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Montag

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'Mistschloss', fluchte Frederik Graber gegen die Tür. Hatte das nicht vor zehn Jahren schon geklemmt? Er sah an der roten Backsteinfassade hinauf, musterte die bröckeligen Fugen. Rechts oben neben der Tür starrte eine Überwachungskamera auf ihn herab. Das halb mit Dreckwasser gefüllte Auge war ein Anblick zum Weinen. Irgendwann in den Dreißigern hatten Versicherungen mit Rabatten gewinkt, würden sich die Vorstadtbewohner kleine Spione über die Haustüren montieren. Mit den Sensoren an Fenstern und Läden glaubten sie sich rundumüberwacht. Leider waren auch die bösen Leute technisch auf Zack und das Projekt wurde in aller Stille begraben. Seit jener Zeit verunstaltete Elektroschrott die Fassade.

Graber schüttelte den Kopf und ließ die Reisetasche fallen. Keine drei Tage würde er hier bleiben. Wozu auch. Zu Erben gab es nur ein kleines Konto und ein großes Geheimnis. Und dieses Große zu lüften blieb dem Sohn nicht mehr viel Zeit.

Graber packte den Knauf, ein Ruck und das Schloss gab nach. Mit der Spitze seines Stiefels drückte er an die Tür und sah ihr zu, wie sie widerstrebend ein Stück aufging.

„Schlimmer als im Lazarettzelt“, murmelte er und rieb sich die von zahlreichen Sonnenbränden gefleckte Nase. „Desinfektionsmittel … Pisse und … Greisensieche.“ Schildkrötengleich schob Graber den Kopf vor und spähte ins Halbdunkel des Flurs. Nichts schien sich verändert zu haben, seit er dieses Haus das letzte Mal betreten hatte. Er nahm die Tasche wieder auf und seine Finger umklammerten die Henkel so fest, dass die Gelenke hell wie gepulte Erdnüsse schimmerten.

„Ich hätte gar nicht kommen müssen“, flüsterte er, als müsse er sich selbst beruhigen. „Hätte die Nachricht einfach löschen können. Wen interessiert wie's dem Alten geht. Nach mir hat er die letzten zehn Jahre auch nicht gefragt. Und die Jahre zuvor - jeder Besuch ein Desaster.“

Dann, mit einem Ruck, straffte Graber die Schultern und fuhr mit der Hand über sein raspelkurzes Grauhaar, so als streife er Spinnweben ab. Er schob die Tür ganz auf, ließ die Reisetasche vor ihr fallen und ging zwei, drei Schritte in den Flur hinein. Licht flimmerte am Ende und die Stimme einer Sprecherin säuselte sich musikumringelt durch das Haus.

„Vater?“, fragte er ins Innere, und noch einmal „Vater?“

Die Frauenstimme verstummte. Jemand raunzte „Bob“ und ein kurzer Piepton antwortete. Frederik verharrte im Halbdunkel, lauschte dem von Motorsummen begleiteten Schlurfen. Am Ende des Gangs erschien Rudolf Grabers Gestalt, dicht gefolgt von einem mannshohen Pflegerobot. Die Hände des Alten klammerten sich an die Griffe der Stützstummel rechts und links des Körpers. Hektisch blinkte der an seinem Hals angebrachte Sensor. Er blinkte im selben Takt wie das leuchtend rote Herz rechts oben im Bildschirm des künstlichen Helfers. Jeder Schlag verwandelte schütteres Weißhaar in babyrosa Gespinst. Zuckerwatte, ging es dem Sohn durch den Sinn und er hätte beinahe gegrinst.

„Netten Helfer hast du da“, sagte Graber junior und heftete den Blick auf das Gekritzel über dem Schirm. „Sogar einen Namen hat er … Bob … klingt irgendwie nett.“ „Guten Tag, Frederik“, sagte der Alte.

Graber nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Stoff der Feldjacke knarzte. Viele Waschgänge hatten ihr die Elastizität genommen, Sonne hatte sie zu etwas undefinierbar Hellem ausgebleicht. Nur unter den Armen, in Taschenfalten und an Stellen, wo Abzeichen festgenäht waren, hatte sich das ursprüngliche Braungrün erhalten. Für eine Weile herrschte Schweigen. Mit jeder Sekunde quoll es mehr auf und schien die beiden Männer auseinander treiben zu wollen.

„Geht dir nicht gut, haben sie mir geschrieben“, presste der Jüngere schließlich heraus. Er musterte den Vater, wie er an den Robot-Armen ein wenig tiefer rutschte, betrachtete den Bildschirm, auf dem unten links ein blaues Antennensymbol leuchtete. Er wusste, was das bedeutete – würde der Alte fallen, schlüge sein Herz in Panik und Bob würde automatisch Meldung machen. Das Kamera-Auge würde erwachen und wenig später stünde die ganze Pflegestaffel auf der Matte, wenn er nicht rechtzeitig auf das Resetfeld drückte. „Ich wollte dich besuchen und wenn du willst … für eine Weile hier bleiben“, beendete er das Machtspielchen und tatsächlich – der Alte atmete tief durch.

„Das musst du nicht tun. Bin gut versorgt.“ Er neigte seinen Kopf Richtung Bob. Der Sohn folgte seinem Blick.

"Tolle Aussichten. Ein Robot und genervte Pfleger."

"Keine Pfleger."

"Niemand schaut mal rein?"

"Nein, wozu?"

"Das Essen?"

"Im Kühlschrank ist Fertigfutter. Muss ich nur noch in diesen kleinen Ofen schieben, der in der Küche steht."

"Brauchst eben niemand", Graber löste seine Arme und schob die Hände tief in die Hosentaschen, machte einen Schritt zurück, als wolle er sich abwenden. „Kann ich ja wieder gehen“, schob er hinterher und sah zu, wie die Falten im Gesicht seines Gegenüber zuckten.

Der Alte räusperte sich und rang sich ein 'schon gut, schon gut' ab und, als wollte er zeigen, dass noch jede Menge Kraft in ihm steckte, richtete er sich auf und reckte das Kinn vor. "Was ist mit dir? Kein Dienst mehr?"

"Werd auch nicht jünger."

„Also bleib. Bleib ruhig, wenn's dir Spaß macht“, sagte er, und mit einigen geflüsterten 'Schon-guts' begann er sich umzuwenden, vorsichtig die Füße aufsetzend. Gleich einer halbierten Riesenbirne klebte 'Bob' am Kreuz des Alten. Kaum ein Zögern war sichtbar, als gebe es eine Hirnsonde, die der mechanischen Begleitung die Bewegungen seines Schützlings ankündigte.

Frederik Grabers Blick folgte dem Gespann und haftete kurz am Typenschild, das über einem kleinen, fettig glänzenden Touchscreen am Hinterkopf der rollenden Riesenbirne klebte: Ca-Rob 2.4 daneben der TÜV-Stempel, in dem so etwas wie eine '2050' glitzerte.

Plötzlich drängte der Lärm quietschender Reifen ins Haus, übertönte das Brummen des Robot-Motors. Graber machte auf dem Absatz kehrt, die Fäuste in Kampfstellung. Er konnte noch das schwarze Heck eines abbiegenden Roadsters sehen, doch anstatt loszupreschen, ließ er Fäuste und Schultern sinken.

„Verdammt!“, presste es aus ihm heraus „Verdammt nochmal! Wann hört der Alarmscheiß in meinem Hirn endlich auf!“ Er schloss die Augen und vor ihm waberte gleich einer Fata Morgana das Gesicht der feisten Psychologin. Das sei normal, schnarrte das Pfannkuchengesicht und Graber wich einen Schritt zurück. Ihre Wurstfingerhand hielt eine Pillendose in die Höhe und schüttelte sie, mahnte ihn, sie immer pünktlich einzunehmen, sonst schwanke der Serotonin-Spiegel und seine Stimmung könne schlagartig umschlagen und das wäre sehr, sehr unangenehm, und im Pfannkuchenrund rollten die Augen.

Graber hob die Hände und presste die Handballen gegen die Schläfen. Irgendwann würde alles gut, redete er sich ein, irgendwann würde sein Hirn nicht mehr aus jedem Reifenquietscher einen Selbstmordattentäter machen. Er tappte zur Eingangstür und griff nach der Tasche. Der Irre war vorbei, nun folgten noch zwei Fahrzeuge, beide mit schwarzen Bändern an den Stummelantennen. Im ersten konnte er den Beifahrer erkennen. Sah nach Erhan Radeke aus, jenem Mann, dem nicht nur das große Haus um die Ecke samt Grundstück gehörte, sondern auch die Hütte, in die sich der alte Graber vor mehr als zwanzig Jahren eingemietet hatte.

Er warf die Tasche in den Flur. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein neugieriger Vermieter. Kurz bevor er die Tür ins Schloss drückte, hörte Graber noch das Schrubben von Reifen in Kies und das Quietschen eines Garagentors; dann drehte er zweimal den Schlüssel, die Außenwelt war ausgesperrt. Für heute Nacht würde er hier bleiben, dem Rest der Montagsdemonstranten aus dem Weg gehen. Dass dieses Randzonenpack überhaupt noch in die Innenstädte gelassen wurde. Sollen doch froh sein, dass sie eine Grundsicherung bekamen. Und diese engagierten Intellektuellen, die dauernd von Freiheit faselten und von bösen Konzernen. Für ein paar Monate vom Netz abhängen und zum Kampfroboterölen in die Wüste schicken, das wäre das Richtige, dann würden die auch mit dem Soldaten-sind-Mörder-Mist aufhören. Er nahm die Tasche auf und folgte dem Schimmern, das aus dem Zimmer am Ende des Flurs flimmerte.

"Jemand gestorben bei Radekes?"

"Ja. Die alte Frau Radeke."

"War ja alt genug."

"Ich war gerade den ersten Tag zu Hause. Da wecken mich die Sirenen vom Notarztwagen. Ich konnte die Leute im Garten hören und ich bin zum Fenster. Semra ist ..."

"Sie ist was?", fragte Graber. Nur schweres Atmen antwortete ihm. "Meine Fresse", brummte er "man könnte meinen, deine Mutter wäre gestorben." Er drehte Richtung Küche ab und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks.


***


"Das hättest du mir vor zwanzig Metern sagen können", maulte Gerhard und stoppte den Wagen vor der Haustür. Die Statusanzeigen erloschen und das Display verabschiedete sich mit einem flammenden "Sounddesign Rrrracer spirit".

"Was musst du auch wie ein Irrer fahren." Lena Radeke löste ihre Hände vom Seitengriff, starrte auf die Nackenstütze und den sauber gegelten Scheitel darüber, den weichen Nacken darunter und hätte ihm am Liebsten einmal ordentlich über den Hinterkopf geklatscht. Sie sah zu, wie das Auto ihrer Eltern vorbeiglitt, der Vater ernst nach vorne starrend, Lenas Zwillingsbruder kopfschüttelnd auf dem Rücksitz. Sie hatte es ja geahnt, der Schwager und seine coolen Nummern. Immer musste er ein Schippchen drauflegen. Nicht mal an einem traurigen Tag wie diesen konnte er den Poser in der Schublade lassen. Das würde das letzte Mal sein, dass sie mit ihm am Steuer im selben Wagen saß. Wie hielt ihre Schwester Julia das bloß aus?

"Für Gerhards Verhältnisse war das sehr dezent. Hab ich Recht, mein Lieber?" Julia tätschelte seine Schulter. "Das nächste Mal würde ich mich an deiner Stelle auf das Navigationsgerät verlassen." Sie öffnete die Beifahrertür, griff rechts und links mit den Händen an den Rahmen und zog sich nach oben. "Und nicht auf dein Erinnerungsvermögen", murmelte sie und rückte ihren schwarzen Hosenanzug zurecht. Aber Gerhard hatte schon nicht mehr zugehört, war um das kurze Heck des Roadsters geeilt und klappte den Beifahrersitz nach vorne. Bröckelige Randsteine lugten über den Schweller und in den Fugen wachsendes Unkraut zitterte. Ein ernstes Gesicht ziehend hielt er Lena die Hand hin.

"Lass mich", fauchte Lena und rutschte auf dem Rücksitz Richtung Straße. Das könnte ihm so passen. Zusehen, wie sie mit ihrem engen Rock aus dem Fond des Autos auf den Bürgersteig krabbelte. Sie stieß den Fahrersitz nach vorne und wollte sich ins Freie schlängeln.

Indessen war Malte die Einfahrt heruntergekommen und hielt nun seiner Schwester eine Hand entgegen.

"Na, kleiner Zwilling, hat's Spaß gemacht?", fragte er und zog sie in die Höhe.

"Probier es aus", sagte Lena und schlug die Autotür zu, "Gerhard fährt bestimmt eine Runde mit dir".

