Читать книгу Nicht ohne Jasper - Sabine Prigge - Страница 7

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1.

Kim erinnerte sich später genau an den Tag im Juni, der alles änderte.

Es regnete ganz feinen leichten Sommernieselregen und es roch gut – nass und warm und würzig. Sie schloss die Haustür auf und stutzte einen Moment. Die Jacke ihrer Mutter hing an der Garderobe. Das war ungewöhnlich. Ihre Mutter arbeitete bis in den späten Nachmittag als Verkäuferin in einer Bäckerei. Das Mittagessen kochte Kims Vater.

Kim stellte ihre Schultasche in die Ecke, schmiss die Jacke darauf und zog sich mit den Füßen wechselseitig die Schuhe aus. Sie schnupperte. Pommes frites? Die gab es eigentlich nur zu besonderen Gelegenheiten – wegen des Fritteusengestanks. Hatte sie etwas vergessen? Ihr Geburtstag war im Februar, Zeugnisse gab es erst in einem Monat. Erwartungsvoll trat sie in die Küche, gab zur Begrüßung erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und setzte sich.

Frank Heinrich sah richtig glücklich aus und auch Sylvie Heinrich wirkte nicht so gestresst wie sonst.

„Wie war es in der Schule?“, erkundigte sich die Mutter.

„Okay“, erwiderte Kim. „Nichts Besonderes.“ Unsicher schaute sie ihre Eltern an. „Warum bist du zu Hause, Mama? Was ist los?“

„Ich bin nur kurz hier, muss gleich wieder weg.“

„Und warum?“

„Weil ich wieder arbeiten muss.“

„Warum du hier bist, will ich wissen.“

„Um mich ganz doll mit Papa und mit dir zu freuen.“

„Mensch Mama! Sagt mir endlich, was los ist!“

„Frank“, lachte Frau Heinrich. „Sag es ihr, sonst platzt sie.“

Frank Heinrich sah seine Tochter liebevoll an. „Kim“, sagte er dann, „ich habe wieder eine Stelle!“

„Papa“, juchzte Kim. „Das ist ja obercool.“

Sie sprang auf und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn.

Ihr Vater litt so sehr darunter, arbeitslos zu sein, und das seit mehr als zwei Jahren.

„Mit über vierzig Jahren bist du zu alt, dann will dich keiner mehr“, seufzte er, wenn wieder eine Absage auf eine Bewerbung kam. Sie lebten eine Weile nur von seinem Arbeitslosengeld. Dann fand Sylvie Heinrich eine Arbeit als Verkäuferin in einer Bäckerei.

„Was soll’s, bin ich eben der Hausmann“, hatte er gelächelt und seine Tochter an sich gedrückt. „Wir schaffen das schon.“

Kim war ziemlich stolz auf ihren Vater.

Jetzt setzte sie sich wieder und schob sich mit der Gabel fünf Pommes auf einmal in den Mund. „Wo denn?“, fragte sie. Es hörte sich an wie: „Ho henn?“

„Kim, mach den Mund leer, bevor du sprichst“, rügte sie ihre Mutter.

Kim schluckte. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung, die blauen Augen schauten neugierig hin und her.

„Bleibt Mama dann wieder zu Hause?“, fragte sie. „Oder geht ihr beide? Das fände ich aber doof, es ist schön, wenn einer von euch zu Hause ist.“

„Erzähl du, Sylvie“, forderte der Vater seine Frau auf.

„Na gut, also: Papa hat wieder eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden. So wie er sich das gewünscht hat. Er wird dort stellvertretender Abteilungsleiter sein.“ Das sagte sie mit so viel Stolz in der Stimme, als würde ihr Mann der nächste Papst. Liebevoll legte sie ihre Hand auf seine.

Kim verdrehte die Augen. Immer dieses peinliche Getue.

