Читать книгу Das Vermächtnis aus der Vergangenheit - Sabine von der Wellen - Страница 4
Die Entscheidung
ОглавлениеTim ist weg.
Ich starre auf die Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel und lasse mich innerlich aufgewühlt auf mein Kissen zurückfallen. Nur langsam beruhigen sich meine Nerven wieder. Tim hat die Flucht angetreten, und das ist gut so. Nur so können wir das in den Griff bekommen. Denn so sehr ich auch dagegen ankämpfe, ich will endlich meinen Gefühlen und dem Drang meines Körpers nachgeben. Ich weiß nur noch nicht, ob es wirklich Tim sein soll.
Erneut hatte mich seine Art verunsichert und ich will einfach ehrliche Gefühle. So wie die von Marcel.
Mit unserer Abmachung habe ich mir einen Raum geschaffen, der mich nicht mehr verpflichtet ihm von Tim zu erzählen. Schließlich werden wir nichts Verbotenes mehr machen. Tim ist ein Freund. Mehr nicht.
Ich kann beruhigt aufatmen und mich in der Gewissheit suhlen, dass ich somit keinen von beiden verliere, bis ich mir wirklich sicher bin. Alles ist wieder in Ordnung. Zumindest vorerst.
Tatsächlich schaffe ich es, einen annähernd ruhigen Nachmittag zu verbringen und schlafe sogar einige Zeit. Irgendwann bringt mir eine Schwester einen Tee und ein Stück Kuchen, das ich hungrig verschlinge. Ich fühle mich nicht nur körperlich besser, sondern auch mein Innerstes scheint sich mit den neuen Begebenheiten einigermaßen wohlzufühlen. Auch wenn ich immer wieder kleinere Anwandlungen unterdrücken muss, die mich in Tims Armen sehen wollen und eine Sehnsucht nach seinen Küssen mich durchflutet, bin ich doch froh, dass wir dieses Abkommen getroffen haben. Ich kann besser damit umgehen, Tim als Freund in meinem Leben zu wissen und weiter vor mich hinzuschmachten, als mich ihm mit dem Wissen, dass es falsch sein kann, hinzugeben und Marcel wegstoßen zu müssen. Denn das kann ich auch nicht ertragen. In meinem Inneren spüre ich immer noch eine schleichende Angst, vielleicht irgendwann festzustellen, dass meine Gefühle zu ihm nicht echt waren. Oder seine zu mir, was mich noch viel schwerer treffen würde. So muss es bei den anderen Generationen gewesen sein, und das Ergebnis sind wir.
Es klopft und meine Tür geht vorsichtig auf. Christiane lugt ins Zimmer und grinst mich an. „Man weiß ja nie, was du gerade wieder treibst“, ruft sie und springt übermütig an mein Bett. „Alles klar bei dir? Du siehst schon besser aus.“
Ich nicke und grinse zurück. „Sicher! Ich habe auch schön geschlafen.“
„Schön geschlafen? Mit wem?“, fragt sie und wirft sich auf den Stuhl, immer noch breit grinsend.
„Nah, was denkst du von mir?“, brumme ich entrüstet und setze mich auf.
„Denken? Ich hatte heute schon das Vergnügen, dich in einer recht stürmischen Umarmung zu erleben. Danke auch. Ich dachte mir, ich komme lieber vorsichtig ins Zimmer, auf alles gefasst.“
Es ist wieder wie in alten Zeiten und tut gut. Alles ist vergessen … unsere Streitereien und der Einfluss von Julian, der fast unsere Freundschaft zerstört hatte.
„Oh Mann! Das ist geklärt“, antworte ich und tue so, als wäre mir das Ganze echt peinlich. „Tim und ich werden die Finger voneinander lassen.“
Christiane rutscht entrüstet bis auf die vorderste Kante des Stuhles, um mich mit bösem Blick besser fixieren zu können. „Warum das denn?“, schießt es aus ihren schmalen Lippen hervor.
Ich überlege, wie weit ich sie über meine Bedenken gegenüber Tim und unseren Gefühlen zueinander einweihen soll. Dann entscheide ich mich dafür ihr meine Angst, bezüglich Kurt Gräblers Macht über seine nachfolgenden Generationen, mitzuteilen. Ich beende meine Ausführungen mit den Worten: „… und da wir nicht wissen, was alle anderen Paare trieb, möchte ich erst Klarheit haben. Stell dir vor, alle haben sich nur in diesen seltsamen Konstellationen zusammengefunden, weil dieser Alchemist einen Weg gefunden hatte, seine Blutlinie immer wieder zusammenzuführen, weil er die daraus entstehenden Kinder braucht. Dann möchte ich das auf gar keinen Fall fortführen.“
„Ach, das kann es doch gar nicht geben. Ich würde deswegen doch nicht so einen leidenschaftlichen und gutaussehenden Typen von der Bettkante schubsen. Und es gibt doch genug zum Verhüten.“ Christiane denkt wie immer recht pragmatisch.
„Woher willst du wissen wie leidenschaftlich Tim ist?“, frage ich schnippisch, weil Christiane mich wieder mal nicht ernst nimmt.
„Poor, weißt du wie der über dich hergefallen ist? Deshalb dachte ich auch, ich wäre im falschen Zimmer. Hier hat die Luft förmlich gebrannt. Und dann euer Abschiedskuss …!“, ereifert sie sich. „Also, wenn du den nicht willst …“, setzt sie noch hinterher.
Das geht mir richtig quer. Mir Tim mit einer anderen in leidenschaftlicher Umarmung vorzustellen, bringt mir echten Herzschmerz ein und schürt die Angst, ihn mit meiner heutigen Abfuhr vertrieben zu haben.
Allerdings, wenn er sich davon vertreiben lässt, dann sind seine Gefühle nichts wert. Dann will er wirklich nur mit mir ins Bett gehen, getrieben von etwas, das nichts mit ehrlichen Gefühlen zu tun hat.
„Das ist ja, was ich meine. Das ist doch nicht normal!“, sage ich und ignoriere ihren letzten Satz geflissentlich. „Und was ist, wenn das zwischen uns nur so ist, weil wir von etwas dazu getrieben werden, um schließlich miteinander zu schlafen? Jetzt sofort! Ohne Verhütung!“
„Mensch Carolin. Du hast Sorgen!“, brummt Christiane und sieht mich völlig verständnislos an.
Warum glaubte ich auch nur eine Sekunde, dass sie mich verstehen kann?
Weiter kommen wir auch nicht, weil ein Pulk von Ärzten den Raum betritt. Christiane wird von einer jungen Krankenschwester gebeten, kurz vor der Tür zu warten.
Meine Unterlagen werden gesichtet, mein Befinden erfragt und dann brummelt der Oberarzt: „Gut, sehen wir mal nach der Verletzung.“ Er kommt näher und beginnt meinen Verband zu lösen.
Ich rühre mich nicht, vor Entsetzen wie erstarrt.
„Das sieht schon gut aus. Schwester Katrin wird einen neuen Verband anlegen und wir sprechen uns morgen noch mal. Ich denke, Sie können dann bald wieder nach Hause gehen.“
Ich nicke nur.
Der ganze Trupp begibt sich wieder zur Tür. Sie verlassen das Zimmer und Christiane schlüpft wieder rein.
„Igitt, ist das eklig!“, kreischt sie auf und steht wie erstarrt da.
Ich weiß im ersten Moment gar nicht, was sie meint. Erst als ihr Zeigefinger Richtung meines Halses zeigt und ihre riesigen Augen meinen Hals anstarren, ahne ich es.
Ich klettere unter der Decke hervor und gehe ins Badezimmer, um mir das Ganze selbst anzusehen. Ich muss mich an dem Waschbecken festhalten, als ich das schrecklich Gelbe und Schwarze an meinem Hals sehe, das sich seitlich über den Nacken in Regionen zieht, die ich nicht weiter einsehen kann. Der Schnitt wurde mit richtigen Stichen zusammengenäht und sieht schrecklich aus. Julian hatte meine Halsschlagader tatsächlich nur um Haaresbreite verfehlt. Gruselig! Mir kommt das Bild von Frankensteins Monster in den Sinn, dem mit ähnlichen Stichen der Kopf festgenäht worden war.
Ich wanke zu meinem Bett zurück und klettere wieder unter die Decke.
Christiane sitzt wieder auf dem Stuhl und hält erschüttert ihre Tasche umklammert. „Das ist ja ganz schlimm“, sagt sie kleinlaut. „Du Arme!“
Ich bin auch geschockt, will das aber vor Christiane nicht zeigen. Sie ist noch weißer als ich und wirkt völlig verstört.
„Ich bin selbst schuld. Ich hätte Julian nicht in die Eier treten sollen“, sage ich und will mit meinem derben Ausruf dem Ganzen die Schärfe nehmen.
„Du hättest dabei draufgehen können“, stammelt Christiane und scheint sich gar nicht wieder einkriegen zu wollen. „Dass Julian so weit geht!“
Stimmt! Ich hatte natürlich nicht erwähnt, dass dies sein Ziel war. Nur Tims Hartnäckigkeit hatte ihn davon abgehalten und weil er ihm nicht sagte, was er wissen musste. Und natürlich Marcel, der mich wirklich rettete.
Eine Schwester kommt mit einer weißen Schale ins Zimmer, in der sich Verbandsmaterial und einige Flaschen befinden.
„So, da wollen wir mal wieder einen Verband anlegen“, sagt sie und lächelt freundlich.
Es ist nicht die, die mir das schlechte Gewissen macht und ich hoffe, die hat für heute frei.
Das Ganze geht superschnell und tut gar nicht weh. Mir fällt ein, was der Arzt gesagt hatte.
„Was für ein Tag ist heute?“
„Montag“, antwortet sie und legt alles wieder in die weiße Schale zurück.
„Der Doktor hat gesagt, er entscheidet morgen, ob ich bald gehen kann.“
Sie nickt: „Dann kannst du Mittwoch oder Donnerstag auschecken. Möchtest du das?“
Ich nicke. „Auf jeden Fall. Das wäre echt klasse.“
„Nah, dann hoffen wir mal, dass das klappt.“ Sie geht wieder und ich weiß, dass ich alles dransetzen muss, dass der Arzt mit mir zufrieden ist.
„Waaas?“, tobt Christiane los. „Du willst damit“, sie zeigt auf meinen Hals: „schon nach Hause?“
„Wenn sie mich lassen“, erwidere ich nur.
Langsam öffnet sich erneut die Tür und wir schauen beide, wer das sein kann.
Eine rote Rose mit weißem Schleierkraut und einem roten Stoffherzen, schön in Folien eingeschlagen und mit rotem Schleifenband verziert, schiebt sich als erstes durch die Tür. Dann folgt breit grinsend Marcel.
Ich werfe verunsichert einen schnellen Blick in Christianes Richtung, die eigentlich nicht weiß, dass Marcel und ich hier als Paar gelten. Ich hatte es noch nicht erwähnt.
Ihre Kinnlade macht sich gerade wieder selbstständig.
Marcel kommt an mein Bett und beachtet Christiane gar nicht. „Hey, wie geht es dir, Süße?“ Er legt eine Hand auf meine Wange und küsst mich auf den Mund.
„Besser“, antworte ich ihm, als er wieder von mir ablässt. Ich freute mich wirklich, ihn zu sehen und ich liebe seine Art, mit mir umzugehen. Er ist so ruhig und sanft. Und ich bin unendlich froh, dass ich so empfinde. Nach Tim war ich mir den ganzen Nachmittag nicht sicher gewesen, wie ich mich Marcel gegenüber verhalten werde.
Er gibt mir die Rose und haucht mir ein „Ich liebe dich!“ zu, dass Christiane bestimmt nicht überhört hat.
„Danke!“, antworte ich ihm peinlich berührt, weil er seine Gefühle immer wieder vor mir ausbreitet, und nehme die Blume entgegen. „Das ist so lieb von dir.“
Es ist unglaublich, wie lieb und gefühlvoll Marcel ist und ich muss an Tim denken und seine übersprudelnde Art.