An der Straßenseite gegenüber quietschte eine Tür, dann folgte Schlappenschlurfen, das für einen Moment schwieg. Sie konnte die Neugier des Nachbarn förmlich spüren. Da hat der Tod ganz schön Leben in die Straße gebracht, dachte sie. Mehr als drei Menschen auf einmal und schon sucht man sich ein wenig Müll zusammen, um einen Grund für den Gang vor die Hütte zu haben. Und tatsächlich, der Deckel der Mülltonne klappte, dann knackte es. Nein, sie würde sich nicht nach dem kleinen Alten umdrehen. Er schien ein paar Zweige vom Gesträuch, das neben der Tonne wuchs, abzuknicken. Das machte er immer so, wenn er befürchtete, etwas zu verpassen. Das Gestrüpp zog sich am Haus und vor der Doppelgarage entlang. Hie und da lugten noch ein paar Pflastersteine hervor. Seit vielen Jahren brachte er anstatt Fahrzeuge Kaninchen darin unter. Und gelegentlich konnte man Nachbarn sehen, die mit leeren Beuteln hinein- und mit vollen wieder heraus marschierten.

"Das war das letzte Mal", murmelte Lena noch einmal und wandte sich zu der hinter ihnen parkenden, schwarzen Limousine, aus der die beiden Tanten ausstiegen.

"Jetzt übertreib doch nicht", winkte Julia ab und marschierte zum Haus der Eltern, gefolgt von ihrem achselzuckenden Ehemann.

"Ich fahre ja nicht so gern in die Randbezirke", sagte Tante Anna. Sie ergriff Lenas Arm und sah sich um, ein wenig geduckt, dann hinüber zum Nachbarn, der gerade die abgebrochenen Zweiglein ins Gebüsch warf. Er schien genug gesehen zu haben. Sah schicke Leute, noble Fahrzeuge, schwarze Bändchen, da konnte er beruhigt wieder in seinem Gehäuse verschwinden.

"Ist schon ein paar Jahre her, dass du hier warst."

"Drei Jahre?"

"Eher vier", sagte Lena und führte die Tante um einen Hundehaufen herum.

"Es wird immer schlimmer hier."

Lena sah das Zucken im Mundwinkel der Tante und wusste, dass deren statusgeübtem Blick nichts entgehen würde. Weder das sich zwischen die Pflastersteine fressende Unkraut, noch das aus verschatteten Ecken kriechende Moos. Bestimmt erinnerte sie sich an die Siedlung, wie sie vor fünfzig Jahren war, kindgerechte Reihenhausromantik, jedes Haus mit Garage an seiner Seite, gepflegte Vorgärten. Bis Schluss war mit Bullerbü, Familien von Pleitewellen hinausgespült wurden und andere mit Zwangsversteigerungen hineingeschwemmt. Die Radeke-Großeltern hatten Glück gehabt. Das Haus war abbezahlt, bevor eine der größten Bankenpleiten darüber hinweg schwappen konnte.

Sie strichen an einem alten Lebensbaum vorbei und die Tante zögerte. Als würde hinter jeder Hecke ein Wegelagerer lauern, dachte Lena, sie sollte ihren Nachrichtenstream besser filtern. Sie seufzte und legte ihre Hand auf die der alten Dame. Unter normalen Umständen wäre ihr eine spitze Bemerkung herausgerutscht. Aber dies waren keine normalen Umstände. Noch vor einer Stunde waren sie vor dem ausgehobenen Grab gestanden, hatten zugesehen, wie sie die in weißes Tuch geschlagenen Überreste der Großmutter hinabließen. Der Vater hatte sogar einen Imam aufgetrieben, der die Gebete sprach. Wo er den wohl aufgetrieben hatte? Welches der Semra-Kinder war jemals in einer Moschee gewesen? Semra selbst hatte die Überzeugung vertreten, kein einigermaßen kluger Mensch brauche die Religion. Aber als wäre sie sich nicht ganz sicher gewesen, wollte sie doch nach muslimischem Ritus beerdigt werden. Und das musste schnell gehen - nur einen Tag Zeit für Planung von Leichenschmaus und Redner, eigentlich. Und so waren Semras drei Kinder mit Anhang zwei Tage später, unvorbereitet und ein wenig ratlos vor der Grube gestanden, so als müssten sie einem verpassten Zug hinterherschauen.

Nur Malte schien alles andere als ratlos. Lena sah sich nach dem Bruder um, wie er mit der älteren Tante am Arm folgte.

Sie hatten sich im Frühjahr das letzte Mal gesehen. Jeder war irgendwie mit irgendetwas beschäftigt gewesen.

Semras Leiche wurde gerade in die Grube gesenkt, als Malte herbeigeeilt war. Lena hatte ihm zugenickt, aber er achtete nicht auf sie. Er hielt die Hände vor sich, Handflächen nach oben, als empfange er Gaben und schien etwas zu murmeln. Lena hatte die Bewegungen seiner Lippen beobachtet und konnte es kaum glauben - er murmelte dieselben Worte, die der Imam sprach. Malte wusste genau, was er da rezitierte. Keine Spur von jener Unsicherheit, die Menschen befiel, wenn sie ein halb vertrautes Lied mitsangen oder Gebet mitsprachen. Kein Kirchengemeindeecho, das immer einen Augenblick später einsetzte.

Der von Semras Kindern engagierte Trauerredner war aus Anstand noch mitgekommen und im Hintergrund stehengeblieben. Er hatte anscheinend genauso wenig verstanden wie der Rest der Familie und war ehrlich bemüht gewesen, das aufkommende Gähnen zu unterdrücken.

Wäre netter gewesen, wenn eine ihrer Garten-Freundinnen über Wachsen und Vergehen philosophiert hätte, dachte Lena, während sie der Tante im Vorraum aus dem Mantel half und ihn auf einen Bügel hängte. Anna blieb vor dem Spiegel stehen. Ein prüfender Blick. Das akkurat schulterlang geschnittene Grauhaar glattstreichend beugte sie sich vor. Lena sah ihr zu, wie sie über die unteren Lider ihrer vom Weinen geröteten Augen strich.

Der älteren Tante genügte der Kontrollblick über den Scheitel der Schwester hinweg. Bei Marianne gab es selten etwas zu korrigieren. Die dunkel gefärbten Haare waren zu einem Knoten gebunden, aus dem sich keine Strähne zu lösen traute. Auch das dunkelblaue Kostüm und das schwarze, um die Schultern gelegte Tuch saßen, als hätte sie sich gerade eben frisch eingekleidet. Sie hatte es auch nicht nötig ein ID-Band um das Handgelenk zu tragen, als dass jemand wie sie die ID-Karte vergessen würde.

"Schön dich zu sehen", sagte Lena zu ihrem Bruder, als die beiden Tanten im Wohnzimmer verschwunden waren.

"Ich freue mich auch", sagte Malte und breitete ein wenig die Arme aus. "Auch wenn mir ein anderer Anlass lieber gewesen wäre."

Lena wollte ihn, so wie sie es immer getan hatte, kräftig drücken; aber Malte hielt nur ihre Schultern und hauchte eine Art Kuss in die Nähe ihrer Wange. Das war auch schon mal herzlicher, dachte Lena. Eigentlich hätte sie jetzt etwas mehr Emotionen gebraucht.

"Du bist dünn geworden", sagte Lena, seine Arme festhaltend.

"Ich hab viel zu tun."

"Und du konntest den ganzen Text auswendig." Sie musterte sein hageres Gesicht. Früher bildete die helle Augenfarbe einen netten Kontrast zu seinen dunklen Haaren, sehr beliebt bei den Mädchen. Jetzt blickten sie ernst, ja beinahe zornig auf die einen Kopf kleinere Schwester herunter.

"Wenigstens einer sollte bei der Beerdigung einer Muslima die richtigen Worte kennen."

"Du weißt, was unsere Großmutter über Religion dachte."

"Immerhin wollte sie nach dem rechten Ritus beerdigt werden. Für ihre Familie ist das ein Trost. Wenn auch ein schwacher."

"Diese tolle Familie war nicht einmal anwesend."

"Sie haben den Neffen geschickt."

"Der Beter ist ihr Neffe?"

Er nickte und wandte sich ab, um zu den anderen zu gehen.

"Und du? Malte?"

"Und was."

"Bei uns war Religion noch nie ein Thema. Wie kommt es ...?"

"Ich gehe denselben Weg, den unserer Vorfahren auch gegangen sind."

"Eine Hälfte unserer Vorfahren."

"Für mich eine wichtige."

"Katholisch hätte es ja auch getan; so wie bei Mutters Familie."

"Ist nicht meine Welt. Deine etwa?"

Meine auch nicht, ging es Lena durch den Sinn.

"Malte! Lena! Kommt ihr auch? Oder soll ich euch etwas vom Buffet in den Flur bringen?", rief die Mutter aus dem Wohnzimmer, und Lena war froh, dass sie ihm in diesem Moment nicht antworten musste.

"Wir kommen schon, Ruth", antwortete Malte und legte seiner Schwester die Hände an die Schultern. "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über Religion zu diskutieren." Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Wohnzimmer, wo sich Gerhard gerade mit einem vollen Teller vom Buffet löste.

"Toll, was du an diesem einen Tag organisieren konntest, liebe Ruth!", rief er und setzte sich an den Esstisch.

"Nur ein paar Kleinigkeiten", antwortete sie und winkte ihre Kinder herbei. "Schön dass du es doch noch geschafft hast." Mutter und Sohn umarmten sich. "Du siehst gut aus." Sie legte eine Hand an seine Wange und nickte zufrieden. Dann widmete sie sich wieder dem Buffet und schob die Häppchen mit einem großen Löffel zurecht.

"Hast du gehört?", flüsterte Malte seiner Schwester ins Ohr "Mutter sagt, ich würde gut aussehen."

"Bei Mutter sieht alles gut aus, was nah an der Magersucht ist", antwortete Lena.

"Du bist unmöglich."

"Ach ja?"

Malte schüttelte den Kopf und ging auf seinen Vater zu. Der konzentrierte sich gerade darauf, eine Flasche Weißwein zu entkorken. Lena folgte ihm, spürte die heimlichen Blicke der Verwandten und ahnte, dass sie nicht ihrer Person galten. Sie alle hatten Malte beobachtet, wie er andächtig mitgebetet hatte. Vater und Sohn umarmten sich, hielten sich für einen Moment fest.

"Ich bin froh, dass du hier bist", sagte der Ältere, trat einen Schritt zurück und griff nach einem Weinglas.

"Nur Wasser bitte", sagte Malte.

Als hätte jemand ein Kommando gegeben, war es für einen Moment still. Eine kleine Störung in der Verbindung, ein Stocken im Videoclip. Dann raschelte Kleidung, jemand räusperte sich und sie setzten ihre Gespräche fort.

Erhan Radeke schien sich nicht darum zu kümmern. Er nahm die Wasserkaraffe und füllte eines der Saftgläser, reichte es dem Sohn.

"Ich hätte gern ein Glas Wein", sagte Lena und sah zu, wie der Vater einschenkte, betrachtete seine hängenden Schultern, den müden Ausdruck im Gesicht.

"Danke", sagte sie und hätte gern noch etwas hinzugefügt, aber er schob so konzentriert die Gläser auf seinem Getränketisch zurecht, dass sie sich abwandte. Geht ihm wahrscheinlich ähnlich wie mir, dachte Lena, er ist müde und traurig und würde sich am liebsten zurückziehen. Schon seltsam, sie nippte an ihrem Wein, da hältst du die Eltern dein Leben lang für unsterblich, und plötzlich, als hätte das Universum einen Sprung gemacht, bricht die Erkenntnis in dir auf, dass sie mehr Jahre hinter als vor sich haben. Ich sollte öfter hier vorbeischauen.

Sie schlenderte zum Esstisch und stellte ihr Glas an einem Platz ab, der möglichst weit entfernt von Gerhard war.

Das Buffet bot etwas für jeden Geschmack. Außer einer selbst gekochten Suppe, gab es appetitlich angerichtete Häppchen, verschiedene Brotsorten mit Dips und eine Käseplatte vom Lieferservice. Lena probierte von jedem und versuchte es dem Vater gleichzutun, indem sie sich auf ihre Speisen konzentrierte und nicht auf das durcheinander plätschernde Familiengemurmel achtete. Ab und zu warf sie einen Blick auf die Wand, an der ein großer Folienschirm haftete. Im Moment ruhte er in einer Art Dekor-Modus, zeigte eine Dünenlandschaft, in der die Grashalme ganz leicht im Wind zitterten. Am Rand konnte sie die Nachrichtenleiste erkennen. Ab und zu ruckten die Titel nach unten. Sie sah zu, ohne die Inhalte aufzunehmen, bis ein Absender auftauchte, der offensichtlich von einer Immobilienfirma kam. Darunter leuchtete grün und in kleiner Schrift der Anfang der Nachricht. Lena blinzelte ein wenig, ihre Hand mit dem Brotstückchen senkte sich. Sie würden sich bedanken ... für das Interesse an Wohneinheiten im S1- und S2 ... Mehr wurde nicht angezeigt. Kalt und unbeirrbar wie eine Schnecke schob sich Kräuterquark auf ihren Zeigefinger. Sie leckte die Masse ab und schob das Brotstückchen hinterher und überlegte, was das bedeuten könnte. Sie würden doch nicht von hier wegziehen wollen, das Anwesen womöglich verkaufen; oder doch?