Dabei freute sie sich eigentlich, dass ihre Eltern sich so gut verstanden. Die Eltern ihrer Freundin Hanna lebten seit einiger Zeit getrennt. Hannas Vater wohnte jetzt mit einer anderen Frau zusammen. Seitdem war Hanna ziemlich bedrückt und viel ernster als früher. Sie trafen sich auch seltener. Kim besuchte Hanna nicht mehr so gerne, weil deren Mutter oft weinte oder auf Hannas Vater schimpfte. Und Hanna kam kaum noch zu Kim, weil sie ihre Mutter nicht immer alleine lassen wollte. Das war alles ganz schön blöde. Kim fürchtete manchmal, ihren Eltern könnte es genauso gehen. In der letzten Zeit stritten sie öfter. Aber das lag daran, dass ihr Vater unzufrieden wegen seiner Arbeitslosigkeit war. Außerdem fehlte immer Geld, weil ihre Mutter nicht so viel verdiente. Sie mussten dauernd sparen, fuhren nicht in Urlaub und so weiter. Aber am Tag nach einem Streit gingen ihre Eltern immer ganz besonders nett miteinander um. Dann wusste Kim, sie würden sich nie trennen.

„He, Träumerle“, holte ihre Mutter sie aus ihren Gedanken und strich ihr über die kurz geschnittenen blonden Haare. „Freust du dich?“

„Na klar, freue ich mich“, beeilte Kim sich zu sagen und spießte ihr Würstchen auf. „Dann kommt alles wieder in Ordnung.“

Ihre Eltern sahen sich bedeutungsvoll an.

Kim bemerkte den Blick. Sie legte die Gabel auf den Teller.

„Was stimmt nicht?“, fragte sie misstrauisch.

„Papa wird nicht im Diakonie-Krankenhaus arbeiten“, antwortete Sylvie Heinrich.

„Wo denn dann?“, fragte Kim. „Hier gibt es doch nur das eine Krankenhaus.“

„In einer großen Klinik am Rhein, in Ensburg. Das ist in der Nähe der holländischen Grenze“, sagte Herr Heinrich ganz vorsichtig, als könne etwas explodieren.

„Wo?“, fragte Kim ungläubig.

„In einer großen ...“, wollte Frank Heinrich wiederholen, doch seine Frau unterbrach ihn.

„Du hast schon verstanden, Liebes“, sagte sie zu Kim. „Papa kann nächsten Monat anfangen. Er wird sich zuerst irgendwo ein Zimmer nehmen und schauen, ob alles klappt. Dann sucht er uns eine Wohnung und wir ziehen um.“

„Umziehen?“, fragte Kim. „Wir können doch nicht umziehen! Hier ist unser Zuhause. Ich will das nicht, ich will in Neustadt bleiben!“

„Ich weiß, Kim. Aber es geht nicht anders“, erwiderte die Mutter.

„Ohne mich“, sagte Kim. „Das ist euch ja wohl hoffentlich klar.“

„Nein“, sagte Sylvie Heinrich. „Mit dir, du bist nämlich erst elf und damit definitiv zu jung, um alleine zu bleiben.“ Sie lächelte dabei, aber es wirkte wenig überzeugend.

Kim funkelte sie an. „Ich bin alt genug. Ich kann bei Hanna bleiben.“

„Kim, hör auf“, mischte sich jetzt ihr Vater ein. „Wir wissen, dass es dir schwerfallen wird, aus Neustadt wegzuziehen. Uns übrigens auch. Aber wir werden neue Freunde finden.“

„Ich will keine neuen Freunde.“ Auf einmal wurde ihr erst richtig klar, was das alles bedeutete. „Was ist mit Jasper?“

Ihre Mutter seufzte: „Kim, Frau Hansen wird jemand anderen finden, der sich um Jasper kümmert.“

