Читать книгу Das Schicksal und andere Zufälle - Sabine Otto - Страница 3

BEGEGNUNGEN

Оглавление

Das Wartezimmer war komplett überfüllt. Elli konnte sich zwar nicht erinnern jemals in einer leeren Arztpraxis gesessen zu haben, aber es war trotzdem nervig! Seufzend nahm sie sich eine Zeitschrift, setzte sich auf den einzig freien Stuhl und blätterte sich durch den neusten Promiklatsch! Von Zeit zu Zeit blickte sie neiderfüllt auf ihre Stuhlnachbarin, die nur noch aus Bauch zu bestehen schien.

Eine gefühlte halbe Ewigkeit später hörte sie die freundliche Stimme der Sprechstundenhilfe: „Frau Elisabeth Funk bitte!“ Dr. Witte war immer sehr verständnisvoll. Und so brachte er ihr auch diesmal sehr behutsam, nachdem er sie auf dem Stuhl untersucht hatte, bei, dass sich ihre Regel nur verspätet habe, aber jeden Moment einsetzen würde. Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nichts anderes erwartet. Sie wagte schon gar nicht mehr zu hoffen.

Zu Hause angekommen beschloss sie, sich erst einmal ein Entspannungsbad einzulassen und drehte mechanisch den Hahn auf. Das Geräusch des plätschernden Wassers weckte sie aus ihrer Trance und holte sie zurück in die Realität. Wie gut, dass Kai erst morgen Abend zurück kam. Ob sie Kati wohl schon zu Hause erreichen konnte? Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihre Freundin sicher noch im Feierabendverkehr steckte.

Genüsslich glitt Elli in die dampfende Wanne und fing langsam an, sich zu entspannen. Sie musste aufhören, sich jedes Mal so hinein zu steigern. Sie lebte nur noch von Eisprung zu Eisprung. Ihr kompletter Terminkalender schien nur noch im 28-Tage-Zyklus abzulaufen. Seit drei Jahren versuchten sie es nun schon. Aber alle vier Wochen bekam sie mehr oder weniger regelmäßig den Beweis präsentiert, dass es wieder nicht geklappt hatte. Alle Untersuchungen, die sie bisher geduldig über sich hatte ergehen lassen – und es waren nicht wenige – führten immer wieder zum gleichen Ergebnis. Mit ihr war alles in Ordnung! Leider war Kai nicht immer verfügbar, wenn der passende Zeitpunkt gekommen war. Durch seine Arbeit bei einer Werbeagentur war er sehr viel unterwegs. Sie hatte es auch schon längst aufgegeben, ihn auf dieses kritische Thema anzusprechen, so gereizt wie er mittlerweile darauf reagierte. Vor vier Jahren hatten sie sich bei der Arbeit kennen gelernt. Sie waren beide in der gleichen Agentur angestellt; er als Fotograf, sie als Werbetexterin. Bei der Erinnerung an den Beginn ihrer Beziehung wurde Elli ganz wehmütig zumute. Wo waren sie geblieben, diese unbeschwerten Tage von damals. Sie waren beide jung, verliebt und die Zukunft lag wie eine glückliche Verheißung vor ihnen. Ziemlich schnell zogen sie zusammen und schon bald wurde klar, dass sie eine Familie gründen wollten. Doch dann hatte Kai eine neue Stelle angeboten bekommen. Sie sahen sich nicht mehr so häufig und er war immer öfter auf Reisen. War er dann doch einmal zu Hause, verbrachte er sehr viel Zeit in der Agentur.

Als Elli so im Wasser lag und ihre Haut an den Füßen und Fingern zu schrumpeln begann, musste sie sich eingestehen, dass ihre Beziehung schon bessere Zeiten gesehen hatte. Im tiefsten Inneren konnte sie Kai sogar ein bisschen verstehen. Kein Wunder, dass er sich zurückgezogen hatte, bei ihrer krampfhaften Fixierung auf dieses eine Thema. Zeit aus der Wanne zu steigen und sich bei ihrer Freundin Kati auszuheulen! Die musste inzwischen zu Hause angekommen sein.

Elli betrachtete sich im Spiegel. Gedankenverloren strich sie über ihren flachen Bauch, betrachtete ihren schlanken hochgewachsenen Körper, ihre langen feuchten Haare, die sich zu widerspenstigen Locken über ihren Schultern ergossen. Das Klingeln des Telefons ließ sie aufschrecken.

„Hallo Kati! Das ist ja Telepathie!“

„Wie sieht’s aus bei dir? Hast du Lust auf ein Glas Wein rüber zu kommen?“

„Tolle Idee! Bis gleich.“

Kai schlenderte durch die verwinkelten Gassen von Valdemossa. Genussvoll streckte er sein Gesicht den warmen Sonnenstrahlen entgegen. Im Oktober gefiel ihm Mallorca am besten. Während zu Hause schon die ersten Herbststürme tobten, konnte man hier noch die letzten Sommertage genießen. Außerdem war jetzt schon Nebensaison. Es gab kaum noch Touristen auf der Insel. Heute Mittag, nachdem das letzte Bild im Kasten war, hätte er eigentlich gleich mit den anderen nach Palma fahren können, um mit der letzten Maschine zurück nach Deutschland zu fliegen. Aber als er sich auf der Terrasse eines Cafés einen Cappuccino bestellte, bereute er seinen Entschluss noch eine Nacht zu bleiben, keine Sekunde. Allein der Gedanke an die Stimmung daheim, ließ ihn alle Bedenken über Bord werfen. Er liebte Elli, keine Frage. Aber die Situation, in die sie beide sich mit dem für seine Begriffe viel zu früh ausgesprochenen Kinderwunsch hinein manövriert hatten, war für ihn mittlerweile unerträglich geworden. Er hatte schon gar keine Lust mehr auf Sex. Jegliche Spontanität war auf der Strecke geblieben. Wenn Elli in letzter Zeit dieses Thema auch nicht mehr anschnitt, hing es doch wie ein Damoklesschwert über ihnen. Nie würde er den Abend von neulich vergessen. Elli hatte wieder einmal einen ihrer unzähligen Tests hinter sich gebracht. Sie hatten eine Flasche von ihrem Lieblings-Bordeaux geköpft, und es hätte ein gemütlicher Abend werden können. Aber da kam sie auf die Idee, ihm einzureden es läge womöglich an ihm, dass sich bei ihnen kein Nachwuchs einstellte. Er war ja bis jetzt sehr tolerant gewesen und hatte alle ihre Sperenzchen mitgemacht. Aber da hörte es auf! Er hatte noch immer seinen Mann gestanden! Einfach absurd der Gedanke, bei ihm sei etwas nicht in Ordnung! An jenem Abend waren sie wortlos nebeneinander eingeschlafen und hatten seither auch nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Ab diesem Zeitpunkt hatte sich ihre Beziehung definitiv verändert.

Eine junge Spanierin lächelte ihn im Vorbeigehen kokett an. Mit einem Schlag waren alle seine trüben Gedanken wie weg geblasen. Er freute sich auf heute Abend. Ein paar Kollegen vom Team waren noch geblieben, ein paar der Models auch. Das würde sicher amüsant werden!

Kati war Innenarchitektin, was sich schwer leugnen ließ, wenn man ihre Wohnung betrat. Elli fühlte sich bei ihr immer sofort wohl. Allein diese hellen und freundlichen Töne, mit denen sie ihre Wohnung eingerichtet hatte, hoben gleich die Laune. Aber am besten gefiel ihr die Kuschelecke. Kati hat eine Nische in ihrem Wohnzimmer abgeteilt und hinter einem Paravent versteckt. Dahinter waren rote, gelbe und orangefarbene Kissen um einen Glastisch herum verteilt und in der Ecke stand eine kleine Getränkebar aus Chrom.

„So, dann lass uns mal einen Schlachtplan entwerfen.“ Kati entkorkte geschickt eine Flasche Rotwein. Sie kannte ihre Freundin gut genug, um gleich zu wissen, was diese bedrückte. „Ich schaue mir das ja schon eine Weile mit dir an, aber jetzt muss ich es dir doch einmal sagen. Ihr seid jetzt drei Jahre am Üben. Mit dir ist alles in Ordnung; es gibt also nur zwei Möglichkeiten. Entweder liegt das Problem bei Kai oder ihr beide passt biologisch einfach nicht zueinander.“

„Das gibt es doch gar nicht. Wir lieben uns. Wahrscheinlich haben wir nur nie den richtigen Zeitpunkt erwischt.“

„Das glaubst Du ja selbst nicht!“ Elli traf ein strafender Blick. „Wenn Du Dir ganz sicher bist, dass Du ihn liebst, solltest Du vielleicht mal die Möglichkeit ins Auge fassen, auf Kinder zu verzichten.“

„Niemals!“

Sie drehten sich, wie schon so oft, im Kreise. Nicht nur einmal hatten sie dieses Thema schon durchgekaut mit verschiedenen Lösungen, von Adoption bis hin zur Trennung von Kai. Nur etwas war diesmal anders. Sonst hatte Kati sie immer getröstet, gemeint, 'Du wirst sehen, beim nächsten Mal wird es klappen'. Alles leere Phrasen – aber es hatte immer geholfen. Elli war jedes Mal mit neuer Energie und Hoffnung nach Hause gegangen. Heute keine Spur davon.