Ihr Blick richtete sich zur Fensterfront, zum Garten mit seinen Obstbäumen am Ende des Grundstücks; dort, wo sich die Strahlen der Nachmittagssonne zwischen die Blätter zwängten und helle Flecken auf einen herbstlichen Gemüsegarten malten. Allerdings musste Lena zugeben, dass diese Großmutter die einzige Person war, die sich tatsächlich für den Garten interessiert hatte.

Semra war Ernährungswissenschaftlerin gewesen; allerdings eine, die ihre Nase lieber in Grünzeug als in Lehrprogramme oder Bücher steckte. Also gab sie praktische Kurse anstatt sich in Forschungslabors zu verkriechen. Sie gründete eines der bekanntesten Internetportale, über das jeder Hobbygärtner nicht nur Informationen einholen, sondern auch mit Gartengerät, Saatgut, Pflänzchen und seiner Arbeitskraft Teil einer Tauschbörse werden konnte. Genossenschaften sprossen wie Unkraut in den Regionen. Abgelegene Grundstücke wurden gekauft, gepachtet. Die Mitglieder trafen sich je nach Jahreszeit auf Märkten, tauschten und verkauften in steuerfreien Mengen. Alles vor den Nasen hilfloser Steuerbehörden und Agrarkonzerne, denen die Agrar-Anarchos ein Dorn im Auge waren.

Lena strich über das Tischtuch, fühlte die Delle darunter, die sie als Kind mit Bleistift vollgekritzelt hatte, während Semra von früher erzählte. Sie hatte nicht genug davon bekommen können und sich jedes Mal gefreut, wenn die Eltern am Samstagabend ausgingen und Lena vorher mit Rucksack und Stofftier bei der Lieblingsoma absetzten.

Geschichten über die kleine Semra, die nach ein paar Monaten auf der Grundschule schon besser deutsch sprechen konnte als der Vater. Wie sie der Mutter übersetzen musste, weil diese nie mehr als "guten Tag", "danke" und "bitte" über die Lippen brachte. Wie die Lehrerin zu ihnen nach Hause gekommen war, um den Vater zu überreden, dass Klein-Semra unbedingt auf das Gymnasium gehöre.

"Weißt du", hatte Semra gesagt, "deinem Urgroßvater waren Traditionen sehr wichtig; aber in diesem Punkt nicht. Ich habe es in seinen Augen gesehen, dass er unglaublich stolz auf sein schlaues Mädchen war." Dabei zwinkerte sie mit den Augen, leuchtende Augen, so schwarz wie der Kaffee, den sie immer neben sich auf dem Tisch stehen hatte.

Lena stand auf, um Teller und Besteck in die Küche zu bringen, dachte an die Stunden, die sie mit der alten Dame im Garten verbracht hatte, an neongelbe Gummistiefel im Winter und nackte, erdige Füße im Sommer und lächelte unwillkürlich ...

"Na? Was geht dir denn im Kopf herum?" unterbrach die Stimme des Vaters ihre Gedanken.

"Omasema."

"Omasema", sagte der Vater und musste lachen. "Wie sie diesen Namen gehasst hat." Er nahm ihr Teller und Besteck aus der Hand und räumte alles in die Spülmaschine.

Wer würde sich jetzt um den Garten kümmern?, fragte sich Lena. Mutter Ruth bestimmt nicht. Der Vater vielleicht? Und was hat es mit dieser Nachricht auf sich? Aber sie schluckte die Frage hinunter. Nicht heute. Wer weiß, was für eine Lawine sie dann lostreten würde.

"Stunden konnte ich bei ihr im Garten oder neben ihr am Schreibtisch verbringen", sagte sie stattdessen.

"Du konntest gerade mal rechnen, da hat sie dich Tabellen ausfüllen lassen."

"Ich hab später sogar Texte für ihre Infoseiten verfasst."

"Ach, wusste ich gar nicht." Der Vater nickte anerkennend "Jetzt ist mir auch klar, warum du Klassenbeste in Bio und Chemie wurdest."

"Und die Sache mit diesen Patenten auf Saatgut. Erinnerst du dich?"

"Ja", murmelte der Vater und schaute in die Ferne. "Da war was los. Hätte nie gedacht, dass wir mal Polizei im Haus haben würden."

"Was hatte ich für eine Angst! Ich dachte, jetzt flippt sie aus, gleich springt sie dem Polizisten ins Gesicht. Habe sie schon im Knast gesehen." Lena blickte in die Ferne, als könne sie von dort einen Film aus der Vergangenheit abrufen. Sie erinnerte sich noch gut, wie Semra vor dem großen Uniformierten getobt hatte, eine Fäuste schwingende Furie. Aus dem grauschwarzen Zopf gelöste Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. So malte man Hexen im Mittelalter. Sie war schon immer eine von den Kleineren gewesen; aber mit ihren weit über siebzig Jahren hatte sie noch ein paar Zentimeter eingebüßt und reichte dem Mann gerade mal bis zur Brust. Er war stumm und breitbeinig vor ihr gestanden, während im Hintergrund Pakete und Laptops aus dem Haus getragen wurden.

"Ich hätte öfter kommen sollen", flüsterte Lena. "Irgendwie bin ich nie auf den Gedanken gekommen, sie könnte sterben."

"Bis auf die Falten, und dass sie immer winziger wurde, sah sie auch nicht danach aus. Trotz ihrer neunzig Jahre", sagte der Vater und streichelte ihre Schulter. "Du hast viel Ähnlichkeit mit ihr."

Aber nur äußerlich, dachte Lena. Sie strich sich mit der Hand über den Kopf, ergriff den Zopf und zog ihn sich über die Schulter. Dunkel und schwer lag er über ihrer Brust. Kurzhaarschnitt sei vorteilhafter bei untersetzter Statur, hatte Julia vor ein paar Wochen gesagt. Lena streckte den Rücken, als Ruth im Flur erschien. Drahtig und hochgewachsen verharrte die Mutter für einen Moment in der Tür. Ok - eindeutig untersetzt, seufzte es in Lena; aber das war heute nicht wichtig.

"Na ihr zwei?", sagte Ruth und betrat die Küche. Sie blieb neben Erhan stehen und strich ihm sanft über den Rücken. "Wir könnten doch mal Kaffee anbieten."

"Alles vorbereitet", sagte Erhan und zeigte auf den Kaffeeautomat, neben dem bereits Tassen und ein Körbchen mit Löffel standen.

"Sehr schön." Ruth lächelte und stellte noch Milch, Süßstoff und Zucker daneben.

Das war einer der Momente, in denen Lena spürte, dass dieses auf den ersten Blick ungleiche Paar, sich einigermaßen ergänzte. Ein dunkler, zur Rundlichkeit neigender Mann in den Sechzigern und seine gleichaltrige Frau, immer straff und beherrscht.

Wahrscheinlich hatte er geahnt, dass er jemand an seiner Seite brauchte, der ihm die Füße auf dem Boden halten würde. Sonst hätte er sich als Musiker versucht und wäre kreuz und quer durch Europa gereist, um seine Ursprungsmusik an die Leute zu bringen. Musik – made by Erhan Radeke und seinen Spielleuten. Mittelalter, gnadenlos gemixt aus den Klängen ganz Europas, für ein paar Tage der Renner bei alten Videoportalen, danach weggespült vom nächsten Clip-Tsunami.

"Ich kümmere mich schon um die Gäste", sagte Ruth und marschierte aus der Küche.

"Wie wäre es mit einem Gang auf die Terrasse?", fragte Erhan.

"Oh ja gern. Wahrscheinlich haben wir dann Gerhard an der Backe."

"Ist nicht schlimm", sagte der Vater und tippte auf das Display des Automaten. Er griff in eine Schublade und schob sich Zigarettenpäckchen und Feuerzeug in die Hosentasche. Anschließend marschierten sie mit ihren Tassen aus der Küche, durch Flur und Wohnzimmer und Lena sah im Vorbeigehen nur noch Dünenlandschaft und Gräser an der Wand. Die Nachrichtenleiste war abgeschaltet worden.

Wenige Minuten später saßen sie mit Gerhard auf der Terrasse. Hier würde die Nachmittagssonne noch für eine knappe Stunde ihre Strahlen hinschicken, und es war so windstill in dieser Ecke, dass sich die drei Rauchfähnchen nahezu senkrecht in die Höhe schnörkelten.

"Dass diese Unsitte noch immer nicht ausgerottet ist", brummte Malte, als er aus dem Haus kam.

"Im Gegensatz zu früher, ist das nun etwas Besonderes", sagte Gerhard.

"Ungesund ist es trotzdem."

"Ach Malte", murmelte der Vater und richtete den Blick in den Garten.

Malte folgte Erhans Blickrichtung. "Es ist hier im Garten passiert?"

"Ja. Dort hinten beim Gemüse ist sie einfach ... umgefallen" Er schluckte. Wischte sich über die Augen und zog dann so fest an seiner Zigarette, dass sie das Knistern hören konnten. Malte räusperte sich, steckte die Hände tief in die Hosentaschen und zog die Schultern hoch.

"Hast du es ... gesehen?", flüsterte es zwischen den Schultern hervor.

"Nein." Erhan nahm sich noch eine Zigarette und zündete sie an. Malte sagte nichts, und wenn er so etwas wie Missbilligung fühlen sollte, hatte er sein Gesicht gut im Griff. "An dem Morgen sehe ich Mutter, wie sie in den Garten geht. Dick eingepackt in das alte Fleecezeug. Die Sonne scheint so schön, und ich denke mir, jetzt frühstückst du gemütlich und schaust, ob du ihr nachher helfen kannst. Ich trinke also meinen Kaffee, lese in den Nachrichten, trinke noch einen zweiten und gehe dann raus. Und da sehe ich sie. Wie sie da liegt. Die Hände vor ihrer Brust ineinander verkrallt. Genau auf dem Weg zwischen Möhren und Mangold. Wollte wohl nicht mal beim Sterben ihren kostbaren Pflanzen schaden. Ich berühr sie an den Händen, ihre erdigen, krummen Finger. Kalt, wie aus der Erde gerupfte Wurzeln." Er zog an seiner Zigarette, streckte die Hand aus, als liege sie vor ihm. "Ich fühle an ihrem Hals ... nichts. Kein Leben. Nicht ein bisschen. Irgendwann kommt der Arzt, stellt seine Tasche ab. Mitten in die Petersilie." Er lachte auf. "Stellt euch vor. Meine Mutter liegt da tot und ich denke an die Petersilie. Denk mir, wie kann der blöde Arzt nur seine bescheuerte Tasche in der Petersilie abstellen."

Sie starrten eine Weile schweigend vor sich hin. Sogar Gerhard blieb ruhig. Nur Lena wippte mit den Füßen an einer gerissenen Fliese und lauschte dem Knirschen, dachte an den Garten, das Haus und wieder fiel ihr diese Nachricht ein. Was hätte Semra gesagt, wenn sie gewusst hätte, dass Haus und Garten an wildfremde Leute verkauft würden. Womöglich hatten sie schon darüber gesprochen? Vielleicht waren das der letzte Mangold, die letzten Möhren, die sie in ihren Beeten ernten wollte, saß womöglich seit langer Zeit auf gepackten Koffern. So frisch sieht es hier nicht mehr aus. Es knirscht und knirscht, Zerfall, schleichend, im Verborgenen arbeitend. Irgendwann würde Erosion einsetzen und die Zerstörung wäre nicht mehr aufzuhalten. Die nächste Fliese wackelt schon, die daneben auch und bei den Nachbarn sieht es nicht besser aus.

Brummen schob sich in ihre Gedanken, schwoll an, entflocht sich zu vielstimmigem Knattern. Fast gleichzeitig legten sie die Köpfe in den Nacken; dann waren sie zu sehen - sechs, sieben dicke Transporthubschrauber. Dröhnen fräste durch die verschlafene Siedlung. Für einen Moment verdunkelten die grauen Leiber den Himmel. Macht zur Schau stellend schwebten sie in einem weiten 'V' über die Gärten hinweg Richtung Stadt, so tief, dass jeder die Öffnungen an den Metallbäuchen gut sehen konnte.