Ein Blick zu Christiane zeigt mir, dass sie immer noch mit ihrer Kinnlade kämpft.
„Kannst du mir eine Vase holen?“, spreche ich sie an und sie steht auf, als hätte ich einen Knopf an einer Fernbedienung gedrückt, der sie den Befehl ausführen lässt.
„Ich gehe schon“, sagt Marcel und kommt ihr zuvor. Er verschwindet durch die Tür auf den Gang, um den Schrank mit den Vasen zu suchen.
Christiane lässt sich wieder auf den Stuhl fallen und findet auch ihre Sprache wieder. „Das ist doch wohl eher der Grund, warum du mit Tim nicht zusammen sein kannst. Das ist echt voll krass! Seit wann seid ihr beiden denn zusammen?“
„Naja, eigentlich erst seit gestern. Du weißt doch, dass Marcel die Polizei zu dem Labor geführt hat. Er hat mich da rausgetragen und ins Krankenhaus begleitet. Scheinbar hat er auch die ganze Zeit an meinem Bett verbracht. Ich habe das erst gestern richtig mitbekommen. Ich war wohl manchmal wach, habe aber nichts richtig gecheckt. Und dann hat er gestern …“ Weiter komme ich nicht. Marcel gleitet wieder ins Zimmer zurück und holt aus dem Badezimmer noch Wasser, kommt zum Bett und stellt die Rose in die Vase.
„So schön!“, beteuere ich nochmals und nehme seine Hand, um ihn auf meine Bettkante zu ziehen. Es ist komisch. Ich will ihn glücklich sehen und ihm meine Zuneigung zeigen. Ist das mein schlechtes Gewissen oder der Drang, dem Konter zu bieten, was vielleicht in mir haust und mich in Tims Arme treibt.
Christiane sitzt nur da und starrt uns an, als wären wir Geister.
Marcel lässt seine Augen unaufhörlich über mein Gesicht gleiten und ich werde nun doch etwas nervös, mir meiner Defizite bewusst. Ich sehe immer noch so schrecklich aus.
„Ich habe dich so vermisst“, raunt er und gibt mir noch einmal einen Kuss. Christiane ignoriert er dabei erneut völlig.
„Ich dich auch“, sage ich und kann nicht verhindern, dass mein Blick zu Christiane abschweift.
Die hat sich wieder im Griff, kneift die Lippen aufeinander und nickt mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck, als wolle sie sagen: „Ja klar! Ganz doll hast du ihn vermisst.“ Zu meinem Glück sagt sie aber nichts. Sie setzt sich nur zurück und sieht uns an, als wären wir Schauspieler in einer Daily Soap, in der die nächste Intrige nicht lange auf sich warten lässt.
„Ich kann vielleicht am Mittwoch schon gehen“, versuche ich ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Mittwoch?“, sagt Marcel mit leuchtend Augen. „Das ist ja super! Ich werde mir freinehmen und dich dann abholen. Weißt du schon wie spät?“
So weit ist es eigentlich noch gar nicht. Aber dass er sich sofort bereit erklärt, mich abzuholen, ist wieder typisch.
„Weiß ich noch nicht. Das ist auch noch nicht ganz sicher.“
Marcel nickt nur verstehend. „Wäre aber wirklich schön.“
Ich ziehe Christiane mit ins Gespräch, um der ganzen Situation etwas Normalität abzuringen.
„Was sagen die anderen, weil ich nicht da bin? Weiß jemand, was passiert ist, und dass ich im Krankenhaus bin und Julian im Gefängnis?“
„Ne, nicht wirklich. Zumindest hat noch keiner etwas gesagt. In der Zeitung stand zwar etwas von einem Übergriff auf zwei Jugendliche, die mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Aber keiner weiß, um wen es sich handelt und ich habe nichts gesagt, weil die Polizei mir das verboten hat.“
Ich sehe sie groß an. Diese Auflage muss ihr schwer zu schaffen machen.
Nun schaltet Marcel sich ein und berichtet von einer Ausführung der Geschichte, die im Internet steht. Wir versuchen zu ergründen, was man mit mir und Julian in Verbindung bringen kann. Da wir aber Ferien haben, fällt es ja nicht weiter auf, dass wir nicht mit Anwesenheit glänzen. Schließlich könnten wir auch im Urlaub sein.
Die Tür öffnet sich erneut und eine Schwester sieht ins Zimmer. Sie weist freundlich darauf hin, dass die Besuchszeit vorbei ist. Marcel sehe ich an seinem Gesicht an, dass ihm das ziemlich gegen den Strich geht.
„Ich bin doch gerade erst gekommen“, mault er und wirft einen flehenden Blick in das unbestechliche Gesicht der Krankenschwester.
„Ich komme ja bald raus und dann können wir uns sehen, so lange du willst“, versuche ich ihn wieder fröhlich zu stimmen.
Ich verteile heute, Marcel gegenüber, unglaublich überschwänglichen Enthusiasmus für unsere Zukunft. Fast kommt es mir so vor, als wolle ich etwas herausfordern.
Der dankt es mir mit einem unglaublich süßen Lächeln. Mir wird mal wieder bewusst, wie gut er aussieht, und das auch er mein Herz durchaus höherschlagen lässt.
Marcel steht schwerfällig auf, als wäre er an meinem Bett angekettet und bietet Christine an, sie nach Hause zu bringen. Sie nimmt das Angebot freudestrahlend an.
Er gibt mir noch einen Kuss und bittet: „Kann ich dich später auf deinem Handy anrufen?“
Das ist eigentlich verboten und ich weiß nicht mal, ob mein Handy hier ist.
„Ich schau, wo das ist und ob es geht. Dann rufe ich dich an. Aber versprechen kann ich nichts“, antworte ich und werde erneut von diesem Gefühl getrieben, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
Marcel nickt und folgt Christiane mit mürrischer Miene zur Tür. Die dreht sich noch einmal zu mir um und winkt.
Ich lege meinen Zeigefinger auf den Mund, um sie daran zu erinnern, dass sie nichts Unüberlegtes sagt. Sie zwinkert mir nur zu, grinst und ist verschwunden.
Ich lasse mein Kopfteil absinken und seufze müde. Was war das für ein Tag? Ich kann nur hoffen, dass ich diese Nacht gut schlafen kann, damit ich am nächsten Tag aussehe wie das blühende Leben. Schließlich will ich unbedingt schnellstmöglich nach Hause.
Dann fällt mir mein Handy ein.
Ich suche die Schublade meines Nachtisches ab und muss mich dann doch aus dem Bett quälen, um meinen Schrank zu durchsuchen. Dort finde ich in einer Mülltüte einige der Sachen, die ich bei meiner Einlieferung anhatte, aber kein Handy. Also wird das mit dem Telefonieren wohl nichts.
Das Telefon auf meinem Tisch fällt mir ein und ich frage mich wie das wohl funktioniert. Ich gehe zum Bett zurück und finde in der kleinen Schublade eine riesige Anleitung, wie es aufgeladen wird und wie man dann telefonieren kann. Das Aufladen geht nur an einem Automaten im Untergeschoss bei der Anmeldung.
Nah toll. Dann eben nicht.
Ich lege mich ins Bett und mein schlechtes Gewissen lässt Marcel vor meinem inneren Auge erscheinen, traurig auf sein Handy starrend, wie schon so oft zuvor.
Wie viele Male hatte ich ihm gesagt, dass wir telefonieren werden und es doch nicht getan. Und dennoch steht Marcel unerschütterlich zu mir. Er verlangt nichts weiter als ein wenig meiner Zuneigung. Mir fällt unser gemeinsamer Abend bei ihm zu Hause ein. Ich hatte eine ganze Nacht in seinen Armen verbracht und er hatte mich nicht angerührt. Erst an Morgen hatte er sich ein paar unschuldige Küsse gestohlen. Ich weiß, Tim wäre dazu niemals in der Lage.
Verdammt!
Mir ist völlig klar, dass ich es nicht bis in den untersten Stock schaffen werde, um das Telefon aufzuladen, mal ganz davon abgesehen, dass ich gar kein Geld dabeihabe.
Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, denke ich mir, dass es vielleicht besser ist, Marcel in nichts zu sehr zu bestärken. Also entfällt das Telefonieren erst noch. Schließlich habe ich Tim und die Gefühle von ihm auch in Ketten gelegt. Also ist besser, ich mache Marcel auch nicht zu viel Hoffnung, bevor ich alles klarer sehe.
Mein Abendbrot wird gebracht und ich esse ohne viel Appetit. Dabei schalte ich den Fernseher ein, der sogar funktioniert. Nur die Programmauswahl ist äußerst begrenzt. Doch das ist egal. Hauptsache es flimmert und lässt meinen Gedankenfluss einige Zeit stillstehen.
Einige Dokus und Nachrichten später, beschließe ich das Licht zu löschen und wenigstens einen schnellen Schönheitsschlaf einzuläuten. Dann kann ich zumindest schnell nach Hause.
Vor meinem Fenster weicht das Tageslicht schon der Dämmerung und ich lege mich auf die Seite, um mir das Schauspiel anzusehen. Dabei bemühe ich mich an nichts zu denken. Doch Marcel und Tim huschen in kleinen Abständen immer wieder durch meinen Kopf, der das auch jedes Mal meinem Herz petzt. Ich frage mich, wen ich mir jetzt und hier in mein Bett wünsche, wenn ich eine Wahl hätte - Marcel oder Tim.
Es ist ein Tauziehen der Gefühle und zu meiner Überraschung gewinnt in diesem Augenblick Marcel.
Ich bin beruhigt. Marcel ist gut … sogar sehr gut. Bei ihm kann ich mir sicher sein, dass ich zumindest keinen Schaden nehme, wie bei Tims stürmischen Übergriffen. Seine heute wieder an den Tag gelegte sanfte Art erscheint mir sicherer als Tims drängende und unberechenbare, deren Ursprung undefinierbar ist. Aber Marcel scheint mir auch viel verletzbarer als Tim zu sein.
Erneut bestärkt sich bei mir der Gedanke, Marcel auf keinen Fall zu viel Gefühl entgegenzubringen, was ihn in etwas bestärkt, das sich dann doch nicht erfüllt. Schließlich habe ich mich noch nicht für einen der beiden entschieden.
Ich versuche erneut einzuschlafen und dabei soll mir das Schauspiel der aufsteigenden Nacht vor meinem Fenster helfen. Aber erst als ich in Gedanken doch eine Entscheidung treffe, werde ich ruhiger. Und diese Entscheidung heißt, dass ich mit Marcel erst einmal alles so lasse, wie es ist und mich bei Tim zurückhalte, bis ich weiß, ob es nicht nur Manipulation ist, die uns aufeinander fixiert.
Das Stück Himmel, das ich sehe, verfinstert sich zusehends und damit legen sich auch endlich meine Gedankengänge schlafen. Ich drifte langsam aus dieser Welt in die des Schlafes.
Als ich plötzlich wach werde, ist es draußen dunkel. Die Straßenlaterne erhellt wieder einen Teil meines Zimmers und taucht es in seichte Schatten. Ich liege immer noch auf der Seite, mit Blick auf das Fenster und mir ist unglaublich warm. Langsam fallen meine Augen wieder zu und ich will mich in den unglaublichen Traum zurückfallen lassen, aus dem ich erwacht war. Mein ganzer Körper ist noch von der Sehnsucht erfüllt, die Marcel und Tim in mir entfachten, als sie mich auf einer Tanzfläche zwischen sich einkeilten, mich küssten und ihre Hände über meinen Körper laufen ließen. Plötzlich höre ich eine Stimme nah an meinem Ohr, die mir mit heißem Atem zuflüstert: „Carolin, bitte erschreck nicht.“
Das ist ein weiterer schöner Traum, schießt es mir durch den Kopf und wenn ich mich nicht rühre, werde ich ihn weiter träumen - und träumen ist erlaubt.
Ich kuschele mich wohlig in meine Decke und gebe mich dem neuen Traum hin.