Kati schwenkte leicht das Rotweinglas in ihrer Hand und blickte ihre Freundin nachdenklich an.

„Na sag schon, was Du ausgeheckt hast.“ Elli richtete neugierig den Blick auf ihr geheimnisvoll tuendes Gegenüber.

Zuerst war sie nur empört über den Vorschlag, den ihre beste Freundin ihr zu machen wagte. Aber als die ersten Wogen geglättet waren, folgte Elli aufmerksam deren Gedankengängen. Klar war, dass sie ihren Freund liebte und mit ihm ein Kind wollte. Es war auch medizinisch bewiesen, dass es nicht an ihr lag, sie also gebärfähig war. Katis Vorschlag, sie musste von einem anderen Mann schwanger werden, schockierte Elli. Aber Kati redete unbeirrt weiter: Kai müsste natürlich glauben, er sei der Vater. Deswegen durfte der geeignete Kandidat selbst keine Kinder wollen, kein näheres Interesse an ihr haben und es sollte natürlich eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern vorhanden sein. Je öfter sie diesen Gedanken durchspielten, desto mehr freundete Elli sich mit dieser Idee an. Aber wo lernte man so einen Mann kennen? Die beiden Frauen redeten sich richtig in Rage, während sie diese Frage erörterten. Doch schließlich fanden sie die Lösung. Solch ein männliches Exemplar war am besten durch eine Annonce zu finden! Jetzt musste nur noch der Text verfasst werden. Nur noch war leicht gesagt! Das war gar nicht so einfach. Nach langem Hin und Her waren sie sich jedoch einig:

GESUCHT

Netter Mann mit Niveau

zwecks Kinderzeugung ohne Konsequenz

Sie waren richtig stolz auf ihren produktiven Abend. Auf dem Nachhauseweg kicherte Elli in gespannter Erwartung in sich hinein.

So hatte Kai sich den Abend nicht vorgestellt. Verärgert strich er sich die Locken aus der Stirn. Sein Kollege Tim war mit den beiden einzigen Models, die nicht abgereist waren, verschwunden; wusste der Himmel wohin. Und er durfte den Abend mit Linda verbringen; der farblosen Kostümbildnerin. Die saß in ihren verwaschenen Jeans und einem ausgeleierten T-Shirt neben ihm am Tresen. Mit ihren kurzen braunen Haaren und ihrer knabenhaften Figur, konnte man sie von hinten auch für einen Kerl halten. Lustlos nippte er an seinem Whisky. Normalerweise trank er ja nur Wein, aber heute war ihm nach Whisky. Er erzählte Linda, den Spruch mit den drei Ws, dass er grundsätzlich nur Sachen mit W zu sich nahm, wie Wasser, Wein und Whisky. Taktvollerweise ließ er das vierte W, nämlich Weiber, weg. Linda verzog zu seiner Verwunderung keine Miene. Unsicher grinste er sie an.

„Du musst keinen Smalltalk mit mir halten. Wenn Du etwas Besseres vorhast, dann tu Dir nur keinen Zwang an! Mach Dir mal um mich keine Sorgen!“

„Aber nein, ich bleibe doch gerne bei Dir sitzen!“ Kai lächelte gönnerhaft. „Außerdem, wo soll ich denn hin? Sich zu zweit zu besaufen, macht doch viel mehr Spaß.“

„Was gibt es denn für einen Grund, sich zu betrinken?“

„Ich wüsste nicht, was Dich das angehen sollte!“

„Na, dann wünsch‘ ich Dir noch viel Spaß heute Abend!“ - und weg war sie. Kai guckte ihr verdutzt hinterher. Verärgert, dass er nun gar keine Gesellschaft mehr hatte, bestellte er sich gleich noch einen Doppelten.

Verschlafen rieb Elli sich die Augen, als die ersten Sonnenstrahlen ihr ins Gesicht schienen und versuchte die Ziffern auf ihrem Wecker scharf zu stellen. Was? Schon 8.00 Uhr! Gerade wollte sie ihre Beine aus dem Bett schwingen, da fiel ihr ein, dass ja heute Samstag war. Erleichtert ließ sie sich wieder auf ihr Kissen sinken. Normalerweise würde sie sich den Luxus gönnen und noch einmal einschlafen, aber heute wollte ihr das irgendwie nicht so recht gelingen. Das gestrige Gespräch mit ihrer Freundin schwirrte ihr im Kopf herum. Bei Tageslicht betrachtet, schien ihr der Plan doch zu absurd. Könnte sie sich überhaupt körperlich mit einem fremden Mann einlassen? Und wenn ja, dann war das ja eigentlich Betrug an ihrem Partner. Wie sollte sie überhaupt mit dem Wissen um ihr Vorhaben, Kai heute Abend in die Augen sehen? Da fiel ihr ein, dass sie ihm ja versprochen hatte, ihn vom Flughafen abzuholen. Wo hatte sie denn die verdammte Ankunftszeit aufgeschrieben? Ach in ihrem Bürokalender. Na toll! Da war natürlich jetzt keiner am Wochenende. In Kais Firma gab es doch immer eine Notbesetzung, fiel ihr ein. Tatsächlich, es nahm jemand ab. Ja, alle wären gestern schon angereist, nur Kai, Tim und Linda kämen erst heute, planmäßig um 17:15 Uhr an. Elli verdrängte das aufkeimende Misstrauen. Kai mag nicht perfekt sein, aber Untreue zählte sicher nicht zu seinen Fehlern. Außerdem kannte sie Linda. Sie war ganz bestimmt nicht sein Typ. Kai mochte weiblichere Frauen mit langen Haaren, so wie sie. Wie zur Bestätigung schaute sie in den Spiegel auf ihre blonde Lockenmähne. Aber wieso ist er dann nicht schon gestern mit den anderen gekommen, meldete sich eine leise Stimme in ihrem Inneren. Früher hätte er sie wenigstens angerufen und informiert, ganz davon abgesehen, dass er niemals verlängert, sondern die freie Zeit lieber mit ihr verbracht hätte. So langsam schlugen ihre Zweifel in Wut um. Ungerechterweise ließ sie völlig außer Acht, dass sie gestern noch froh war, einen ungestörten Abend mit ihrer Freundin zu verbringen. Der würde was zu hören kriegen, wenn er heute nach Hause käme. Mit einem Riesenschwung katapultierte Elli die unschuldige Abfalltüte neben den Eingang, um sie nachher mit nach unten zu nehmen. Mit Elan machte sie sich an den Abwasch. Das half ihr jedes Mal, wenn sie ihre Gefühle sortieren und über etwas nachdenken musste. Kai machte sich immer lustig darüber, denn sie hatten eine gut funktionierende Spülmaschine. Elli merkte wie ihre Wut langsam verrauchte und ihre Gedanken zu dem gestrigen Abend schweiften. Sie musste schmunzeln, bei der Vorstellung, wer wohl auf ihre Anzeige antworten würde. Das wird ein Spaß, mit Kati zusammen die Bewerber zu sichten! Sie könnte ja dann später immer noch entscheiden, ob sie antworten sollte, falls sich überhaupt jemand meldete. Auf alle Fälle würde sie am Montag gleich die Annonce für das kommende Wochenende in der lokalen Tageszeitung aufgeben und dann würde man ja sehen, wie die Dinge sich entwickelten.

