Читать книгу Die Hoffnung aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4

Familienbande

Оглавление

Ich verließ im April, also vor acht Monaten, Wolfsburg und zog in ein kleines Hotel in Alfhausen, einem kleinen Nachbarort in der Nähe der Bauernschaft, in der das Haus des Alchemisten steht. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht mal sicher, ob ich das Mädchen aus meinen Träumen wirklich jemals finden kann. Schließlich war sie eine Traumfigur, wie Kurt und Sonja. Aber die hatte es offensichtlich vor Jahrzehnten wirklich gegeben. Darum hoffte ich, dass es das blonde Mädchen genauso gibt. Aber so sehr ich sie mir auch in diese Welt wünschte, so sehr hatte ich auch Angst, dass sie dann wirklich dieser Gefahr aus meinen Träumen ausgesetzt sein könnte und meine Träume unsere Zukunft voraussagten, wie sie auch schon die Vergangenheit von Kurt Gräbler widergespiegelt hatten.

Als erstes suchte und fand ich das Anwesen, dass einst dem Alchemisten gehört hatte. Ich legte mich einige Tage auf die Lauer, um herauszufinden, wer es bewohnte. Es gab dort ein älteres Paar und ich sah einen jungen, dunkelhaarigen Mann, der viel mit seinem Rennrad herumfuhr. Mehr sah ich anfangs nicht. Doch dann kam eines nachmittags ein junges Mädchen auf ihrem Fahrrad zu dem Haus gefahren. Sie stellte es an einen der riesigen Buchen vor dem Haus ab und klingelte an der Tür. Und dann sah ich sie. Sie öffnete dem Mädchen und sie gingen zusammen in den Garten. Ihre hellblonden Haare leuchteten in der Sonne und ich hörte ihr glasklares Lachen.

So fand ich damals heraus, dass es wirklich dieses Mädchen in dem Haus des Alchemisten gab und ich war mir vom ersten Blick auf sie sicher, dass sie die richtige sein muss. Warum ich das glaubte, war mir da noch nicht klar. Zu der Zeit ahnte ich nicht mal, dass Carolin auch mit dem Alchemisten Kurt Gräbler verwandt ist und er genauso ihre Träume bestimmt, wie auch meine. Ich wusste nur, dass sie in seinem Haus lebt und das schien mir die einzige Verbindung von ihr zu dem Alchemisten zu sein. Als ich später erfuhr, dass sie auch mit ihm verwandt ist und von ihm träumt, da wusste ich, dass sie die eine ist, die zu mir gehört.

Aber damals wusste ich noch gar nichts. Tagelang hatte ich mich auf die Lauer gelegt und war sogar einige Male mit dem Schulbus nach Ankum gefahren, um mehr von ihr zu erfahren. Ich verschanzte mich in den hintersten Sitzreihen und wartete, bis sie an ihrer Haltestelle einstieg und an der Schule wieder ausstieg. Ihre Freundin Christiane war zu der Zeit immer an ihrer Seite. Damals ahnte keiner von uns, dass sich ihre Freundschaft nur wenige Wochen später in Luft auflösen würde … und zwar durch meine Schuld.

Auch andere Mädchen aus dem Bus kannten Carolin. So erfuhr ich das ungeheuerliche, dass mir erneut vor Augen führte, dass meine Träume real waren. Das Mädchen hieß tatsächlich Carolin.

Es erschütterte mich Anfangs, dass alles so erschreckend zutraf. Nicht nur, dass es Carolin wirklich gab und dass sie dem Mädchen aus meinen Träumen wirklich glich, sondern auch, dass ich aus einer Eingebung heraus ihr einen Namen gegeben hatte, der auch noch zutraf.

Doch dann wurde mir klar, dass dieser Alchemist Unglaubliches geleistet hatte. Er hatte sich nicht vor dem Tod bewahrt, wie er gehofft hatte. Aber er hatte es geschafft, sich in mir zu bewahren, und er hatte mich zu Carolin geführt. Damals wusste ich nur noch nicht, warum.

Ich beschloss sie anzusprechen. So fuhr ich eines Morgens mit einem der früheren Busse nach Ankum und nutzte die kurze Fahrzeit, einige Erkundigungen über Carolin einzuholen, die mir die gesprächigen Mädels gerne gaben. Ich fragte nach dem Haus, das sie mit ihrer Familie bewohnte, und mir wurden gleich die wildesten Geschichten offenbart. Man erzählte mir, dass dieses Haus lange als verflucht galt und nur, weil die Maddisheims es nun schon einige Jahre bewohnen, legte sich etwas die Angst vor dem, was in dem Haus angeblich lauerte. Und ich erfuhr, dass Carolin in die Hauptschule ging, und nicht, wie ihre Freundin Christiane, in die danebenliegende Realschule, und dass Carolin einen Bruder hat. Für mich war das mit den verschiedenen Schulen ein Umstand, der mich freute. Ich konnte somit darauf hoffen, sie allein anzutreffen, denn ich wollte ihr endlich ins Gesicht sehen. Was ihren Bruder anging …, der interessierte mich zu dem Zeitpunkt nicht die Bohne, auch wenn die Mädchen damals bei seiner Erwähnung ganz hibbelig wurden.

Eines Tages raffte ich meinen ganzen Mut zusammen und platzierte mich an ihrer Schule. Ich weiß noch, wie übel mir vor Aufregung war, als ich mich an einen der Bäume lehnte, die den Schulhof umsäumten. Ich wusste, dass sie dort vorbeikommen würde und als sie dann wirklich auf mich zukam, war ich froh, dass ich mich an einen Baum lehnen konnte.

Ich weiß auch noch, wie sie mich angesehen hatte, bevor sie mich erreichte. Unsere Blicke trafen sich einfach, als gäbe es nichts anderes auf der Welt, was sie erfassen konnten. Schwarze Augen versanken in blaugrüne. Und ich sah dieses Gesicht zum ersten Mal ganz klar und wunderschön vor mir, umrahmt von den blonden Haaren und mit vielen kleinen Sommersprossen. Aber das Highlight waren ihre großen Augen mit den schwarzen Augenwimpern und den dunklen Augenbrauen, die so im Kontrast zu ihren hellen Haaren standen.

Als sie mich erreichte und an mir vorbeigehen wollte, brachte ich ein „Hallo“ zustande, dass sie mit leicht unsicherer Stimme erwiderte. Und dann verschwand sie aus meinem Blickfeld und es war vorbei. Aber ich wusste, sie ist es - die eine aus meinen Träumen, die in mein Herz sehen kann und die mich verstehen wird.

Und ich wollte sie retten, was immer es auch kosten würde. Das Böse durfte sie nicht bekommen. Und es gab dieses Böse wirklich, das ich in meinen Träumen gesehen hatte, und es wollte unseren Tod.

In meinem Kölner Hotelzimmer ziehe ich mir ein T-Shirt und eine Short an, und steige frierend unter die kalte Decke des Hotelbettes. Die Bilder von Carolin lege ich auf das Kissen neben mir. Es ist erschreckend leise in dem Zimmer, in das nicht mal der Kölner Großstadtlärm dringt und in meinem Magen rumort das Essen, das wir bei unserer Abschiedsfeier vor wenigen Stunden gegessen hatten. Ich muss mir immer wieder vergegenwärtigen, dass die Musicaltour nun unwiederbringlich vorbei ist.

Mich packt erneut die Traurigkeit, weil ich in diesem Hotelbett liege, statt bei Carolin zu sein. In meinem Kopf laufen die Bilder von unserem ersten Treffen an ihrem Schulhof erneut ab und ich sehe sie noch einmal an mir vorbeigehen, ihren Blick verunsichert in mein Gesicht geheftet.

Für mich war dieses erste Treffen eines unserer Highlights und ich wollte sie wiedersehen, mit ihr sprechen und ihr alles von mir erzählen. Sie sollte erfahren, was sie mir bedeutet und ich wollte sie beschützen. Mit meinem ersten Blick auf sie wusste ich, dass ich die eine für mich gefunden hatte. Sie sollte es sein.

Jetzt, in diesem Bett liegend, so weit weg von ihr, kann ich nicht verstehen, was mit uns passiert ist. Warum hatte sie sich letztendlich gegen unser Schicksal entschieden? Und wann hatte sie damit angefangen, sich gegen den Alchemisten, der auch in ihr schlummert, zu wehren? Warum hatte Kurt das, was geschah, nicht verhindert?

Das sind Fragen, die ich mir in den letzten Wochen immer wieder gestellt habe und mir auch heute wieder stelle, wo ich alles noch einmal Revue passieren lasse.

Ich beobachtete Carolin nach diesem Treffen, so oft ich sie irgendwo aufspüren konnte. Aber sie war nie allein. Christiane war ihre Freundin, die mit ihr zu der Zeit noch durch dick und dünn ging. Die beiden suchten Bibliotheken und Friedhöfe auf und ahnten nicht, wie oft sich unsere Wege kreuzten. Sie wussten nicht, dass ich oft in dem Bus saß, mit dem sie fuhren.

Ich tat einfach alles, um in Carolins Nähe sein zu können.

Als ich eines Tages Zeuge wurde, wie sie mitten am Tag einen Albtraum oder schrecklichen Tagtraum erlebte, der sogar ihre Freundin erschreckte, ahnte ich, dass auch sie irgendwelche Träume quälten. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass vielleicht Kurt Gräbler auch bei ihr der Auslöser sein könnte. Schließlich wohnte sie in seinem Haus, dass vorher Jahrzehnte leer gestanden hatte, weil keiner es bewohnen wollte. Und augenscheinlich wusste Carolin von ihm und versuchte mehr über den Alchemisten zu erfahren. So zumindest interpretierte ich ihre Besuche in der Bibliothek und auf dem Friedhof, wo sie ganz offensichtlich Gräber inspiziert hatte. Aber ich dachte da noch, dass sie nur die Geschichte um das Haus interessieren würde. Etwas anderes kam mir zu der Zeit noch nicht in den Sinn, obwohl es offensichtlich war.

Ich wollte auch mehr über ihn erfahren und ob es dieses Labor auf seinem Grundstück wirklich gibt, wie er es in seinen Büchern beschrieben hatte. Schließlich zeigten mir meine Träume, dass etwas Schreckliches in einem Labor stattfinden würde, was Carolins Leben, und vielleicht auch meins, beenden wird. Also musste ich dieses Labor finden und vernichten.

Aber was wusste ich damals schon von den Zusammenhängen? Nichts! Und was ich zu wissen glaubte, war falsch. Ich glaubte, wenn ich das Labor fand, würde ich die Gefahr bannen können, die Carolin und mich das Leben kosten sollte. Aber ich hatte von nichts eine Ahnung und verstand auch meinen Eigenanteil an dem Ganzen nicht. Und nicht ich war es, der letztendlich unser Leben rettete und unseren Mörder aufhielt. Es war jemand, der überhaupt nichts mit all dem zu tun hatte.

Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass der junge Mann auf dem Rennrad Carolins Bruder war und irgendwie machte er mich nervös, wenn ich ihn auch nur von weitem sah. Eine seltsame Beklommenheit machte sich in mir breit, wenn er das Haus verließ und auf seinem Rennrad davonfuhr. Es war wie eine Vorahnung. So war ich auch sehr beunruhigt und nervös, als ich mich eines Nachmittags mit wild pochendem Herzen erneut zu Carolins Haus wagte und mich in den Garten schlich. Ich wollte endlich dieses Labor finden, das Kurt Gräbler in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte. Es musste ein unterirdisches Kellergewölbe unter der Rasenfläche sein und ich hoffte, dass es noch sichtbare Anzeichen dafür gab.

An diesem Nachmittag glaubte ich allein auf dem Anwesen zu sein. Aber zu meinem Entsetzen war Carolin doch Zuhause und lag auf einer Decke auf dem Rasen und las. Sie hatte mich entdeckte, bevor ich sie sah, und ich musste mich ihr stellen, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Und sie war so unglaublich unfreundlich.

„Hey, was machst du hier?“, hatte sie damals losgewettert, bevor ich überhaupt irgendetwas hervorbringen konnte. Ich war deswegen sprachlos. So hatte ich mir unser erneutes Zusammentreffen nicht vorgestellt und der Umstand, dass sie so unglaublich unfreundlich zu mir war, hatte mich fassungslos und wütend gemacht. „Und warum versteckst du dich hinter einem Blumenbeet?“, blaffte ich deshalb zurück.

Uns trennten damals nur wenige Schritte und ich konnte meinen Blick nicht von diesem Gesicht wenden, das mir so unglaublich vertraut vorkam und mich tief in meinem Inneren berührte, auch wenn sie mich ansah, als wäre ich ihr Feind.

„Weißt du nicht, was Privatgrundstück heißt? Da haben Ungebetene keinen Zutritt. Also verschwinde hier!“

Ja, Carolins Unfreundlichkeit war an diesem Nachmittag grenzenlos und ich hatte mich ernsthaft gefragt, ob sie unsere Verbindung gar nicht spürte, die sich mir regelrecht aufdrängte. Aber ich konnte sie schließlich nicht danach fragen und ihr Verhalten mir gegenüber ließ mich auf Konfrontationskurs gehen. Ohne darüber nachzudenken, riss ich ihr die Zettel aus der Hand, die sie umklammert hielt. Ich glaube, ich wollte ihr mit diesem Übergriff ein wenig Angst machen oder ihr meine Überlegenheit zeigen. Vielleicht wollte ich auch nur meine Angst und ihre Überlegenheit überspielen. Was weiß ich. Aber was ich ihr da entrissen hatte war keine Kleinmädchengeschichte oder ein Schulaufsatz. Es waren Internetausdrucke über ein einziges Thema.

„Du interessierst dich für Alchemie?“

Sie hatte mir ziemlich verärgert die Papiere wieder aus der Hand gerissen und gebrummt: „Siehst du doch.“

„Hier wohnte mal ein Alchemist“, hatte ich daraufhin eingeworfen, woraufhin sie nur erwidert hatte: „Ich weiß.“

Irgendwie wollte kein vernünftiges, nettes Gespräch zwischen uns gelingen. Letztendlich hatte sie mich gefragt, was ich eigentlich in ihrem Garten suchen würde und ich hatte ihr nur geantwortet: „Haben dir deine Träume das noch nicht verraten?“ Das ist so ziemlich das letzte, an was ich mich von unserem Gespräch erinnere. Ich hatte ihr nichts von dem Labor gesagt und sie hatte mir nichts von einem Labor erzählt. Dabei hatte ich sie mit meiner Frage herausfordern wollen. Schließlich hatte sie zu dem Zeitpunkt schon fünf Jahre in dem Haus gewohnt und ich dachte, sie müsse etwas wissen. Vielleicht wollte ich auch nur eine Gemeinsamkeit finden. Aber ich lag an diesem Nachmittag noch völlig falsch. Sie träumte zwar genauso wie ich. Aber niemals von mir oder dem, was ich träumte.

So hatte dieses leidige Zusammentreffen auch ein schnelles Ende gefunden, weil ich ziemlich kopflos das Feld geräumt hatte. Ich floh regelrecht vor ihr und unserer Unfähigkeit, uns vernünftig und wie Freunde zu verhalten. Dabei war das alles, was ich damals wollte.

Heute weiß ich, sie hatte ihre ganze Kindheit Kurt Gräbler in sich wüten gehabt, genauso wie ich. Aber während ich ihn als Freund sah, wirkte er in ihr als Unruhestifter, der ihre Träume ausschließlich in Albträume verwandelt hatte. Ich muss ihr mit meiner Frage nach ihren Träumen extrem angstgemacht haben. Schließlich war ich für sie ein vollkommen Fremder, der nichts darüber wissen konnte.

Aber ich war mir sicher, dass sie das Mädchen aus meinen Träumen war und der Umstand, dass sie in dem Haus des Alchemisten lebte, gab mir das Gefühl, dass ich richtigliegen musste. Carolin war mit mir durch den Alchemisten verbunden und er hatte mich zu ihr geführt. Davon war ich überzeugt.

Das Gefühl, das mit dieser Erkenntnis einherging, brachte mich aber auch völlig durcheinander. Es schmerzte mich, dass ich ihr nicht ehrlicher begegnet war und nicht den Mut aufgebracht hatte, ihr den Grund meines wirklichen Herziehens zu erklären.

Ich war damals noch so unfähig, vernünftig Gespräche mit Mädchen zu führen. Und mit Carolin war es schwieriger als mit je einer anderen zuvor. Bei ihr war ich oft gehemmt, verstört und völlig unfähig. Aber ich wusste, das musste sich ändern. Zumal in mir alles nur noch sie wollte. Doch an diesem Nachmittag hatte ich es vollkommen versaut. Mir das allerdings einzugestehen, lag mir damals noch fern.

Meine Mutter hatte mich gelehrt, dass nichts, außer sie selbst, über mir steht und ich alles haben kann und mir nehmen kann, was ich will. Ich war ein begnadeter Pianist, dem die Welt zu Füßen lag. Und so hatte ich bis dahin auch meine Erfahrungen mit Mädchen gemacht. Wenn ich sie wollte, nahm ich sie mir. Und wonach mir war, das wurde gemacht. Nichts anderes interessierte mich. Einhalt gebot mir bis dahin nur einer auf diesem Planeten: Meine Mutter.

Aber Carolin löste in mir etwas aus, das ich bis dahin nicht benennen konnte. Ich wollte sie für immer an mich binden.

Dieser Wunsch besteht bis heute, egal was bisher geschah. Und heute weiß ich sogar, dass wir füreinander bestimmt sind. Damals ahnte das allerdings noch keiner von uns. Auch Julian nicht, von dem ich zu dem Zeitpunkt noch dachte, dass er nur der Bruder von Carolin ist.

Carolin und mein Zusammentreffen in ihrem Garten war schlecht gelaufen und ich hoffte, sie auf einer Jugendveranstaltung in der Gegend erneut zu treffen, um meinen Auftritt in ihrem Garten wieder gutmachen zu können. Etwas drängte mich regelrecht dazu.

Tatsächlich war sie da. Ich fand sie in der Sektbar, mit so einem blonden Schnösel mit leuchtend blauen Augen. Ich stand direkt hinter ihr an der Theke und sah ihn mir genau an. Ich fragte mich, ob sie auf solche Typen steht. Empfand sie so etwas als gutaussehend? Was war mit mir? Er war das komplette Gegenteil von mir.

Aber mir war bei den Blicken der Mädchen an diesem Abend aufgegangen, dass ich mit meinen schwarzen Haaren und schwarzen Augen auffiel. Und zwar zum Vorteil. Blond und blauäugig gab es wie Sand am Meer.

Aber mich interessierte nur die eine und ich nahm jede Bewegung von ihr wahr und ihr glasklares Lachen. Sie verstand sich viel zu gut mit diesem Typ und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Seine Blicke sagten mir, dass sie für ihn seine Beute war und sie trank viel zu viel Sekt. Ich konnte gerade rechtzeitig einige Leute zwischen mich und sie bringen, als sie sich vom Hocker schob, um mit dem Typ nach Draußen zu verschwinden.

Fassungslos suchte ich sie. Ich fand sie am Eingang der Scheune wieder, in der diese Bauernveranstaltung stattfand, als sie von irgendwoher aus der Dunkelheit schoss und an mir vorbei über den Platz stob, ohne mich wahrzunehmen. Der blonde Typ folgte wenig später fluchend und mir war an seiner Haltung schnell klar, dass sie ihm in seine Weichteile getreten hatte. Ich konnte dazu nur lautlos applaudieren und war stolz auf sie. Sie gehörte halt nicht zu so einem Schnösel …

Ich holte von einer Bierbude zwei Fanta und folgte ihr zum Lagerfeuer, hinter dem sie sich verkrochen hatte. Als ich mich neben sie setze, sah sie auf und ich brachte bei ihrem Blick nur ein: „Du solltest vielleicht auf Fanta umsteigen“, hervor und reichte ihr nervös eine Flasche.

Sie nahm sie, völlig perplex darüber, mich plötzlich neben sich sitzen zu haben.

Ich stellte mich ihr vor, weil ich das bei meinem stümperhaften Auftritt in ihrem Garten versäumt hatte. „Übrigens, ich heiße Tim.“

Sie fand auch sehr schnell ihre Stimme wieder, denn sie murmelte genervt: „Nicht noch so ein Timothie“, was scheinbar nicht für meine Ohren bestimmt war. Aber ich nahm das sofort als Aufhänger, ein Gespräch voranzubringen. „Timothie? Ich heiße Tim und nicht Timothie. Übrigens, war nicht nett von mir, einfach so in eurem Garten herumzuschnüffeln, ohne mich vorzustellen.“

Sie sah mich unschlüssig an und murmelte ein: „Sowas ist auch nicht nett.“

Ein weiteres Gespräch voranzubringen war wirklich schwer gewesen. So hatte ich sie nach diesem Typ gefragt. „War der Kerl von eben ein Timothie?“

Sie hatte nur genickt und ich sah, dass ihr das Ganze wirklich peinlich war. Darum hatte ich locker eingeworfen: „Da weiß ich ja, was ich bei dir besser nicht versuche.“ Es sollte eine kleine Anmache sein, die das Gespräch auflockern sollte, und sie war sogar darauf eingegangen. „Ja, das ist wohl besser. So was kann böse enden“, hatte sie gesagt und mir ihr erstes Lächeln geschenkt.