Neben mir drängt sich jemand auf das schmale Bett und dicht an mich heran. Ein Arm schiebt sich von hinten vorsichtig um mich und eine Hand legt sich auf meine Brust. Warmer Atem haucht in mein Haar. Es ist ein unglaubliches Gefühl und lässt einen heißen Wüstenwind über meinen Körper streichen. Diesmal ist es nur einer der beiden, der bei mir ist.
Die Hand gleitet unter den Stoff meines Pyjamas und legt sich auf meine nackte Haut.
Soll ich mich umdrehen und mich an ihn schmiegen? Es ist ein Traum und im Traum kann man sich sogar aussuchen, wen man umarmt.
Tatsächlich überlege ich, wen ich erwarte. Ich glaube, dass es Tims Stimme war, die mir ins Ohr gehaucht hatte. Aber da es ein Traum ist, kann ich mir auch Marcel vorstellen.
Langsam drehe ich mich um und meine Entscheidung ist getroffen. Im wahren Leben habe ich Marcel, also muss ich Tim in meinen Träumen meine Liebe schenken. Das ist, was meine Grübelei Stunden zuvor als die beste momentane Variante erdacht hatte.
Ich schlinge meine Arme um ihn und schmiege mich an seinen Körper, der selbst durch die Decke siedend heiß zu sein scheint. Ich höre, wie er tief einatmet und die Luft anhält.
Mein Kopf will mir etwas aufdrängen, was ich aber nicht wissen will. Ich halte mich daran fest, dass dies nur ein Traum sein kann.
Die Decke rutscht zur Seite, durch irgendetwas gezogen. Lippen treffen meine und ich erwidere den heißen Kuss, spüre die drängende Zunge an meiner und verschmelze mit ihr.
Hoffentlich träume ich so etwas nie, wenn Marcel bei mir ist. Das wäre mein Untergang, versuche ich mein Gewissen zu unterjochen, das mir einzureden versucht, dass dies kein Traum sein kann.
Eine Hand gleitet über meinen Bauch.
Gott, ist mir heiß.
Sie sucht sich einen Weg bis zu meinen Brüsten, was ich aber nur schwer registrieren kann, da mir die verlangenden Küsse den Atem nehmen. Langsam schiebt sie sich über die Wölbung meiner Brust und die Brustwarze und mir läuft ein Schauer über den Körper. Ich dränge mich ihr entgegen und spüre wie der heiße Körper an meinem erzittert. Die Hand läuft über meinen Bauch nach unten, überwindet das Bündchen meiner Schlafanzughose und schiebt sich zwischen meine Beine.
Kurz werde ich unsicher, aber die Küsse nehmen mir alle Hemmungen und alle Angst. Was für ein Traum. Willig lasse ich meine Beine auseinanderfallen und spüre etwas in mich eindringen. Das Gefühl ist unbeschreiblich und die Bewegungen entfachen ein Buschfeuer in mir. Ich stöhne auf und erhalte ein dumpfes, keuchendes Echo in meinem Mund. Etwas drängt hart an mein Bein und ein Körper schiebt sich auf mich. Die drängenden Liebkosungen zwischen meinen Beinen werden von etwas anderem ersetzt, das sich gegen den Stoff meiner Schlafanzughose drängt, die heruntergezerrt wird. Meine Lippen werden für einen Moment freigegeben und ich höre Tim stammeln: „Carolin, bitte Carolin! Ich kann unsere dumme Abmachung nicht einhalten. Ich brauche dich und muss immer an dich denken. Bitte …!“
Mit den gestammelten Worten kann ich den Gedanken, dass dies alles ein Traum ist, nicht weiter aufrechterhalten. Die Stimme klang zu real und das folgende Keuchen beim Herunterschieben meiner Hose auch. Der heiße Körper auf meinem und die feuchte Zunge an meinem Ohr, die mein Ohrläppchen liebkost und mir ihren heißen Atem ins Ohr haucht, reißt mich ganz in die Gegenwart. Ich reiße die Augen auf.
Ich bin im Krankenhauszimmer in meinem Krankenhausbett, und das seichte Licht der Straßenlaterne erhellt es von einer Seite und die Notbeleuchtung an der Tür von der anderen Seite.
Ich bin wach und dennoch ist die Hitze immer noch da, sowie der heiße Körper und die heiße Hand, die erneut zwischen meine Beine drängt, um im nächsten Moment etwas anderem Hartem, Heißem Platz zu machen, das sich seinen Weg sucht. Wieder schieben sich feuchte Lippen zu meinem Mund und verschießen ihn. Der heiße Körper schiebt sich dabei auf mir hoch und ich spüre erneut etwas, das meine Gefühle zum Kochen bringt. Aber das ist es auch, was mich erschreckt, und alle meine Alarmglocken läuten lässt.
„Tim!“, rufe ich entsetzt. Voller Angst, dass er etwas mit mir tut, dass mich unwiederbringlich ins Unglück stürzen wird, bäume ich mich auf, drehe mich zur Seite und stoße den Körper von mir runter. Eigentlich glaube ich nicht viel Kraft angewandt zu haben. Aber es rumst auf dem Fußboden.
In meiner Halswunde reißt es entsetzlich und ich habe das Gefühl, die Naht gibt nach. Ich stöhne auf.
„Scheiße!“, höre ich im selben Moment ein unterdrücktes Fluchen. „Scheiße, tut das weh.“
„Was machst du denn auch?“, fauche ich, mich aufsetzend. Dabei presse ich meine Hand auf den Verband. Ich kann nicht fassen, dass ich seinem Drängen beinahe nachgegeben habe. Ich schüttele über mich den Kopf und weiß, dass ich selbst es soweit kommen ließ, weil ich mich einfach an den Wunsch geklammert hatte, dass alles nur ein Traum ist. In mir vibriert immer noch alles und will sich am liebsten wieder in Tims Arme stürzen. Aber das geht nicht. Und um meiner Empörung, weil wir fast ohne Verhütung miteinander geschlafen hätten, freien Lauf zu lassen, fauche ich: „Spinnst du denn?“, und zerre meine Kleidung wieder an den richtigen Platz.
Tim zieht sich am Bett hoch und sein Gesicht ist schmerzverzerrt, während er seinen Oberkörper untersucht. Er flucht immer noch leise und streicht über seinen Verband.
Er tut mir nicht leid. Da es kein Traum war, musste ich ihn stoppen und was er mit mir tat, treibt mir jetzt noch die Schamesröte ins Gesicht.
Aber dann sehe ich seine dunklen Augen in dem dämmrigen Licht aufblitzen und wie er sich stöhnend auf das Bett schiebt. Er scheint wirklich Schmerzen zu haben. Das erschüttert mich dann doch.
„Tim?“
„Musste das sein? Ein Stopp hätte gereicht“, brummt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
Nah, das glaube ich nicht. Aber ich will nicht mit ihm diskutieren.
„Ich konnte nicht schlafen“, murmelt er, als wolle er sein Handeln erklären. „Ich wusste, dass du nur ein Stockwerk über mir liegst und wollte dich eigentlich nur sehen. Aber dann hast du dich so in deine Decke gekuschelt und ich dachte, dass du mich gehört hast“, raunt er leise. „Es ist unglaublich!“, redet er in einem Wortschwall weiter. „Wenn ich bei dir bin werde ich echt zum Tier.“ Er grinst wohl, denn ich sehe eine weiße Zahnreihe aufblitzen und ich bin froh, dass er sich von dem Sturz wieder erholt hat und auch noch witzig sein will.
„Siehste, das meine ich doch. Das ist alles nur dunkler Zauber“, mahne ich und weiß nur zu gut, was er meint. Aber mir wird auch klar, dass ich besser dagegen ankomme als er. Vielleicht liegt das an Marcel? Dass ich Tim und dem Fluch des Alchemisten nicht nachgebe, ist vielleicht wirklich sein Verdienst.
Tim setzt sich schwerfällig auf. „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht überfallen. Und meine Rippen waren auch dagegen, das kannst du mir glauben. Aber du machst mich echt rasend! Und ich war mir sicher, dass du es auch willst.“ Wieder grinst er mich entschuldigend an. „Und dass du mich einfach aus dem Bett schmeißt … Ich hätte mir etwas abbrechen können“, versucht er das Ganze ins Scherzhafte zu ziehen.
Draußen im Gang hören wir Stimmen und die Schwestern, die hin und her laufen. Ich hoffe nur, sie kommen nicht rein.
„Geht’s denn wieder?“, frage ich und bekomme nur schwer die Gefühle aus dem Kopf, die er in mir entfacht hatte. Beinahe hätten wir miteinander geschlafen.
Meine Gefühle diesbezüglich sind schrecklich gegensätzlich. Fast bereue ich mein Eingreifen. Hätte ich nicht noch einen Augenblick den Glauben an einen Traum aufrechterhalten können? Wenn Tim nichts gesagt hätte …
Aber mir ist auch klar, was ich verhinderte. Wenn doch nur alles ein alchemistischer Fluch ist, hätte ich schnell so enden können, wie alle Frauen in den Generationen vor mir.
„Willste nachsehen?“, fragt Tim frech grinsend und greift nach dem Bund seiner Schlafanzughose.
„Vergiss es“, raune ich mit belegter Stimme. Tim ist so ein Spinner und es scheint ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, was er mit mir anstellte. Ich spüre immer noch das Kribbeln dort, wo er seinen Finger in mich geschoben hatte und bin mir gar nicht sicher, ob ich ihn nicht doch noch in mein Bett zerre, wenn er nicht bald geht.
Plötzlich klingelt es ohrenbetäubend in der Dunkelheit und wir schrecken beide zusammen.
Es ist mein Telefon, das auf meinem Nachttisch steht.
Schnell reiße ich den Hörer herunter, in der Hoffnung, dass der Krach aufhört. Dabei starre ich auf den Hörer, als wüsste ich gar nicht, was man mit so einem Teil macht.
Tim lässt das Licht an meinem Bett anspringen und sieht mich aus seinen dunkel funkelnden Augen fragend an.
Eine Stimme am anderen Ende ruft: „Hallo … Hallo Carolin? Bis du da? Hallo?“
Ich reiße den Hörer an mein Ohr und Tim schüttelt den Kopf und lacht leise darüber, wie durcheinander ich bin. Genugtuung huscht über sein Gesicht.
Ich bin der ganzen Situation gar nicht mehr gewachsen. „Ja!“, hauche ich in den Hörer.
„Entschuldige, Schatz. Aber ich konnte dich auf deinem Handy nicht erreichen. Da habe ich gedacht, ich rufe dich auf dem Krankenhaustelefon an. Ich habe einfach die normale Nummer des Krankenhauses mit deiner Zimmernummer versucht und es geht tatsächlich“, sprudelt Marcels dunkle Stimme mir entgegen. „Ich hätte nicht einschlafen können, ohne dir vorher eine gute Nacht zu wünschen. Wegen Christiane und der dummen Krankenschwester hatte ich das Gefühl heute viel zu kurz gekommen zu sein.“
„Das tut mir leid“, stammele ich und weiß gar nicht so richtig den Zusammenhang. Ich sehe nur in Tims dunkle Augen, die sich verdrossen zu Schlitzen verengen.
„Du fehlst mir so“, höre ich und bin mir mit aufsteigendem Unmut bewusst, dass ich nun auch antworten muss.
„Du mir auch“, murmele ich, und habe nicht das Gefühl, dass das ehrlich klingt.
Ich sehe Tim vorsichtig an, dessen Gesichtsausdruck einen harten Zug annimmt. Nur mit Lippenbewegung fragt er: „MARCEL?“
Ich nicke und seine Augen funkeln wütend auf. Er streckt seine Hand aus und streichelt über meinen Arm, der den Hörer hält. Ich greife schnell danach und schiebe sie weg, die Gänsehaut ignorierend, die seine Berührung auslöst, weil die Spannung zwischen uns, mit Marcel am Telefon, unerträglich wird.