Ausgerechnet! Musste dieses dämliche Flugzeug auch noch Verspätung haben! Ihm blieb auch nichts erspart. Neben ihm die schweigsame Linda, über ihm die grelle Flughafenbeleuchtung, die seinem Kater nicht gerade förderlich war. Und jetzt mussten sie auch noch eine Stunde in dieser nüchternen Wartehalle verbringen. Ergeben schloss er die Augen. Hinter ihm hörte er eine weibliche Stimme in vorwurfsvollem Ton auf einen Mann einreden, der nur ab und zu mürrisch brummte, was wohl so viel wie „ja“ bedeuten sollte. Szenen einer Ehe, dachte Kai schmunzelnd und blickte sich unauffällig nach dem Paar um. Dabei fiel sein Blick auf Linda und er bemerkte, dass auch sie belustigt die Unterhaltung verfolgt hatte. Eigentlich ganz angenehm, dass sie nicht so eine Plappertasche war. Seine Gedanken wanderten nach Hause. Was ihn da wohl erwartete? Er dachte an letzten Sonntag, als Elli ihn abends zum Flughafen gebracht hatte. Er kannte sie gut genug um zu spüren, dass sie in ziemlich aufgewühlter Stimmung war. Und obwohl sie in unausgesprochener Übereinkunft nicht mehr über dieses Thema sprachen, wusste er doch, dass wieder das magische Datum näher rückte, wo es hieß, 'Schwanger oder nicht schwanger, das ist hier die Frage'. Sie hätte ihn sicher gleich angerufen, wenn die Nachricht positiv gewesen wäre. Oder? Auf einmal war er sich gar nicht mehr so sicher. Die Kommunikation zwischen ihnen war in letzter Zeit nur noch auf das Nötigste beschränkt. Aber in ihrem Gesicht konnte er immer noch lesen wie in einem offenen Buch. Mit Sicherheit würde er gleich, wenn er sie sah, wissen was los war, ohne dass sie ihm irgendetwas zu erzählen brauchte.

Elli trommelte ungeduldig mit ihren Händen auf dem Lenkrad herum. Sie hatte nicht bedacht, dass um diese Uhrzeit die Straßen immer völlig verstopft waren. Die aktuelle Ankunftszeit von Kais Flieger hatte sie zu Hause schon im Internet nachgeprüft und war entsprechend später losgefahren, hatte sich dann aber zum Schluss etwas vertrödelt.

Als sie endlich ihren Wagen in der Tiefgarage geparkt hatte und abgehetzt oben am Ausgang vor der Gepäckausgabe stand, war keine Spur mehr von Kai zu sehen.

„So ein Mist!“ fluchte Elli laut, so dass sich einige Passanten nach ihr umdrehten. Sie hatte es sich so schön ausgemalt, wie sie Kai im Auto ins Verhör nahm, ohne Chance auf eine Flucht seinerseits. Allzu oft war es schon vorgekommen, dass Kai die Diskussion abgebrochen hatte, indem er einfach aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Aber aus dem Auto konnte er nicht einfach aussteigen, da musste er sich ihr stellen.

Bestimmt hatte er sich schon ein Taxi genommen oder war mit den anderen zusammen heim gefahren. Dadurch hatte sie ihm dummerweise einen taktischen Vorteil verschafft, denn er konnte ihr jetzt vorwerfen, dass sie ihr Versprechen, ihn vom Flughafen abzuholen, nicht eingehalten hatte.

Während Sie den Rückweg antrat, legte sie sich schon einmal zurecht, was sie ihm alles sagen wollte. Vor allen Dingen sollte er ihr beantworten, wieso er nicht schon gestern zurückgekommen war und sie nicht einmal angerufen hatte. Das wäre auf jeden Fall eine gute Einleitung zu der grundlegenden Frage, was ihm ihre Beziehung denn noch wert sei und wie er sich die Zukunft mit ihr eigentlich vorstellte.

Als sie die Haustür aufschloss, hörte sie Kai in der Küche herum hantieren. Also auf in den Kampf!

„Hallo!“ Elli blieb in der Küchentür stehen.

„Hallo, wie geht’s? Was gibt es Neues?“

„Wo warst Du denn?“ Sie beschloss gleich zur Sache zu kommen. „Ich war am Flughafen um Dich abzuholen, aber Du hattest es wohl so eilig, dass Du nicht auf mich warten konntest.“ Vorwurfsvoll blickte sie ihn an.

„Tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen, dass Du mich abholen wolltest. Ich habe mir ein Taxi genommen.“ Er versuchte einzulenken: „Komm, das ist doch nicht so schlimm!“

„Tja wenn Du mich mal angerufen hättest, dann wärst Du auf dem Laufenden gewesen“, giftete sie zurück. „Außerdem, wieso bist Du denn nicht mit den anderen gestern zurück gekommen? Hattest wohl keine Lust, das Wochenende mit mir zu verbringen?“

„Musst Du denn immer streiten? Anstatt Dich zu freuen, dass ich wieder da bin, machst Du mir nur Vorwürfe. Da macht es echt keinen Spaß nach Hause zu kommen!“

„Du hast mir nicht geantwortet. Was ist los mit uns beiden? Wieso ziehst Du es vor, mit Deinen Arbeitskollegen noch einen Tag länger zu verbringen, vielmehr eine Nacht mehr? Liegt der Grund vielleicht bei einer Frau?“

„Du wirst, wie immer, unsachlich. Ich habe keine Lust mehr, mir das länger zu geben. Ich lege mich jetzt schlafen.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen und verschwand im Schlafzimmer.

Das war mal wieder typisch! Genau wie sie vorhergesehen hatte, haute er mitten im Streit ab. Nie konnte er einen Konflikt bis zum Ende austragen! Auch wenn sie sich eingestehen musste, dass er Recht hatte und sie etwas unsachlich geworden war, sah sie jedoch nicht ein, wieso sie ihm nun die Hand zur Versöhnung reichen sollte. Warum musste immer sie die Initiative zu allem ergreifen! Er konnte ruhig auch einmal etwas für ihre Beziehung tun. Bitte, dann würde sie sich eben noch einen schönen Film im Fernsehen anschauen und erst später, wenn er schon schlief, ins Bett gehen. Was er konnte, konnte sie schon lange. Dann ging sie ihm eben auch aus dem Weg.

Elli schenkte sich eine Tasse Milchkaffee ein, während sie verstohlen im Anzeigenteil blätterte. Im Grunde kannte sie den Text ja in- und auswendig, aber es war noch einmal etwas anderes ihn schwarz auf weiß gedruckt zu lesen. Ein kurzer Blick auf Kai sagte ihr, dass er wie üblich mit dem Kulturteil beschäftigt war. Es war nun eine Woche vergangen, seit er aus Mallorca zurück war. Die letzte Woche war er nicht auf Reisen, sondern nur im Studio beschäftigt gewesen. Die Gelegenheit, sich häufiger zu sehen, wäre da gewesen. Aber irgendwie hatte Elli das Gefühl, dass Kai ihr aus dem Weg ging. Er war wieder häufiger auf seinen so genannten Geschäftsbesprechungen gewesen. Und wenn sie ehrlich war, kam ihr das sehr entgegen. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen, obwohl ja eigentlich noch gar kein Anlass dafür bestand. Ah, da war sie ja!

GESUCHT

Netter Mann mit Niveau

zwecks Kinderzeugung ohne Konsequenz

Darunter stand die Chiffre-Nummer und die Aufforderung ein Lichtbild mit zu schicken. Sie hatte sich entschieden, keine weiteren Auswahlkriterien in die Anzeige zu schreiben, sondern lieber auf Grund der Fotos und, sollte es zu einem Treffen kommen, nach dem persönlichen Eindruck zu entscheiden. Ob diese Zeilen wohl die richtigen Kandidaten ansprachen? Im Laufe der nächsten Woche würde sie es wissen, versuchte sie ihre Ungeduld zu bremsen.

Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Kai saß näher daran und nahm ab.

„Ja, ok, bis gleich.“ Zu Elli gewandt murmelte er etwas, das klang wie: „Muss noch mal kurz ins Geschäft, gibt ein Problem mit den Kontaktabzügen.“ Und weg war er.

Ziemlich perplex saß sie immer noch auf ihrem Stuhl. Komisch er schien gar nicht überrascht, so, als ob das vorher schon verabredet war. Wieder stiegen Zweifel in ihr auf. War da vielleicht doch eine andere Frau im Spiel? Sie hatten doch eigentlich vereinbart, dass sie heute ein bisschen raus ins Grüne fahren wollten, um zu wandern. Es wäre eine tolle Möglichkeit gewesen, sich mal wieder näher zu kommen. Deprimiert rief Elli ihre Freundin Kati an. Alleinsein wäre wirklich das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. 'Ach, Du hast Dich schon mit Jochen verabredet. Schade, na dann vielleicht ein anderes Mal.' Wie konnte sie auch erwarten, dass Kati an einem Samstag zu Hause saß und nur darauf wartete, dass sie anrief, um etwas mit ihr zu unternehmen. Wen kannte sie denn noch, der vielleicht nichts vorhaben könnte? Ihr fiel niemand ein. Alle in ihrem Bekanntenkreis waren Pärchen und hatten sicher schon etwas für das Wochenende geplant. Elli fühlte sich auf einmal ziemlich alleine. Bevor sie vollkommen in Selbstmitleid zerfloss, entschied sie sich, ins Büro zu fahren. Sie hatte ihre Arbeit in der letzten Woche sowieso ein bisschen schleifen lassen, und sie musste dringend diesen Werbetext für einen neuen potentiellen Kunden fertig stellen. Nächste Woche Mittwoch, sollte die Präsentation sein und ihr fehlte noch der zündende Funke. Es ging da um ein Parfum. Sie könnte natürlich auch zu Hause arbeiten, aber da gelang es ihr nicht so gut, sich zu konzentrieren.

