloß das Feinschmecker-Menü hingeräumt?“
Sofort stand Dionysos wieder auf seinen Beinen. Jetzt nur keine Zeit verlieren! Innerhalb von zwei Sekunden war er an dem entsprechenden Schranktürchen und kratzte aufgeregt mit beiden Vorderpfoten daran. Sein Mensch folgte ihm gemächlich, öffnete den Schrank und holte ein Schälchen mit dem begehrten Futter heraus. Dann servierte er dem Kater den zusätzlichen Leckerbissen.
Als Dionysos gerade den letzten Happen hinunterschlang, fiel sein Blick auf die noch immer offenstehende Haustür, die er durch Küche und Flur hindurch von seinem Futterplatz aus einsehen konnte. Er erstarrte. Ein Gesicht war dort erschienen, ein Katzengesicht. Sofort sträubte sich jedes einzelne seiner roten Haare. Wer schlich sich hier so frech in sein Revier, fast schon in sein Haus hinein und so nahe an seinen Napf heran?!
Mit weichen Knien baute er sich breitbeinig und katzbuckelnd vor seinem Allerheiligsten auf, ohne die Katze auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Ruhig und ohne eine Bewegung blickte die Fremde zurück. Dieses stille Kräftemessen dauerte ein paar endlose Herzschläge lang, dann wandte sich die Katze an der Haustür ab und verschwand.
Dionysos entspannte sich mit einem erleichterten Seufzer wieder. Trotzdem huschte er durch die Küche und den Flur auf die Eingangstür zu. Er musste sich davon überzeugen, dass der Eindringling auch wirklich weg war. Doch er hatte Pech. Nur ein paar Schritte entfernt, unter der alten Kastanie neben dem Haus, saß die Fremde aufrecht im Gras. Dionysos schaute sie sich jetzt ein wenig genauer an und atmete tief durch. Es war eine grau getigerte Katzendame. Und wenn er mal davon absah, wie frech sie sich an ihn herangeschlichen hatte, konnte er sogar sagen, dass sie eine ganz hübsche Katzendame war.
„Was willst du hier“, herrschte Dionysos sie schärfer an, als es eigentlich nötig gewesen wäre.
„Das müsste ich eigentlich dich fragen. Tauchst hier einfach in meinem Haus und in meinem Garten auf! Der große Mensch hat dich mitgebracht, stimmt's?“
„Was heißt hier: dein Haus? ICH wohne hier. Und von dir hab ich noch überhaupt nichts gerochen oder gesehen.“
„Es ist mein Haus! Ich wohne schon mein ganzes Leben lang dort. Im Schuppen hinter dem Haus bin ich zur Welt gekommen. Und da drüben geht es die Treppe zum Keller hinunter. Das war MEIN Eingang. Bevor all die fremden Leute mit ihren Hämmern und anderen Krachmaschinen daherkamen, die Wände mit stinkenden Farben beschmierten und fast alle meine Schlupflöcher“, sie grinste, „fast alle, vernagelten, war das hier MEIN Haus. Diese Wandalen haben drinnen alles durcheinandergebracht und mich einfach ausgesperrt!“ Empört blitzte sie ihn an. „Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, haben sie auch noch dich angeschleppt.“
Dionysos war gar nicht mehr wohl in seinem Fell. „Das hört sich ja schlimm an“, meinte er zerknirscht. „Aber ich kann doch auch nichts dafür. Zuerst haben mein Professor und ein paar wildfremde Rowdys unsere einst so gemütliche Wohnung verwüstet. Dann, als kein Möbelstück mehr an seinem Platz stand, hat er mich einfach in den Gitterkorb gesperrt.“ Naja, eigentlich hatte der verfressene Kater sich dort ziemlich schnell hineinlocken lassen – mit der allerbesten Leberwurst, die ihm jemals ins Mäulchen gewandert war. „Und dann hat er mich hierher entführt. Glaub mir, ich wäre viel lieber zu Hause geblieben. Aber was kann ein Kater schon tun, wenn sein verrückt gewordener Mensch sich etwas in den Kopf gesetzt hat?“
„Hm. Da hast du wohl recht.“ Die Tigerkatze blickte ihn ratlos an. Insgeheim war sie sehr froh darüber, dass sie selbst nicht von einem Menschen abhängig war. „Manchmal kann man einfach nichts machen. Wie heißt du?“
Etwas verlegen neigte er den Kopf zur Seite. „ Äh, weißt du, mein Mensch ist ein wenig sonderbar... ein Philosophie-Professor...“
„Wie heißt du?“ fragte sie noch einmal.
„Nun, er tut nicht nur immer wieder so einige seltsame Dinge, er hat auch ganz eigenartige Gedanken...“
„Nun?“
„Ähh, er kennt auch ganz komische Namen. Und einen davon hat er mir gegeben.“ Er schluckte schwer.
„Und wie heißt du?“
Der Kater atmete tief durch. Es war einfach ein zu peinliches Thema. „Ich heiße... mein Name ist... Dionysos.“
Die getigerte Katze verkniff sich ein Grinsen.