„Ich werde morgen versuchen früher zu kommen. Versprochen. Und wenn ich dich abholen kann, gehe ich so schnell nicht wieder“, stammelt Marcel wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Er ist wirklich süß. Aber Tim schiebt sich dicht an mich heran und knöpft einen Knopf nach dem anderen von meiner Pyjamajacke auf.
Ich schlage ihm auf die Finger, dass es laut klatscht. Erschrocken verdrehe ich die Augen und Tim grinst, ohne dass seine Augen den grimmigen Ausdruck verlieren. Er scheint es ernsthaft darauf anzulegen, dass Marcel von seiner Anwesenheit in meinem Zimmer erfährt. Was soll ich nur tun?
„Das brauchst du dann auch nicht“, versuche ich Marcel sinnvoll zu antworten. Aber mein Kopf ist nicht bei der Sache.
„Kann ich dann wirklich bei dir bleiben?“, fragt Marcel mit hoffnungsvoller Stimme. „Bis zum Wochenende?“
Ich will ihm einfach schnell antworten und schnell das Gespräch beenden. Tim hat sich mittlerweile noch dichter an mich herangeschoben und drängt sein Ohr dicht an den Hörer.
Ich drehe den Kopf weg, um ihm das Mithören zu erschweren. Ich will Marcel schnell antworten und brumme gerade ein „Ja“, als Tim mit einer Hand mein Kinn packt und mir einen Kuss auf den Mund drückt. Ich sehe ihn verdattert an und wage keinen Mucks zu machen, schiebe aber seine Hand energisch beiseite.
„Jetzt werde ich erst recht nicht mehr schlafen können. Hoffentlich kann ich dich morgen abholen“, höre ich Marcel sagen.
„Das wäre schön“, murmele ich und starre Tim aufgebracht entgegen, der über meine Beine steigt und sich auf meine Oberschenkel setzt. Seine Lippen legen sich wieder auf meine und er schiebt seine Zunge in meinen Mund, während seine Hände sich in mein Haar schieben.
Das geht entschieden zu weit. Ich gebe ihm mit der freien Hand einen Stoß vor die Brust, was ihn mit den Armen nach Halt rudern lässt. Dabei verheddert er sich in dem Telefonkabel und reißt mir fast den Hörer aus der Hand. Es scheppert laut, weil die Vase auf meinem Tisch davon umgerissen wird. Ich höre plätschernd das Wasser auf den Fußboden laufen.
Tim fängt sich nur mit Mühe, mich entrüstet anstarrend.
„Verdammt!“, fauche ich wütend.
Tim streicht sich über den Verband und verzieht wehleidig das Gesicht. Missmutig steigt er aus dem Bett und mustert mich mürrisch.
„Was ist bei dir los?“, höre ich Marcel fragen: „Ist alles okay?“
„Nah klar! Aber mir ist die Vase runtergefallen und ich muss jetzt erst das Wasser wegwischen, bevor die Schwester kommt“, brumme ich aufgebracht.
Ich habe echt Angst, dass wirklich eine Schwester von dem Lärm aufgeschreckt ins Zimmer stürmen könnte. Dann würde sie wegen Tim herumtoben und Marcel würde das mitbekommen.
„Okay, Schatz! Ich wollte dir auch nur eine gute Nacht wünschen. Dann schau mal, dass du meine Rose retten kannst. Sie ist eine Rose der Liebe!“ Er lacht über seinen Ausspruch. „Also bis morgen. Ich freu mich. Schlaf gut.“
„Schlaf gut“, erwidere ich und um Tim einen verbalen Schlag zu verpassen, füge ich noch hinzu: „Ich freue mich auch auf dich.“ Dabei sehe ich Tim böse an. „Bis dann, Marcel.“ Ich lasse den Hörer auf die Gabel fallen. „Verdammt, spinnst du?“, fauche ich Tim im nächsten Augenblick an.
„Ich freue mich auch auf dich“, äfft er mich nach.
„Tu ich auch“, brumme ich und klettere aus dem Bett. Schnell hole ich ein Handtuch aus dem Badezimmer und gehe um das Bett herum, um mir den Schaden anzusehen. Die Vase und die Rose liegen auf dem Tisch, und das Wasser ergießt sich in einem Rinnsal bis fast unter das Fenster.
„Und du gehst jetzt“, fauche ich Tim an, während ich das Wasser aufputze. Mir wird dabei schwindelig, was ich aber ignoriere.
Tim steht nur da und sieht mich hitzig an. „Meine Rippen tun wieder weh“, mault er plötzlich und drückt wehleidig seine Hand an die Brust.
„Selber schuld.“ Ich bringe das Handtuch in das Bad und werfe es in die Dusche. Die Rose stecke ich wieder ohne Wasser lieblos in die Vase zurück.
Tim sieht mir zu und in seinen Augen schimmert deswegen einen Augenblick lang Genugtuung. „Ist die von ihm?“, fragt er.
„Ja“, knurre ich und klettere ins Bett zurück.
Er baut sich vor meinem Bett auf und murmelt leise: „So läuft das nicht. Warum ruft dich dieser Spinner an und säuselt dir etwas ins Ohr. Bloß weil er uns geholfen hat, heißt das nicht, dass er jetzt auf irgendwas ein Anrecht hat.“ Seine Augen funkeln wütend. „Du gehörst zu mir, dass wirst du schnell begreifen. Und er ist keine Konkurrenz“, spuckt er mir wütend entgegen.
„Du spinnst doch!“, fauche ich aufgebracht: „Du bist keine Konkurrenz für ihn. Wir werden niemals …“, zische ich wütend und weiß, dass mein ganzer Körper anders darüber denkt.
„Oh doch! Natürlich werden wir. Das ist das Einzige, was Kurt Gräbler Gutes zustande brachte.“ Tim lacht grimmig auf. „Und auch du wirst auf die Dauer gar nichts dagegen tun können. Glaub mir. Das mit uns ist vorprogrammiert.“
Ich sehe ihn sprachlos an. Meine Gedanken überschlagen sich. Was meint Tim plötzlich damit? Weiß er mehr als ich?
„Hast du schon etwas herausgefunden?“ Meine schlimmsten Befürchtungen sehe ich bewahrheitet. Es gibt etwas, das mich und Tim, im Namen von Kurt Gräblers Intrigen, zueinander hinzieht. Und er weiß davon. Und doch scheint ihn das nicht zu stören.
„Erzähl ich dir, wenn wir uns wiedersehen“, weicht Tim schnell aus. „Morgen früh werde ich aber erst mal zu meinem Vater fahren.“ Er greift in seine Pyjamajackentasche und zieht einen kleinen abgerissenen Teil einer Zeitschrift heraus, auf die eine Ansammlung von Zahlen gekritzelt steht. „Meine Telefonnummer. Für den Fall, dass du sie nicht mehr hast. Jetzt, wo wir nicht mehr Gefahr laufen umgebracht zu werden, können wir uns jederzeit treffen.“ Seine Betonung liegt auf jederzeit.
„Ich ruf dich nicht an. Nicht nach der ganzen Sache hier“, maule ich ungehalten. Es ist nicht zu fassen, was er abgezogen hat, während ich Marcel am anderen Ende der Leitung hatte. Ich sehe mein Marcel-Carolin-Gerüst auf erschreckend wackligen Beinen stehen, wenn Tim in der Nähe ist und es behagt mir gar nicht, dass er es jederzeit zu Fall bringen kann. Und scheinbar ist er sich dieser Macht völlig bewusst. Seine dunklen Augen und der arrogante Zug um seinen Mund sagen das nur zu deutlich. „Rede keinen Unsinn. Natürlich rufst du mich an.“ Tim legt den Zettel auf mein Bett, beugt sich dicht zu mir vor und sieht mich durchdringend an: „Du gehörst zu mir. Daran wird nichts etwas rütteln. Ist das klar?“, bestimmt er leise und ich starre ihn fassungslos an.
Seine Wut scheint sich zu legen und ein überheblicher Gesichtsausdruck gewinnt die Überhand. „Und noch was! Du brauchst mich nicht anlügen“, murmelt er. „Ich weiß, dass du noch mit niemandem im Bett warst. Deshalb nimmst du keine Pille und stellst dich so an.“
Ich starre ihm betroffen ins Gesicht. Was soll das jetzt? Was will er von mir hören?
Doch er wartet nicht auf eine Antwort von mir, sondern schiebt sich noch näher an mich heran. Seine schwarzen Augen funkeln mir entgegen, als er flüstert: „Und das hat einen Grund!“
Ich schlucke und spüre seinen heißen Atem auf meinem Gesicht.
„Weil ich es sein soll. Und ich werde es auch sein. Freunde dich mit dem Gedanken an. Du und ich … gehören … zusammen“, sagt er nochmals eindringlich.
Er baut sich vor dem Bett zu seiner ganzen Größe auf und sieht zu mir herunter.
„Also vergiss das mit diesem Marcel. Er ist es nicht … und du wirst ihm niemals die gleichen Gefühle entgegenbringen wie mir. Das war eben offensichtlich. Wir sehen uns, wenn du aus dem Krankenhaus raus bist. Warte einfach auf mich.“ Er beugt sich schnell vor und küsst mich auf den Mund.
Bevor ich reagieren kann, lässt er mich los. Mit wenigen Schritten ist er bei der Tür und ich sehe ihm nur entgeistert hinterher. „Schlaf gut! Schatz!“, flüstert er leise, da er an der Tür Gefahr läuft, von draußen gehört zu werden. Dabei betonte er überheblich das Wort „Schatz“. Er öffnet die Tür, sieht kurz hinaus, ob die Luft rein ist, wirft mir einen Handkuss zu und geht.
Ich sitze nur mit zusammengepressten Lippen und völlig außer mir da. In meinem tiefsten Inneren spüre ich zwar das leichte Kribbeln, das seine Worte ausgelöst haben, aber meine Oberfläche schwört sich in diesem Moment Kurt Gräblers Fluch über uns niemals gewinnen zu lassen.
Ich lasse mich in mein Kissen sinken und höre mein Herz immer noch bis zum Hals schlagen. Was war das für ein idiotisches Telefongespräch. Habe ich tatsächlich gerade Marcel gesagt, dass er bis zum Wochenende bei mir bleiben kann? Und habe ich ihn damit nicht sogar wieder in seinen Gefühlen bestärkt?
Oh Mann! Tim weiß gar nicht, was wirklich bei diesem Gespräch gesagt wurde. Ich höre Marcel fragen: „Kann ich bei dir bleiben? Bis zum Wochenende?“
Habe ich wirklich Ja gesagt? Da werde ich mir noch etwas einfallen lassen müssen, um diesen Ausspruch wieder ungültig zu machen. Außerdem muss ihn mein Gesäusel glauben lassen, er wäre mein Ein und Alles. Verdammt!
Und Tim? Der dreht jetzt völlig durch. Erst schleicht er sich in mein Bett und will mit mir schlafen und dann haut er mir um die Ohren, dass er es auf alle Fälle sein wird und niemand sonst.
Ich ziehe die Decke bis unter mein Kinn und spüre augenblicklich das Kribbeln in meinem Körper, das Tim in mir ausgelöst hatte, als er mich so berührte. Ich stöhne auf und drücke meine Hand auf die heiße, feuchte Stelle, die er mit seinem Finger bearbeitet hatte. Verdammt!
Energisch ziehe ich die Hand zurück und drehe mich auf die Seite.
Wir dürfen das nicht tun. Tim sagte selbst, dass auch er glaubt, dass unsere Gefühle von dem Alchemisten ausgelöst werden. Er hatte es zugeben. Er weiß es!
Das wird keine gute Nacht. Was ist, wenn ich wirklich nichts gegen das Vermächtnis des Alchemisten tun kann? Tim scheint es drauf ankommen lassen zu wollen.
Einerseits will alles in mir sich Tim hingeben und andererseits ist da eine Angst, die mich daran hindert, dem nachzugeben. Ich bin hin und her gerissen und weiß eins ganz genau: ich will nicht so enden, wie all die anderen Frauen.