Ab da war das Eis gebrochen. Das Feuer vor uns, das seinen hellen Schein auf uns warf, und die laue Sommernacht, sowie die Musik aus dem Zelt, ließen sie offenbar mir gegenüber etwas vertrauensvoller werden, denn sie begann zu erzählen, dass sie das erste Mal an so einer Veranstaltung teilnahm. Sie sagte, dass dieser Timothie nett war und vernünftig gewirkt hätte, bis sie einige Gläser Sekt später von ihm zu einem Gang an die frische Luft überredet wurde. „Allerdings ahnte ich nicht, was er mit „Frische Luft schnappen“ meinte. Das waren wohl wieder irgendwelche Verständigungsschwierigkeiten oder eine Geheimsprache unter Partygängern, die mir noch nicht geläufig ist. Aber meine Antwort hat er dann doch verstanden, denk ich.“

Sie war so naiv.

Ich weiß noch, dass ich sie mit meinem Ausspruch: „Der braucht an etwas Bestimmtes heute nicht mehr zu denken“, verlegen gemacht hatte.

Sie war es dann auch gewesen, die daraufhin schnell das Thema gewechselt hatte. „Seit wann wohnst du eigentlich hier? Ich habe dich hier vorher noch nie gesehen.“

So hatte ich ihr von meinem Zimmer in Alfhausen erzählt und sie war entsetzt, dass ich mit meinen neunzehn Jahren allein in so einem Hotelzimmer hauste.

„Also meine Eltern würden mich nicht so einfach wegziehen lassen“, hatte sie damals sogar gesagt. Dass auch sie ihr Elternhaus in den folgenden Wochen verließ, obwohl sie zu dem Zeitpunkt nicht mal achtzehn war, ahnten wir natürlich nicht.

Ich erzählte ihr außerdem, dass ich meinen Vater nicht kenne würde und auf der Suche nach ihm wäre, und deshalb mit meiner Mutter im Streit läge.

Sie wollte mir sofort suchen helfen und bot mir ihre Hilfe an. Aber es ging mir an diesem Abend nicht um meinen Vater oder um meine Mutter oder sonst was. Es ging nur um sie und mich. Darum versuchte ich das Thema auch zu beenden, weil sie sich auch noch darüber lustig machte, dass ich am falschen Ort wäre, wenn mein Vater in Osnabrück wohnt. Es war so unglaublich schwer ihr mein wirkliches Anliegen klarzumachen. So gestand ich ihr, dass ich eigentlich etwas aus meiner Vergangenheit und der meiner Familie suchen würde.

Ich hatte ihr damals zum ersten Mal erklärt, was meine Motive waren. „Manche Menschen tragen ein Vermächtnis in sich, das aus einer anderen Zeit stammt und ihnen von ihren Vorfahren auferlegt wird. Ich muss etwas tun! Ich weiß nur nicht was!“, hatte ich ihr erklärt. „Und ich muss jemanden, außer meinem Vater, finden. Meine Träume werfen mir Brocken vor, denen ich nachgehe. Darum bin ich hier.“

Ich weiß nicht, was ich erhofft hatte, aber sie sagte nichts dazu und starrte nur auf die Flammen des Lagerfeuers.

„Du fragst gar nicht, von was für einem Vermächtnis ich spreche, wen ich suche oder was ich zum Beispiel in eurem Garten gemacht habe“, wollte ich sie zu einer Äußerung bewegen. Aber ihr Blick war pure Ablehnung und daher war es nicht verwunderlich, dass sie nur eine Frage herausgepickt hatte, die sie wohl am unverfänglichsten hielt. „Was wolltest du in unserem Garten?“

Ich denke, ich wusste, dass ich einlenken musste, wenn ich sie nicht ganz verschrecken wollte. „Sag ich nicht“, hatte ich deshalb nur spielerisch hingeworfen, weil mich auch mein Mut verlassen hatte. Ich hatte schlicht und ergreifend Angst, ihr von meinen Träumen und von dem Alchemisten und seinem Labor zu erzählen. Und sie schien seltsamerweise froh darüber zu sein, dass ich es nicht tat. Jeder andere hätte mich gelöchert, was ich meinen würde. Aber sie nicht. Sie rief ein gespielt entrüstetes: „Sooo!“ Dabei schenkte sie mir ein erleichtertes Lächeln, was mich dazu bewegte, ihr alles zu erzählen, was nicht mit meinem Leben in Wolfsburg, meiner Familiengeschichte oder dem Alchemisten in mir zu tun hatte. Es gefiel mir, wie ihre Augen in dem Schein des Lagerfeuers zu leuchten begannen, während ich ihr Anekdoten von der zwar netten, aber etwas aufdringlichen und überbesorgten Hotelbesitzerin erzählte und ihr Lachen darüber stimmte mich glücklich. Bei ihr fühlte ich mich wohl und seltsam ruhig. Der Druck, ihr alles von meinen Träumen und dem Alchemisten erzählen zu müssen, hatte sich damals wie von Zauberhand gelegt. Etwas an ihr schien mich das alles vergessen zu lassen. Ich war da, wo ich mein Leben lang sein wollte. Das spürte ich an diesem Abend mit aller Macht. Bei ihr war ich ein anderer Mensch … oder der, der ich wirklich war.

Irgendwann hatte sich mir dann aber doch wieder die Geschichte mit diesem Timothie aufgedrängt und ich hatte sie gefragt: „Stehst du auf blond und blauäugig?“

Mit einem Blick, der bis tief in mich hineingereicht hatte und etwas darin zum Klingen brachte, hatte sie erwidert: „Eigentlich nicht. Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat.“

„Das ist gut!“, war mir daraufhin herausgerutscht und sie hatte gefragt: „Warum?“ Dabei hatte ihre Stimme wie das Flüstern des Windes geklungen und ich hatte ihr genauso erwidert: „Weil ich nicht blond und blauäugig bin.“

Was wäre wohl geschehen, wenn in diesem Moment nicht eine von ihren Freundinnen aufgetaucht wäre und lauthals ihren Namen über den Platz gerufen hätte?

Carolin war daraufhin aufgesprungen und unsere gemeinsame Zeit war beendet. Aber ich wollte es nicht dabei belassen. „Können wir uns noch einmal treffen?“

„Wieder in unserem Garten? Dann helfe ich dir suchen, was immer du zu finden beabsichtigst.“

Das war ihr Versprechen an mich an diesem Abend. Aber mir blieb keine Zeit, ihr zu sagen, dass ich zwei Wochen nicht erreichbar sein würde. Ich hatte damals ein Engagement in einem Orchester angenommen. Das sollte sich noch rächen.

Während sie zu ihrer Freundin ging, verschanzte ich mich hinter einem Baum und blickte auf den beleuchteten Platz zurück. Ich sah Carolin zwischen ihren Freundinnen zu den Fahrrädern gehen und ihr Blick glitt wieder zu dem Lagerfeuer zurück, als suche sie mich dort. Dann stieg sie auf ihr Fahrrad und fuhr, flankiert von ihren Freundinnen, in die Nacht hinaus.

Ich hatte ihr an diesem Abend mit unserem letzten Wortspiel ein wenig meiner Gefühle offenbart und sie mir ein Versprechen gegeben, mich wiedersehen zu wollen.

Aber sie hatte mir auch gesagt, dass sie nicht auf blond und blauäugig steht …

Heute weiß ich, sie hat mich belogen. Vielleicht ist die Augenfarbe egal. Aber die blonden Haare zogen sich durch ihr Liebesleben und ließen mich immer wieder außen vor.

Ich werfe mich in dem erschreckend ruhigen Hotelzimmerbett von einer Seite auf die andere. Vielleicht hätte ich besser ein Hotel mitten in der geschäftigen Innenstadt von Köln wählen sollen. Aber ich war in diesem gelandet und nehme erneut die Bilder von Carolin in die Hand, die ich in dem seichten Licht der kleinen Nachtischlampe anstarre. Wenn alles gut gelaufen wäre, würde sie jetzt auf mich in meiner Wohnung in Alfhausen warten. Ich hatte sie schon so weit. Aber genau das hat erneut ein blonder Arsch zunichte gemacht. Genauso wie Marcel vorher immer wieder.

Ich weiß gar nicht, wann Marcel in ihr Leben geschliddert war. Das hatte ich nie ganz herausfinden können. Er stand auf sie … schon eine ganze Zeit, und sie erhörte ihn irgendwann. So hatte er es mir zumindest mal geschildert, als ich so tat, als könnte ich sein Freund sein. Es war bei einem weiteren Versuch gewesen, Carolin wieder an meine Seite zu zwingen. Alles mit ihm lief irgendwie zur gleichen Zeit, in der auch ich in ihr Leben getreten war.

Er war der Mannschaftführer der einheimischen Fußballmannschaft, in der auch unser Bruder Julian mitspielte. Der brachte dann wohl ihn und Carolin zusammen.

Julian, ihr Bruder - und auch meiner. Ich ahnte, als ich ihm das erste Mal auf der Terrasse ihres Gartens begegnet war, dass er dieses Kind von meinem Vater sein musste, von dem meine Großmutter gesprochen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon an der Tür meines biologischen Vaters geklingelt und ihm erzählt, wer ich bin. Und Julian sah genauso aus wie er - dunkelbraune Haare, dunkelbraune Augen und dasselbe fein geschnittene, gutaussehende Gesicht.

Ich bin wohl mehr nach meiner Mutter geraten. Darum haute es meinen Vater auch völlig aus den Socken, als ich vor seiner Tür stand. Erst wurde er blass, dann rot und dann stammelte er eine Menge dummes Zeug von wegen, er hätte immer mal an mich und meine Mutter gedacht und so.

Ich lernte an diesem Tag auch seine Frau kennen und den fünfzehnjährigen Philip, sowie den zehnjährigen Tom und Agnes, das fünfjährige Nesthäkchen. Tom und Agnes waren ziemlich aus dem Häuschen, als mein Vater ihnen erklärte, dass ich ihr großer Bruder bin. Und Philip? Der fand das Ganze echt uncool.

Dafür war die Frau meines Vaters sofort unglaublich nett zu mir. Aber mir war schnell klar, ich werde bei ihnen niemals wirklich dazugehören. Sie sind eine eigenständige Einheit, der ich niemals angehören werde.

Aber für mich war damals sowieso nur Carolin wichtig. Sie war die einzige, zu der ich gehören wollte. Wir hatten uns auf der Jugendveranstaltung gut verstanden und ich brannte darauf, sie wiederzusehen. Ich wollte ihr alles erzählen - von meinen Träumen, dem Alchemisten Kurt Gräbler in mir, von dem Labor, von dem ich geträumt hatte, und das tatsächlich auf ihrem Grundstück liegt, wie sich später herausstellte, und natürlich, dass sie zu mir gehört und sie mein Herz in ihren Händen hält.