„Naja“, meinte sie, „das ist wirklich ein eigenartiger Name. Aber so was kann man sich ja nicht selbst aussuchen.“ Sie überlegte einen Moment. „Was meinst du“, sagte sie schließlich, „soll ich dich Dio nennen?“
Der Kater richtete sich entzückt auf. „Dio, das ist gut! Ja, nenne mich einfach Dio.“
„Und ich bin Alesa.“
Dio ließ sich den Namen seiner Kameradin auf der Zunge zergehen. „A-le-sa.“
Plötzlich knackte es leise in der Wiese dicht hinter Alesa, und die beiden erschraken. Ein paar Grashalme bewegten sich verräterisch im Rücken der Katzendame. Dann tauchte zwischen dem satten Frühlingsgrün eine kohlschwarze Pfote auf, gefolgt von einem vernarbten Katzengesicht, dessen linkem Ohr bereits ein Stück fehlte. Schließlich trat ein stämmiger Kater auf den Hof heraus, dessen zerzaustes schwarzes Fell nur auf der Brust von einem kleinen weißen Fleck unterbrochen wurde.
Der Schreck in Alesas Augen wich einem geheimnisvollen Glänzen. Freudig sprang sie auf den Neuankömmling zu. „Hallo Johnny!“ rief sie und rieb ihren Kopf an seine Seite. Doch der Schwarze beachtete sie gar nicht. Breitbrüstig und mit wiegenden Schritten stolzierte er auf Dio zu, umrundete ihn zweimal und stellte dann mit einem abschätzigen Blick fest: „Na, was haben wir denn da? Ein entflohenes Schoßkätzchen?“
„Das ist Dionysos, er wohnt jetzt...“ Weiter kam Alesa nicht.
Johnny warf sich höhnisch lachend auf den Rücken und strampelte dabei wild mit seinen Beinen. Sofort begriff Alesa, was sie getan hatte. Aber es war bereits zu spät.
Dionyosos war zusammengezuckt. Mit gesenktem Blick kauerte er zwischen den Beiden. Er hätte sich am Liebsten in Luft aufgelöst.
Verzweifelt versuchte Alesa, noch etwas zu retten. „Na, eigentlich heißt er Dio. Nur sein Mensch nennt ihn so komisch...“
Johnny hielt sich vor Lachen den Bauch. „Di-o-ny-sos! Haha! Ich hab ja schon einige Schmusekätzchen kennengelernt, aber noch keines mit einem so dämlichen Namen!“
„Johnny! Sei nicht so unhöflich. Du kennst Dio doch überhaupt noch nicht.“
Da setzte sich Johnny kerzengerade vor der Katzendame auf. „Sag mal, warum hast du denn soviel für dieses Kuscheltier übrig, Süße?“
Alesa duckte sich. „Ich hab nicht viel für ihn übrig. Aber ich finde es ungerecht, jemanden nur wegen seines Namens zu verspotten. Dio hat dir nichts getan.“
Der Schwarze wandte sich wieder Dionysos zu. „Nein, er hat mir nichts getan – wie sollte er auch? Wer weiß, ob er überhaupt Krallen besitzt. Und ich werde ihm auch nichts tun, vorläufig, solange er sich an ein paar Regeln hält. Bis er von seinem Herrchen wieder eingesammelt, entstaubt, entfloht und entwurmt worden ist, damit er ihn wieder auf das Sofa platzieren kann, ohne befürchten zu müssen, dass er dort Flecken hinterlässt.“
Johnny baute sich in seiner ganzen Größe vor dem eingeschüchterten Dio auf. „Erstens: Soweit du mit deinen Stummelbeinchen laufen kannst, ist das hier MEIN Revier – also MEINE Mäuse und MEINE Mädels! Zweitens: Solltest du dich noch einmal hier blicken lassen, dann wirst du eine Gelegenheit bekommen, mich kennenzulernen – mich wirklich kennenzulernen.“ Er fauchte Dio mitten ins Gesicht. „Hast du das verstanden, mein lieber Di-o-ny-sos?“
Der Angesprochene nickte schüchtern. Er wagte nicht ein einziges Wort.
„Dann verschwinde!“ Noch einmal fauchte Johnny. Drohend hob er eine Vorderpfote und ließ seine Krallen blitzen.
Nur allzu gern gehorchte Dio. Mit eingezogenem Schwanz und schwabbelndem Bauch huschte er ins Haus. Dort sprang er mit ein paar großen Sätzen die Stufen zum Keller hinunter und hechtete in eine Umzugskiste hinein, die dort noch immer herumstand. Ängstlich rollte er sich in der Dunkelheit eng zusammen und rang nach Luft. Er wollte wieder nach Hause. Besonders viel hatte er diesem neuen Heim sowieso nicht abgewinnen können, aber nun wollte er nur noch zurück in die gemütliche, kleine Wohnung mit dem Blumenkasten, zu der keine andere Katze Zutritt gehabt hatte. Traurig und verzweifelt schluckte er ein paar Tränen hinunter. Dann begann er zu schnurren, um sich selbst zu beruhigen.