Lena blickte auf ihr Handgelenk, wo sich ein mattschwarzes breites Band anschmiegte. Man spürte es kaum, könnte es rund um die Uhr tragen, müsste es nicht ab und zu aufgeladen werden. Ein roter Punkt pulsierte und sie wusste, jeder wusste, dass mit den Bildaufnahmen fast zeitgleich die Daten von Fahrzeugen, ID-Bändern und Chips abgeglichen wurden. Manches Mal zögerten einzelne Begleitdrohnen wie Hunde, die eine Fährte verloren hatten und schnüffelnd suchten, bis die Duftspur wieder aufgenommen war. Bei diesem Anblick zweifelte selbst der bravste Bürger an seiner eigenen Unbescholtenheit.

Diesmal schien die Meute vor allem in Eile gewesen zu sein; keine Zeit für Katz- und Mausspiel.

Der rote Punkt erlosch und Lena spürte, wie die Anspannung in der Magengegend nachließ, ein schwarzer Klumpen, der allmählich zerfloss und nur noch einen schalen Nachgeschmack hinterließ. Der Umriss eines grünen Briefsymbols war noch zu sehen. Giftgrün hatte sie extra für den netten Herrn vom Amt für Studien- und Lebensgestaltung ausgesucht. Das war die dritte Nachricht von Hanno Herbst. Jetzt würde sie sich langsam bei ihm melden müssen.

"Scheint wieder Ärger zu geben", sagte sie und strich das Symbol weg.

"Ich hab von illegalen Demonstrationen munkeln hören und davon, dass wieder welche ihr Unwesen in den gesicherten Zonen treiben", murmelte Erhan.

"Mir würde das auch keinen Spaß machen, immer nur die erlaubte Route rauf und runter zu demonstrieren. Schließlich kann man in den Reichenzonen die Leute besser erschrecken, muss nur die ein oder andere Lücke entdecken“, sagte Gerhard.

„Das Schreckgespenst wird immer wieder aufgebauscht“, winkte Malte ab. „Dann kann die Tante vom Sicherheitsministerium noch tiefer in den Etat-Topf hineingreifen.“

„Schon spannend, wie sich Leute hineinschmuggeln können", sagte Erhan.

Wenn du wüsstest, wie einfach das ist, dachte Lena. Letzte Woche erst hatte sie einen netten Abend bei Carla verbracht. Die wohnte in einem Bungalow im Garten ihrer Eltern, und sie boykottierte mit Freuden deren Regel, dass alles, was nicht mindestens in einer S1-Zone registriert war, schon gar nichts in ihrer S2-Siedlung zu suchen hatte. Solche Freunde hatte eine gute Tochter nicht zu haben. Man stelle sich vor, irgendein Untermensch geht in ihrem Anwesen aus und ein, und das würde sich auch noch herumsprechen.

Ganz dicht wie ein Riesenrucksack hatte Lena hinter ihrer Freundin auf dem Gepäckträger des Fahrrads gesessen, konnte sehen, wie das Band an Carlas Handgelenk kurz aufschimmerte, als sie das Tor passierten. Ihr eigenes ruhte in einem abgeschirmten Beutel in ihrer Tasche. War die Grenze überwunden, krähte kein Hahn mehr nach irgendeinem Identifikationsmodul. In der supersicheren S3-Zone wäre das nicht so einfach gewesen. Dort war jeder ID-Chip, jedes Band erfasst und die Bewohner hatten Vereinbarungen unterschrieben, nach denen sie sich verpflichteten, diese Dinger im Band oder sonstwie immer bei sich zu führen. Und wehe es schlich einer ohne Berechtigung herum. Gleich einem Wabenmuster war das Gelände unterteilt, und die Sensoren konnten anhand der Bewegungsmuster unterscheiden, ob es sich um Maus oder Mensch handelte.

Und nun überlegte Carlas Vater, in die S3 zu ziehen. Man wäre ja seines Lebens nicht mehr sicher.

Das Klacken eines Schlosses zupfte an der Stille und Lena blickte über den Garten hinweg zu einer schmalen Parzelle, die zum Familiengrund gehörte. Nach Großvaters Tod vor mehr als zwanzig Jahren hatte Semra gesagt, der Garten sei ihr zu groß und vermietete das Stück samt kleinem Haus an Rudolf Graber. Außer einem Sohn, der alle paar Jahre zu Besuch kam, schien er keine Angehörigen zu haben.

Lena betrachtete das in der Nachmittagssonne leuchtende Rot der Backsteinwände, den niedrigen, mit Holzscheiten vollgestapelten Verschlag und seinem Teerpappedach, neben dem sich nun eine Tür öffnete.

Sie hatte schon einen Gruß für den Alten auf der Zunge; doch sie würgte ihn rasch wieder hinunter, als sie statt seiner den Sohn erkannte, und sie nickte nur höflich.

Der erstarrte für einen Moment, als er die kleine Gruppe bemerkte.

"Hallo", sagten die Männer neben Lena fast unisono und der junge Graber nickte und winkte ihnen zu. Aus dem Grau der Teerpappe löste sich eine Katze und sprang vom Verschlag herunter. Den fremden Mann nicht aus den Augen lassend umschlich sie ihn in einem großen Bogen und huschte an ihm vorbei ins Haus. Er nickte noch einmal und folgte der Grauen, zog hinter sich die Tür ins Schloss.

"Wer war das denn?", fragte Gerhard.

"Der Sohn unseres Nachbarn", antwortete Erhan.

"Ihr habt aber höfliche Nachbarn. Eine Art Beileidsbekundung wäre nicht schlecht gewesen."

"Warum war der alte Graber nicht bei der Beerdigung?", fragte Lena und drückte ihre Zigarette aus. "Semra und er haben sich doch so gut verstanden."

"Er ist wohl die Tage ins Krankenhaus gekommen. Semra wollte ihn noch besuchen." Erhan starrte auf das Haus. "Ich wusste gar nicht, dass der Sohn zu Besuch ist. Vielleicht weiß der nichts von ihrem Tod."

"Dann sollte einer Bescheid sagen."

"Ja ... bei Gelegenheit", murmelte der Vater.

"Die waren süß, die zwei Alten", sagte Lena "Wie sie zusammen auf der Bank gesessen sind."

"Ja", da musste sogar der Vater lächeln. "Selbstgebrannten haben sie probiert."

"Ist noch etwas davon da?", fragte Gerhard. Die Zwillinge und der Vater starrten ihn an. "Entschuldigung ... ich wollte nicht ..." Er räusperte sich und nickte. "Ich schau mal, was Julia macht." Sekunden später verschwand er im Haus.

"Er gibt sich ja schon Mühe", sagte Malte, als sich die Tür hinter Gerhard geschlossen hatte.

"Ein wenig", sagte Lena, dann nickte sie Richtung Wohnzimmer, wo Anna und Julia gerade lebhaft auf Ruth einredeten. Tante Marianne stand mit verschränkten Armen daneben und nickte ab und zu. "Tante Anna scheint die Beerdigung doch gut zu verkraften."

"Ihre Beziehung zu unsere Mutter war nicht sehr innig."

"Nicht so wie beim Vater, nicht wahr?"

"Nein, nicht so wie beim Vater, ihrem großen Vorbild. Dem Maß alles Dinge. Wahrscheinlich ist sie deshalb nicht verheiratet."

"An den Übervater kommt keiner ran, was?"

"Nein", sagte Erhan "und wie verbissen die beiden um seine Gunst gekämpft hatten ..."

Lena kannte diese alten Familiengeschichten, ihr war das Gezänk der alten Damen schon immer etwas seltsam erschienen. Bis ihr der Vater in einer Plauderstunde erzählt hatte, wie jede ihren persönlichen Aufstieg durchzog. Während Anna sich die Teilhabe an der Kanzlei Christian Radeke mit einem summa-cum-laude-Studium erarbeitet hatte, zog Marianne ihren Chef in den Hafen der Ehe. Und alle hatten sie genug Geld, um sich in eine S2-Zone einzukaufen.

Lena sah ihrem Vater zu, wie er seine Zigarette so gründlich im Aschenbecher ausdrückte, dass der Filter zerfaserte. Sie tat nun ebenfalls ihren letzten Zug.

Wie war das nochmal mit Tilmann vor ein paar Tagen? Er hätte eine Wohnung in Aussicht? Breit grinsend steht er vor mir, sieht aus, als habe er ein seltenes Tier gejagt und wolle es mir nun präsentieren. Eine feine, kleine Kunstpause legt er ein und rückt dann damit heraus. In einem S1-Bezirk wäre sie, da könnte ich doch endlich mit ihm zusammen ...

"Ich geh wieder rein", unterbrach der Vater ihre Gedanken und ging zur Terrassentür. Malte folgte ihm auf dem Fuß. Lena hätte gern noch ein paar Worte mit dem Bruder gewechselt, ohne dass die halbe Verwandtschaft zuhörte. Aber genau das schien er vermeiden zu wollen; also spazierte sie den beiden Männern hinterher. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, verstummte das Gespräch, als drückte jemand die 'mute'- Taste mitten in einem Film.

"Gut dass ihr kommt", begann Julia. "Wir sprechen gerade davon, dass wir am Samstag Vaters Geburtstag feiern wollen. Das wird gleichzeitig eine kleine Einweihungsfeier für unsere Wohnung."

"Da könnt ihr sehen, wie nett es in einer S2-Zone ist", sagte Gerhard. "Vielleicht gefällt es dir ja auch."

"Ich weiß nicht." Lena schüttelte den Kopf.

"Kinderzentrum ist in der Nähe, es gibt einen schönen Park mit Laufpfaden."

"Ich würde mir wie ein Hamster im Käfig vorkommen, der sich ab und zu in seinem Laufrad abarbeitet."

"Schau es dir einfach an", sagte Gerhard und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Tilmann fand die Siedlung auch schön."

"Tilmann?" Lena machte einen Schritt zurück, bis die Hand von ihrer Schulter abglitt.

"Ja, ich habe ihn letzten Freitag in der Stadt getroffen. Er war tatsächlich stolz auf die Aussicht, eine S1-Wohnung zu bekommen. Kaum zu glauben, was? Also hab ich ihn auf einen Kaffee eingeladen."

"Davon hat er mir nichts gesagt." Lena spürte, wie Groll in ihr aufstieg.

"Hat sich so ergeben", mischte sich Julia ein. "Er hatte nicht viel Zeit. Aber er will unbedingt mit dir darüber ..."

"Was du nicht sagst", fuhr Lena dazwischen, und mit einem 'Ich brauche noch einen Kaffee' wandte sie sich ab. Sie hörte noch Gerhards Beschwichtigung, von wegen, Tilmann habe doch nur mal schauen wollen; aber das interessierte sie nicht mehr. In der Küche blieb sie vor dem Kaffee-Automat stehen und betrachtete das gerundete Chrom über dem Auslass, wie sich ihre Nase zu einem Troll-Riechorgan spiegelte, drumherum wirres Schwarzhaar.

Wie war das nochmal am Samstag? Als wir uns per Video-Chat gestritten haben? Piept mich am frühen Morgen an, will mir einen schönen Tag wünschen, bevor er zu dieser Konferenz fährt. Muss ein reizender Anblick gewesen sein.

Müde hatte sie sich auf dem Schreibtischstuhl gelümmelt, nur mit einem alten Riesenshirt und dieser verblassten Boxershorts bekleidet, die mit den Palmen drauf. Und weil sie kalte Füße hatte, streifte sie sich zwei von den drei Socken über, die so herumlagen. Sie hatte Tilmann beobachtet, wie er im dunkelblauen Anzug und weißen Hemd hin- und her eilte und seine kleine Reisetasche packte. Richtig akkurat machte er das, und irgendwie nervte es Lena. So wie sie einiges an ihm nervte in letzter Zeit. Zum Beispiel sein nachsichtiges Grinsen, als sie die Füße hochlegte, ein dunkelgrauer Wollsockenfuß auf dem Schreibtisch, den anderen hellgrauen auf die halb herausgezogene, zweite Schublade von unten. Sein 'fall nicht', als sie anfing mit dem Stuhl zu kippeln. Ein schlechter Anfang war das. Vor allem am frühen Morgen, wenn sie noch keinen Kaffee im Magen hatte. Und in diesem Moment fragt er Lena, was sie von S2-Sicherheit halte. Dabei wusste er genau, was sie davon hielt.

Das seien Krebsgeschwüre, die sich in Städte hineinfräßen, hatte Lena gezischt und ihn gefragt, ob er sich schon mal Luftaufnahmen angesehen habe? Zeit zum Antworten hatte er nicht bekommen, stattdessen redete sie sich in Rage. Erst seien es kleine Siedlungen am Rand, sie würden anschwellen, sich in die Citys fressen, zusammenwachsen, und irgendwann seien normale Leute ausgesperrt. Und dabei machte sie eine Bewegung mit ihren Händen, als wolle sie eine matschige Melone auspressen. Schlimm genug, dass sie dort S1-Standards eingeführt hätten. Wehe man habe nicht seinen ID-Chip bei Fuß; dann sei nix mit Shoppen oder Ausgehen.