Aber mir kam damals ein zweiwöchiges Engagement in einem kleinen Theater in Hannover dazwischen, zu dem ich aufbrechen musste. Ich hatte den Klavierpart übernommen und eigentlich freute ich mich darüber, solche Touren mitmachen zu dürfen. Aber nicht bei diesem Mal. Mein Kopf und mein Herz waren von Carolin erfüllt und zu ihr wollte ich, so schnell es ging, wieder zurückkehren. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen und sehnte mich so sehr danach, mit ihr sprechen zu können, dass ich sie sofort zuhause aufsuchte, sobald ich meinen Part erfüllt hatte. Zwei Wochen waren da, nach unserem letzten Treffen am Lagerfeuer, vergangen. Für mich eine unendlich lange Zeit.

Mir war an diesem Tag sogar egal gewesen, ob ich dort auf ihren Bruder oder auf sonst wen stoßen könnte. Ich wollte einfach nur Carolin schnell wiedersehen.

Aber es war niemand zuhause und so musste ich auf sie warten. Als sie endlich kam, war ich mir erst nicht sicher, ob sie sich über meine Anwesenheit freute oder nicht, denn unsere Begrüßung fiel recht kühl aus. Mir kam später erst in den Sinn, dass sie wohl wütend war, weil ich mich zwei Wochen nicht bei ihr gemeldet hatte. Als ich sie um ein Gespräch bat, dauerte es, bis sie mit mir dafür auf die Terrasse ging. Und dort brauste sie gleich auf: „Sagst du mir heute, was du letztens in unserem Garten gesucht hast?“

Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, dass sie mich fortjagt, wenn ich ihr mit meiner Alchemistengeschichte komme. Deshalb erzählte ich ihr anfangs, dass ich meinen Vater gesucht und gefunden hätte und sogar meine drei Geschwister kennengelernt hätte.

Carolin war völlig platt, dass ich die noch nie zuvor gesehen hatte und sie war noch platter, als ich ihr von noch einem Kind meines Vaters erzählte, dass ich auch nicht kennen würde.

Das ich dem wenig später begegnen würde, ahnte ich da noch nicht.

Ich hatte an diesem Nachmittag mit voller Absicht auf die Tränendrüse gedrückt und ihr sogar weisgemacht, dass mein Vater mich und das ältere Kind extra aus seinem Leben verbannt hätte und nur seine anderen Kinder wollte. Ich weiß noch, wie Carolin völlig entrüstet gesagt hatte: „Das ist ja unglaublich! Warum hast du ihn dann gesucht? Also ich hätte den für immer aus meinem Leben gestrichen. Hundertprozentig!“

„Das verstehst du nicht. Du kommst aus einem normalen Elternhaus mit Geschwistern und einer Mutter und einem Vater - ohne jeglichen Hick Hack. Ich wollte auch immer einen Vater und Geschwister haben“, hatte ich geantwortet. Aber ich ahnte damals nicht im Geringsten, wie es wirklich um ihre Familie bestellt war. Sie machte zwar eine Andeutung, aber ich ging nicht weiter darauf ein.

Da ich natürlich auch mehr über das Labor des Alchemisten herausfinden wollte, hatte ich irgendwann das Thema darauf gelenkt und sie gefragt, wie lange sie schon in dem Haus des Alchemisten wohnt.

„Seit ungefähr fünf Jahren“, hatte sie gesagt und ich hatte zu Fragen gewagt: „War der Garten schon damals so angelegt gewesen?“

Ihr Blick war daraufhin über die Rasenfläche geglitten, als müsse sie darüber erst nachdenken und ich hatte sie dabei beobachtet, weil ich sehen wollte, ob ihr Blick irgendwo hängen blieb. Aber sie schien nichts zu wissen und zeigte nur auf ein paar Beete, die neu angelegt worden waren.

Vielleicht belog sie mich damals. Aber das glaube ich nicht. Denn auf ihre Frage, was ich denn eigentlich suchen würde, und meine Antwort, dass ich eine Tür suchen würde, wirkte sie wirklich überrascht.

„Du suchst eine Tür im Garten?“

„Ja, eine Tür zu einem Kellergewölbe.“

Sie hatte daraufhin ihren Blick erneut wie einen Scann über die Rasenfläche laufen gelassen, ohne mich als verrückt abzustempeln. Sie hatte mich nur gefragt: „Wieso meinst du, dass ausgerechnet hier ein versteckter Keller sein soll?“

Daraufhin hatte ich ihr gesagt, dass meine Vorfahren aus der Gegend stammen und meine Oma Aufzeichnungen von ihrem Vater erhalten hatte, die das belegen. Und ich erzählte ihr von meinem Dachbodenfund.

„Also, in der Kiste fand ich handgeschriebene Aufzeichnungen, die wohl zu der Zeit entstanden sind, als der Schreiber - mein Urgroßvater eben - im Krieg war. Er schrieb von den schönen Erinnerungen an die Zeit, die er in Ägypten verbracht hatte und er schrieb von einem Alchemisten, der ihn in Ägypten in die Lehre genommen hatte.“

Ich sehe noch genau vor mir, wie Carolin mit großen Augen aufgebracht gerufen hatte: „Einem was?“

Von ihrem seltsamen Ausbruch verunsichert, erklärte ich ihr etwas irritiert darüber, dass sie Unterlagen über Alchemie besitzt, in dem Haus eines Alchemisten lebt und doch völlig dumm nachfragt, wovon ich spreche: „Einem Alchemisten. Das sind Menschen, die unter anderem chemische Zusammenhänge, Naturwissenschaften, Glauben und Aberglauben zusammen verbinden, um das Geheimnis des Lebens und des Todes zu ergründen. Mein Urgroßvater war wohl eher so einer, den der Tod interessierte und wie man ihm von der Schippe springen kann.“

Natürlich hatte sie das nur so dumm nachgefragt, weil sie so erschüttert war, dass ich mit Kurt Gräbler verwandt bin. Es schien ihr regelrecht den Atem zu nehmen und heute kann ich das verstehen. Mir ging es später schließlich nicht anders, als ich begriff, dass uns mehr verband als nur der Umstand, dass Kurt mein Vorfahre ist und Carolin in seinem Haus lebt. Ihr muss das dort klargeworden sein. Und wer weiß, was ihr noch alles klarwurde, als ich ihr sagte: „Mein Urgroßvater hatte wohl Angst, dass er noch nicht weit genug mit seinem Studium vorangekommen war, um auszuschließen, dass er völlig von der Welt muss, wenn ihn im Krieg ein Schuss trifft oder eine Granate zerfetzt.“

„Was? Du glaubst, er meinte, er könne es schaffen, nicht sterben zu müssen?“

Sie klang damals so unglaublich fassungslos und ich wollte sie beruhigen. „Nein, das konnte er wohl nicht. Denn er verschwand eines Tages spurlos, was mir ganz nach tot aussieht.“ Dann hatte ich ihr noch von meiner Oma erzählt, und dass sie nur gezeugt worden war, um von ihrem Vater als eine weitere Möglichkeit, dem Tod zu entrinnen, angesehen zu werden.

Ich weiß bis heute nicht, wie weit Carolin zu dem Zeitpunkt eigentlich schon über alles Bescheid wusste. Ich weiß noch, wie sie lauernd gefragt hatte: „Was hat das Ganze mit einem Keller in unserem Garten zu tun?“

Ich erklärte ihr: „Auf der ersten Seite eines der Bücher, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte, war ein Eintrag gemacht worden, der viel später geschrieben wurde als der Rest. Darauf stand: Liebste Tochter! Wenn du diese Bücher liest, wirst du erkennen, welch wichtiger Weg mich durchs Leben führt und warum alles geschah, wie es geschah. Ich bin einem Geheimnis auf der Spur und hoffe, dass sich der Wunsch nach ewigem Leben für mich bewahrheiten wird. In meinem unterirdischen Labor in meinem Garten halte ich hoffentlich die Macht über Leben und Tod in den Händen. Darum suche ich nach diesem Labor.“

„Und was willst du dort?“, hatte sie gezischt.

Ich weiß nicht, ob sie da schon von dem Labor und seinem Standort wusste. Aber heute weiß ich, sie hat es gefunden und war auch dort drinnen gewesen. Ich bekam niemals die Gelegenheit dazu und es graust mich bei der Vorstellung, dass sie ganz allein Kurt Gräbler darin gefunden hatte.

Auf ihre Frage hatte ich geantwortet: „Ich erzählte dir doch bei dem Lagerfeuer von einem Vermächtnis, das einem die Vorfahren hinterlassen. Seit meiner Kindheit träume ich, dass ich etwas tun muss. Ich sehe mich diesen Keller finden und etwas darin zerstören. Ich weiß nicht was, aber es scheint sehr gefährlich für mich und alle zu sein, die noch betroffen sind. Ich sah dich und einen anderen Jungen in diesen Träumen und ich weiß, dass wir alle einem Tag entgegensteuern, der unser Tod sein wird, wenn ich nichts unternehme.“

Ja, das hatte ich zu ihr gesagt. Das hatte ich ihr gestanden. Aber Carolin wurde nur schrecklich wütend.

„Was? Das ist doch vollkommener Blödsinn! Einen Tag, an dem wir alle sterben?“ Sie drehte richtig durch.

Ihre ablehnende Haltung traf mich und ich bereute sofort, ihr überhaupt von diesen Träumen erzählt zu haben. Aber ich konnte das nicht ungeschehen machen, und so hatte ich nur resigniert den Schwanz eingezogen. „Du glaubst mir nicht! Genauso wie meine Mutter früher oder meine Oma. Alle meinen, ich sei vollkommen verrückt. Aber ich hatte immer wieder diesen Traum und ich weiß, dass etwas geschehen wird, wenn ich nicht handele.“

„Was glaubst du, soll das sein, dass du zerstören musst?“ wollte sie wissen.

„Das weiß ich erst, wenn du mir sagst, wo dieser Keller ist.“

Ich muss sie damit wirklich auf die Palme gebracht haben. Sie giftete, warum ich glauben würde, dass sie davon eine Ahnung hätte.

Heute weiß ich, dass diese Ablehnung ihrerseits, was das Thema anging, sie lange Zeit geschützt hat. Hätte sie mir an dem Nachmittag gestanden, dass sie mehr weiß oder sogar den Standort des Labors preisgegeben, dann hätte das für sie schon sehr schlecht enden können. Denn der Feind hörte da wahrscheinlich schon mit. Denn als ich ihr erklärte, dass ich den Jungen suchen muss, von dem ich geträumt hatte und dass er das fehlende Puzzelteil sei, dass uns gefährlich werden konnte, unterbrach mich ein Klatschen.