Kai war dankbar über Lindas Anruf gewesen. Er hatte Elli nur die halbe Wahrheit erzählt. Die Kollegen hatten sich zum Brunch verabredet. Jeder konnte seinen Partner mitbringen, aber das wollte er ihr nicht auf die Nase binden. Elli war zwar in den letzten Tagen in guter Stimmung gewesen, gab sich ihm gegenüber aber trotzdem ziemlich reserviert. Das konnte er auch. Sie musste ja nicht alles wissen!

„Na, wo hast du denn deine Perle gelassen? Warum hast du Elli denn nicht mitgebracht?“ tönte es Kai entgegen, als er das Bistro betrat. Die anderen hatten schon ihre Gläser mit Sekt gefüllt und waren guter Dinge.

„Sie hatte schon was anderes vor. Gibt’s denn was zu feiern?“

„Peter tat sehr geheimnisvoll. Irgendetwas hat er uns wohl mitzuteilen. Der Sekt geht jedenfalls auf ihn, ließ er uns schon mal ausrichten.“ Ihr Boss war sonst nicht so spendabel. Es musste also schon einen besonderen Grund dafür geben.

„Was ist mit Dir, Natascha? Keine Ahnung?“ Kai blickte fragend zu Peters Sekretärin, die sonst immer auf dem Laufenden war. Aber die zuckte nur bedauernd die Schultern. „Keinen blassen Schimmer.“

„Na dann Prost“, Kai schaute sich in der Runde um. Jeder hatte eigentlich seine bessere Hälfte mitgebracht, bis auf Natascha und Linda. Natascha, das war ein offenes Geheimnis, lebte mit einer Frau zusammen, die bislang aber noch keiner kennen gelernt hatte. Und Linda? Es wusste eigentlich niemand etwas Genaueres über deren Privatleben. Sie redete ja nie viel. Kai fing einen spöttischen Blick von ihr auf, so als ob sie seine Gedanken erraten hätte.

In dem Moment kam Peter mit wehendem Trenchcoat zur Tür herein. „Sorry, ich bin noch aufgehalten worden.“

Alle blickten ihn erwartungsvoll an. Ohne große Umschweife kam er zum Thema. „Also Leute, hört mal alle her!“ Als ob nicht sowieso schon alle die Ohren gespitzt hätten. „Erinnert ihr euch an den letzten Auftrag auf Mallorca? Nun, unser Auftraggeber war so begeistert, dass er uns in Zukunft exklusiv unter Vertrag nimmt. Das heißt für seine Modefirma von der Katalogerstellung bis hin zur Werbung, beauftragt er nur noch die Werbeagentur Peter Kern! Was sagt ihr jetzt?“ Beifall kam von allen Seiten. „Eure Arbeitsplätze sind also gesichert.“ Allgemeines Gelächter machte sich breit. Wobei die Bemerkung gar nicht so abwegig war. Peter Kerns Agentur war klein und stand noch ganz am Anfang. Aber dies schien jetzt der große Durchbruch zu sein.

„Ich danke euch allen herzlich für Euer Engagement, Eure Loyalität und natürlich für die hervorragende Arbeit!“ Peter erhob sein Glas und das Team folgte seinem Beispiel. Das kam so ehrlich aus dem Munde des Chefs, dass alle direkt ein bisschen gerührt waren. Peter war sonst kein Mann großer Worte. „Kommt Ihr Lieben, lasst uns feiern! Das Buffet ist eröffnet.“ Peter ging voraus in ein Nebenzimmer. Dort war ein herrlicher Brunch vorbereitet. Es wurde ein so nettes Beisammensein, dass man beschloss, es noch auf den Abend auszudehnen.

Es war schließlich weit nach Mitternacht, als Kai, Linda und Tim untergehakt nach Hause wankten. Sie hatten alle drei fast den gleichen Heimweg. Tim wohnte nur ein paar Straßen weiter als Kai und wie sich herausstellte, lag Lindas Appartement auch nicht weit weg. Komisch, dass ich das bisher noch nicht wusste, dachte Kai bei sich. In bester Stimmung verabschiedeten die beiden Männer erst Linda und als nächstes waren sie vor Kais Haustür angelangt. Erleichtert stellte er fest, dass oben schon dunkel war. So musste er wenigstens keine unbequemen Fragen beantworten. Leise schlich er in die Wohnung - soweit es ihm möglich war in seinem Zustand. Als er sich neben Elli legte, schien diese jedenfalls fest zu schlafen. Kaum dass er sich ausgestreckt hatte, war auch er ins Reich der Träume entschwunden.

Es war ein typischer Montag! Er begann schon damit, dass kein Kaffee mehr vorrätig war. Vielleicht war es Einbildung, aber Elli konnte ohne eine Dosis Koffein nicht richtig wach werden. Kai lag noch in den Federn. Dass der noch immer schlafen konnte! Er hat den ganzen Sonntag im Bett verbracht, um seinen Kater auszukurieren.

Es war zwar erst halb sieben und normalerweise lag Elli um die Uhrzeit noch im Bett, aber sie mussten bis übermorgen die Präsentation unter Dach und Fach haben. Da würde die gesamte Projektgruppe um acht Uhr antreten. Ihr Chef war der Ansicht, dass Kreativität nicht nach Zeitplan funktioniere, deswegen hatte er die Gleitzeitregelung eingeführt. Ihm kam es lediglich darauf an, dass das Ergebnis zum Schluss stand. Nur mittwochmorgens war für jeden von 10.00 bis 12.00 Uhr Anwesenheitspflicht für eine Personalbesprechung mit seinen Projektleitern. Die restlichen Tage überließ er es ihnen, ihre Truppe zu organisieren.

Der Verkehr war mörderisch um diese Zeit. Es dauerte ewig bis sie vor dem modernen Gebäude ankam, in dem sich ihr Arbeitsplatz befand. Direkt vor dem Haus war ein Parkplatz frei. Um die frühe Uhrzeit fingen in der Agentur noch nicht allzu viele Leute an zu arbeiten. Zu ihrem Erstaunen war ihr Team schon im Besprechungszimmer versammelt. Ihre Projektgruppe bestand aus sieben Leuten: Willi - dem Grafikdesigner, Rike - der Texterin, Stefan - dem Computerfachmann, Anna - der Auszubildenden, dann natürlich aus dem Fotografen und Kameramann Nick mit seinem Assistenten Phillip und Jule - der Maskenbildnerin. Sie selbst war als Projektleiterin für das Team und die Koordination aller Aufgaben verantwortlich. Sie waren ein toller Haufen; alle verstanden sich hervorragend.

„So, zeigt mal alle Eure Ideen her“ forderte Elli auf und blickte erwartungsvoll in die Runde. „Breitet einfach mal alles auf dem Tisch aus!“

Bald standen alle wild diskutierend um die Zeichnungen, Fotos und Texte herum. Elli war die einzige, die sich nicht daran beteiligte, sondern stumm um die Vorschläge herum lief, ab und zu mal einen Entwurf in die Hand nahm, aber sonst tief in Gedanken versunken zu sein schien.