Lena hatte sein Gesicht gesehen und für einen Moment tat er ihr leid. Ein paar Sekunden schwiegen sie. Schließlich hatte er den Reißverschluss seiner Tasche zugezogen und gesagt, normale Leute bekämen normalerweise eine Berechtigung, alle anderen wolle er ohnehin nicht in seiner Nähe haben. Und er hatte eine Kunstpause eingelegt.

'Genauso wenig wie du. Du magst auch keine Randzonen-Asis als Nachbarn', hatte er ihr dann an den Kopf geworfen. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er damit gar nicht so falsch lag.

Lena stellte eine Tasse unter den Auslass. Zischend strömte die braune Flüssigkeit heraus. Als eine Art Friedensangebot hatte sie ihm versprochen, sich die Präsentation genauer anzusehen, die er ihr vor zwei Tagen geschickt hatte: S1-Zone Augustinertal, ein nettes Viertel, dieser Ausläufer der Innenstadt. Es gab auch einen Verweis auf die Siegfriedshöhe, eine S2-Siedlung, in die sich Julia und Gerhard eingekauft hatten.

Es war eine beeindruckende Vorstellung gewesen. Als würde dem Betrachter das Paradies versprochen. Bürger erzählten, wie sie früher wach in ihren Betten gelegen waren, bei jedem Geräusch zusammenzuckten. Wie sie in ständiger Angst um ihre Kinder gelebt hatten und wie entspannt nun alles wäre. Lena betrachtete das Elternpaar, Premium-Modelle aus der Fotoserie einer Nobelsamenbank, wie sie auf der Couch saßen, einen Tierfilm betrachteten, während in der Ecke oben rechts eine kleine Umgebungskarte gezeigt wurde.

Was meinst du, fragte sie, sollen wir nachschauen?

Aber natürlich, antwortete der und wedelte mit einer Hand. Die Avatare der Kinder erschienen. Noch ein Wedeln und eine Karte ploppte auf, die nicht nur anzeigte, wo sich die Brut befand. Nein, das Grüppchen wurde herangezoomt, die Freunde drumherum, das Kind, die Hand des Kindes, das Band an seinem Handgelenk, schimmernd. Mutter und Vater entrückt auf der Couch. Sanfte Musik, 'das könnte Ihr Leben sein, Ayla-Lena Radeke', säuselte es und die Köpfe der beiden veränderten sich, morphten zu ihrem eigenen Gesicht und Tilmanns.

Teufelnocheins, hatte sie gemurmelt und den Schirm abgeschaltet.

Lena schüttete ein, zwei Löffel Zucker in den Kaffee, lehnte sich an die Arbeitsplatte und rührte und rührte. Ganz weiß war die Küche. Chromblitzend die Geräte. Ihr Blick fiel schließlich auf das Display neben der Tür. Das Übliche – bunte Grafiken, die den täglichen Bedarf an Energie, Vitaminen und Spurenelementen aufzeigten, dazu die bisherigen körperlichen Aktivitäten. Die Bilanz der Mutter war exzellent; oder anders ausgedrückt - sie dürfte sich ruhig noch einen Nachschlag am Buffet gönnen. Tannengrün leuchtete die Gewichtsanzeige und oben rechts prangte der ihr zustehende Krankenversicherungs-Rabatt.

Wie wohl Vaters Zustand aussah, überlegte Lena. Sie müsste nur ein, zwei Felder berühren.

Lena lauschte in den Flur, ein Blick um die Ecke. Beide Tanten standen schon mit dem Vater in Richtung Tür. Lena tippte auf den Schirm, und die Werte ihres Vaters schoben sich in den Vordergrund. Dort leuchtete es ebenfalls bunt, allerdings nur die Soll-Werte. Scheint, als habe der alte Herr keine Lust auf Senso-Fit. Seine apfelsinenfarben leuchtende Gewichtskurve endete vor einigen Monaten.

"Wir sehen uns ja am Samstag", kam Mariannes Stimme vom Flur "Ich will Josef nicht allzu lange allein lassen".

Lena schob Mutters Daten wieder in den Vordergrund und schlenderte zur Tür.

"Aufbruchstimmung?", fragte sie.

"Wir wollen nicht so spät nach Hause kommen", sagte Tante Anna und ließ sich von Malte in den Mantel helfen. Er nahm seinen Rucksack auf.

"Du gehst auch schon?", fragte Lena.

"Sie nehmen mich mit in die Stadt. Von dort aus kann ich mit der Bahn zu meinem Standort fahren."

"Julia und Gerhard fahren später – die würden dich bestimmt mitnehmen.“

"Ich bin doch nicht lebensmüde."

Nachdem sich alle verabschiedet hatten, begleitete Lena den Bruder noch nach draußen.

"Und wie ist dein Pflichtdienst?"

"Anstrengend. Wir sind noch zwei Tage mit Materialbeschaffung zugange und nächsten Montag geht es ab nach Südspanien."

"Hast du keine Angst?"

"Nein, warum sollte ich?"

"Also wenn ich mir die Nachrichten so anschaue – vergeht kein Tag in diesem Flüchtlingslager, an dem nicht irgendwas hochgeht oder brennt."

"Glaub doch nicht alles, was dort gezeigt wird."

"Wem soll ich denn sonst glauben?"

"Glaub es einfach mir."

"Schickst du mir mal eine Nachricht?"

"Ich werde versuchen, daran zu denken."

"Aber du kommst doch noch am Samstag."

"Nein. Es geht nicht."

"Und warum nicht?"

"Ich müsste erst zum Sicherheits-Check. S2-Standards."

"Du musst das doch nicht an die große Glocke hängen. Geht doch niemand etwas an, welchen Gott du anbetest."

"Hab mich für den Roten Halbmond gemeldet."

"Ja und?"

"Dann sind die neugieriger."

"Ich verstehe nicht ..."

"Zwei Onkel sind Imame in Moscheen. Eine davon steht unter Beobachtung. Ich kann mich da nicht einfach über das Netz mit meiner ID für den S2-Besuch anmelden. Da müsste Julia eine Einladung hinschicken."

"Und das geht dir gegen den Strich."

"Aber sowas von. Außerdem gibt es Samstag noch genug zu tun."

Lena nickte. Ein Grund mehr sich gar nicht erst in einer S2 einzunisten, dachte sie, zufrieden darüber, dass Malte sie zum Abschied dieses Mal fest an sich drückte. Er winkte ihr zu, als das Fahrzeug mit einem Sirren losfuhr, und Lena sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war, kehrte um und ging zum Haus zurück.

Im Flur angekommen, konnte sie sehen, wie Julia angeregt mit ihrer Mutter sprach, während sie gemeinsam im Wohnzimmer Gläser und Geschirr wegräumten. Lena warf einen Blick in die Küche, wo Erhan und Gerhard beschäftigt waren. Das hieß, während der Ältere den Kaffeeautomaten reinigte, stand der Jüngere mit einem Lappen in der Hand daneben und redete und redete.

Lena kannte das Gesicht, mit dem der Vater vor sich hin polierte, den stieren Blick, der nichts anderes bedeutete, als dass er sich einfach auf die Couch setzen, nichts hören und nichts sagen wollte. Und sie konnte ihn gut verstehen.

Julia eilte mit einer Mülltüte an Lena vorbei, selbst sie bemerkte Erhans Müdigkeit.

"Ich denke, wir sollten auch bald fahren", sagte sie. Sie packten noch einen Teil der übergebliebenen Lebensmittel vom Buffet ein und machten sich auf den Weg.

Eine Viertelstunde später stand Lena mit den Eltern im Wohnzimmer an der Terrassentür, umarmte beide und wünschte ihnen noch einen guten Abend und eine gute Nacht.

"Und du willst wirklich in deinem Zimmer schlafen?", fragte Ruth.

"Ja, ich denke, das ist kein Problem", antwortete Lena. Sie griff nach ihrer Reisetasche und trat hinaus. "Wäre sie in ihrer Wohnung gestorben, würde ich das wahrscheinlich nicht tun."

"Wenn du meinst."

"Alles in Ordnung, Mutter." Lena nickte ihnen zu und ging nach draußen, folgte dem Weg, der zum Anbau führte. Dort hatte sich die Großmutter eingerichtet, nachdem ihr Mann Christian gestorben war. Im Erdgeschoss befand sich eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad. Die beiden Räume unter dem Dach waren für Lena reserviert. Dort hatte sie auch den Teil der Möbel, der nicht ins Studentenzimmer passte. Außerdem könnte sie dort wohnen, falls sie nach dem Studium nicht sofort eine Arbeit finden würde. Die Studentenheimleitung war in dieser Hinsicht ziemlich konsequent. Wer nicht sofort etwas fand, hatte ein echtes Problem. Die Mieten in der Stadt waren teuer. Und wer wollte schon in einem der Vororte dahinvegetieren. Andererseits – Lena stoppte für einen Moment und holte tief Luft, kühle Herbstluft strömte in ihre Lungen – so übel war es hier nicht.


***


Die Katze leckte im Napf herum, als wäre dies ihre erste Mahlzeit seit Tagen gewesen. Das Raspeln der Zunge zerkratzte die gespannte Stille.

"So kannst du nicht vor deinen geliebten Jesus treten, lieber Vater“, knurrte Frederik Graber und das Tier hielt inne. Seine Augen funkelten, als es den Mann fixierte. "Na los, sag schon!", schob er hinterher. Sein Zorn schien die Luft so aufzuladen, dass die Katze ihre Mahlzeit unterbrach und nur mit zuckender Schwanzspitze vor seinem Napf hockte.

"Semra ... Semra Radeke", kam es leise vom Bett.

Frederik Graber sprang vom Stuhl auf und stach mit dem Finger in Richtung Radekes, als wolle er jemand aufspießen.

"Diese Semra war es? Sie war meine Mutter?", rief er und die Graue schoss zum Sofa, schlüpfte unter den Kleiderhaufen.

"Hätte ich bloß nichts gesagt", stöhnte der Alte.

"Man beichtet so einiges, wenn der Sensenmann hinter einem steht", ätzte Graber. Er hatte mutigere Männer gesehen, wie sie im Angesicht des Todes nach ihren Müttern riefen und wie sie ihre Schuld bereuten.

„Die werden es nicht glauben“, kam die Stimme vom Bett.

„Ein DNA-Test beweist das.“

„Du kannst sie nicht zwingen.“

„Dann sag du ihnen, dass ich Erhan Radekes Halbbruder bin.“

„Ich kann nicht.“ Der Alte schloss die Augen und drehte sein Gesicht zur Wand.

Graber hörte ein Rascheln und sah zur Couch, betrachtete für eine Weile den Jackenhaufen, wie sich unter ihm eine Beule abzeichnete, die sich hin und her bewegte. 'Verdammtes Vieh' murmelnd öffnete er das Fenster, riss die Jacke weg, packte die Katze und ließ sie über den Sims hinweg ins Gras plumpsen. Aus den Augenwinkeln konnte er Lena Radeke sehen, wie sie vor der Tür zum Anbau stand. Er klatschte sich die Katzenhaare von den Händen, zupfte welche von den Ärmeln und blickte auf.


***


Lena hatte gerade den Schlüssel aus der Tasche gezogen, als gegenüber ein Fenster geöffnet wurde. Sie sah Frederik Graber, hörte ein Maunzen. Der Mann klatschte ein paar Male in die Hände, zupfte Haare vom Ärmel und blickte direkt zu Lena. Er schien etwas zu murmeln und seine Augen starrten sie aus tiefen Höhlen an.

Du meine Güte, mein Gespenst aus Kindertagen schaut, als wolle es mich mit Blicken töten. Womöglich hat er mich doch bemerkt, als ich vor zwanzig Jahren ums Haus geschlichen bin.

Sie schluckte und fragte sich, ob alles in Ordnung mit ihm sei. Man könnte meinen, er springe gleich aus dem Fenster.

Ärger über sich selbst stieg in Lena auf. Ist doch vorbei, rügte sie sich; und jetzt drehst du dich zur Tür und steckst den verdammten Schlüssel ins Schloss. Sie öffnete und versuchte das Gefühl zu ignorieren, jemand richte eine doppelläufige Flinte auf ihren Rücken. Drinnen schaltete sie das Licht ein, wandte sich um und überredete sich zu einem höflichen Nicken, bevor sie die Tür hinter sich schloss.


***


Kaum zu glauben, aber sie nickte ihm tatsächlich zu, bevor sie im Haus verschwand.

„Wenn du wüsstest, Ayla-Lena ...“, murmelte Frederik Graber.

"... dass wir verwandt miteinander sind." Am liebsten hätte er es über die Wiese gebrüllt; aber sein innerer Leutnant hieß ihn schweigen. Die Katze war unter der Hecke verschwunden, tauchte dahinter wieder auf und querte die Nachbarwiese.