Was sich mir da offenbarte, haute mich um. Der junge Mann aus meinen Träumen stand leibhaftig vor uns und grinste mich hämisch an. „Schön, schön!“, rief er herablassend und sein Blick aus seinen dunkelbraunen Augen durchbohrte mich regelrecht vor Wut. „Aber meinst du nicht, dass du in eine Klapsmühle gehörst?“

Ich konnte nur in dieses mir so vertraute Gesicht starren und in meinem Kopf liefen viele Filme gleichzeitig ab. Mir wurde klar, ich sah in meinen Träumen weder Kurt Gräbler noch meinen Vater, sondern eine jüngere Ausgabe meines Vaters. Mir schoss augenblicklich, dass ich das erste Kind meines Vaters vor mir hatte. Meinen großen Bruder. Und der baute sich vor Carolin auf und knurrte wütend: „Nah, Schwesterlein, ist das dein neuer Verehrer? Der hat ganz schön einen Sprung in der Schüssel.“ Dann wandte er sich mir zu und zischte aggressiv: „Was willst du noch hier, Spinner?“, und schlug mir vor die Brust.

„Lass ihn, Julian!“, hatte Carolin ihn noch aufhalten wollen, während ich kaum reagieren konnte.

„Lass ihn, Julian“, äfft er Carolin nach und knurrte wütend: „Spinner haben hier nichts zu suchen! Los, verpiss dich endlich und lass meine Schwester in Ruhe.“

Er hatte sich damals dicht vor mir aufgebaut und mich so wütend und ablehnend angestarrt, dass es mir alle Kraft genommen hatte.

Dann war alles sehr schnell gegangen.

Carolin hatte mich noch gebeten: „Geh jetzt lieber. Wir sehen uns ein anderes Mal“, und mir damit gezeigt, auf welcher Seite sie stand. Vielleicht, wenn sie mich verteidigt hätte … mit mir gegen Julian gestanden hätte …

Das der Typ aus meinem Traum ihr Bruder war, der mit ihr anstellen konnte, was er wollte und das Labor direkt vor der Nase hatte, machte mich damals zusätzlich fassungslos. Ich glaubte in diesem Augenblick keine Chance zu haben und floh.

Völlig verzweifelt verbarrikadierte ich mich in meinem Hotelzimmer in Alfhausen und wusste nicht, was ich von all dem halten sollte. Da gab es Kurt und diese Träume, die mich seit meiner Kindheit heimsuchten und die Erkenntnis, dass es bei meinem Vorfahren einen Alchemisten gegeben hatte, den die Angst vor dem Tod Unglaubliches tun ließ. Er hatte nicht mal vor Inzest zurückgescheut, weil zu seiner Zeit die Alchemisten glaubten, durch ein Kind mit dem eigenen Kind eine Lebensverlängerung erwirken zu können. Aber er starb, bevor er die dadurch gezeugte Tochter für seinen Lebenserhalt töten konnte und somit war mein Vater Markus entstanden, und der zeugte mich … und davor Julian.

Julian, sein Name hatte sich von dem Tag an tief in meine Eingeweide gebrannt. Ich hatte meinen älteren Bruder gefunden und denjenigen aus meinen Träumen, der Carolin und mich töten wollte. Damals war ich verunsichert, ob ich richtig lag. Heute weiß ich, dass sich alles so ereignet hatte, wie ich es geträumt hatte.

Ich beschloss damals, wieder zu gehen. Ich fühlte mich dem Ganzen gar nicht gewachsen.

So floh ich nach Wolfsburg und zu meiner Mutter, die mich nicht vergaß an den Pranger zu stellen, weil ich nicht auf sie gehört hatte. Sie dachte, mein Zustand konnte nur mit dem Zusammentreffen mit meinem Vater zusammenhängen.

Ich war froh, als ich wenige Tage später erneut ein Engagement hatte und dem allen noch ein wenig entfliehen konnte. Aber es nützte nichts. Ich musste mich letztendlich doch wieder der Sache stellen, denn ich bekam Carolin und die Gefahr, in der sie schwebte, nicht mehr aus dem Kopf.

Ich begann zu recherchieren, ob es noch andere Fälle gab, die unseren glichen. Aber ich fand nichts, außer die wilden Geschichten um Satanskulte und Blutinjizierende, die wie Kurt Gräbler glaubten, sich damit jung und ewig lebend erhalten zu können.

Ich war von diesen Geschichten entsetzt und wollte mit Carolin darüber sprechen. Darum versuchte ich erneut eine Verbindung zu ihr herzustellen und schickte ihr die Hefte von Kurt Gräbler, die vom Dachboden meiner Oma stammten. Mir war zu der Zeit nicht klar, was ich wirklich damit bezweckte. Wahrscheinlich wollte ich, dass Carolin erkannte, dass ich mit allem recht hatte.

Mit den Büchern des Alchemisten bat ich sie, sich bei mir zu melden. Es sollte durch eine geheime Botschaft an einem Aushang eines Lebensmittelladens sein, damit ich nicht Gefahr lief, erneut von ihrem Bruder heimgesucht zu werden.

Ich sah täglich nach, ob sie mir eine Nachricht hinterlassen hatte und sie tat es tatsächlich.

So trafen wir uns wieder.

Um uns ungestört unterhalten zu können, fuhren wir zu einer Waldhütte.

Carolin sah an diesem Tag so blass aus und wirkte so verletzlich. Sie sackte auf der Bank in sich zusammen und weinte bitterlich.

Ich war mit der ganzen Situation ziemlich überfordert und vor allem mit dem, was dann geschah. Carolin erzählte mir zum ersten Mal von sich.

„Es ist alles so verwirrend“, hatte sie gesagt. „Ich habe ständig diese schrecklichen Träume. Sie spielen mir ein Leben vor, das nicht meins ist. Und sie sind so schrecklich. Und Julian geht es nicht anders und deshalb dreht er ständig durch, und unsere Eltern sind in den Urlaub gefahren und haben mich mit ihm allein gelassen. Ich weiß gar nicht, wie ich mit dem Ganzen klarkommen soll. Es geht mir auch gar nicht mehr gut. Ich glaube langsam, ich werde verrückt. Und dann immer wieder diese Träume …“ Sie war damals ziemlich fertig.

Und dann sagte sie mir, dass sie genauso mit dem Alchemisten verwandt ist, wie ich.

Da ging mir zum ersten Mal wirklich ein Licht auf. Das Gelesene aus den Büchern von Kurt Gräbler drängte in mir hoch. Er hatte eine Tochter, die er mit seiner großen Liebe Sonja gezeugt hatte, bevor er seine Heimat verließ und in die Welt zog. Als er einige Jahre später zurückkehrte, zeugte er mit seiner Tochter eine weitere Tochter, die meine Oma ist. Aber natürlich gab es von Kurt Gräblers ersten Tochter auch einen Familienzweig. Auch sie hatte weitere Kinder, und von denen stammt Carolin ab.

Ich verstand zum ersten Mal das Ausmaß dieser ganzen Familiengeschichte, die Carolin und mich verband … und natürlich auch Julian mit einbezog.

Ich war mir wahrscheinlich in diesem Moment zum ersten Mal sicher, dass Julian mein Halbbruder ist.

Was ich an diesem Tag aber nicht weiter bedachte, war der Umstand, dass Julian somit auch für Carolin nur ein Halbbruder ist. Erst später wurde dieser Aspekt noch zu einem wirklichen Problem.

Ich weiß noch, wie Carolin und ich an diesem Nachmittag versuchten, unsere Verwandtschaftsverhältnisse und unsere seltsamen Träume, die uns manipulierten, zu analysieren. Aber wir kamen auf keinen grünen Zweig. Und letztendlich hatte ein Telefonanruf von ihrer Freundin und Julian unser Zusammentreffen beendet. Letzterer hatte sogar so laut in sein Telefon gebrüllt, dass ich seine Stimme hören konnte.

Carolin war daraufhin beunruhigt nach Hause gefahren, nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet hatten.

Ich war in mein trostloses Hotelzimmer zurückgekehrt. Dort hatte ich zu analysieren versucht, was meine Liebe zu Carolin und der Umstand, dass ihr Bruder auch meiner ist, zu bedeuten haben könnte. Ich versuchte herauszufinden, warum ich immer wieder geträumt hatte, dass er es sein wird, der uns etwas antun würde. Ich versuchte zu verstehen, warum er sie, und vielleicht auch mich, bedrohen und sogar töten sollte. Und was hatte das Ganze mit Kurt Gräbler zu tun?

Ich konnte mir damals auf nichts eine Antwort geben. Das einzige, was ich klar wusste war, dass ich Carolin beschützen wollte - mehr denn je. Aber die Angst, die meine Träume und mein Zusammentreffen mit Julian geschürt hatten, lagen wie ein dunkler, beißendkalter Nebel auf allem und verunsicherte mich. Genauso, wie ich Carolin an mich binden wollte, so sehr wollte ich auch allem entfliehen und für immer nach Wolfsburg zurückkehren. Ich war hin und her gerissen. Aber letztendlich siegte die Gewissheit, dass Carolin zu mir gehört und ich sie daher beschützen muss.

Daher hatte ich dem nächsten Treffen auch regelrecht entgegengefiebert. Ich glaubte, dass sich dort alles entscheiden würde und Carolin und ich ganz zusammenfinden würden. Schließlich gehörte sie zu mir. Aber die Realität sah anders aus. Dort war Carolin ein eigenständig handelnder Mensch mit eigenen Gedanken und Gefühlen, die meinen oftmals zuwiderliefen.

Als wir uns dann am nächsten Tag an der Hütte wiedertrafen, fiel Carolin mir schluchzend um den Hals.

Ich hatte meine Arme sofort um ihren schmalen Körper geschlungen und sie an mich gezogen, während sie weinte: „Oh Mann, es ist alles so schlimm! Wir sind verflucht! Ich halt das nicht mehr aus! Alles ist durcheinander und völlig aus den Fugen.“

Sie so zu sehen und die gleiche Verzweiflung bei ihr zu fühlen, die auch mich immer wieder durchdrang, ließ mich sie noch fester halten. Aber irgendwann löste sie sich von mir und wir gingen in den Wald, um uns in Ruhe und ohne Gefahr zu laufen, von jemandem aufgemischt zu werden, unterhalten zu können. Dort sprachen wir über unsere Träume, über unsere Ängste und das Gefühl, einen Alchemisten in uns zu tragen, der uns manipulierte.

Ich erzählte ihr an diesem Tag, dass ich immer wieder von ihr geträumt hatte und ich schilderte ihr auch meine Albträume aus dem Labor. Während ich sie über diesen düsteren, feuchten Waldweg zog, versuchte ich ihr meinen Albtraum und meine Angst um sie zu erklären. Ich konnte und wollte diese Bürde nicht mehr allein tragen.