Irgendwann nach Mitternacht klingele ich völlig verzweifelt nach der Schwester und lasse mir wieder das Schlafmittel geben. Ich jammere, dass ich nur zu Hause schlafen kann und deswegen unbedingt bald nach Hause muss. Damit hoffe ich, wird man mir meinen Heimgang nicht streichen, wenn ich am nächsten Tag aussehe wie ausgespuckt.
Aber auch mit dem Schlafmittel sind Tim und Marcel meine letzten Gedanken … und Kurt Gräbler. Dass Tim plötzlich so umgeschwenkt war, verunsichert mich sogar bis in den Schlaf hinein. Er muss etwas wissen, das er mir allerdings erst bei unserem nächsten Treffen sagen will.
Unser nächstes Treffen …
Ich sehne mich danach genauso, wie ich es fürchte. Was wird dann geschehen?
Ich weiß es nicht.
Am nächsten Tag, ich habe wieder einmal versucht meinen Kopf in Waschposition zu bringen, geht es mir dementsprechend schlecht. Ich ahne, dass es heute nicht gut für mich aussieht.
Die Visite verläuft dann auch für mich erfolglos. Man vertröstet mich auf die Entscheidung des Oberarztes am Abend.
Kurz nach Mittag kommen meine Eltern vorbei. Meine Mutter ist diesmal gefasster. Ich habe das Gefühl, dass mein Vater sie bearbeitet hat. Aber kurz nach ihnen betreten zwei Beamte in Zivil mein Zimmer. Sie stellen sich meinen Eltern und mir vor.
„Polizeioberwachtmeister Krämer und Polizeiwachtmeister Edding. Wir würden gerne ihre Tochter Carolin über den Vorfall am vergangenen Donnerstag befragen. Sie kann ihre Aussage natürlich verweigern, wenn sie nicht gegen ihren Bruder aussagen möchte.“
Meine Mutter setzt sich wie zu meinem Schutz auf mein Bett und sieht die Herren groß an, die ihre Dienstmarken wieder einstecken.
„Ich finde nicht, dass sie etwas sagen soll. Oder?“ Sie sieht meinen Vater an, der nur brummt, dass irgendjemand aber sagen muss, was passiert ist.
Ich sehe von einem zum anderen und bin wieder völlig überfordert.
„Haben Sie Tim, den anderen Jungen, der dabei war, schon verhört?“, frage ich und meine Stimme zittert leicht. Ich weiß Tims Nachnamen nicht, obwohl ich ihn einmal bei einer der Schwestern gehört hatte.
„Da kommen wir gerade her. Er wird jetzt mit seinem Vater nach Hause fahren.“
Okay! Ich bin mir sicher, dass sie mir nicht sagen werden, was er ausgesagt hat. Aber mir ist klar, dass er bestimmt nicht viel Gutes über Julian von sich gab. Ob er wohl von Kurt Gräbler und unseren Träumen gesprochen hat und warum Julian das Ganze machte? Ich ärgere mich, dass wir nur uns und unsere Gefühle im Kopf hatten und kein Wort darüber verloren haben, was wir in genau diesem Fall sagen sollen.
„Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß“, raune ich und sehe in das weiße Gesicht meiner Mutter. Sie wird nie wieder glücklich werden, wenn ich Julian des versuchten Mordes bezichtige. Also beginne ich von ihm und seinen Experimenten zu erzählen, bei denen er sich mehr als einmal verletzte und lasse durchscheinen, dass er sich vielleicht auch manchmal mit irgendwelchen schlimmen Dämpfen fast um den Verstand brachte, wenn wieder einmal ein Experiment schiefging. Dass er irgendwelche Tabletten einnahm, möchte ich nicht erwähnen, weil ich davon nichts Genaues weiß. Das sollen Mama und Papa entscheiden, ob sie das zu Protokoll geben.
„Naja, und so war es dann auch wohl kurz vor seinem Ausraster“, erzähle ich weiter, während einer der Beamten an dem kleinen Tisch an der Wand alles auf einem Laptop mitschreibt.
„Er mochte nicht, wenn ich mich mit Jungen traf. Außer mit seinem Freund Marcel. Und als er mich mit Tim sah, wurde er sehr wütend. Darum schleppte er ihn in das Labor …“ Von dem beabsichtigten Unfall mit dem Auto sage ich nichts. Das ist etwas, das ich ja nicht zwangsläufig wissen kann. „… und mich auch, um uns Angst zu machen. Er wollte halt nicht, dass wir uns weiter treffen. Er schlug Tim, damit er sagt, dass er mich nie wiedersehen wird und ich beschimpfte ihn so schlimm, dass er ausrastete und nach dem Messer griff. Er wollte Tim und mir eigentlich nur Angst machen, aber ich war so wütend und trat ihm zwischen die Beine. Dabei rutschte Julian mit dem Messer aus und schnitt mich. Er verband mich aber sofort und dann kam die Polizei und holte uns aus dem Labor.“
„Marcel Blum ist der junge Mann, der die Polizei verständigte und zu dem Labor führte? Hat er auch in diesem Labor experimentiert?“
Ich meinem Magen dreht sich alles. Auf Marcel soll auf gar keinen Fall ein schlechtes Licht fallen. „Nein, er wusste von dem Labor nur von mir.“
„Und Sie waren oft in diesem Labor?“
„Nein, nur einmal. Ich hatte durch Zufall gesehen, dass Julian auf dieses Grundstück fuhr und folgte ihm neugierig. Als er dann beim Fußballspielen war, ging ich in das Labor, um zu sehen, womit Julian immer seine Zeit verbringt.“
„Und wer entdeckte das Labor auf Ihrem Grundstück?“
Ich sehe von meiner Mutter zu meinem Vater. Mir hätte klar sein müssen, dass das Labor von Kurt Gräbler nun kein Geheimnis mehr ist.
„Da ist eine Leiche drin“, sage ich leise.
„Der Leichnam von Kurt Gräbler wurde geborgen und obduziert. Nächste Woche wird er beigesetzt. Wussten Sie schon länger von dem Toten?“
Ich nicke nur und sehe auf meine Hände, die sich ineinander verkrallen.
„Warum haben Sie das nicht gemeldet?“
Gute Frage. Was soll ich darauf antworten? Weil mein Bruder mich dann umbringen wollte oder so ein Professor mich grillen würde? Es muss mir etwas Besseres einfallen.
„Ich hatte Angst. Ich war nur einmal da unten und wollte schnell vergessen, was ich dort gefunden habe.“
Haben Sie etwas aus dem Labor entwendet? Wussten Sie, wer der Tote ist? Woher wussten Sie überhaupt von dem Labor? Fragen über Fragen türmen sich vor mir auf. Ich hatte mir nie im Traum ausmalen können, wie schlimm so ein Verhör werden kann, wenn man eine Menge zu verbergen hat. Ich schliddere, wie auf einer Bobbahn, durch das Frage und Antwort Spiel und bin froh, als es endlich vorbei ist. Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich alles gesagt habe und wie sich das alles für solche Polizeibeamte anhören muss. Ich kann nur hoffen, dass ich es soweit zusammenhängend hervorbrachte, dass es auch glaubwürdig klang. Das Einzige, was ich genau weiß, ist, dass ich Julian nur als übermäßig eifersüchtigen Bruder hinstellte, der von seinen Experimenten etwas umnebelt Tim dazu bringen wollte, mich nie wiederzusehen. Dass er das alles nur tat, damit ich mit seinem Freund Marcel zusammenkomme, hört sich in meinen Ohren fast lachhaft an. Julian als heroischen Ritter für die Liebe kämpfend.
Außerdem gab ich unmissverständlich an, dass ich den Schnitt an meinem Hals mir selbst zuzuschreiben habe, weil ich Julian zwischen die Beine trat. Mehr kann ich für meinen Bruder nicht tun.
Endlich wird mir der halbe Aufsatz vorgelegt und ich setze meine Unterschrift darunter. Meine Eltern unterschreiben, dass sie Anwesend und mit dem Verhör einverstanden waren.
Ich bin fix und fertig.
Als die Männer endlich das Zimmer verlassen, sitzt meine Mutter nur da und starrt vor sich hin. Nach einer Weile setzt sie sich auf und sieht mich an. „Hättest du doch nur Julian nicht getreten, dann wäre das alles nicht so weit gekommen. Und dieser Tim, was wolltest du denn mit dem, dass Julian sich so darüber aufregte?“
Höre ich richtig?
„Hätte Julian nicht das Messer an meinen Hals gehalten, wäre das nicht passiert. Und Tim und ich wollten gar nichts. Julian ist einfach nur so ausgerastet“, brumme ich wütend.
„Was ist das denn auch für eine Geschichte mit diesem Tim? Du hast doch Marcel!“, blubbert sie weiter. „Der ist doch so ein guter Junge.“
Ich bin echt sprachlos. Was will meine Mutter mir jetzt erzählen? Das alles, was passiert ist, nur Tims und meine Schuld ist und Julian als armes Opfer gilt? Sie hat ja keine Ahnung.
Ich muss etwas sagen, was meiner Mutter den Mund verschließen wird, aus dem schon wieder die nächste Gemeinheit blubbert.
„Du hast Julian immer schon wütend ge…“, kommt gerade über ihre Lippen, als ich dazwischenfahre: „Tim ist Julians Bruder. Sie haben den gleichen Vater, der dir ja nicht ganz fremd ist.“
Meine Mutter starrt mich mit großen Augen an. Auch mein Vater dreht sich zu uns um. Er hatte die ganze Zeit mit zusammengeballten Fäusten am Fenster gestanden. Nun sieht er mich an. „Julian hat seinen eigenen Bruder zusammengeschlagen? Warum?“
„Er wollte nicht, dass wir uns treffen. Tim ist extra hierhergezogen, um Julian kennenzulernen“, flunkere ich. „Aber Julian mochte ihn nicht und ich habe mich dann um ihn gekümmert. Er ist hier ganz allein. Erst später fand er seinen Vater, der irgendwo hinter Osnabrück lebt.“
Was für eine rührende Geschichte. Zumindest denke ich, kommt meine Mutter etwas von ihrem „Mein lieber Julian macht doch nichts“ Trip runter.
„Aber was hat dieser Tim denn gemacht, dass Julian ihn nicht mag?“, versucht sie es dennoch erneut und regt mich dermaßen damit auf, dass meine Wunde am Hals zu pochen beginnt. „Mama, Tim hat nichts gemacht. Julian sitzt im Gefängnis, weil er etwas gemacht hat, verdammt. Wir anderen nicht. Schnall das doch endlich mal!“
Meine Mutter sieht mich irritiert an und bekommt schon wieder feuchte Augen. Dann wird sie plötzlich rot im Gesicht und brüllt: „Aber als wir in den Urlaub gefahren sind war alles in Ordnung. Ihr müsst etwas gemacht haben!“
Mein Vater greift nach meiner Mutter und schüttelt sie durch. „Hör auf! Es ist nicht die Schuld von Carolin oder diesem Tim. Keiner kann etwas dafür. Julian ist ausgeflippt und muss nun für seinen Jähzorn geradestehen. Er war schon immer etwas unberechenbar. Denk doch mal nach!“
Meine Mutter sackt zusammen. Ich will lieber nicht nachfragen, an was sie da im besonderen Denken soll. Mir fällt der Embryo in dem Glas ein und der Finger. Julian wird noch viele unangenehme Fragen zu beantworten haben.
„Oh, Entschuldige“, fiept meine Mutter plötzlich und lässt sich auf das Bett sinken. Sie zieht mich in ihre Arme und stammelt weinend immer wieder, dass ich ihr verzeihen soll und sie es nicht so gemeint hat. Sie ist vollkommen durch.
Mein Ärger verfliegt allmählich. Aber ein beißender Nachgeschmack hängt in meinem Hals und in meinem Herzen und in meiner Seele. Was gesagt ist, ist gesagt. Und meine Mutter ist einfach die unfähigste Person der Welt, wenn es um Problembewältigung geht.