„Also Leute“, Elli machte eine kurze Pause, um sicher zu gehen, dass sie die volle Aufmerksamkeit des ganzen Teams hatte, „das ist ja alles ganz nett. Schöne Frauenkörper, gute Texte mit Schlagwörtern, wie Sinnlichkeit, Verführung der Sinne und so weiter, also die Erotikmasche. Aber dafür braucht Herr Beckmann nun wirklich keine Werbeagentur zu beauftragen. Das würde er ganz gut auch alleine hinbekommen. Wir brauchen etwas Witziges, etwas das aus dem Rahmen fällt und hängen bleibt; also etwas Außergewöhnliches mit Wiedererkennungswert. Wir machen jetzt folgendes: eine Stunde Brainstorming in Kleingruppen. Ihr zieht Euch für vier Stunden zurück. Danach“, sie blickte jedem einzelnen in die Augen, „will ich Ergebnisse sehen!“

Kaum war Elli aus dem Haus, regten sich auch schon Kais Lebensgeister. Er hatte den ganzen Sonntag im Bett verbracht, Elli in dem Glauben lassend, er müsse seinen Rausch ausschlafen. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit gewesen. In Wirklichkeit wollte er einfach seine Ruhe haben und nachdenken. Er hatte gestern einen Entschluss gefasst und suchte nach etwas zu schreiben. Oft konnte man seine Gedanken besser ausdrücken, indem man sie zu Papier brachte. Außerdem hatte er keine Lust auf Streit und Szenen; das hatte er noch nie vertragen können. Elli war da ganz anders; sie scheute keine Auseinandersetzung. Manchmal dachte er, würde sie diese sogar regelrecht genießen! Er fühlte sich dann immer so in die Enge getrieben, dass er an nichts anderes mehr denken konnte als an Flucht, wie ein verängstigtes Tier, das verzweifelt versucht der zuschnappenden Falle zu entgehen. Sowieso wusste er meistens nicht, warum sie sich überhaupt stritten. Eigentlich war doch alles in Ordnung, würde sie ihn nur in Ruhe lassen. Es war ihm rätselhaft, wo Elli immer die Probleme herzauberte! Bisher waren es ebenso klassische wie triviale Themen, wie die falsch ausgedrückte Zahnpastatube oder umherliegende Socken. Aber als nun neuerdings das Babythema hinzugekommen war und Elli immer unausstehlicher wurde, war ihm endlich klar geworden, dass sich etwas ändern musste. Er wusste zwar nicht genau wie und was, aber dass es so nicht weitergehen konnte, lag für ihn auf der Hand. Erst war es nur ein wages Gefühl, das er nicht so recht zu deuten wusste. Mittlerweile wurde es jedoch immer greifbarer und drang nun endlich in sein Bewusstsein.

Die Straßenlaternen brannten schon lange, der Feierabendverkehr war längst verebbt und die Restaurants waren belebt, als Elli Richtung Wohnung fuhr. Es war ein anstrengender, aber sehr erfolgreicher Tag gewesen. Sie hatten endlich das Konzept für die Parfum-Kampagne fertiggestellt. Morgen musste dann noch alles zu Papier gebracht werden, von der kreativen Ausführung bis hin zum Budgetplan. Da hatte sie noch viel zu tun, bis sie dies dann am Mittwoch dem Auftraggeber würde präsentieren können. Sie freute sich darauf, sich zu Hause mit einem Glas Wein auf die Couch in eine Decke zu kuscheln und noch ein bisschen zu lesen. Aber lange würde sie heute nicht aufbleiben. Sie hatte sich fest vorgenommen, früh ins Bett zu gehen, da sie am nächsten Tag einen langen Arbeitstag mit mindestens 14 Stunden erwartete.

Komisch in der Wohnung brannte gar kein Licht. Um diese Uhrzeit war Kai doch normalerweise schon zu Hause. Aber es war andererseits auch wieder zu früh für ihn schon im Bett zu liegen. Elli hatte ein feines Gespür und sie ahnte schon, dass hier etwas nicht stimmte; da gab es gar keinen Zweifel!

Sie sah ihn sofort. Der Brief lag neben dem Anrufbeantworter. Kai wusste, dass sie immer zuerst nachschaute, ob jemand angerufen hatte. Mit einem Glas Wein und dem Umschlag, auf dem in großen Lettern ihr Name prangte, machte sie es sich auf dem Sofa gemütlich. So erst mal die Post durchschauen: ein Brief persönlich an Frau Elisabeth Funk. Wenn sie bei deren Lotto-Tipp-Gemeinschaft mitspiele, hätte sie garantiert die Aussicht auf einen immensen Gewinn. Außerdem lud man sie zu einer Kaffeefahrt in den Schwarzwald ein. Beides las Elli, ganz gegen ihre Gewohnheit, sehr gründlich und aufmerksam durch. Bloß den Moment hinauszögern, da sie den handbeschriebenen Umschlag aufmachen musste. Denn, dass es sich hier um etwas Unangenehmes handelte, war irgendwie klar. Kai war nämlich kein Mann der normalerweise Briefe schrieb. Was er ihr wohl mitzuteilen hatte? Sicher hatte es mit ihrer Beziehung zu tun. Vielleicht war eine andere Frau im Spiel? Ihr Zusammensein war schon in letzter Zeit etwas leidenschaftsloser als noch vor ein paar Jahren, aber das war ja nur natürlich. Elli kannte in ihrem gesamten Freundeskreis kein Pärchen, das nach 3 Jahren noch so verliebt war, wie am ersten Tag.

Sie gab sich einen Ruck und nahm den Brief in die Hand. Immer und immer wieder las sie die Zeilen. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, was da schwarz auf weiß in einer klaren Handschrift zu lesen war. Sie bräuchten eine Pause, ihre Beziehung sei einfach festgefahren. Er hätte jetzt ohnehin die nächste Zeit viel auf Mallorca zu tun und da könne er die wenigen Tage, die er in Deutschland sei, bei einem Freund unterkommen. Er denke, so zwei Monate würden ihnen beiden gut tun. Es wäre auch besser, sich in dieser Zeit nicht zu kontaktieren. Er würde sich dann wieder Anfang Dezember bei ihr melden. Seine wichtigsten Sachen habe er bereits zusammengepackt und mitgenommen.

Das alles klang so endgültig. So als ob schon klar war, dass man sich auch nach der Trennungszeit nicht mehr zusammenraufen, sondern jeder seiner eigenen Wege gehen würde. Es als Pause zu deklarieren, war nur ein bisschen leichter. Die Entscheidung war noch offen und man musste sich noch nicht festlegen. So blieb die Hoffnung, dass alles wieder so werden könnte wie früher.

Nach den ersten Tränen und einem großen Schluck Rotwein, kehrte sich ihr anfänglicher Schock und ihre Enttäuschung so langsam in Wut um. Gut, wenn er es so haben wollte, wenn er es nicht einmal für nötig befände, ihr dies in einem persönlichen Gespräch mitzuteilen, ihr nicht die Chance auf eine Rechtfertigung gab, sie einfach vor vollendete Tatsachen stellte, na dann solle er doch ohne sie glücklich werden! Er würde schon sehen, was er davon hätte! Sie käme auch ohne ihn klar!

Sie ging erschöpft ins Bett und ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen tiefen traumlosen Schlaf fiel, war, dass die ganze Aktion mit der Anzeige nun hinfällig geworden war. Da war nun niemand mehr, dem sie ein Kind unterjubeln konnte.

Das Team hatte den ganzen Dienstag und die halbe Nacht durchgearbeitet. Endlich stand die Präsentation. Am nächsten Morgen durften alle ausschlafen, bis auf Elli und ihren Assistenten Willi. Die hatten einen Termin mit Herrn Beckmann, um ihm das Konzept für seine Werbekampagne vorzustellen.

Wie er wohl war? Bestimmt so ein geschniegelter Lackaffe. Gerade in dieser Branche, hatte Elli die Erfahrung gemacht, waren die Firmenchefs meist sehr arrogant und herablassend. Sie wurde plötzlich ganz wütend auf die gesamte Männerwelt. Der bräuchte ihr gar nicht blöd kommen, dieser Schnösel! Dem würde sie es schon zeigen. Selbst wenn es für die Agentur Wagner äußerst wichtig war, diesen Auftrag an Land zu ziehen, würde sie sich nicht von so einem überheblichen Unternehmer ins Bockshorn jagen lassen. Überhaupt würde sie sich nie wieder von einem Mann verletzen lassen! Wenn die Männer es nicht für nötig hielten, ihr Respekt entgegen zu bringen, dann bräuchte sie das erst recht nicht zu tun! Moment, bremste sie eine Stimme aus ihrem Unterbewusstsein, über wen redest du denn da überhaupt? Ihr fiel die Geschichte von Paul Watzlawick ein, in der ein Mann sich bei seinem Nachbarn ein Hammer leihen wollte und sich so sehr ausmalte, dass dieser ihm nicht wohlgesonnen wäre, dass er ihn am Ende anbrüllte und meinte, er solle seinen doofen Hammer doch behalten, ohne ihn überhaupt gefragt zu haben.