„Dieser Traum! Es war so entsetzlich! Ich sah mich mit Kurt in einem Labor stehen. Ich spürte eine ängstliche Erregung, die den kalten Raum erfüllte und sah im Schatten eines großen Holztisches auf eine Gestalt hinunter, die stöhnend auf dem Lehmboden lag. Ich sah Kurts Hand, die ein Messer ergriff und ich erkannte voller Angst und Abscheu, dass er etwas Schreckliches tun würde.“ Ich versuchte ihr klar zu machen, wie sehr ich mich gegen diese Art von Traum immer wieder gewehrt hatte, der sich aber daraufhin nur zu ändern begann. „Kurt Gräblers Gesicht begann darin andere Züge anzunehmen. Je bedrohlicher er für das Mädchen wurde, je mehr verwandelte er sich. Und es wurde … das Gesicht … von deinem Bruder! Natürlich wusste ich das da noch nicht. Dieses Gesicht war mir erst noch fremd“, hatte ich ihr erklärt, und dass ich nichts gegen das tun konnte, was er vorhatte. Meine hilfloses: „Das Mädchen warst du!“, hatte Carolin dann zu etwas bewogen, dass alles zwischen uns änderte. Sie zog mich in eine tröstliche Umarmung, was meine innerlichen Mauern vollends zusammenbrechen ließ. Dabei erklärte sie mir: „Aber Tim! Das war doch nur ein Traum!“

Die Erinnerung an diese Umarmung, und meine folgende Schilderung der Schrecken und Ängste, die ich in meinen Träumen immer wieder erlebt hatte, verhängten eine seltsame Stimmung über uns.

In dem Bett in dem Kölner Hotel liegend, spüre ich noch heute das Durcheinander meiner Gefühle und Emotionen, aber auch die Hoffnung, die es in mir ausgelöst hatte. Carolin hatte mich in ihre Arme gezogen und ich hatte meine Arme um sie geschlungen und sie an mich gepresst. Dabei versuchte ich ihr begreiflich zu machen: „Er sagte, dass du sterben musst, damit endlich alle Teile zusammengeführt werden können, und dass ich … als nächstes dran sein werde.“

Weil sie mir nicht zu glauben schien, gestand ich ihr, dass diese Träume mich dazu gebracht hatten, sie zu suchen, und dass ich mir immer sicher gewesen war, sie auch zu finden.

Sie sollte damals erkennen, was uns wirklich zusammengeführt hatte und was uns wirklich verband. Aber sie entgegnete mir nur: „Tim, hör mir zu! Julian wird mir nichts tun. Er ist doch mein Bruder!“

Aber ich sah den Zwiespalt in diesen großen, fast grünen Augen und den Schmerz in ihren Gesichtszügen. Sie war damals genauso verunsichert wie ich gewesen. Und diese Anspannung und diese Unsicherheit hatten sie den ersten Schritt machen lassen. Ihre Hände hatten sich um mein Gesicht gelegt und sie hatte mich zu sich heruntergezogen, um mich zu küssen …

Ich war davon überrascht und verwirrt. Aber in mir brachen dadurch auch alle Dämme. Ich zog ihren Körper an meinen und erwiderte den Kuss.

Noch nie hatte ich so etwas in diesem Ausmaß gespürt, wie an diesem Tag und in mir tobten mehrere Stürme gleichzeitig. Ich spürte eine Erregung, die schon schmerzhaft war und erlöst werden wollte. Alles andere rückte in den Hintergrund. Und dieses Gefühl raubte mir den Verstand.

Die Stärke dieser Gefühle erschreckte mich anfangs und machte mir Angst. Ich glaubte damals sogar, dass sie der jahrzehntelange Hunger dieses Alchemisten in mir waren, der sie verschlingen wollte. Aber das war Quatsch. Carolin und ich sind einfach füreinander bestimmt. Und das wollte ich ihr klarmachen. Die ganzen folgenden Monate lang. Aber an diesem Abend war sie nicht überzeugt. Während ich meine Gefühle kaum unter Kontrolle hatte und unbedingt mit ihr schlafen wollte, wehrte sie alles ab. Sie wollte Küsse und sie wollte Nähe … aber mehr nicht.

Noch heute fühle ich dieses brennende Gefühl in mir, das sie beendet hatte, bevor wir dem ganz nachgegeben hatten. Sie kam mit fadenscheinigen, unsinnigen Ausflüchen, dass jemand uns sehen könnte und sie nicht verhüten würde.

Als wenn mich das jemals interessiert hätte.

Ich wollte ihr alles von mir geben. Ich war bereit für sie zu sterben. Aber sie dachte nur daran, ihre Hose zu verteidigen.

Noch heute kann ich nicht fassen, dass sie so energisch geblieben war und ich mich aufhalten gelassen hatte. Ich glaube, es war ein Fehler gewesen, sie damit durchkommen zu lassen. Das hatte unser Schicksal gewendet, das sonst vielleicht anders verlaufen wäre. Mir sollte sich schließlich nie jemand widersetzen und sie schon gar nicht. Aber sie blieb erbarmungslos und ich hatte schwer damit zu kämpfen, das zu akzeptieren.

Letztendlich tauschten wir unsere Handynummern aus … für den Notfall. Auch das wollte ich erst nicht, völlig gekränkt von ihrer Abfuhr. Als sie dann auf ihr Fahrrad stieg und mich ein letztes Mal ansah, blieb ich nur sitzen. Ich hatte zu sehr mit dem Gefühl zu kämpfen, dass sie mir ihre Zuneigung und ihren Körper eigentlich nicht verwehren durfte.

Sie löste schon immer etwas in mir aus, dass ich nicht immer kontrollieren konnte. Aber ich hielt mich auch oft zurück, wo ich das nicht hätte tun sollen.

Ich erinnere mich noch daran, dass ich in der darauffolgenden Nacht diesen erschreckenden Traum hatte, der wie eine Vorahnung war. Ich war darin in Wolfsburg und meine Mutter brachte mir jemanden in mein Zimmer. „Tim, du hast Besuch!“

Sie trat zur Seite und Julian kam auf mich zu. Was meine Mutter sonst nie tat, in diesem Augenblick machte sie es: Sie ließ uns allein.

„Ich habe Carolin und wenn du ihr helfen willst, kommst du besser mit mir mit“, hatte Julian zu mir gesagt und in mir eine entsetzliche Angst geschürt. Dennoch folgte ich ihm.

An der Haustür trafen wir auf meine Mutter, die giftete: „Das hast du nun davon. Du wolltest nicht auf mich hören und jetzt bekommst du die gerechte Strafe dafür.“ Mit den Worten hatte sie die Tür aufgerissen und hinter uns wieder zugeschmissen. Das war für mich wie das Abschneiden zu der heilen Welt gewesen, in die ich nie wieder zurückkehren würde. Das hatte schon eine schreckliche Angst in mir geschürt, die aber noch getobt wurde.

Ich weiß nicht genau, aber Julian und ich fanden uns plötzlich in einem Labor wieder. Dort stieß er mich vor ein Bett, auf dem Carolin festgebunden lag und sich nicht rührte.

Ich war nicht fähig gewesen, mich gegen Julian zu wehren und sah mich deshalb sehr schnell an einen eingemauerten Eisenring gekettet, wie ich es in Filmen von Gefangenen in alten Kerkern aus dem Mittelalter gesehen hatte.

Julian fauchte etwas von: „Sag mir die Formel, die aus Kurt Gräblers Labor stammt. Los, du Bastard! Ich brauche sie, um das Elixier fertig zu stellen. Er hat sie uns darin hinterlassen, damit wir sein Werk vollenden können. Also musst du sie haben. Wenn du es nicht tust, töte ich Carolin.“ Weil ich nicht antworten konnte, weil ich nichts von irgendwelchen Formeln wusste, hatte er das Messer auf ihre Brust gesetzt und zugestochen. Das war für mich so schrecklich und unerträglich gewesen, dass ich davon aufgewacht war.

Heute weiß ich, dass dieser Traum in gewisser Weise eine Zukunftsvision war. Aber in dieser Nacht war er nur ein erschreckender Alptraum gewesen, der mich verängstigt und niederdrückt hatte. Deshalb hatte ich den folgenden Tag in meinem Zimmer gehockt, bis ich mich entschloss, zu Carolin zu fahren.

Es war Abend und alles war schon in eine seichte Dunkelheit gehüllt, in der ich hoffte, dass Julian mich nicht sehen würde. Ich weiß noch, wie ich mich an mein Fahrrad gelehnt und zu den Fenstern hochgesehen hatte. Da ich nicht wusste, wo Carolins Zimmer war, hatte ich gewartet, bis ich sie an einem Fenster sah. An der Tür zu klingeln hätte ich nie und nimmer gewagt.

Sie war am Telefonieren und sah aus dem Fenster, als hätte ich sie telepathisch gerufen. Es war wirklich verrückt. Und sie kam zu mir und zog mich in das Waldstück mit der Sandkuhle gegenüber ihrem Haus. Auch sie befürchtete, dass uns Julian sonst sehen könnte.

Es war schrecklich dunkel und feucht in dieser Sandkuhle und nur das wenige Mondlicht hatte unseren Platz erhellt. Ich bin ein Stadtkind und solche Orte machen mir Angst. Niemals würde ich freiwillig im Dunkeln an so einen Ort gehen. Aber Carolin schien das nichts auszumachen.

Ich wollte ihr eigentlich von meinem Traum erzählen. Aber sie kam mir zuvor und sagte etwas, was mich vollends aus der Bahn warf. „Julian weiß, wo das Labor in unserem Garten ist und ich glaube, dass Julians Vater auch deiner ist.“

Es war nicht die Sache, dass Julian mein Bruder ist, die mich umhaute. Das ahnte ich schließlich schon die ganze Zeit. Aber dass er das Labor kannte, das er niemals hätte finden dürfen, ließ meine Welt einbrechen und meinen Traum zur bedrohlichen Realität werden.

„Dann ist alles zu spät. Dann ist alles vorbei. Dann sind wir verloren!“, hatte ich resigniert geantwortet. Ich war mir sicher, dies war unser Todesurteil.