Mein Vater kommt auch zu uns und umarmt uns beide. „Wenn du erst wieder zu Hause bist, wird alles besser.“
Ich habe eigentlich genug und bin fast entschlossen doch noch hier im Krankenhaus zu bleiben. Langsam drücke ich meine Eltern beiseite, um sie anzusehen. Ich schaue erst in das verheulte Gesicht meiner Mutter und dann in das unglückliche meines Vaters. Immer noch aufgebracht murre ich: „Ich werde morgen Vormittag wahrscheinlich entlassen werden. Marcel holt mich ab.“ Am liebsten hätte ich noch gesagt, dass Tim mich besuchen wird, wann immer er will und ich eine Taschengelderhöhung brauche und einen neuen Fernseher, und das Geld für meinen Führerschein und ein Auto zum achtzehnten Geburtstag. Ich möchte diese miese Stimmung am liebsten richtig ausschlachten, so wütend bin ich.
„Oh, Marcel. Gut!“, antwortet mein Vater. „Ich werde ihm auch das Spritgeld geben.“
Was soll das denn jetzt?
„Das brauchst du nicht. Das macht er auch so.“
„Er ist so ein lieber Junge“, heult meine Mutter auf wie ein getretener Hund.
„Und ich möchte, dass ihr jetzt geht. Wir sehen uns morgen dann zu Hause. Ich möchte mich noch ausruhen, damit ich bei der Visite heute Abend fit bin.“
Das klingt sogar in meinen Ohren etwas zu böse. Aber ich habe mich noch immer nicht von den Anschuldigungen meiner Mutter erholt.
„Ist gut“, sagt mein Vater nur und steht auf. Meine Mutter zieht er von meiner Bettkante hoch und nimmt sie schon mal einen Schritt beiseite.
Sie sieht mich traurig an und nickt dann. „Was ich gesagt habe tut mir leid“, jammert sie erneut.
„Schon gut! Ich will nichts mehr davon hören. Wir reden morgen wieder, wenn ich zu Hause bin“, brumme ich gnadenlos.
Zwar liegt mir nichts an Gesprächen mit meinen Eltern, aber es soll auch mehr eine Drohung sein. Würde sie je wieder Tim oder mich beschuldigen, an Julians Problemen schuld zu sein, dann werde ich zum Tier. Es gibt nur einen Schuldigen: Kurt Gräbler! Und nach ihm meine Mutter und ihr damaliger Lover … der Vater von Tim und Julian. Schließlich hatten sie ihre Finger nicht voneinander lassen können wie … Tim und ich!
Der Gedanke sticht mir wie ein Messer in die Eingeweide. Erschrocken denke ich, was dabei herauskommen kann, wenn Tim und ich auch nachgeben.
Sie gehen und in meinem Inneren wütet immer noch die Erinnerung an die gesagten Worte meiner Mutter, der schlechte Nachgeschmack des Verhöres und die erschreckende Erkenntnis, was Tim und mich betrifft. Ich kann nur hoffen, dass Marcel bald kommt und mich auf andere Gedanken bringt. Er erscheint mir als einziger heller Punkt an meinem persönlichen tiefdunklen Himmel.
Aber es dauerte noch einen endlosen Nachmittag, an dem mich meine Gedanken fast um den Verstand bringen.
Als endlich die Tür aufgeht und Marcel hereinkommt, hat er kaum Zeit, es bis auf meine Bettkante zu schaffen. Ich erzähle ihm aufgebracht von dem Verhör und von den Aussprüchen meiner Mutter. Von Tim und mir kann ich ihm ja nichts erzählen.
Fassungslos sieht Marcel mich an: „Ja, spinnt die denn, euch die Schuld zu geben?“
Er zieht seine Schuhe aus und legt sich wie selbstverständlich auf mein Bett. Mich tröstend in seinen Arm ziehend, drückt er meinen Kopf an seine Brust. Sein lauter Herzschlag nimmt mich gefangen und beruhigt mich etwas. Ich lege meine Hand auf seinen Bauch und gebe mich einfach nur seiner Wärme hin. So liegen wir da und sagen nichts. Das ist der erste ruhige, schöne Moment an diesem Tag.
Fast schlafe ich ein, als Marcel sagt: „Komisch. Auch ich habe bei meiner Aussage so getan, als wäre Julians Angriff auf dich eher ein Versehen. Frag mich nicht, warum. Ich konnte dir das nicht sagen, weil ich Angst hatte, dass du mich dann hasst. Aber da du selbst eine ähnliche Aussage gemacht hast …“
Ich sehe an ihm hoch in sein Gesicht.
„Ich denke, dass wir es auch anders gar nicht wahrhaben wollen. Du kanntest Julian vor dem Übergriff wahrscheinlich besser, als wir alle“, sage ich. „Du hast ihn auf einer Ebene kennengelernt, auf der kannte ich ihn nicht. Mit uns hat er gegessen und unter einem Dach geschlafen … mehr nicht.“
Mir kommen die vielen Momente in den Sinn, in denen Julian bei mir war und mir oftmals Angst machte, und dass er immer wieder drohte, unser eh nur halbes Geschwisterverhältnis ganz zu vergessen. Aber das will ich Marcel nicht sagen. Er hat das wahrscheinlich schon nicht geglaubt, als ich ihm das zu Tims Schutz steckte und auch nicht, als ich es beim Pizzaessen in unserer Küche wiederholte.
„Ich glaube nicht, dass ich ihn besser kannte. Du weißt, dass ich mich nur mit ihm anfreundete, um etwas über die Geschichte herauszubekommen, die mir mein Großonkel erzählt hatte. Und Julian sah in mir nur den Nutzen, den mein Auto und meine Bereitschaft, ihn überallhin zu fahren, brachte. Wir waren eigentlich keine Freunde und es wäre nie soweit zwischen uns gekommen, wenn ich dir nicht begegnet wäre.“
Ich kuschele mich dichter an seine Brust und überlege, wann ich Marcel eigentlich das erste Mal gesehen habe. Er war schon oft auf unseren Hof gefahren und hatte Julian nach Hause gebracht, ohne dass ich auch nur einen Blick an ihn verschwendete. Für mich war er halt nur der Freund meines Bruders. Erst als dieser ihn auf die Terrasse mitbrachte und mich zu dem Kinobesuch nötigte, nahm ich Marcel wirklich wahr. Und dass zu dieser Zeit auch eher negativ. Schließlich war das Ganze von Julian eingefädelt gewesen und mich interessierte zu dem Zeitpunkt nur Tim.
Auch Marcel scheint seinen Gedanken nachzuhängen. Leise murmelt er, als hätte er die gleichen Gedankengänge: „Ich habe dich das erste Mal im letzten Herbst auf der Bank vor eurem Haus gesehen. Du hattest dich lang darauf ausgestreckt und eine Katze auf dem Bauch und eine auf den Beinen krabbeln gehabt, und du warst ganz in ein Buch vertieft. Du hast nicht mal aufgeschaut, als Julian ausstieg und ich hatte mir mit dem Zurücksetzen und Wegfahren Zeit gelassen, in der Hoffnung, nur einen Blick von dir erhaschen zu können. Aber nichts …“ Er lacht leise.
Ich rühre mich nicht. Letzten Herbst? Das ist schon ewig her und wirklich peinlich, dass ich immer die unnahbare Grazie spielte. Aber Julians Freunde waren bisher für mich immer völlig tabu gewesen.
„Du warst wirklich schwer dazu zu bringen, mir auch nur einen Augenblick zu schenken“, fährt Marcel leise fort. „Ich versuchte mehrere Male länger zu bleiben. Aber Julian ließ mich nicht mal aussteigen. Er war so störrisch. Und dann, auf einmal, wollte er, dass ich mich mit dir treffe.“ Marcel streicht mir sanft über die Wange.
„Für eine kostenfreie Fahrt zum Fußballplatz“, murmele ich fast unhörbar.
„Was?“, fragt er nach.
Doch ich antworte ihm nicht. Ich reibe nur meine Nase an seiner Brust und wechsele etwas die Stellung, damit mein Hals entspannen kann. Aber es tut so gut, bei ihm zu liegen und aus dem Fenster zu schauen. Draußen ist wieder das schönste Sommerwetter.
„Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich war, als du nach etlichen Monaten mit mir ins Kino fahren wolltest. Ich habe überhaupt nicht mehr damit gerechnet“, flüstert er, als wäre die Erinnerung an die Zeit schmerzhaft. Er muss durch meine abweisende Haltung wirklich gelitten haben, und das tut mir jetzt wirklich leid. Und er ahnt nicht, dass ich nur mit ihm mitgefahren war, um in Erfahrung zu bringen, ob er und Julian etwas gegen Tim planen. Ich hatte Marcel so falsch eingeschätzt.
„Und dann hast du im Kino den ganzen Popcorneimer allein leergegessen“, sagt er und lacht wieder leise.
„Stimmt ja gar nicht. Ein bisschen habe ich dir schon abgegeben. Und weißt du warum?“
Ich sehe auf und habe das Bild noch so klar vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
Er schüttelt den Kopf.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihm wirklich sagen soll. Ich kann nicht so frei über Gefühle sprechen wie er. Doch ich entscheide mich für die Wahrheit.
„Du hast immer deine Kappe so tief im Gesicht sitzen gehabt und ich hatte keine Ahnung, wie du wirklich aussiehst. Ich war mir sicher, dass du ganz schlimm aussehen musst oder schrecklich schielst.“ Ich grinse ihn frech an. „Und dann nahmst du plötzlich die Kappe ab und hast dir das Haar zurückgestrichen. Das war der Rest des Popcorns wert.“ Ich muss über seinen überraschten Gesichtsausdruck lachen.
„So war das also? Du hast geglaubt, dass ich schiele?“, raunt er gespielt aufgebracht und beugt sich über mich, um mir einen Kuss zu geben. Er sieht mich an und küsst mich erneut, drängender und leidenschaftlicher und ich lege meine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn dichter an mich heran, um den Kuss erwidern zu können. Mein Vorsatz vom Vortag, ihn besser etwas auf Abstand zu halten, ist vergessen.
Vor der Tür hören wir Stimmen und ich gebe ihn schnell frei.
Marcel springt aus dem Bett, flitzt zum Stuhl und wirft sich darauf, als die Tür aufgeht.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
Es ist die Visite und mir fällt ein, was heute auf dem Spiel steht. Hoffnungsvoll sehe ich ihnen entgegen und keine 5 Minuten später verschwindet der ganze Pulk Ärzte wieder, wie eine dunkle Gewitterwolke.
Marcel sieht unglücklich aus. „Nah, toll“, knurrt er aufgebracht: „Ich kann dich also morgen nicht mit nach Hause nehmen. So ein Mist.“
Der Oberarzt hatte beschlossen mich noch einen Tag länger dazubehalten. Ich bin etwas traurig darüber, wenn ich auch, nach dem heutigen Tag, kaum Lust auf mein Zuhause und meine Eltern verspüre.
Marcel kommt wieder an mein Bett und setzt sich auf die Bettkante. Er nimmt meine Hand und küsst meine Fingerspitzen. Aber sein Blick sagt mir, dass er wirklich unglücklich ist.
„Ich habe mit einem Arbeitskollegen die Schicht getauscht, um dich morgen abholen zu können. Aber das wird ja jetzt wohl nichts“, raunt er.
„Oh Mann, du sollst dir doch nicht so viel Stress machen. Meine Eltern holen mich auch ab. Das brauchst du nicht“, erwidere ich. „Und nach dem heutigen blöden Gequatsche von meiner Mutter zieht mich auch nichts nach Hause. Vielleicht ist es besser, wenn ich noch ein wenig hierbleibe.“
Es geht nicht nur um meine Mutter. Dass Tim nicht mehr im Krankenhaus ist, vereinfacht meinen Aufenthalt hier, auch wenn der Gedanke an ihn mir einen Stich versetzt. Er war gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Er fehlt mir jetzt schon schrecklich.