In diesem Moment brachte die Empfangsdame Herrn Beckmann in den Besprechungsraum. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Ihr erster Eindruck entsprach hundertprozentig ihrer Vorstellung. Ein selbstbewusst wirkender, durchtrainierter, geradezu unverschämt gut aussehender Mann stand ihr gegenüber. Als er ihr zur Begrüßung die Hand gab – einen warmen festen Händedruck -, wie Elli nebenbei registrierte, ließ er seinen Blick ungeniert von ihrem Gesicht über ihren Körper bis zu ihren langen Beinen gleiten. Seine dunklen Augen blitzten für einen kurzen Moment anerkennend auf, sein süffisantes Lächeln blieb. Warum hatte sie auch heute Morgen nach ihrem Kostüm mit dem kurzen Rock gegriffen und den dazu passenden High Heels? In ihrem blauen, klassischen Hosenanzug und den flachen Pumps hätte sie sich jetzt eindeutig wohler gefühlt! Er zog sie förmlich aus mit seinem Blick. Sie merkte wie ihre mühsam aufgebaute Selbstsicherheit bröckelte. Wo blieb denn nur ihr Assistent? Und hatte Herr Beckmann denn niemanden mitgebracht? Trotzig erwiderte sie seinen Blick und forderte ihn auf, sich doch zu setzen. „Möchten Sie einen Kaffee, Wasser oder einen Saft?“

„Danke, ein Wasser wäre nett.“ Er hatte immer noch dieses leicht ironische Lächeln um seine Lippen. „Ein nettes Kostüm, das Sie da tragen.“

„Das Kompliment kann ich zurückgeben. Ihr Anzug ist äußerst kleidsam.“ Macho, schnaubte Elli innerlich, während sie ihm ein Wasser einschenkte. Wäre sie ein Mann, hätte er keine Bemerkung über ihre Kleidung gemacht. „Und Ihre Krawatte ist farblich wirklich sehr gut auf ihr Ensemble abgestimmt.“

Überrascht blickte er sie an. Kurz stockte ihr der Atem, als sie versuchte seinem Blick stand zu halten. In diesen dunklen, geheimnisvoll glitzernden Augen hätte sie sich glatt verlieren können.

„Nun gut, wir sind nicht hier, um über Banalitäten zu plaudern. Wie wäre es, wenn sie nun Ihren Vorgesetzten holen, um mir das Werbekonzept für meine Kampagne vorzutragen.“

Das brachte sie wieder auf den Boden der Tatsachen. Ihr erster Eindruck war richtig: ein überheblicher Macho par excellence!

„Ich bedaure, aber Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen. Ich bin hier die Projektleiterin. Mein Assistent wird sicher gleich hier sein, doch wir können gerne schon beginnen.“ Trotzig schaute sie ihm in sein unverschämt grinsendes Gesicht. Na warte, dem würde sie schon zeigen, was sie drauf hatte!

Schon bald hatten beide unter Ellis Ausführungen ihr kleines Geplänkel vergessen. Schwungvoll und mit Überzeugungskraft erläuterte sie ihm die geplante Kampagne und legte den hierzu aufgestellten Budgetplan vor. Er hörte aufmerksam zu und nickte nur ab und zu beifällig. Sie waren beide so vertieft, dass sie aufschreckten als Willi in den Raum kam. Er murmelte eine Entschuldigung und versuchte sich unauffällig, wie ein Schulkind, das zu spät zum Unterricht kommt, hinzusetzen. Da ihn aber nun beide anstarrten, als wäre er ein Außerirdischer von einem anderen Planeten, meinte er, sich verteidigen zu müssen. Es sei ja gestern sehr spät geworden, da sie ja das Angebot für Herrn Beckmann fertig stellen mussten und dann hätte er heute Morgen den Wecker überhört. Je mehr er sich entschuldigte, desto peinlicher wurde es. Denn allen Beteiligten war klar, dass Elli ja mindestens genauso lange gearbeitet hatte und nun hier frisch und hellwach das Projekt vorstellte. Beide beugten sich wieder über den Budgetplan. Elli redete weiter und war bald darauf wieder so in Fahrt, dass sie versehentlich Herrn Beckmanns Hand streifte. Sie zuckte zurück und konnte es nicht verhindern, dass sie leicht errötete. Doch sie schaffte es, sich schnell wieder in den Griff zu bekommen und fuhr ohne weitere Unterbrechungen mit ihren Ausführungen fort.

Als sie ihre Präsentation abgeschlossen hatte, stand Herr Beckmann auf, blickte mit einem schiefen Grinsen auf Willi: „Ich denke, wir Männer haben nun diesem energischen Vortrag nichts mehr hinzuzufügen.“ Und zu Elli gewandt. „Ich werde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden. Vielen Dank einstweilen.“ Und weg war er.

Willi und Elli blickten sich perplex an. Mit so einer abrupten Verabschiedung hatten beide nicht gerechnet. Ihr Assistent schickte sich noch einmal an, sich zu entschuldigen, doch sie winkte nur müde ab und packte ihre Unterlagen zusammen. Auf einmal überkam sie die Erschöpfung durch den Stress der letzten Tage. Sie wollte nur noch in ihr Bett und schlafen, bis sie wieder von alleine aufwachte. Und genau das war es, was sie jetzt gedachte zu tun: Nach Hause ins Bett, ohne Wecker – und ohne Mann, fügte sie noch sarkastisch in Gedanken hinzu.

Auf dem Nachhauseweg gingen ihr die letzten Stunden noch einmal im Kopf herum. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, wie Herr Beckmann sich nun entscheiden würde. Was sie aber nicht mehr losließ, das war die Erinnerung an seine verwirrend männliche Ausstrahlung und deren Auswirkung auf ihr Gemüt.

Fast hätte sie die Geschichte mit Kai vergessen. Sie wollte jetzt auch gar nicht darüber nachdenken; erst würde sie einmal schlafen. Lächelnd musste sie an ihren früheren Lieblingsroman denken. Scarlett O’Hara würde jetzt auch sagen, ‚Morgen ist auch noch ein Tag, dann werde ich über all das nachdenken‘.

Zu Hause kam ihr der Postbote im Hausflur entgegen: „Gut, dass ich Sie hier treffe! So viele Briefe hätte ich niemals in Ihren Briefkasten bekommen.“ Mit diesen Worten drückte er ihr einen Stapel Post in die Hand. Verblüfft blickte sie auf die Umschläge. Du meine Güte! Das waren alles Antworten auf ihre Chiffreanzeige. Noch immer fassungslos schloss sie die Wohnungstür auf und ließ die Briefe auf den Couchtisch fallen. Die würde sie erst später, nach ihrem wohlverdienten Schlaf lesen. Erschöpft schlüpfte sie aus ihrem Kostüm, warf sich auf ihr Bett und ehe sie noch irgendeinen Gedanken fassen konnte, war sie schon eingeschlafen.

Lachend blickte Kati auf. „Hör mal, was der schreibt!

Ich bin bereit mich zu opfern. Ich habe eigentlich schon seit Jahren dem Sex entsagt, um mich ganz Gott, unserem Herren hinzugeben. Da ich aber über hervorragendes Genmaterial verfüge, würde ich Ihnen dieses zur Verfügung stellen.

Na, was sagst Du zu unserem Heiligen?“

„Oder der hier!“ Elli wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft herum. „Ich kenne alle Stellungen des Kamasutra. Du darfst Dir gerne eine aussuchen. Oder noch besser – wir probieren sie alle gemeinsam aus.

Na, wenn das nicht edelmütig ist. Wie viele gibt es denn da eigentlich?“

„Keine Ahnung. Aber schon einige. Zeig mal her, wie sieht der denn aus?“

Elli reichte ihr das Foto rüber. Es war eine gute Idee gewesen, ein Lichtbild angefordert zu haben. Er musste ja Kai etwas ähnlich sehen und natürlich schon ein bisschen ihr Typ sein.

„Huch, nicht gerade ein Traumprinz. Vielleicht, wenn er seinen Ziegenbart abrasieren würde.“ Die beiden Freundinnen kicherten.

Elli war am frühen Abend aufgewacht und hatte sich richtig erfrischt und erholt gefühlt. Da sie die Briefe zusammen mit Kati lesen wollte, hatte sie mit dem Öffnen auf ihre Freundin gewartet. Schließlich hatte die ja auch die Idee ausgeheckt. Auch wenn Elli immer wieder betonte, dass sie ihren Plan jetzt nicht mehr in die Tat umsetzen würde, da sie ja nun niemanden mehr hatte, dem sie das Kuckucksei ins Nest legen konnte, hatten die beiden doch sehr viel Spaß beim Lesen der vielen Briefe.

Kati verstand Ellis Bedenken nicht. Wenn sie sofort schwanger würde, könnte sie damit Kai doch wieder zurückgewinnen. Mit der Begründung, er sei nun doch Vater geworden, würde er sich niemals seiner Verantwortung entziehen.

Elli guckte ihre Freundin empört an. Erstens wäre Kai ja nicht doof und könnte nachrechnen, dass er als potentieller Erzeuger gar nicht in Frage käme, da sie ja auch schon vorher eine Weile nicht mehr miteinander geschlafen hatten und zweitens, war sie sich gar nicht so sicher, ob sie Kai überhaupt zurück haben wollte. Zuerst hatte es ihr natürlich einen Stich versetzt, dass er sie so einfach verlassen konnte. Andererseits war so eine räumliche Distanz vielleicht gar nicht so schlecht, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Ja, seufzte sie, das war schon so eine Sache mit der verletzten Eitelkeit.