„Tim, nein! Tim hör zu“, hatte Carolin mich aber versucht zu beruhigen. „Julian ist nicht nur mein Bruder, sondern auch deiner! Er wird uns nichts tun! Hörst du? Dein Vater ist auch seiner!“

Das ich das schon wusste, wollte sie mir erst nicht glauben. Darum hatte ich ihr erklärt, dass Julian unserem Vater sehr ähnlich ist. „Julian sieht ihm weitaus mehr ähnlich als ich. Als ich bei meinem Vater war, dachte ich erst, er wäre der Mann aus meinen Träumen, zu dem Kurt Gräbler letztendlich wird. Aber dann sah ich Julian …“

„Aber du hast nie etwas gesagt. Wenn du es doch wusstest, warum hast du mir nichts gesagt?“, hatte sie mir noch vorgeworfen, worauf ich erwidert hatte: „Ich ahnte es, aber ich wusste es nicht hundertprozentig. Aber nun fügt sich alles zusammen. Kurt Gräblers Blut fließt durch unser aller Adern. Aber Julian ist derjenige, der den größten Anteil Kurt Gräbler in sich trägt. Er ist der Alchemist, der uns töten muss, um wieder ein Ganzes zu werden.“

Das sah ich an diesem Abend ganz klar. Ich war mir sicher, dass der Alchemist sich zwar nicht am Leben erhalten hatte, aber sich in uns und in diese Zeit hinübergerettet hatte. Er wollte nun wieder eins werden und sein eigenes Leben führen.

Wie recht ich damit hatte, sollte sich aber erst noch herausstellen.

Carolin reagierte natürlich aufgebracht. Sie wollte Julian einfach nicht als Gefahr sehen. „Bitte Tim! Julian ist kein Mörder! Und was soll es in dem Labor geben, das ihn zu einem werden lassen soll? Das ist alles völliger Unsinn!“, hatte sie geantwortet und ließ dann folgen, was mich fast ins Grab brachte. „Tim, fahr nach Hause … nach Wolfsburg. Du weißt jetzt, wer dein Vater ist und das war´s doch, was du hier wolltest. Fahr einfach wieder.“

Ich weiß nicht, ob sie wirklich glaubte, dass es mir hauptsächlich um meinen Vater gegangen war. Ich meinte, ihr genug verständlich gemacht zu haben, dass ich nur wegen ihr da war. Aber sie begriff das scheinbar nicht, denn sie fügte sogar noch hinzu: „Ich bin mir sicher, dass Julian nicht das tun wird, von was du ausgehst. ER IST KEIN MÖRDER! Aber wenn du mir nicht glaubst, dann fahr einfach wieder.“

Ihre Worte hatten mir damals regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie war so erbarmungslos gewesen und das hatte mich einfach nur wütend gemacht. Daher hatte ich, von der aufkeimenden Wut und meinem verletzten Stolz getrieben, geantwortet: „Du hast vielleicht recht. Ich muss wieder gehen. Hierherzukommen war das Dümmste, was ich tun konnte. Ich muss einfach wieder verschwinden und nie mehr wiederkommen. Dann wird Julian wenigstens nicht mehr so leicht in die Tat umsetzen können, was er mit uns vorhat.“

Carolin war daraufhin einfach gegangen.

„Carolin! Er wird uns töten, glaub mir das doch!“, hatte ich ihr noch hinterhergerufen, aber sie interessierte das nicht. Sie ging und fertig.

Ich kehrte in mein kleines Hotelzimmer in Alfhausen zurück und beschloss meine Sachen zu packen und auch zu gehen. Aber wohin sollte ich mich wenden? Zu meiner Mutter wollte ich nicht und zu meinem Vater konnte ich nicht.

So hatte ich beschlossen, meine Oma zu besuchen. Aber die erreichte ich nicht und so war ich gezwungen, erst noch in Alfhausen zu bleiben. Irgendwie hatte ich auch die Hoffnung auch noch nicht aufgegeben, dass Carolin sich noch einmal bei mir melden würde. Aber sie tat es nicht und in der folgenden Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, tat ich deshalb etwas, was alles ins Rollen brachte. Ich schrieb ihr eine SMS.

Hallo Carolin, es tut mir leid. Wir hätten besonnener unser Gespräch führen sollen. So habe ich kein gutes Gefühl und kann nicht so einfach wieder gehen. Bitte lass uns noch einmal in Ruhe über alles reden. T“

Ich hatte fast augenblicklich eine Antwort bekommen. „Wann und wo? So schnell es geht.“

Erst war ich etwas irritiert gewesen, weil sie sofort geantwortet hatte und sich so kurzhielt. Aber sie wollte mich immerhin sehen und das überlagerte meinen Argwohn.

In einer halben Stunde bei der Hütte“, hatte ich daraufhin zurückgeschrieben und als Antwort erhalten: „Welche Hütte?“

Ich hätte da schon begreifen müssen, dass es eine Falle war, in die ich dumm hineintappte.

Unsere Wanderhütte“, schrieb ich und eilte zu meinem Fahrrad.

Ich radelte wieder das ganze Stück nach Brickwedde und von dort zu der Wanderhütte, bei der wir uns schon zweimal getroffen hatten. Von Carolin sah ich auf dem Stück, das wir eigentlich gemeinsam hätten meistern müssen, nichts. Aber ich hoffte, dass sie schon da war und auf mich wartete.

An der Hütte war aber niemand und ich stellte mein Fahrrad ab, als ein Auto die einsame Straße hochgefahren kam. Es war weit nach Mitternacht und ich war darüber wirklich irritiert. Es fuhr mit Aufblendlicht und blendete mich.

Ich war daraufhin ein Stück in die Hütte zurückgewichen, um dem blendenden Lichtkegel zu entkommen, als das Auto direkt vor der Hütte anhielt, eine Autotür aufgestoßen wurde und jemand am Eingang der Hütte erschien.

Mir war bei der Silhouette, die sich vor mir aufgebaut hatte, regelrecht der Atem gestockt.

„Tim, wartest du auf meine Schwester? Die ist leider verhindert. Aber ich dachte mir, ich bin bestimmt auch willkommen.“

Es war Julian.

An diesem Abend stand ich meinem Halbbruder zum zweiten Mal gegenüber und mir war klar, er konnte mich nur über Carolins Handy und meine SMS an sie gefunden haben.

Ich war schrecklich beunruhigt. „Wo ist Carolin?“

„Sie meinte, ich soll dich abholen. Sie hatte keine Zeit. Aber wenn du mitfährst, kannst du sie sprechen.“

Mir war klar, dass das keine gute Idee war. „Bestimmt nicht!“, hatte ich daher bissig geantwortet.

„So, du willst nicht. Und was ist, wenn ich Carolin in meiner Gewalt habe und ihr Schlimmes antue, wenn du nicht mitkommst?“

Mit diesen Worten hatte Julian meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das hieß, es sollte beginnen. Wovor ich mich schon ewig gefürchtet hatte, sollte sich erfüllen.

Es war meine Angst, die mich ihn aus dem Weg kicken und die Flucht aus der Enge der Hütte ergreifen ließ. Aber Julian war schnell. Der Automotor brüllte auf, noch bevor ich mich auf mein Fahrrad schwingen konnte, und ich wurde auf die Motorhaube katapultiert. Als ich stöhnend am Boden lag, zerrte Julian mich hoch und in sein Auto. Dann fuhr er mich in sein Labor. Es war nicht das von Kurt Gräbler, sondern Julians, dass er sich in einem alten Keller eines zusammengefallenen Bauernhofes eingerichtet hatte.

Ich weiß noch, wie er auf der Fahrt hämisch gefragt hatte: „Was ist denn mit der großen Liebe aus dem Vermächtnis des Alchemisten? Häh? Ist wohl nix, was?“

Ich höre noch heute sein herablassendes Lachen.

Julian wusste damals schon, dass Carolin zu mir gehört. Aber er half mir nie, sie auch zu bekommen. Er war mir gegenüber immer vollkommen empathielos.

So hatte er mich in dieser Nacht auch einfach die Treppe in diesen Keller gestoßen. Dort sah ich Carolin auf einem Eisenbett liegen. Sie bewegte sich nicht und ich dachte erst, dass sie schon tot sei. Aber sie war nur ohnmächtig oder betäubt. Aber ich glaubte anfangs, dass für sie schon alles vorbei war.

Julian erklärte mir aber: „Sie schläft nur. Es ist eigentlich schade, sie ist nämlich wirklich süß. Aber dennoch muss sie sterben.“

Damit war klar, was passieren sollte.

Auf einem alten Holztisch stand eine Apparatur, die mit einem Bunsenbrenner etwas zum Kochen brachte, das in weitere Gläser lief, die mit verschiedenen tropfenden Mitteln aus weiteren Schläuche gespeist wurde und in einem einzigen Röhrchen zusammenlief. Es standen noch weitere Bunsenbrenner um die Apparatur herum, die aber nicht mehr brannten und man sah ein einzelnes Glas, in das unendlich langsam eine gelbe Flüssigkeit tropfte. Das war wohl das Mittel, dass ihn befähigen sollte, Kurt Gräbler in sich auferstehen zu lassen. Wie auch immer.

Und dann kam, was kommen musste. Julian wollte meine Hilfe. „Tim, ich habe eine Formel und ich weiß, wie ich alles zusammenstellen muss. Aber es gibt eine zweite Formel, die als nächstes zum Einsatz kommen muss und mir die Vorlage liefert, was ich als Nächstes dieser Flüssigkeit hinzufügen muss. Weißt du, von was ich rede?“

Es war fast alles wie in meinem Traum.

„Ach komm, Bruderherz. Streng deinen Grips mal ein bisschen an. Eine wichtige Formel … oder etwas, was eine Formel betrifft. Du hast bestimmt von Kurt Gräbler die Eingabe bekommen. Ich kann mir das nicht erklären. Ich weiß einfach nicht, was gemeint ist. Also musst du es wissen … oder gibt es ein verdammtes Schlüsselwort, das mir das Ganze verständlich macht? Es muss so etwas geben! Es muss …!“

Da ich ihm nicht helfen konnte, schlug er mich zusammen und gebrüllte: „Verdammt Tim! Nicht schlappmachen! Du musst das wissen! Erinnere dich doch mal!“

Ich glaube, ich sagte ihm, dass ich ihm nicht helfen würde, auch wenn ich es könnte. Ich weiß nicht mehr genau, wie alles kam. Julian drehte auf jeden Fall ziemlich durch und schlug und trat mich immer wieder, dass ich dachte, er bringt mich um. Aber es war Carolins hysterischer Schrei, der ihn aufhielt. „Julian, hör auf!“

„Der Penner will’s mir nicht sagen“, brüllte der Carolin an, die nur fassungslos erwiderte, als hätte das Julian je interessiert: „Bitte Julian, Tim ist doch dein Bruder!“

Das war ihm sowas von egal. Aber Carolin überredete ihn dann doch irgendwie, dass er mich losband und an ihr Bett kettete. So konnte sie sich an meine Seite sinken lassen, um mich an sich zu ziehen. Aber auch sie war mit einer Handschelle an das Bett gekettet und konnte nicht viel tun. Ich weiß noch, wie sie sagte: „Es tut mir so leid! Ich hätte auf dich hören sollen.“

Ja, das hätte sie. Aber ich war in diesem Augenblick froh, wenigstens diesen Moment noch mit ihr zu haben und sie noch einmal so dicht spüren zu können. Wir waren vereint und ich mir sicher, dass ich es so sogar ertragen konnte zu sterben.