"So ein Fettklops", knurrte er und erinnerte sich an einen Abend vor ein paar Jahren, wie er mit den Kameraden im Schutz einer Ruine gesessen war. Eine wie diese Graue hätten sie damals gut brauchen können. Fünf von ihren struppigen Verwandten hatten sie eingefangen, das Fell abgezogen, ausgenommen und auf Stöckchen über das Feuer gehalten. An denen war nicht viel Fleisch gewesen, aber der Geschmack erinnerte immerhin an Kaninchen und Grillen auf dem Balkon, und es war eine willkommene Abwechslung im Tubeneinerlei. In Frederik Grabers Gesicht zuckte es.

Ruhig werden, ganz ruhig, beschwor sich Frederik und schloss das Fenster, verharrte für einen Moment. Dann, als müsste er sich selbst einen Ruck geben, stieß er sich von der Fensterbank ab. Leicht geduckt querte er den Raum, die Schritte sorgfältig setzend, so wie es ihn die unzähligen Einsätze gelehrt hatten. Seit vielen Jahren, Jahrzehnten bewegte er sich mit dieser Vorsicht, so wenig Angriffsfläche wie möglich bietend. Daran ließen sich die Langjährigen erkennen, die Dauersöldner.

Es wäre nur für den Übergang, hatten die Werber der Streitkräfte gesagt. Nur bis der Nahe Osten, bis Afrika wieder stabil seien, tönten sie. Er ahnte damals – nein er wusste um die Schönfärbereien. Wer glaubte schon, dass dort je wieder Frieden herrschen würde … und vor allem – nicht alle wollten das. Die Aussicht auf Abenteuer war trotzdem verlockend gewesen, dieses Wissen so richtig von Bedeutung zu sein. Denn was wären die Industrienationen ohne Seinesgleichen, ohne die Männer und Frauen, die ihre Hälse für die restlichen Ölquellen und Minen riskierten. Die sich durch Dschungel schlugen, durch Sand und Geröll robbten, die mit angeschlagenem Gewehr rohstoffschleppende, menschliche Packesel bewachten. Die Flüchtlingsströme in Schach hielten.

Sie würden ehemaligen Soldaten Weiterbildungen bezahlen, sagten sie, dann könnten sie sich wieder in die Gesellschaft einfügen … ja supertoll. Wie willst du ein normales Leben führen, wenn du bei jedem Martinshorn aufschreckst und nach der Knarre unter deinem Bett suchst. Wenn du deine Bettgenossin erstichst, weil sie in der Nacht so leise wie möglich nach ihren Schlappen gesucht hat.

Fünfzig Jahre war er alt gewesen, als er sich bei diesem Workshop langweilen durfte. Sie hatten gesagt, er sei für die Offizierslaufbahn nicht geeignet. Er! Frederik Graber war nicht geeignet! Er war also in Soldatenklamotten in diesem Saal gesessen, auf einem abgewetzten Konferenzstuhl, im Klimaanlagenmuff, sah Schaubilder an sich vorbeiziehen und musste über Büros nachdenken, über geregelte Arbeitszeiten … Anzüge … Rentenansprüche … psychologische Begleitung und all den Weicheierkram. Er sah, wie Leute, die mit ihm im Graben gelegen hatten und über Leichen gestiegen waren, an ihren Nägeln kauten, während sie diesem Psychoscheißer zuhörten.

Nein danke, hatte er gedacht und sich von einer privaten Söldnergruppe anheuern lassen. In der Straße um die Ecke lag eine der Zentralen. Dort kannte und schätzte man den Wert von Seinesgleichen. Die zahlten gut. Nicht nur das – die zahlten sehr gut, schließlich würden die Freiwilligen nicht vom Himmel fallen.

Wie anders hätte sein Leben verlaufen können, wenn er in einer richtigen Familie aufgewachsen wäre. Frederik Graber stoppte am Kopfende des längs der Wand stehenden Bettes, direkt neben Bob, der sich an seine Ladestation angedockt hatte und dösig ins Nichts starrte. Ein wenig schmuddelig sah er aus. Bei welcher Krankenkasse er registriert war, ließ sich nur schwer erkennen. Irgendwelche Spaßvögel hatten ihn mit Werbeaufklebern verziert und vorne auf den Klappen, hinter denen Greifer ruhten, waren noch die Umrisse zweier Hängetitten zu sehen. Offensichtlich hatte jemand versucht, sie zu entfernen; aber das Einzige, was er erreicht hatte, waren zwei so blank gescheuerte Stellen, dass man ihren Glanz sogar in dieser Düsternis sehen konnte.

Noch verirrte sich diffuses Tageslicht vom Fenster in den Raum, erreichte knapp das Bett, strich über die Gestalt darin. In den Scheiben des Radekebaus spiegelte sich Herbstabenddämmerung und flackerte, wenn der Wind in die Baumkrone griff und Blattwerk das Licht zerschnitt.

„Warum wollte die Mutter das nicht?“, fragte Frederik und beugte sich herab, bis sein Kopf fast über dem des Vaters schwebte. „Warum sollte ich nichts von ihr wissen? Wir leben nicht im finsteren Mittelalter und zu diesen neuchristlichen oder neuislamischen Sekten gehören wir auch nicht.“

Der alte Mann im Bett schüttelte langsam den Kopf. Wieder herrschte Stille, doch dann … leise Worte, wieder und wieder.

„Mutter … Semra … Mutter“, murmelte der Sohn, als müsste er ein Mantra einstudieren, als horchte er den Worten nach, um sie auf ihre Glaubwürdigkeit hin abzuschmecken. Er dachte an sein Leben, an das große Haus und er hätte den Alten am liebsten gepackt, gewürgt, stattdessen griff er nach dem Kopfende des Bettes und rüttelte ein- zweimal kräftig, unverständliche Flüche herauspressend. Die Gestalt im Bett fuhr zusammen und eine gekrümmte Greisenhand hob sich aus der Baumwolllandschaft und wedelte, als wolle sie Fliegen verscheuchen.

„Verdammt!“, schleuderte Frederik in den Raum. „Du kannst mir nicht erzählen, dass ihre Verwandten nichts, aber auch gar nichts bemerkt haben.“

"Verleugnete Schwangerschaft."

"Eine was?"

"Sie verleugnete die Schwangerschaft, hat es bis zum Schluss nicht gemerkt, hatte sogar ihre Tage, angeblich. Hatte keinen richtigen Bauch, wirkte nur ein wenig ... fülliger."

"Aber danach, als ich geboren war."

„Sie sprach mit niemand, und die Schwestern waren zu klein, ganz zu schweigen von deinem Halbbruder. Sie wurde in irgend so eine Psychosomatische Klinik gesteckt. Danach ist sie zu ihrem Mann zurück. Aber das tut nichts zur Sache. Ich … ich hab mich doch gekümmert, hab dich allein aufgezogen“, presste Rudolf Graber so heftig heraus, dass sich der magere Brustkorb vor Anstrengung verkrampfte. Für ein paar lange Sekunden betrachtete der Sohn den Alten wie ein Wissenschaftler eine sich in Agonie krümmende Laborratte.

„Du hättest es mir sagen sollen“, zischte er endlich, wendete seinen Blick ab und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, bis er ruhiger wurde.

„Frederik ...“, flüsterte es nach einer Weile. Der alte Mann schloss die Augen, presste sich die Hände auf den Brustkorb.

„Was ist? Soll ich den Arzt rufen?“

Rudolf Graber schüttelte den Kopf und winkte mit einer müden Handbewegung ab.

„Wie du willst.“ Frederik zog einen Stuhl herbei und hockte sich neben das Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Der Atem des Älteren ging pfeifend und so schwer, als wäre die Bettdecke eine unerträgliche Last.

„Ich hätte nichts sagen dürfen ...“, jammerte er leise.

„Na – jetzt bist du es los und kannst beruhigt in die Grube steigen. Ist doch schön für dich“, spottete Frederik Graber und richtete sich auf. „Ich denke, die anderen sollten es auch wissen.“ Er knirschte mit den Zähnen. Sogar der Alte schien es zu hören und versuchte sein Gesicht dem Sohn zuzudrehen.

„Frederik!“, hauchte er und streckte sich höher, doch nur ein leises Lachen schwebte durch den Raum.

„Vielleicht wird jetzt alles anders, ein neues Leben beginnt“, antwortete Frederik Graber und starrte geradeaus, starrte zum Fenster, zu der großen, alten Kastanie, zum Haus dahinter, als das Bild von einem rot pulsierenden Schimmer verwischt wurde. Er drehte sich zu Bob. Neben dem kleinen, roten Herz blinkte nun ein größeres, rotes Kreuz.

„Sieht aus, als müsste ich doch den Arzt rufen – das Kreuz blinkt.“

„Ach nein … mach's aus, ich brauch nur ein wenig Ruhe.“

Frederik Graber lächelte, stand auf und tippte auf den Schirm am Rücken des Care-Rob. Zwei Felder erschienen – eines für den Fingerabdruck und eines für das Passwort. Grabers Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen.

„Glaub nicht, dass die zivilen Pfleger gewissenhafter sind als die militärischen“, murmelte er und tippte den Namen des Vaters ein. Nichts geschah. Graber überlegte. Dann tippte er den Namen mit Geburtsjahr dahinter und das Kreuz erlosch. Nur das Herz pulsierte weiter, lautlos, unregelmäßig rasend. Frederik Graber wartete eine paar Minuten, sah sich dabei im düsteren Raum um. Sie hatten die Möbel einfach zusammengeschoben. Unter dem Fenster lagen die Teile des Regals, das anstatt des Bettes an der Wand gestanden hatte. Sein Blick blieb an einem kleineren Bildschirm hängen. Er war an einem Schwenkarm über dem Kopf des Alten befestigt. Frederik sah zu Bob - der Herzschlag war noch unregelmäßig, hatte sich jedoch verlangsamt. Er berührte des Vaters Schulter. Der rührte sich nicht, schien tatsächlich eingeschlafen zu sein; also zog Graber das Gerät zu sich und tippte auf die fettig glänzende Fläche. Sie antwortete mit einem weißen Quadrat auf grünem Grund. Er betrachtete den im Bett Ruhenden, sein Gesicht mit den geschlossenen Augen. Er hatte den Mund leicht geöffnet und bei jedem Atemzug entwich ein leises Schnorcheln, so als schlürfe jemand mit dem Strohhalm die Eiscafépfütze vom Becherboden. Graber erfasste die Greisenhand, hob sie an, wartete, nichts geschah. Also nahm er den Schirm aus der Halterung, schob ihn unter die Finger des Alten und drückte sacht die Kuppen auf die Fläche. Das Symbol für Bob erschien und darüber eines, das ins Netz führte. Graber zog das Gerät langsam hervor und tippte 'geht doch' vor sich hin murmelnd auf das Netz-Icon.

„Einen schönen guten Abend ...“, lachte es aus Lautsprechern, und an der Wand gegenüber erstrahlte eine weizenblonde Rate-Fee vor Sommerwolkenhimmel. Licht floss über die reglose Gestalt im Bett, beleuchtete das entsetzte Gesicht des Mannes daneben. Mit fliegenden Fingern drückte er auf 'stumm' und schaltete den Großschirm ab. Für zwei Sekunden hatte sich die Internetwelt in das Zimmer katapultiert und Frederik Grabers Blutdruck auf bestimmt hundertachtzig getrieben. Er hatte das Gefühl, als hallten seine Herzschläge an den Wänden wieder und er blickte zu seinem Vater. Doch der schluckte nur ein, zwei Male trocken und mit einem Stöhnen sank sein Kopf zur Seite.

Frederik Graber wandte sich vom Bett ab und atmete tief durch. Als er sich wieder beruhigt hatte, nahm er das Gerät auf und klickte sich durch die mit Werbung gespickte Internetwelt. Auch des Vaters Nachrichtenfächer waren gefüllt mit Werbebotschaften, vor allem Erektionshilfen und Gesundheitsartikel.

Keine Freunde und einen kostenfreien Anbieter, grummelte es in ihm. Alle paar Sekunden musste ein aufgeplopptes Bild weggedrückt werden. Bei manchen Clips dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis die Fläche des Schirms wieder reagierte. Es war, als würde man durch eine Einkaufsstraße eilen und alle paar Meter spränge jemand herbei, packte dich am Schlafittchen und zerrte dich in den Laden. Erst als er sich auf der Bankseite befand, wurde es ruhiger. Viele Proteste hatte das die Netzgemeinde gekostet, bis sie durchdrücken konnten, dass Bankseiten keine Fremdwerbung beinhalten durften. Noch ein Fingerabdruck zur Bestätigung und mit einem 'wenigstens etwas' studierte er die Tabelle. Hübsche, kleine Zahlen, die etwas über Ein- und Ausgaben erzählten und den momentanen Kontostand.

Frederik klickte sich durch Sonderkonten und Unterabteilungen, doch außer zwei alten Fonds gab es nichts zu entdecken; immerhin waren die Einnahmen stets höher als die Ausgaben gewesen.