„Du hast ja zwei Monate Zeit, Dir zu überlegen, ob Du um ihn kämpfen willst oder ob es dir lieber ist, dass ihr euch wirklich trennt“, meinte Kati, die ihre Gedanken zu erraten schien. „In der Zwischenzeit kannst Du Dich ja erst einmal amüsieren.“

In gespielter Empörung bewarf Elli ihre Freundin mit den geöffneten Briefen.

„Du glaubst ja wohl nicht im Ernst, dass ich mich mit einem von diesen Hirnamputierten treffen werde! Zeige mir einen dieser Kandidaten, die Du auch nur in die engere Wahl nehmen würdest!“

„Zugegeben, von denen kommt keiner in Frage. Aber wir können ja mal abwarten, da kommen sicher noch mehr Briefe. Nicht alle reagieren sofort. Dann triffst Du Dich erst einmal mit jemandem zum Beschnuppern und dann können wir die ganze Sache ja so abstimmen, dass Du schwanger wirst, kurz bevor Du Kai wieder triffst. Zur Versöhnung ziehst Du ihn dann in die Kiste und schon wird er zum Vater.“

„Du stellst Dir das alles so einfach vor. Erstens heißt es ja nicht, dass ich sofort beim ersten Mal schwanger werde, zweitens bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich mit einem wildfremden Mann ins Bett kann, drittens werden wir vielleicht gar keinen potentiellen Kandidaten finden und viertens weiß ich gar nicht, ob ich Kai wieder zurück haben will und fünftens kann es ja auch sein, und das finde ich am Allerwahrscheinlichsten, dass Kai gar nicht mehr zu mir zurückkommen will.“

„Und sechstens fällt Dir bestimmt auch noch ein. Übrigens, zu zweitens: Du musst doch nicht unbedingt mit ihm ins Bett. Da gibt es ja auch andere Methoden an den männlichen Samen zu kommen.“ Kati lächelte amüsiert. „Selbst wenn alle bisherigen Bewerber diese Möglichkeit eindeutig nicht in Betracht ziehen. Aber jetzt sei doch mal ein bisschen optimistischer! So kenne ich Dich ja gar nicht!“

„Ach, ich weiß. Ich bin wohl bloß überarbeitet. Ich habe eine anstrengende Präsentation hinter mir. Ich habe Dir doch von dieser Parfum-Kampagne erzählt, Du erinnerst Dich?“

„Ja genau, wie war es denn? Und der potentielle Auftraggeber? Hattet ihr einen Draht zueinander? Das ist ja immer wichtig bei solchen Verkaufsgesprächen.“

„Es ging“, meinte Elli und konnte es zu ihrem Ärger nicht verhindern, dass sie leicht errötete.

„Aha, daher weht der Wind! Er gefällt dir wohl!“

„Ach Quatsch! Wie kommst Du denn drauf? Ich habe Herrn Beckmann doch erst heute kennen gelernt. Außerdem bin ich ja noch nicht endgültig von Kai getrennt“, verteidigte sich Elli.

„Mir kannst Du nichts vormachen, ich kenne Dich. Aber das ist doch in Ordnung. So ein kleiner Flirt ist ja wohl erlaubt und schadet doch niemandem; besonders wenn man eine Beziehungspause eingelegt hat.“ Kati gähnte. „Ich muss jetzt los. Morgen früh um sieben klingelt der Wecker.“ Sie ließ ihre weitaus weniger müde Freundin alleine zurück.

Und wieder fühlte Elli sich total einsam in ihrer Wohnung. Doch da war noch etwas anderes, was sie bedrückte. Kai und sie hatten sich die Miete bisher geteilt. Sie würde es sich gar nicht leisten können, hier weiter wohnen zu bleiben, sollten sie sich wirklich trennen. Sie würde sich etwas Kleineres und Günstigeres suchen müssen. Aber vielleicht war das sowieso besser, als weiterhin in dem Appartement zu wohnen, in dem sie alles an Kai erinnerte. Sie musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass es nicht der Gedanke an Kai war, der sie traurig stimmte, sondern die Erinnerung an eine geborgene, vertraute Zweisamkeit. Kurzum, sie musste zugeben, dass sie Angst vor dem Alleinsein hatte. Nachts war es besonders schlimm! Da hatte sie keine Ablenkung und die Gedanken kreisten ungehindert in ihrem Kopf herum. Komischerweise fielen ihr, wie sie so in ihrem Bett lag, dann nur noch die schönen Momente ein, die aus allen Ecken ihres Unterbewusstseins hervorkrochen. Nachdem sie sich bis weit nach Mitternacht hin und her gewälzt hatte, quälte sie sich wieder aus dem Bett, um im Badschränkchen nach Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten zu suchen. Nichts! Wieso auch! Sie und Kai hatten nie unter Schlafstörungen gelitten! Dann musste sie sich halt mit Rotwein betäuben. Gesagt getan. Und wirklich nach einem Glas war Elli auf einmal sehr müde. Sie konnte nur noch denken, bevor sie ins Bett sank, dass das nicht zur Gewohnheit werden dürfe, sonst würde sie noch als einsame, alte, traurige Alkoholikerin enden, der ihr Leben entglitt und die keiner mehr haben wollte.

Ihm ging einfach der gestrige Vormittag nicht mehr aus dem Kopf. Diese Frau hatte ihn doch mehr beeindruckt, als er sich eingestehen wollte. Während Jan Beckmann in seiner Betriebskantine zu Mittag aß, schweiften seine Gedanken immer wieder ab, obwohl seine Assistentin unablässig auf ihn einredete. 'Man müsse sich das gut überlegen mit der Projektvergabe, es hinge ja schließlich sehr viel von dieser Werbekampagne ab. Es täte ihr sehr leid, dass sie gestern krank gewesen sei, aber heute Nachmittag, wenn der zweite Bewerber sein Angebot präsentieren wird, wäre sie natürlich an seiner Seite. Da könne er ganz unbesorgt sein.' Nathalie Weber lächelte ihren Boss an und schüttelte kokett ihr schulterlanges dunkles Haar. Jan lächelte geistesabwesend zurück und nickte: „Klar können Sie heute mit dabei sein.“ Insgeheim hatte er sich sowieso schon entschieden. Er neigte zwar nie dazu, seine beruflichen Entscheidungen von emotionalen Gründen beeinflussen zu lassen, aber diese Frau Funk ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Davon abgesehen, rechtfertigte er sich vor sich selbst, hatte sie ihr Konzept überzeugend, stichhaltig und kompetent vorgetragen. Der Form halber musste er sich jedoch noch ein zweites Angebot einholen.

„Wie bitte?“ Jan zuckte zusammen. „Ich habe die Frage nicht ganz mitbekommen.“

„Wie das Treffen gestern war, wollte ich wissen.“

„Wir werden morgen die Berichte zusammen durchgehen und dann die Entscheidung fällen“, wich er aus.

„Nehmen Sie noch ein Dessert?“ fragte er, obwohl er genau wusste, dass seine Sekretärin extrem auf ihre Figur achtete und niemals etwas so Sündhaftes essen würde, wie einen süßen Nachtisch. Ihr Kopfschütteln bestätigte seine Vermutung.

„Na, dann müssen wir jetzt los. Sind sie soweit?“

„Sicher“, meinte Nathalie munter, „von mir aus können wir gehen.“

Beide räumten ordnungsgemäß ihr Tablett bei der Rücklaufstation ein. Jan legte sehr viel Wert darauf, genau dort zu Mittag zu essen, wo seine Mitarbeiter ihre Mahlzeit einnahmen. Erstens bildete er sich ein, sich so ein Bild von der Stimmung seiner Mitarbeiter machen zu können und außerdem sorgte er so auch gleichzeitig für eine kontinuierliche Qualität des Speiseplanes. Der Betriebsleiter seiner Kantine achtete so viel mehr darauf, was er zubereitete, wenn der Chef das Gleiche aß wie seine Angestellten.

Während sie in seinem Auto, einem flotten Jaguar Cabrio, zu ihrem Termin fuhren, plapperte seine Assistentin ohne Unterlass auf ihn ein. Sonst war ihm das eigentlich immer gleichgültig gewesen. Auch die Tatsache, dass sie sich wohl in ihn verguckt hatte, ignorierte er normalerweise. Aber heute war es ihm irgendwie lästig. Er wollte lieber in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Aber sie waren ja sowieso gleich bei dem anderen Bewerber angekommen. Er hoffte, dass deren Vorschlag schlechter war als der, von der Agentur Wagner. So würde er guten Gewissens seine Entscheidung treffen können.