Julian begann wie ein Irrer in irgendwelchen Unterlagen herumzublättern und diese Flüssigkeit immer wieder zu begutachtete, während Carolin mich im Arm hielt.

„Ist Tim in Ordnung?“, hatte er irgendwann gefragt, weil er wohl befürchtete, dass er zu sehr hingelangt hatte und ich mehr tot als lebendig war.

„Carolin, du musst ihn dazu bringen, dass er mir hilft. Unbedingt!“

Aber was sollte Carolin schon tun? Sie wusste genauso wenig wie ich von all dem, was wir jetzt wissen und was Julian vielleicht geholfen hätte, seinen Fehler zu erkennen.

Der wurde sehr redselig. Er dachte wohl, dass er uns damit doch noch ins Boot holen könnte. „Du weißt mittlerweile, dass wir beide seit unserer jüngsten Kindheit diese Träume haben. Aber du wusstest nie, warum du all diese Dinge träumtest. Ich erkannte hingegen schon sehr früh, was diese Träume zu bedeuten hatten und versuchte sie zu nutzen. Und ich fand heraus, dass wir alle ein Puzzelteil zu einer großen Sache sind. Ich machte mir zu meinem Lebenswerk, dieses Puzzle zusammenzufügen und seiner wirklichen Bestimmung zuzuführen: Der Auferstehung eines Menschen, der uns, seine Nachfahren, schon zu seinen Lebzeiten auserkoren hatte, um sein großes Werk zu vollenden. Er hat damals den wirklichen Stein der Weisen gefunden, die Hohen Arkanen, das Lebenselixier für die Unsterblichkeit.“ So in etwa hatte er sich ausgedrückt, was Carolin ziemlich wütend gemacht hatte.

„Nein, das hat er nicht. Er ist tot! Ich habe ihn selbst gesehen … da unten in seinem Labor.“

Ich schnallte das damals nicht, aber Carolin hatte Julian nicht nur gesagt, wo er das Labor findet, sie war auch vorher schon darin gewesen. Sie war allein in dieses Labor gestiegen … einem uralten unterirdischen Raum, der bestimmt einsturzgefärdet war, und hatte dort die Leiche unseres Vorfahren gefunden. Und sie hatte das alles allein durchgestanden und hatte nicht mal mir etwas davon gesagt.

Sie war damals schon sehr stark und eigensinnig gewesen. Wie stark und eigensinnig, das sollte ich in diesem Labor von Julian allerdings noch in seiner ganzen Tragweite erfahren.

Julian hatte daraufhin etwas davon gefaselt, dass wir ihn und das große Ganze sowieso nicht verstehen würden und meinte uns noch darüber aufklären zu müssen, was dieser Kurt Gräbler für ein großartiger Geist gewesen war. Er redete davon, wie der Alchemist dem Tod von der Schippe gesprungen war und die Seele, das Bewusstsein und den Geist auf seine Nachkommen projiziert hatte. Und er meinte völlig abgehoben: „Ihm gelang, dass diese drei Elemente sich in eine Zeit hinüberretteten, in der sie wieder zusammengefügt werden können. In unsere Zeit und durch uns. Wir sind die Generation, in der alle drei Teile seines Seins aufeinandertreffen und so seine Auferstehung möglich wird, mit der er sein altes Schaffen weiterführen kann. Kurt Gräbler schaffte es damals, ein energetisches Lösungsmittel herzustellen, das ihm das ermöglichte. Sein Körper starb zwar trotzdem, wie jeder andere Körper auch, was darauf zurückzuführen ist, dass er mit seiner Forschung noch nicht ganz am Ende war. Aber dennoch schaffte er es, seine Ahnen zu manipulieren und in uns wieder aufzuerstehen. Unglaublich und großartig. Und keiner dieser Tölpel, die ihn verbrannten, hatte auch nur einen Schimmer von dem, was sie der Menschheit damit antaten. Er hätte der Retter von uns allen werden können.“

Dann ließ er uns noch an seiner Einschätzung des Ganzen teilhaben, indem er uns offenbarte, dass er mit dem großen alchemistischen Wissen von Kurt Gräbler ausgestattet wurde, Carolin wohl sein Bewusstsein abbekommen hatte und ich seine jammernde Seele, die völlig unnütz war. Mich hielt er für völlig überflüssig und stellte mich mit den dummen Bauern auf eine Stufe, die der Menschheit den einen großen Bezwinger über den Tod genommen hatten. „Alle drei Teile zusammengeführt und in mir vereint wird den Alchemisten wieder auferstehen lassen“, glaubte Julian damals. Dabei soll nicht er der neue Herr über Kurt Gräblers Geist sein …

„Was hast du vor? Willst du uns wirklich umbringen?“, hatte Carolin ihn damals völlig verzweifelt gefragt. „Julian, bitte! Das ist doch Irrsinn!“ Und dann hatte sie auf ihn eingeredet. Wahrscheinlich wollte sie Zeit schinden oder Julian verunsichern. Sie fragte ihn, ob wirklich alle Teile in uns drei zu finden waren oder ob es noch mehr irgendwo gab. Aber das klappte nicht. Julian drehte noch mehr durch und begann mich wieder zu malträtieren und von mir zu verlangen, dass ich ihm helfen müsse. Er faselte etwas davon, dass seine Träume ihm gezeigt hatten, dass ich ihm helfen würde oder nur ich ihm helfen könne oder so was. Dabei hatte ich nicht die leiseste Ahnung, was er von mir wollte. Und er sagte uns, dass wir sterben werden. „In all den alten Aufzeichnungen von Kurt Gräbler fand ich immer wieder die Hinweise, dass Blutopfer nötig sind, wenn Großes vollbracht werden soll. Außerdem kann ich Kurt Gräbler nicht anders von euch befreien“, erklärte der Wahnsinnige uns und riss Carolin von meiner Seite. Er löste ihre Handschelle und sie begann gegen ihn zu kämpfen, während er sie zu einem Stuhl schleppte und sie darauf fixierte. Ich konnte sie kaum in dem wenigen Licht sehen, aber ich hörte Julian sagen, dass, wenn ich ihm nicht helfe, es Carolin schlecht ergehen würde. Er wollte von mir eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte und auch nicht geben wollte.

Was ich damit auslöste, dreht mir sogar bei der bloßen Erinnerung den Magen um. Julian nahm nämlich daraufhin ein Messer und hielt es Carolin an den Hals.

„Nicht, lass sie gehen und ich sage dir alles“, hatte ich erschrocken gerufen. „Hör auf! Du tust ihr doch weh. Sie ist deine Schwester!“

Aber Julian sagte dazu nur: „In diesem Moment nicht mehr. Sie ist nur noch der Träger von Kurt Gräblers Erbgut, genau wie du. Nur zu dem Zweck seid ihr auf der Welt. Ihr selber seid unwichtig und dient nur als Hülle - nicht mehr wert als ein Tetrapack. Es gibt keine Familienbande mehr. Es ist vorbei. Es wird nur noch mich geben … den Alchemisten. Und ich werde mein Wissen vervollkommnen und der Menschheit ewiges Leben schenken.“

Das muss Carolin wirklich wütend gemacht haben. Durch ihren Körper ging ein Ruck, der sie fast von dem Stuhl warf und Julian keuchte fluchend: „Verdammt Carolin! So nicht!“

Ich sah nur, wie er sich zusammenkrümmte, sich dann aber schnell wieder aufraffte, um von irgendwoher einen Lappen herunterzureißen. Ich schnallte da noch gar nicht, was passiert war. Erst als er hektisch das Tuch um Carolins Hals wickelte und mich anschrie: „Du muss mir sagen, was ich beachten muss. Es darf nichts schiefgehen!“, wurde es mir klar. Er hatte Carolin in den Hals geschnitten.

Julian brüllte ab da nur noch abstruses Zeug, während Carolin auf dem Stuhl zusammensank und ihr Pullover sich rot verfärbte.

Ich war gelähmt vor Entsetzen. Doch mir wurde schnell klar, dass Carolin in kürzester Zeit verbluten konnte. Ich wusste schließlich nicht, wie schlimm es sie getroffen hatte.

„Erst musst du Carolin helfen, sonst sage ich gar nichts. Dann ist mir egal, ob ich hier auch sterbe. Aber ohne mich wirst du dein Ziel nicht erreichen“, hatte ich Julian völlig außer mir angeschrien, woraufhin Julian zu Carolin zurückgehechtet war und an dem Tuch an ihrem Hals herumriss.

Ich höre ihr Stöhnen noch heute und es jagt mir immer noch eine Gänsehaut über den Rücken.

Während ich damals glaubte, es gäbe für uns keine Rettung mehr, wurde über uns aber im selben Moment die Tür aufgehebelt und Männer stürzten sich in die Tiefe. Julian wurde zu Boden gerissen und ich konnte fassungslos nicht begreifen, was geschah. Ich weiß noch, dass der Tisch umgestoßen wurde und das Glas mit der gelben Flüssigkeit zu Boden fiel und zerbrach. Der Inhalt versiechte im Lehmboden und der Bunsenbrenner begann das Holz des Regals in Brand zu setzen.

An Julians hysterischen Schrei und die vielen Staubpartikel in dem Sonnenlichtstrahl, der durch die Lucke gefallen war, kann ich mich noch erinnern. Und an den Rauch, der langsam alles zu vernebeln begann. Daran erinnere ich mich noch, weil ich versuchte zu erkennen, was geschah, während weitere Leute in den kleinen Raum gestürzt waren. Einer war direkt auf Carolin zugehechtet.

Ich hatte noch mit all der Kraft, die ich aufbringen konnte, gebrüllt: „Schnell, Carolin verblutete! Sie braucht einen Arzt!“, während der beißende Geruch sich immer mehr in dem Raum ausgebreitet hatte und uns die Luft nahm. Und dann sah ich einen Typ, der Carolin auf seine Arme hob und sie die Treppe hochtrug. Zwei Polizisten folgten mit Julian und zwei begannen sich um mich zu kümmern. Ich wurde auf die Füße gestellt, als die Handschelle endlich von dem Bett befreit war. Sie zogen mich aus dem Raum, gerade rechtzeitig, bevor die ersten Flammen hochschlugen. Keuchend brachen wir alle drei oben zusammen, als aus der Ferne schon die Krankenwagensirenen zu hören waren.

Und dann hörte ich den erschütterten Schrei von dem Typ, der Carolin aus dem Labor getragen hatte. Es war Marcel, der sie in seinen Armen hielt und rief: „Bitte Carolin, du musst durchhalten! Bitte! Ich liebe dich doch!“ Und dann folgte ein hysterisches: „Nein, bleib bei mir …!“

Die Hoffnung aus der Vergangenheit

Подняться наверх