„Wirklich nicht viel ... und das bei der mickrigen Miete“, brummte er. „Ich musste mich da ganz anders krumm legen.“ Er räusperte sich, lauschte in die Stille des Hauses. Wäre peinlich gewesen, wenn jemand seine Worte gehört hätte. Schließlich waren Söldner-Verdienste nicht schlecht. Hätte er das Geld beisammengehalten, anstatt es Glücksspiel und Hurenkram hinterher zu werfen ...

„Aber wer will schon ewig leben... schon gar nicht mit so einem Scheißrobot“, murmelte er und klickte sich durch ein paar Nachrichten, ohne ihren Inhalt aufzunehmen und landete schließlich auf einer Seite der internationalen Streitkräfte. „Oh Mann ...“ Er schaute zu, wie sich die Seiten aufbauten, Kriegsheldenbilder abwechselten, ineinander flossen. Soldaten auf Dünen, in die Ferne schauend; kleine Mädchen und Lazarette beschützend. 'Wir brauchen euch!', lockte die multinationale Truppe. Und dann stehen sie da, drei Männer und zwei Frauen und schauen in den Sonnenuntergang.

So eine Soldatin hätte ich mir auch gerne eingefangen, dachte Graber und zoomte die rechte Frau heran, näher, noch näher, und sein Blick wanderte über braunes Haar, den im Nacken gebundenen Pferdeschwanz, zarte Ohrläppchen und den Hals hinunter über die Grube. Der Rest steckte im festen Stoff der Uniform. Nein, solche gab es nicht zu sehen.

Das nächste Filmchen warb um Drohnen-Operatoren. Graber mochte diese Dinger nicht. Gut, sie waren praktisch, um das Gebiet vorab zu sondieren; aber versprengte Feinde konnten auch sie nicht so leicht entdecken. Richtig widerlich waren die Schwarmdrohnen. Ein Operator bediente einen Schwarm Kamikazedrohnen. Die waren untereinander vernetzt und suchten sich für ein Ziel die besten Winkel aus, stürzten sich auf den Feind und explodierten. Widerliches Zeug. Frederik Graber stieß ein leises Schnauben aus.

Was wohl seine alten Kumpels machten? Oben rechts hätte er sich anmelden können, in die Foren der Ehemaligen schauen – wer sich mit welchem Zivilistenjob rumschlagen musste, wer wieder mal in Kur war, wer auf Entzug ... er hätte nur seine Kennung eingeben müssen. Einer von denen hing immer dort drin oder bekam automatisch eine Nachricht, wenn sich was rührte. Sofort hätten sie Bescheid gewusst, welcher Computer, welche Seiten er aufrufe „… nein, lieber nicht …“, brummte er. Dann drehte er sich auf dem Stuhl, bis er zum Krankenbett schauen konnte. Der Kopf des Alten war noch immer zur Seite gesunken und nur leicht und unregelmäßig hob sich der Brustkorb.

„Die von der Reha werden bestimmt dein Konto abräumen“, murmelte er und ließ den Vater nicht aus den Augen, während er einen silbern glänzenden Beutel aus der Brusttasche zog. „Einen kleinen Erbvorschuss kann ich mir doch erlauben, einen feinen Abend … den hab ich mir verdient.“ Er öffnete und nahm sein Band heraus, legte es um das Handgelenk. Aktiviert von seiner Körperwärme, schmiegte es sich fester und ein leichter Schimmer zeigte ihm, dass er nur noch mit dem Daumen darauf drücken musste, als Hubschrauberknattern anschwoll. Rasch nahm er es ab und schob es in die Hülle zurück, schloss die Augen … wartete … wartete wie damals in den Höhlen der Steinwüste, als feindliche Drohnen jeden Winkel der Berge abgesucht hatten. Lichtflecken huschten über Gärten und Häuser, hellten den Raum auf, um Sekunden später wieder zu verschwinden. Als das Dröhnen kaum noch zu hören war, betrachtete er den glänzenden Beutel; ließ ihn wieder in der Brusttasche verschwinden. Guthaben übertragen wäre keine gute Sache, entschied er und stöberte auf des Vaters Bankseite nach Barkartenaufladung. Er hätte nur einen Maximalbetrag zur Verfügung; aber für einen netten Abend würde der schon reichen. Ein rotes Feld erschien in der Mitte und beleuchtete Grabers Gesicht. Er zog eine Karte aus seiner Jackentasche, legte sie darauf und tippte auf den angezeigten Höchstbetrag. Das Rot wurde intensiver und er hielt für einen Moment die Luft an. Grün leuchtete auf und Graber atmete hörbar aus. Er ließ die Karte in seiner Tasche verschwinden und schaltete das Gerät ab.

„Der Abend ist gerettet … danke, lieber Vater“, murmelte er und schob den Schirm wieder in seine Halterung.


***


Ein Brummen schwebte aus der Ferne heran und arbeitete sich in Lenas Bewusstsein. Es wurde lauter und lauter und schwoll an zu dröhnendem Knattern. Lena öffnete die Augen, sah Lichter über Tisch und Boden tanzen.

Als würden sie im Garten landen, ging es ihr durch den Sinn und sie richtete sich auf, erhob sich von der Couch und streckte sich. Sie tappte zum Fenster und blickte nach unten. Zerstückelt vom Geäst der Bäume zitterte Scheinwerferlicht über die Wiese, krabbelte über die Sträucher. Laub wirbelte auf, immer schneller zwirbelten sich Blätter in die Höhe. Zweige, sogar Äste bewegten sich und unsichtbare Hände strichen über das Gras, brachten es zum Flimmern. Doch die Hubschrauber landeten nicht. Sie schwebten langsam, sehr langsam über die Siedlung hinweg und entfernten sich. Um sie herum ein Sternenkreis aus Drohnen. Erst als sie kaum noch zu hören waren, fasste sich Lena an die Magengegend.

So oft waren sie noch nie auf der Suche gewesen, dachte Lena; aber wie würde ihr Mutter sagen? Dass es bis jetzt noch immer weitergegangen sei?

Sie blickte nach unten, wo das Licht der Straßenlaternen seine vergilbten Finger zwischen den Häusern in die Gärten streckte. Lena rieb sich die Augen. Sie muss eingeschlafen sein, kaum dass sie sich auf die kleine Couch in ihrem Zimmer hatte fallen lassen. Wie war das noch? Sie hatte dem Nachbarn zugenickt und die Tür hinter sich geschlossen und war an der Tür zu Semras Wohnzimmer stehen geblieben.

Es hatte ausgesehen, als habe Semra nur für einen Moment den Raum verlassen. Über der Sofalehne lag eine Strickjacke, auf dem Tisch ein paar Bücher, zwei davon geöffnet. Aber es waren nicht die Bücher, auch nicht die auf dem Tisch stehende Bechertasse, die Lena plötzlich das Atmen schwer gemacht hatten. Es war der Geruch. Jener eigentümliche Nestgeruch, der einen Menschen in die Vergangenheit katapultiert. Kaffee und Maiglöckchen. Maiglöckchenöl in einer Schale auf der Fensterbank und Kaffee rund um die Uhr. Semra schien nichts anderes zu trinken. Immer war eine Tasse mit schwarzbrauner Brühe in ihrer Nähe gestanden.

Wäre es nach Semras Ernährung gegangen, hätte sie schon vor langer Zeit den Kaffeelöffel abgeben müssen, war es Lena durch den Sinn gegangen und sie war in bitteres, seltsam hohl klingendes Lachen ausgebrochen, Laute der Hilflosigkeit, abgewürgt vom aufsteigenden Schmerz und der Trauer, die sich in den letzten Stunden in ihr aufgestaut hatten. Zwei Stufen auf einmal nehmend war sie nach oben geeilt, hatte Reisetasche und Rucksack auf den Boden und sich selbst auf die Couch fallen lassen.

Ach Omasema, flüsterte sie und strich sich über das Gesicht, fühlte die Hitze und die aufgequollene Haut ihrer Wangen und um ihre Augen. Dabei war das Leben der alten Dame doch genau so zu Ende gegangen, wie sie es sich gewünscht hatte - ohne Dahinsiechen an jenem Ort zu sterben, wo sie sich am Liebsten aufgehalten hatte. Lena stand auf und begab sich in das kleine Badezimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser abzuwaschen. Wenige Minuten später kehrte sie zurück, aktivierte das Wandpad neben der Tür und der Wandschirm über dem Regal leuchtete auf. Sie hatte ihn von ihren Eltern geerbt, als die sich das neue Modell gekauft hatten. Er war einiges kleiner, aber für die kurze Zeit, die sie hier verbrachte, genügte er. Für zwei Sekunden blieb der Schirm schwarz, nur ganz unten war ein Balken zu sehen, der allmählich länger wurde. Das Band an ihrem Handgelenk kribbelte, die Verbindung war hergestellt und all die neuen Nachrichten schoben sich, eine nach der anderen über den Schirm. Dabei tat sich die von Hanno Herbst besonders wichtig hervor. Aber das war sicher nur reine Psychologie. Ihre Abneigung war schuld daran, dass ihr die Nachricht greller erschien als die anderen.

Dabei war das letzte persönliche Gespräch vor zwei Jahren mit Herbst gar nicht so übel gewesen. Zumindest am Anfang nicht.

Wie war das noch? Zu einer Bestandsaufnahme lud er mich ein. Würden die nicht bei jedem machen, hatte Carla mir damals gesagt, ihr Betreuer hätte sich nur einmal bei der Studienwahl mit ihr zusammengesetzt. Ich fand es seltsam - mich ließ der Herbst mehr als zwei Male während meines Studiums antanzen, fragte mich, ob ich mit allem klar käme. An den Noten konnte es nicht liegen, die waren ziemlich gut. Und beim letzten Gespräch fing alles locker an, er ließ mich erzählen, bis er plötzlich anfing von wegen Leistungsdruck und ein Studium bedeute Stress und ich solle mich melden, wenn ich Probleme hätte; schließlich würden bei ihm alle Fäden zur Lebensbetreuung zusammenlaufen. Er wisse Bescheid über entsprechende Psychologen oder Schwangerschaftsbegleitungen.

Und ich dachte mir noch, hey was redet der da? Was gehen ihn meine Bettgeschichten an? Glaubt er, ich bin zu blöd, um zu verhüten? Wahrscheinlich sah er mir das an, denn er ruderte zurück, ich solle das nicht persönlich nehmen, das habe nichts mit Dummheit zu tun, im Gegenteil - die Natur finde nun mal ihren Weg, und man wolle es den jungen Müttern eben so angenehm wie möglich gestalten. Jedenfalls war die Luft raus und ich bin dann gegangen.

Draußen hatte Carla auf mich gewartet. Ich sei ein Schaf, sagte sie, als ich ihr das erzählte. Die wüssten von mir und Tilmann. Die wüssten alles. Und wenn sich zwei Superhirne finden würden, käme bestimmt Superbrut dabei heraus. Könnte ja nicht angehen, dass sich die Schlauen beim Paaren so zieren würden. Ich weiß noch, wie zornig ich auf Carla war; aber die lachte nur. Ich solle doch mal ein paar Male im Internet nach Babykram und Schwangerschaften suchen. Ich war immer noch wütend gewesen, aber sie hat mich neugierig gemacht. Tage später bekam ich eine Nachricht von Hanno Herbst, er wolle mir nur die Kontaktdaten einer sehr guten Schwangerschaftsbetreuerin übermitteln, ich solle mich nicht scheuen und er wünsche mir alles Gute und ich habe die Nachricht mit einem 'fick dich selbst' in den Papierkorb gewischt.

Manchmal fühlten sich Unflätigkeiten einfach gut an, dachte Lena, lächelte und nahm sich vor, ihn am nächsten Morgen, besser Vormittag, zu kontaktieren. Bis dahin könnte sie noch ein wenig über ihren Lebensweg nachdenken. Für heute hatte der gute Mann bestimmt schon Feierabend. Sie wollte gerade auf den Nachrichtenstream wechseln, als neben Hanno Herbst ein roter Punkt aufleuchtete.

Auch das noch, stöhnte alles in ihr und sie war drauf und dran ihn einfach beiseite zu wischen. Aber er konnte ebenfalls sehen, dass sie online war und würde blöde Fragen stellen. Besser die Sache einfach sofort hinter sich bringen.

"Augen zu und durch", murmelte sie und machte eine knappe Handbewegung. Über den ganzen Schirm strahlte ihr das Gesicht des Mannes entgegen. Lena verdrehte die Augen, tippte ein paar Male auf das Wandpad und Hanno Herbst schwebte in angemessenem Format knapp über der Nachrichtenleiste. Ihm mit gelassen gesenktem Haupt gegenüberzustehen, fühlte sich einfach besser an, dachte Lena und trat vor den Schirm.

"Guten Abend, Frau Radeke."

"Guten Abend, Herr Herbst."

"Schön dass ich Sie noch antreffe."

"Es war ... viel los in letzter Zeit."