Entsetzt sah Kim ihre Mutter an. „Jasper ist mein Hund.“

„Nein“, sagte ihr Vater ungeduldig. „Du weißt genau, dass Jasper nicht dein Hund ist. Er gehört Frau Hansen und sie ist glücklich, dass du dich so viel um ihn kümmerst, weil sie es nicht mehr kann. Aber er ist und bleibt ihr Hund und eben nur ein Tier. Deshalb kann ich keine Arbeitsstelle sausen lassen.“

„Nur ein Tier.“ Mit leiser, wütender Stimme wiederholte Kim die Worte ihres Vaters. „Jasper ist mein bester, mein allerbester Freund und ohne ihn gehe ich nirgendwohin, dass ihr es wisst.“ Kim sprang vom Stuhl auf und rannte in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür hinter sich zu, warf sich auf ihr Bett und schluchzte in ihr Kopfkissen.

Die Heinrichs liefen ihrer Tochter nicht nach. Sie blieben in der Küche und sagten erst einmal eine ganze Weile gar nichts. Sylvie Heinrich stocherte mit ihrer Gabel in dem mittlerweile kalten Essen herum, der Appetit war ihr vergangen. „Das mit dem nur ein Tier war nicht gut“, sagte sie.

„Ich weiß“, sagte Frank Heinrich traurig. „Aber was sollen wir denn machen? Ich muss diese Stelle annehmen.“

„Ja, natürlich“, erwiderte seine Frau. „Mit meinem Gehalt kommen wir einfach vorne und hinten nicht aus. Kannst du nicht mit Frau Hansen reden? Vielleicht gibt sie den Hund ab.“

„Vergiss es“, sagte Frank. „Sie hängt an dem Hund genauso wie unsere Tochter, mit dem Unterschied, dass es ihrer ist. Nein, Kim wird damit klarkommen müssen. Sie muss sich an den Gedanken gewöhnen.“

„Ich glaube, da kennst du deine Tochter schlecht“, seufzte Sylvie Heinrich. Sie stand auf. „Ich muss wieder los. Machst du die Küche?“

„Ja, klar mach ich die Küche. Eine Weile spiele ich noch ganz gerne den Hausmann.“ Er nahm seine Frau in den Arm. „Alles wird gut“, sagte er.

„Ja, alles wird gut“, antwortete Sylvie. Aber so ganz sicher war sie sich nicht.

Kurze Zeit später verließ Kim wortlos die Wohnung. Ihr Vater hielt sie nicht auf, er wusste, wohin sie wollte. Er wartete darauf, sie die Treppe herunterpoltern zu hören. Ständig musste er sie ermahnen, ein wenig Rücksicht auf die Nachbarn zu nehmen. Diesmal jedoch ging sie ganz leise und das bedrückte ihn. Er seufzte und nahm das Geschirrtuch zur Hand.

Das Mädchen ging zu Frau Hansen. Die alte Dame wohnte ein paar Häuser weiter. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoss, sodass sie keine Treppen steigen musste.

Kim klingelte und sofort schlug Jasper an. Es dauerte einige Zeit, bis Frau Hansen öffnete. Selbst die kurzen Wege innerhalb der Wohnung fielen ihr schwer. Sie konnte nur auf einen Stock gestützt gehen. Endlich ertönte der Summton des Türöffners. Kim drückte die Haustür auf. Jasper, ein wunderschöner Collierüde mit langem seidigen Fell drängte an Frau Hansen vorbei und sprang freudig jaulend an Kim hoch.

„Ist ja gut, Japper, ist ja gut.“ Kim klopfte und streichelte ihn. Sie nannte ihn oft Japper. Jasper gehörte Frau Hansen, Japper ihr.

„Hallo Kim.“ Frau Hansen lächelte das Mädchen an. „Schön, dass du da bist. Wir haben schon auf dich gewartet.“

Jasper setzte sich zwischen sein Frauchen und seine Freundin und schaute beide im Wechsel an. Frau Hansen lachte. „Ja, nicht wahr? Du bist auch froh, dass wir die Kim haben, du läufst doch so gerne.“ Jasper bellte einmal kurz auf. Es klang, als wolle er „Ja“ sagen.