Ich sehe in Marcels Gesicht und er sieht mich seltsam an. „Ich hätte dich schon lieber bei dir Zuhause. Da schmeißt mich wenigstens niemand raus.“
Wieder küsst er meine Fingerspitzen und ich kann nur antworten: „Ich weiß nicht. Mein Vater wird da auch nicht gerade zimperlich sein.“
Marcel sieht auf und seine Augen verengen sich verunsichert. „Meinst du, dein Vater macht Stress, wenn ich bei dir bleibe?“
Dieses ‚bei mir bleiben‘ rumpelt in meinem Kopf. „Kommt drauf an, was du darunter verstehst?“
„Was ich darunter verstehe? Du hast mir gestern Abend gesagt, ich kann bei dir bleiben. Warum sagst du das jetzt so komisch? Willst du das nicht mehr?“, murrt er.
Das war gestern … und weil Tim bei mir war. Jetzt verunsichert mich die Aussicht, dass Marcel wohl auch seine Nächte bei mir einplant.
„Doch schon! Aber meine Eltern …“
„Das kläre ich schon“, raunzt er, keine Widerworte duldend. „Mach dir da mal keine Sorgen. Ich rede noch mit ihnen.“
Ich habe das Gefühl, mein weiteres Leben bestimmt jetzt ausschließlich er … und Tim.
Erst am Samstag werde ich entlassen.
Schon am Vormittag scheint die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel auf uns herab, als wir in Marcels Golf Richtung Heimat fahren. Ich genieße die warme Luft, die mir durch das offene Fenster entgegenflutet. Im Auto läuft schöne Musik und als ich Marcel einen Seitenblick zuwerfe, sieht er mich lächelnd an.
Leider ist mir nicht ganz so fröhlich zumute. Ich habe etwas Angst vor meinem Zuhause, in dem nicht nur meine Eltern warten, sondern auch die vielen Erinnerungen, das Labor von Kurt Gräbler, und das leere Zimmer von Julian.
Irgendwie fürchte ich auch einen erneuten Ausbruch meiner Mutter, die wohl nie verkraften wird, dass Julian nicht ganz so lieb ist, wie sie meint. Sie hatte sich zwar in den letzten Tagen zusammengerissen, aber dennoch versuchte sie immer wieder herauszufinden, was Julian so verändert hat. In ihren Augen muss irgendetwas Julian dazu gebracht haben, mich und Tim anzugreifen.
„Du machst dir Sorgen wegen deiner Eltern?“, fragt Marcel mit plötzlich ernstem Gesicht, als könne er meine Gedanken lesen.
Ich nicke und sehe weiter aus dem Seitenfenster. Es ärgert mich, dass ich dem Ganzen nicht völlig locker und vorbehaltlos entgegentreten kann. Aber ihm war in den vergangenen Tagen nicht entgangen, dass ich mir Sorgen mache, weil meine Mutter mich irgendwie für mitschuldig hält. Zumindest glaubt Marcel, dass dies der einzige Grund ist, warum ich mich so schlecht erholte. Auch das meine Entlassung immer wieder verschoben wurde, ließ ihn denken, dass es damit zusammenhängen muss. Doch es ist weit mehr als das. Tim hat sich nicht einmal mehr bei mir gemeldet.
Da wir immer dachten, dass ich nur noch einige Stunden im Krankenhaus bleiben muss, hatten wir nie das Telefon angemeldet, damit ich jemanden anrufen konnte. Das hielt auch keiner für nötig, weil alle mich anriefen. Christiane mehrmals täglich, wenn ihr langweilig war. Marcel, wenn er meine Stimme hören wollte, was oft vorkam. Und meine Eltern, wenn sie fragen wollten, was der Oberarzt gesagt hat.
Nur Tim meldete sich nicht ein einziges Mal, was mich mehr mitnahm, als ich mir eingestehen wollte.
So hatte ich noch einige Tage Verlängerung aufgebrummt bekommen.
Trotz dem beklemmenden Gefühl wollte ich nun aber unbedingt nach Hause. Ich konnte einfach dieses Krankenhauszimmer, die nächtliche und frühmorgendliche Unruhe auf der Station und das Essen nicht mehr ertragen. Außerdem will ich mehr Zeit mit Marcel verbringen. Er hatte sich weit in mein Herz gespielt und Tim daraus verdrängt.
Nach einer längeren Zeit der Stille bricht Marcel das Schweigen. „Ich war gestern Abend noch bei ihnen“, höre ich ihn mit belegter Stimme sagen. Mein Blick richtet sich wieder auf das ebenmäßige Profil meines Fahrers und ich hoffe mich verhört zu haben. Was wollte er bei meinen Eltern?
Er sieht so aus, als wäre er sich nicht sicher, was nun folgt und sieht nur mit ernstem Blick vor sich auf die Straße. Schnell ziehen die Baumreihen an uns vorbei.
„Warum?“, frage ich verdutzt.
Marcels Finger umspannen das Lenkrad fester und er antwortet leise: „Ich war wütend, weil sie so unfair zu dir sind und wollte einiges mit ihnen klären.“
„Einiges mit ihnen klären?“, frage ich entsetzt.
„Ja, ich habe ihnen gesagt, dass ich dich mit zu mir nehme, wenn sie Schwierigkeiten machen.“
Mein Kopf will nicht erfassen, was ich da höre. Das ist so verwirrend für mich, dass ich nicht mal weiß, was ich darauf antworten soll.
„Und sie sind froh, dass ich mich um dich kümmere und aufpasse, dass es dir gut geht. Es hat schließlich auch lange genug gedauert.“ Er wirft mir einen schnellen Blick zu.
„Was? Wie jetzt?“, frage ich verwirrt.
Wie aus der Pistole geschossen brummt er: „Okay, ich habe ihnen halt gesagt, dass du nach der Geschichte mit Julian nicht mehr richtig schlafen kannst und schlimme Träume hast, und alles für dich zu viel ist und du deshalb so schlecht gesund wirst. Naja, und dann halt, dass ich die nächste Zeit bei dir bleiben werde, um auf dich achtzugeben oder dich mit zu mir nach Hause nehme, wenn sie mir das nicht erlauben.“
Er hätte damit einen Preis für schnelles Reden gewinnen können.
Ich sehe ihn nur verständnislos an. „Wie, die nächste Zeit?“, frage ich irritiert.
„Naja, halt die nächste Zeit. Solange du es mir erlaubst“, raunt er bei meinem Blick verunsichert.
Erst langsam geht mir ein Licht auf, und was mir da so beleuchtet wird ist nichts, was ich wirklich gut finde. Ich brauche keinen Babysitter!
Tim fällt mir ein und dass ich ihn nicht treffen kann, wenn Marcel ständig da ist.
Aber ich kann Marcel unmöglich sagen, dass ich nicht will, dass er an mir hängt wie eine Klette.
„Ich brauche doch keinen Schutz oder so. Ich komme schon klar!“, blaffe ich ein wenig zu entrüstet.
Er sieht weiter auf die Straße und dennoch sehe ich den traurigen Schleier, der sich über seine Augen legt. Aber er nickt, als wäre er darauf gefasst gewesen. Einige Zeit fahren wir schweigend weiter.
Ich kann nicht anders. Dieser Blick von ihm schmerzt mich. Ich will nicht, dass er unglücklich ist. „Aber wenn du meine Eltern schon um den Finger gewickelt hast … heute lasse ich dich eh nicht mehr weg. Morgen Abend sehen wir dann, was wird“, sage ich und hoffe, er wird wieder lachen können. Ich bin es ihm schließlich irgendwie schuldig und außerdem will ich heute nicht allein in diesem Haus und mit meinen Erinnerungen sein. Er hatte mich schon einmal mit seiner Nähe so beruhigt, dass ich schlafen konnte. Das war in der Nacht bei ihm zu Hause.
Erst reagiert Marcel gar nicht. Aber dann sehe ich ein verstecktes Lächeln in seinen Mundwinkeln und seine Augen leuchten, während er seinen Blick weiter auf die Straße gerichtet hält. Er lässt sich noch für die Antwort Zeit. Dann raunt er völlig überzeugt und seine Stimme klingt noch eine Nuance tiefer als sonst: „Ich wäre heute sowieso nicht gegangen, egal, was du sagst.“
„Soso!“ Ich lache darüber, muss aber gestehen, dass mich seine bestimmende Art verwirrt. Mir wird klar, Marcel kann auch sehr dickköpfig sein, wenn er etwas will.
Wir fahren wenig später auf unseren Hof und mein Blick fällt auf den Fachwerkgiebel, den Anbau, in dem sich mein und Julians Schlafzimmer im obersten Stockwerk befinden und gleitet dann zu dem alten Kornspeicher, hinter dem der Garten mit dem Labor liegt. Wie es dort wohl aussieht? Ich stelle mir das Ganze mit Absperrungen und Nummerntafeln, die im Boden stecken, und zertretenem Rasen vor.
Marcel steigt aus und holt meine Tasche aus dem Kofferraum. Dann hält er mir die Tür auf, als ich keinerlei Anstalt mache, aussteigen zu wollen.
„Komm!“, raunt er und nimmt meine Hand.
Ich schiebe mich aus dem Sitz und sehe mich um, als wäre ich noch nie hier gewesen.
„Wir bringen erst deine Tasche in dein Zimmer. Wenn du willst können wir dann etwas in die Sonne gehen“, meint er, als wäre er hier zu Hause und ich nur Gast.
Er zieht mich zur Tür. Sie ist nicht abgeschlossen und im Gang kommen uns meine Eltern entgegen.
„Hallo Carolin. Schön, dass du wieder da bist!“, ruft meine Mutter überschwänglich und nimmt mich in den Arm.
Ich muss sie daran erinnern, dass sie mich nicht zu sehr drücken darf.
Mein Vater begrüßt mich nicht weniger überschwänglich. Aber während meine Mutter auch Marcel freundlich entgegentritt, ist mein Vater ihm gegenüber weniger offenherzig. Ich frage mich, was wirklich am Abend zuvor hier los gewesen ist.
Scheinbar ist mein Vater nicht mehr begeistert von dem jungen Mann, der ihm nun ganz offensichtlich seine Tochter streitig macht. Und wenn Marcel wirklich mit ihnen so geredet hat, wie er es mir im Auto schilderte, dann ist klar, dass mein Vater damit nicht zurechtkommt. Aber ich bin 17 Jahre alt und da ist es verständlich, dass ich irgendwann in nächster Zeit einen festen Freund haben werde, der auch mal bei mir schläft.
Ein erschreckender Gedanke schießt mir durch den Kopf. Ich drehe mich zu Marcel um, weil mir erst jetzt klar wird, was er eigentlich meinen Eltern gesagt hatte. Er wird heute Nacht bei mir schlafen und wenn sie das nicht erlauben, dann nimmt er mich mit zu sich. Sie müssen denken, dass wir miteinander schlafen wollen. Was sonst tuen junge Leute zusammen, wenn sie sich ein Bett teilen?
Mir versagen fast die Beine.
„Carolin, ist alles in Ordnung?“, fragt Marcel und sieht mich verdattert an. „Du wirst so blass.“
„Geht schon“, murmele ich nur und gehe ohne ein weiteres Wort die Treppe zu meinem Zimmer hoch.
„Carolin?“, höre ich meine Mutter irritiert rufen.
„Ich kümmere mich um sie. Das ist alles noch ein wenig zu viel“, höre ich Marcels dunkle Stimme und gehe auf mein Zimmer zu. Als ich die Tür öffne, scheint mir durch das Fenster heller Sonnenschein entgegen. Das Zimmer ist aufgeräumt und das Bett frisch bezogen.
Augenblicklich geht es mir besser. Ich liebe diesen Raum und er ist meine Zuflucht vor der Welt da draußen.
Langsam schlurfe ich zu meinem Sofa und lasse mich darauf fallen.
Marcel kommt ins Zimmer, stellt meine Tasche an die Seitenwand und sieht sich um. Er kennt meinen Zufluchtsort noch nicht.