Das hatte er sich nicht so vorgestellt, als er den Brief geschrieben hatte. Er hätte in der Geschichte eigentlich der strahlende Held sein sollen, der sich auf seinem edlen Ross in Richtung Sonnenuntergang bewegte, während sie weinend und nach ihrem Herzallerliebsten schmachtend zurückblieb. Gut, das mit dem Weinen und Schmachten konnte er nicht überprüfen, aber der erste Teil schien sich auch nicht im Entferntesten zu erfüllen. Er fühlte sich alles andere als heldenhaft, eher sehr einsam und alleine. Dabei war doch er derjenige, der seine Freundin verlassen hatte. Trübsinnig starrte Kai zum Fenster hinaus. Das Wetter trug auch in keinster Weise dazu bei, seine Stimmung zu heben. Es nieselte unaufhörlich, alles war grau. Tim, bei dem er erst einmal untergeschlupft war, verbrachte das Wochenende bei seiner Freundin. Und es war erst Freitagabend! Er hatte sich ein bisschen Ablenkung und Trost von seinem Kollegen und einzigen Freund erhofft, aber lieber hätte er sich die Zunge abgebissen, als ihn zu bitten, bei ihm zu bleiben. Bevor ihm nun die Decke auf den Kopf fiel, ließ er sich doch lieber bei einem kleinen Abendspaziergang durchweichen. Gesagt getan! Nichts wie raus aus der fremden Wohnung. Anstatt in den Sonnenuntergang zu reiten, lief er zwar jetzt in den kalten Regen und dichten Nebel hinein, aber es passte zu seiner Stimmung und hatte irgendwie etwas Melodramatisches an sich.

Plötzlich fand er sich in seiner alten Straße stehend und zu seiner Wohnung hinaufschauend wieder. Es war nichts zu erkennen, außer dass Licht brannte. Ob er wohl mal kurz hinaufgehen sollte, um zu schauen wie es ihr so ging? Bloß nicht, ermahnte ihn sein Ego. Wie sieht das denn aus, wenn er von zwei Monaten nicht einmal die erste Woche durchhielt. Schnell eilte er weiter, bevor ihn noch jemand dabei ertappen konnte. In Gedanken und Selbstmitleid versunken, kam ihm die Gegend auf einmal wieder sehr bekannt vor. Wann war er hier noch gleich gewesen? Ach ja, das war ja gerade letzte Woche gewesen, als er mit Tim, Linda nach Hause gebracht hatte. Es kam ihm schon wie eine Ewigkeit vor. Ob er wohl mal bei ihr klingeln sollte? Vielleicht hatte sie ja Lust darauf, mit ihm etwas trinken zu gehen. Aber es könnte ja auch sein, dass sie gar nicht alleine war. Eigentlich wusste er gar nichts von seiner Kollegin; nicht einmal, ob sie einen Freund hatte oder vielleicht noch bei ihrer Mutter wohnte.

Genau in diesem Moment ging die Haustür auf und Linda trat mit einem Müllsack heraus. Verdutzt schaute sie ihn an.

„Was machst Du denn hier?“

„Ehm“, verlegen druckste er herum. Es sah ja fast so aus, als ob er mit Absicht zu ihr gekommen war. „Ich bin gerade zufällig hier vorbeigekommen. Habe einen Abendspaziergang gemacht.“

„Klar, ich gehe bei diesem Wetter auch immer noch mal um den Block.“ Spöttisch schaute sie ihn an. Aber dann sah sie etwas in seinem Blick, das nicht zu dem flachsigen Umgangston, den sie sonst miteinander pflegten, passte.

„Eigentlich wollte ich nur den Müll in die Tonne werfen, aber wenn Du Lust hast, kannst du mich auf ein Bier einladen. Ich kenne da eine ganz nette Kneipe, gleich um die Ecke.“ Fragend blickte sie zu ihm auf.

„Warum eigentlich nicht. Ich habe eh gerade nichts Besonderes vor.“ Betont lässig stimmte er zu. Bloß nicht zeigen, wie froh er über ihre Gesellschaft war.

„Ach, ich dachte, Du wolltest die Pfützen zählen.“

„Du muss auch immer das letzte Wort haben.“

Schweigend setzte sie sich in Bewegung, keinen Zweifel daran lassend, wer hier immer das letzte Wort haben musste.

In der Kneipe angekommen, ergatterten sie noch einen freien Tisch, bestellten sich jeder ein Bier und musterten sich dann verstohlen. Es war irgendwie eine komische Situation. Sie hatten selten ein Wort außerhalb der Arbeit miteinander gewechselt; wenn, dann nur sehr oberflächlich. Linda schaute ihn mit ihren dunklen Augen an und meinte dann direkt: „Ich weiß, Du trägst irgend ein Problem mit dir herum. Wenn Du möchtest, ich kann sehr gut zuhören.“

Verblüfft blickte er sie an. Wie hat sie das denn nur gemerkt.

Als er zögerte, meinte sie: „Keine Angst, ich tratsche für gewöhnlich keine Privatsachen im Geschäft herum. Ich kann schweigen wie ein Grab. Aber, ich will mich nicht aufdrängen. Ich dachte nur, es würde dir gut tun.“

„Eigentlich hast du recht. Ich habe sowieso niemanden, mit dem ich mich ausquatschen könnte. Außerdem habt ihr Frauen ja im Probleme austauschen viel mehr Übung als wir Männer.“ Er lächelte schüchtern. Doch dann kam alles aus ihm herausgesprudelt, alles was sich in der letzten Zeit in ihm angestaut hatte. Er hatte in Linda eine wirklich geduldige und aufmerksame Zuhörerin gefunden. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal und sagte auch nichts, als er fertig war. Seltsamerweise empfand er das nun einsetzende Schweigen nicht als peinlich. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Dann fing sie an, von sich zu erzählen. Ohne Einleitung berichtete sie von ihrer letzten Beziehung. Es waren nun fast zwei Jahre, dass sie nach vier Jahren harmonischen Zusammenlebens voneinander getrennt waren. Auch sie war von dem Wunsch nach einem Baby wie besessen gewesen. Ihr Freund wich diesem Thema aber immer gekonnt aus; bestand sogar jedes Mal darauf ein Kondom zu benutzen. Allzu oft wäre es eh nicht vorgekommen.

„Gott sei Dank haben wir die Dinger benutzt, muss ich im Nachhinein sagen.“ Sie machte eine kleine Pause, in der das Erlebte noch einmal an ihrem inneren Auge vorüber zu ziehen schien.

„Wieso?“ fragte Kai gespannt.

„Eines Tages eröffnete er mir, schon längere Zeit ein Verhältnis zu haben.“

„Oh!“ Er nickte verstehend.

Sie schaute ihn mit einem undurchdringlichen Blick an und sagte dann tonlos: „So ungefähr. Er hatte eine Affäre mit einem anderen Mann.“

„Au Backe!“ Kai fiel die Kinnlade runter. „Und ich dachte, ich hätte Probleme!“

Linda wischte mit der Hand über den Tisch, als wollte sie damit auch die Vergangenheit wegfegen. „Ach, das ist längst Schnee von gestern. Ich bin darüber hinweg. Auch wollte ich keinesfalls damit deine Probleme herunterspielen.“ Sie lächelte auf die ihm schon so vertraute ironische Art. „Ich wollte dir nur aufzeigen, wie facettenreich das Leben doch ist. Und dass man, egal was passiert, irgendwann wieder die Oberhand bekommt.“

„Darauf trinken wir einen!“ Er winkte der Bedienung, hielt zwei Finger hoch und deutete auf ihre leeren Gläser. „Mir geht es jetzt schon viel besser!“

Es wurde noch ein sehr netter Abend. Kai war erstaunt, wie gut er sich mit Linda unterhalten konnte. Nicht mehr ganz nüchtern brachte er sie zu später Stunde noch bis vor die Haustür. Übermütig streckte er ihr die Lippen für einen Abschiedskuss entgegen. Sie drückte ihm ihre Wange hin und schlängelte sich mit einem kurzen „Schlaf gut“ durch die Türöffnung. Mit leichten Schritten, einen Stein vor sich her kickend, bewegte er sich in Richtung Tims Bleibe. Er bemerkte, dass es aufgehört hatte zu regnen. Es fehlt jetzt nur noch, dass ich anfange, zu pfeifen, schüttelte Kai den Kopf, erstaunt über seine eigenen Stimmungsschwankungen.

Das Schicksal und andere Zufälle

Подняться наверх