Frau Hansen nahm die Leine von dem Garderobenhaken und befestigte sie an Jaspers Halsband. Der Hund hielt manierlich still.

„Soll ich Ihnen etwas mitbringen, Frau Hansen?“, fragte Kim.

„Oh ja, Kind, das wäre schön, wenn du mir ein paar Sachen einkaufen könntest. Hast du denn Zeit? Musst du keine Hausaufgaben machen?“

Hausaufgaben. Natürlich musste Kim Hausaufgaben machen. Schlagartig war sie wieder da, die Sache mit dem Umzug. In den letzten Minuten hatte sie überhaupt nicht daran gedacht. Sie seufzte und fuhr mit der Hand über Jaspers schmalen Kopf.

„Natürlich habe ich Zeit“, sagte sie. „Ich mache das doch gerne.“ Was interessierten sie noch Hausaufgaben, es waren ohnehin bald Ferien. Konnte sie die Zeit auch besser nutzen! Sie nahm den Einkaufszettel und einen 20-Euro-Schein entgegen, griff Jaspers Leine und zog los.

Es regnete nicht mehr. Eine warme Sommersonne blickte ab und an zwischen den Wolken hervor. Kim konnte das jedoch nicht genießen. In Gedanken versunken schlug sie automatisch den Weg zum Stadtwald ein. Nach einer Weile setzte sie sich am Wegrand auf einen Baumstumpf. Jasper kam sofort zu ihr und schaute sie fragend an. Seine feinfühlige Hundeseele spürte die Sorgen seiner Freundin. Er setzte sich neben sie und legte seine Schnauze auf ihr Bein.

„Japper“, sagte Kim. Sie kraulte ihn hinter den Ohren, das mochte er besonders gerne. „Was soll ich nur tun? Meine Eltern wollen wegziehen, weißt du. Ganz weit weg. So weit, dass ich nie wieder mit dir spazieren gehen kann.“

Jasper stand auf und leckte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Kim ließ es geschehen. Sie schlang die Arme um ihn und schluchzte in sein Fell. „Ich will nicht weg, Japper. Ich hab dich doch so lieb. Was soll ich nur ohne dich machen?“

Der Hund jankte, wusste keinen anderen Trost, als seiner Freundin immer wieder über das Gesicht und die Hände zu lecken. So saßen sie eine ganze Weile da, das Mädchen und der Hund.

„Ich lasse mir was einfallen, Japper“, sagte Kim, als das Weinen nachließ. Mit dem Ärmel wischte sie sich die restlichen Tränen und Jaspers Liebesbeweise aus dem Gesicht.

„Noch haben wir Zeit. Es wird ein paar Wochen dauern, bis dahin weiß ich, was zu tun ist. Ganz bestimmt.“ Ihre Traurigkeit wich trotziger Entschlossenheit. Sie sprang auf, nahm einen Stock und warf ihn. Freudig rannte Jasper dem Stock hinterher, um ihn zurückzuholen. Er liebte dieses Spiel.

Der Rückweg führte die beiden an einem kleinen Lebensmittelladen vorbei. „Sitz und bleib“, sagte sie zu dem Collie. Das hatte sie Jasper beigebracht und sie war sehr stolz darauf. Der Hund würde vor dem Geschäft sitzen bleiben und nichts und niemand würde ihn dazu bewegen, sich von der Stelle zu rühren.

Etwas später klingelte sie wieder bei Frau Hansen, um Hund und Einkäufe abzugeben. Sie sagte der alten Frau nichts von den Plänen ihrer Eltern. Bestimmt würde ihr etwas einfallen, um die Trennung von Jasper zu verhindern. Warum also die Pferde scheu machen? Der Spaziergang hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich nicht mehr so verzweifelt und ohnmächtig. Trotzdem bestrafte sie ihre Eltern am Abend mit eisigem Schweigen.

Nicht ohne Jasper

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