"Ich verstehe Sie sehr gut, Frau Radeke und es tut mir leid, dass Sie einen solchen Verlust erlitten haben." Hanno Herbst schloss die Augen und senkte den breiten Kopf. "Mein herzlichstes Beileid an Sie und Ihre Familie."

"Danke", flüsterte Lena und betrachtete den ihr dargebotenen Scheitel, eine rosa Linie zwischen dunkelblondem Haar, das dicht und gerade herausspross wie bei einer dieser Puppenfrisuren aus billigem Kunststoff. Hinter ihm ragte das Symbol des Ministeriums für Familie, Arbeit und Lebensgestaltung auf, blaue Menschlein auf weißem Grund. Er hob den Kopf und blickte sie an.

"Aus Ihren Unterlagen kann ich ersehen, dass Sie gerade dabei sind, Ihre Abschlussarbeit zu schreiben."

"Ja ..."

"Sie haben noch keine Idee, was danach kommen soll?"

"Nicht direkt."

"Familie? Kinder?"

"Auch ... vielleicht."

"Das stand zumindest im Raum, als wir das letzte Mal zusammen an Ihrem Lebensweg-Plan gearbeitet haben."

Hanno Herbst musterte sie, während er ihr Zeit zum Nachdenken ließ. Aber Lena wollte keine Zeit zum Nachdenken. Sie würde am Liebsten die Folie von der Wand reißen.

"Und Ihr Lebenspartner, Tilmann Berger, hat offensichtlich nicht nur eine sehr gute Stelle, sondern auch eine S1 in Aussicht."

Lena fühlte sich, als stünde sie nackt vor dem Schirm und als hätte irgendjemand hier oben zwei Fenster offen gelassen, und sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie kannte Hanno Herbst schon seit zehn Jahren. So wie er zu Beginn den netten Berater gespielt hatte, war er im Laufe der Jahre mit jedem Treffen zu einer Nervensäge geworden.

Damals wurde das FALG-Ministerium ausgebaut, bekam spezielle Mitarbeiter, die begabte Kinder beobachten und betreuen sollten. Der Algorithmus sortierte vor und die FALGner übernahmen. Man hoffte, die Kinder gemäß ihrer Begabungen in eine günstige Entwicklung lenken zu können. Allerdings stellte man fest, dass es zu spät ist, wenn man damit erst anfing, wenn sie schon fünfzehn sind.

"Ich weiß, liebe Frau Radeke. Der Moment ist nicht sehr günstig. Wir können das Gespräch auch an einem anderen Tag fortsetzen."

"Das wäre mir sehr recht."

"Ich möchte Sie nur kurz von einer Anfrage informieren, die ich vor ein paar Tagen bekam. Es geht um ein Angebot."

"Ein Angebot? Von wem?"

"Von einer Abteilung unserer Streitkräfte." Lena musterte sein Gesicht. Irgendwie schien sein Enthusiasmus einen Dämpfer bekommen zu haben. Die Schwangerschafts-Geschichte schien ihm mehr Freude bereitet zu haben. "Wie Sie vielleicht wissen, werden die Scores sämtlicher Online-Spieler ausgewertet."

"Ach", machte Lena. Ein Verdacht keimte in ihr auf. Sie hatte sich schon gewundert, warum in letzter Zeit so viel Werbung von den Streitkräften aufgetaucht war.

"Sie suchen ständig nach fähigen Männern und Frauen, die als Drohnen-Operatoren eingesetzt werden können." Noch ein Warten. "Ich schicke Ihnen hier eine Kontaktadresse. Melden Sie sich, sobald es Ihnen möglich ist."

Lena nickte nur.

"Mir bleibt nur noch, ihnen einen guten Abend zu wünschen ... und nochmals mein Mitgefühl auszudrücken."

Hanno Herbst verschwand und Lena schaltete den Schirm ab. Das fehlte noch. Drohnen-Operator. Immer wieder tauchten Nachrichten auf, über Zivilisten oder friendly fire. Die hielten sich allerdings nicht lange, wurden von sogenannten Verteidigungspezialisten als Fakenews 'entlarvt'. Mit den heutigen Kampfdrohnen gebe es solche Unglücksfälle nicht mehr, verbreiteten sie.

Egal für diesen Moment, beschloss Lena und ging ihrem Spiegelbild am Fenster entgegen, schlüpfte hinein, bis sie nur noch den Nachthimmel und die Schatten der Häuser und Bäume sah. Kein Stern war zu sehen. Nur ganz hinten über einem der Dächer musste der Mond sein; hell und rund, als leuchte jemand mit der Taschenlampe unter einer schwarzen Wolldecke. Ab und zu drang ein Geräusch durch die Scheiben, von Fahrzeugen, Stimmen oder einem Rollladen. Der Feierabendverkehr war vorbei und das Alltagsleben hatte sich in seine Behausungen zurückgezogen. In den Randzonen und darüber hinaus sah die Sache schon anders aus. Vor allem in den Vierteln, die an den Endhaltestellen lagen wie an einer Nabelschnur. Dort wälzte sich das Leben bis in die Nacht durch manche Straßen.

Wir waren schon lange nicht mehr dort, ging es Lena durch den Sinn.

Mit ihrer Freundin Carla war sie so manchen Abend durch besonders angesagte Partymeilen geschlendert. Bildungsbürgertum trifft auf Randzonenvolk. Sie tanzten in Kellerdiskotheken, drückten sich in Spelunken und Spiellokalen herum, huschten an Bordellen vorbei und schlenderten so unbefangen wie möglich an den Schaufenstern entlang, in denen sich ziemlich unbekleidete Damen, Herren und alle Variationen dazwischen anboten. Für eine Weile fühlte es sich wie ein Mordsabenteuer an; doch irgendwann hatten sie das meiste gesehen und durften feststellen, dass die Berichte über die Kriminalität in den Sündenpfuhlen ziemlich übertrieben waren. Eine Zeit lang waren sie regelmäßige Gäste in einer der Musikkneipen – bis vor ein paar Monaten, bis sie Tilmann kennenlernte.

In diesem Sommer hörte sie das Pöbellärmen nur noch in lauen Nächten. Nämlich dann, wenn es den Platzhirschen zu wohl wurde und sie mit ihren aufgemotzten Scootern oder überbelegten Rostmühlen in die unbewohnten Straßenzüge einfielen, um ihre eigenen Partys zu feiern.

So quoll trotziges Leben aus den Randbezirken, schwappte an die Ufer der Gutbürgerlichkeit, Welle für Welle vorwärtsdrängend. So mancher Hausbesitzer tönte, er würde sich nie von irgendjemand vertreiben lassen – sollten sie nur kommen; doch es genügte, dass ihnen die vorrückende Realität gelegentlich in den Vorgarten kotzte und mit zahnarmen Mündern entgegengrinste.

Auch an dieser Siedlung nagte es, begann mit den Häusern der einsamen Alten. Lena hatte sie vor allem im Supermarkt getroffen, dezent zur Seite geblickt, wenn sie sah, dass sie irgendetwas Ess- oder Trinkbares mitgehen ließen, weil die Nahrungsmittelkärtchen nicht ausreichten. So wie das Alte von gegenüber, das seinen Garagenvorplatz nur noch auf Fahrradbreite freirupfte. Ob Männlein oder Weiblein war wegen seiner zeltartigen Bekleidung nicht zu erkennen. Und auf dem Türschild stand auch nur F. Fitzmeyer. Manchmal, wenn Lena aus dem Haus trat, schob es die Gilbgardine zur Seite und schaute ihr hinterher. Seit sie in jenem Laden aktiv den Blick abgewendet hatte, nickte es sogar.

Ob es noch lebte? Lena war vor zwei Monaten das letzte Mal hier gewesen, was wohl danach kommen würde – entweder würde die Hütte unauffällig vor sich hin gammeln und eines Nachts von Obdachlosen besetzt; oder von der Immobilienbehörde billig aufgekauft und an eine bedürftige Familie vermietet werden; schließlich taten sie alles für Kinder, Kinder waren kostbar – und bei 'Kinder' sprangen Lenas Gedanken zu Tilmann, stolperten über die Frage, ob diese Beziehung wirklich eine gewisse Zukunft habe.

Für heute würde sie die Suche nach einer Antwort verschieben. Sie würde nur noch Zähne putzen, die Läden im Haus herunterlassen und sich etwas zu trinken holen, anschließend einfach ins Bett gehen und Musik hören ... und sonst nichts.


***


Rudolf Graber stöhnte leise, als er sich aus Bobs Armen löste, auf die Bettkante setzte, ein Bein nach dem anderen hinaufzog und unter die Bettdecke schob. Währenddessen stand der Sohn daneben, hörte zu, wie erst ein Schuh, dann der andere hinunterpolterten.

„Geht's Vater?“, fragte er und ließ die Arme unentschlossen an den Seiten baumeln.

„Jaja“, murmelte der Alte „bis jetzt ist es immer gegangen.“ Er legte seine Hand an den Schirm, tippte auf das Bob-Icon und schickte ihn in den Standby-Modus. Der Motor des Care-Rob surrte und der Helfer glitt in einem Bogen an das Kopfende des Bettes, klickte sich in die Station ein. Rudolf Graber griff nach der verdrehten Bettdecke und wollte sie zurechtziehen, der Herzschlag auf dem Bildschirm beschleunigte sich. Froh, etwas tun zu können, das nicht gerade darin bestand, einen Greis aufs Klo zu hieven und ihm anschließend den Hintern abzuwischen, griff Frederik nach der Decke, ordnete sie und stellte anschließend die Hausschuhe säuberlich unter das Bett.

Noch einmal streckte der Alte die Hand aus, deaktivierte die Schlafüberwachung.

„Du weißt schon, was du da tust ...“, sagte der Sohn.

„Das Ding reagiert überempfindlich. Dieses Gepiepse lässt einen nicht durchschlafen, macht erst recht krank ... vielleicht wollen die das ja.“

„Wenn du meinst ...“ Frederik Graber setzte sich neben das Bett, betrachtete den Bildschirm, in dem sich das ungleichmäßig pulsierende Herz spiegelte und dachte darüber nach, wie das wohl werden könnte, wenn der Alte nicht mal mehr alleine aufs Klo … als er noch ein Feld entdeckte. Der Schirm würde sich bald abschalten und ob das mit dem Fingerabdruck wieder so gut funktionieren würde, wollte er nicht unbedingt ausprobieren. Also streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte es mit seinem Finger. Eine Statusmeldung erschien: Überstellt in Reha-Zentrum II/7.

„Überstellt?“, murmelte er und blickte sich um, als vermute er jemand hinter seinem Rücken, der diese unglaubliche Meldung mitlesen könnte. Er rieb sich die Augen und starrte auf den Schirm, bis er dunkel wurde.

Frederik Graber stand auf, streifte sich die Jacke über und verließ den Raum, tappte durch das spärlich beleuchtete Haus. Leise öffnete er die Tür zum Garten, zog sie ebenso leise hinter sich zu. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss und der Mann hob den Blick. Licht flammte im Anbau des Radeke-Hauses auf und ein Schimmer strich über Terrasse und Wiese. Seine Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen, als er sah, wie die junge Frau an die Seite des Fensters eilte und den Laden herunterließ, bis nur noch zwei drei Lichtflecken zu sehen waren – dort wo Stücke aus dem verwitterten Kunststoff herausgebrochen waren.

Im Schatten eines Windfangs blieb er stehen und es raschelte leise. Ein kleines Feuer flammte auf, bog sich zu einer Zigarette hin und erlosch wieder.

Ruhig blieb Frederik Graber an der Tür gelehnt. Es knisterte, wenn er an der Zigarette zog, und für einen Moment schimmerte sein hageres Gesicht, leuchtete es wie glühende Kohlen in den Augenhöhlen. Für eine Weile fühlte er sich wie damals, als er in der Wüste Ausschau gehalten hatte, eingehüllt in einen dick gefütterten Parka. Leute, die nie in diesen Breitengraden waren, glaubten es kaum, wie frostig so eine Wüstennacht sein konnte.

Noch immer hatte er sie im Blick, die blauen Europapipelines, die sich gleich dunkler Würmer durch die Wüsten zogen, sich bis zum Horizont streckend. Und er glaubte es zu hören – das Knarzen der Lederstiefel, das Knacken der noch warmen Motoren, die Kameraden in der Nähe, wie sie murmelten und leise lachten.

Nur eines vermochte die Phantasie nicht. Die Erinnerung an die trockene Wärme des Sandes war nicht mächtig genug, um gegen die Realität der aufsteigenden Nässe des Bodens anzukämpfen.

Wieder klang in ihm das Echo der Statusmeldung – Überstellt in Reha-Zentrum II/7. Er würde die Sache richtigstellen müssen, dachte er. Ja, das würde er tun … demnächst. Jetzt würde er erst einmal ausschlafen.


Die Wurzelsucher

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