Verlegen lächelt er mich an, kommt zu mir und setzt sich neben mich. Vorsichtig schiebt er seinen Arm um mich und zieht mich an sich. „Hey, mein Schatz. Was ist denn plötzlich los? Es ist doch alles okay. Ich bin doch bei dir.“
Er hat recht. Was ist mit mir los? Auch wenn er heute Nacht bei mir bleibt, warum erfasst mich deswegen Panik? Er wird nichts von mir verlangen, was ich ihm nicht freiwillig geben will. Er ist Marcel und nicht Tim! Und es wäre ja nicht die erste gemeinsame Nacht und im Krankenhaus hatten wir auch oft zusammen auf dem Bett gelegen und uns nicht nur im Arm gehalten. Marcel hatte mich dabei immer tiefer in einen See von Gefühlen gezogen, der immer mehr überzulaufen drohte. Seine Küsse und Berührungen brachten mich oftmals ganz schön ins Schwitzen, wenn er auch nicht das getan hatte, was Tim schon mit mir tat.
Ich will doch mehr von Marcel. Warum macht mich das jetzt so nervös?
„Es geht schon wieder. Ich muss mich nur ein wenig erholen“, seufze ich und lasse mich ganz in seinen Arm fallen. Wovor habe ich eigentlich solche Angst?
Meine Mutter will an diesem Tag tatsächlich ein richtiges Essen kochen. Sie kam in mein Zimmer, um uns das mitzuteilen und sah mich und Marcel auf dem Sofa sitzen, dicht aneinandergeschmiegt. Sie hat deswegen sogar gelächelt.
Da sie selbst etwas kocht, bereite ich Marcel darauf vor, dass dies ein fragwürdiges Erlebnis werden kann. Er sieht das gelassen und ich bin von seiner ruhigen, ausgeglichenen Art wieder beeindruckt. Sie ist imstande, über uns ein weiches Tuch zu legen, das mein unruhiges Innere immer mehr besänftigt.
Es geht mir langsam wieder besser. Der erste Schock, dass ich ernsthaft meinem ersten Mal entgegensehe, ist überwunden. Marcel kümmert sich rührend um mich und ist eher zurückhaltend mit Zärtlichkeiten. Irgendwann sorgt er dafür, dass ich mich lang auf dem Sofa ausstrecke und mich ausruhe, während er meine Tasche ausräumt und mein Handy ans Ladekabel legt.
Nun kniet er sich vor mein Sofa. „Ich hole dir was zu trinken. Was magst du?“, fragt er und ich bitte um ein Glas Wasser.
Er schlüpft durch die Tür aus dem Zimmern und ich höre ihn die Treppe hinunterpoltern.
Unschlüssig stehe ich auf und finde mich an meinem Handy wieder. Ich muss es erst einschalten und den Pin eingeben, bevor es wieder zum Leben erwacht und mit einem schrillen Ton eine ankommende SMS ankündigt. Sie ist von Christiane. Nicht von Tim. Dabei hat er doch meine Nummer.
Statt Christianes SMS zu öffnen, zieht mich etwas zu meiner Jacke und ich greife in die Tasche. Ein zerknüllter Zeitungsabschnitt, von dem mich eine Nummer anlacht, kommt zum Vorscheinen. Tims Telefonnummer. Ich vergleiche sie mit der, die ich bei unserem zweiten Treffen an der Wanderhütte in mein Handy abgespeichert hatte. Es ist dieselbe. Also muss Tim noch das gleiche Handy haben.
Die Hoffnung, dass Tim sich nicht bei mir gemeldet hat, weil er ein neues Handy mit neuer Nummer hat, auf dem meine Nummer nicht vorhanden ist, stirbt somit. Mein Herz beginnt beunruhigt zu pochen und ich werfe einen Blick zur Tür. Schnell schreibe ich Tim eine SMS.
„Ich bin zu Hause und es geht mir gut. Wie geht es dir?“
Die Tür geht auf und Marcel kommt mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser herein. Er ist länger weg gewesen, als nötig und ich denke mir, dass er erneut mit meinen Eltern gesprochen hat.
„Christiane hat mir geschrieben. Ich schreibe ihr eben zurück“, sage ich schnell.
Marcel nickt und stellt die Gläser auf den Schreibtisch, um sie mit Mineralwasser zu füllen.
Mir fällt es schwer, Christiane zu schreiben, weil ich gar nicht weiß, was ich ihr mitteilen sollte. „Bin zu Hause. Marcel ist bei mir. Wir telen Montag“, schreibe ich in Windeseile.
Ich mache das Handy wieder aus, um Antworten nur dann lesen zu können, wenn ich allein bin und lege es beiseite.
Marcel lächelt mir entgegen und mein erneut aufgewühltes Innere beruhigt sich allmählich wieder. Er hat eine beschwichtigende Wirkung auf mich, die mir immer wieder guttut.
Jetzt steht er lächelnd da und wartet darauf, dass ich zu meinem Sofa zurückkehre, damit er mir mein Glas Wasser reichen kann, bevor er neben mir Platz nimmt. Ich bin gerne mit ihm zusammen und wenn es nicht diese unglaublich heftige Zuneigung zu Tim gäbe, dann wäre ich mir sicher, Marcel auch wirklich lieben zu können. Da ich und Tim aber nie zusammenkommen dürfen, werde ich mit Marcel zusammen sein und wahrscheinlich auch mit ihm schlafen … irgendwann.
Dennoch habe ich Tim gerade geschrieben … heimlich, als wolle ich fremdgehen.
Ich sollte mich wirklich auf das konzentrieren, was offensichtlich besser für mich ist.
Marcel legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Ich sinke tief seufzend an seine Brust und beschwöre das Gefühl herauf, froh zu sein, weil er bei mir ist. So soll es bleiben. Ich will mit ihm glücklich sein.
Marcel strahlt eine unglaubliche Ruhe aus und verlangt nichts. So sitzen wir auf dem Sofa und meine anfängliche Unsicherheit und mein Unwohlsein legen sich in dem starken Arm, der mich umfangen hält. Seine Hand umschließt meine und sein Gesicht liegt in meinen Haaren und ich spüre seinen warmen Atem, der meine Haare leicht verwirbelt. Aber ansonsten bleibt Marcel zurückhaltend und wir hängen beide unseren Gedanken nach.
Meine wandern erbarmungslos wieder zu Tim. Warum hat er sich die letzten Tage nicht einmal gemeldet? Waren seine Worte von Zusammengehörigkeit nur leeres Geschwätz? Ich fühle mich von ihm wie betrogen und versetzt. Es schmerzt mich und macht mich wütend, weil er mir so viel versprochen hatte. Damit weckte er in mir eine Sehnsucht und Hoffnung, dass wir wirklich zusammengehören, und es nichts mit dem Alchemisten zu tun hat.
Aber was ich auch versuche, ich kann das Gefühl, mit ihm zusammen sein zu wollen, nicht unterdrücken.
Aufgebracht setze ich mich auf und sehe Marcel an, der mich mit seinen grauen Augen mustert. „Alles in Ordnung?“, fragt er verunsichert und ich nicke. Aber ich kann nicht mehr ruhig sitzen. Der Gedanke, dass Tim mich abgeschrieben hat, erschüttert mich und nimmt mir die Luft.
„Komm, lass uns Essen gehen“, murre ich und ziehe ihn vom Sofa.
Scheiß was auf Tim. Ich habe doch Marcel und er ist alles, was ich will. Fertig.
Meine Eltern sind beim Essen wie ausgewechselt. Sie verhalten sich wieder normal und außer dem gar nicht so üblen Essen ist es wie in alten Zeiten, bloß mit Marcel an meiner Seite, statt Julian.
„Was habt ihr denn heute Nachmittag vor?“, fragt mein Vater.
„Ich denke, wir suchen uns ein Plätzchen im Garten“, antworte ich und sehe verunsichert auf, bei der Erinnerung an das, was unser Garten zu bieten hat.
„Das ist schön“, antwortet meine Mutter nur und ich sehe sie irritiert an.
„Was ist aus dem Labor dort geworden?“, frage ich und schiebe mir eine Kartoffel in den Mund.
Mein Vater beginnt nach einer kurzen Pause und einem schnellen Blick zu meiner Mutter zu erzählen, was sie nach ihrer Heimkehr vorgefunden hatten.
„Das war echt gruselig, da so ein Loch im Garten zu haben, mit einem Raum darunter. Wer hätte das gedacht? Und dass dort drinnen noch die Leiche von Sophies Urgroßvater lag - echt schlimm!“ Er sieht mich an, als würde ihm erst jetzt etwas klarwerden. „Und du hast davon gewusst und warst sogar dort unten! Mensch Kind, warum hast du uns nie etwas gesagt? Es muss doch ein schrecklicher Albtraum für dich gewesen sein.“
Ich sehe ihn nur an und schüttele den Kopf. Meine ganze Kindheit war von Albträumen geprägt. Da war das nicht viel schlimmer.
Meine Mutter sagt, als wolle sie auf gar keinen Fall ein Gespräch auf das lenken, was ich kürzlich alles erlebt habe. „Es hatte wohl einen Brand in dem Labor gegeben, weswegen mein Urgroßvater damals starb. Und nun dürfen wir ihn am Dienstag beerdigen. Nach so vielen Jahrzehnten, in denen niemand wusste, was aus ihm geworden war. Ich werde ihm einen besonders schönen Grabstein aussuchen.“ Sie sieht traurig aus und mich überkommt sofort der Gedanke, dass auch sie mehr mit ihm verbunden sein könnte, als jemand aus normalen Familien mit verstorbenen Urgroßvätern verbunden ist, die sie dazu noch nicht mal selbst kennengelernt hatten.
„Das machen wir natürlich“, sagt mein Vater und legt seine Hand auf ihre.
Marcel und ich werfen uns einen verstohlenen Blick zu. Ich hätte gerne gewusst, was er darüber denkt.
„Aber ich habe da noch etwas anderes, was ich gerne angesprochen hätte“, greift mein Vater nach einiger Zeit ein neues Thema auf. Da er aber wie wild an seinem Kotelett säbelt, wird mir gleich klar, dass es etwas Unangenehmes sein wird. Ich kenne meine Eltern zu gut. Als meine Mutter dann auch noch meinem Vater einen schnellen Seitenblick zuwirft, wird mir mulmig.
„Naja, es geht darum …,“ mein Vater räuspert sich ein paar Mal, als hätte er sich verschluckt: „das Marcel bei dir schlafen will.“
Oh ne. Nicht die Blümchen und Bienchen Geschichte.
„Ach, Papa. Darüber brauchen wir nicht zu reden. Marcel und ich sind doch keine kleinen Kinder mehr. Außerdem schläft er bei mir und nicht mit mir … und wenn doch, dann werden wir natürlich verhüten.“
So, ich hoffe damit ist alles geklärt. Ich bin mit Tim durch eine harte Schule gegangen, die sich nun auszahlt. Ich werde nicht mal rot.
An dem Blick meiner Eltern sehe ich, dass sie kurz vor einem Herzinfarkt stehen. Sie scheinen geschockt zu sein, wie ich Problemgespräche führe und ich muss sagen, es tut gut, ihnen das einmal zu zeigen. Sie sind darin alles andere als Meister.
„Gut. Okay“, stammelt mein Vater nur. Was soll er sonst auch sagen?
Ich werfe Marcel einen Blick zu. Aber auch er scheint kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. Er sieht wirklich erschrocken aus. War es das Thema oder meine Aussage dazu, die ihn dasitzen lässt wie aus Marmor.
„Ja, oder?“, frage ich ihn, um ihm wieder Leben einzuhauchen und weil es auch etwas Spaß macht, sie alle ein wenig zu schocken. Es fühlt sich irgendwie gut an.
Er zuckt zusammen und ein Hauch von Röte huscht über seine Wangen. „Natürlich!“ Dann lässt er seine Haare tief ins Gesicht fallen und isst weiter, als gäbe es die nächsten Tage nichts mehr.
Das nun aufkommende Schweigen gefällt mir. Ich esse in Ruhe meinen Teller leer und bin stolz auf mich. Ich habe das erste Mal in meinem Leben alle um mich Sitzenden mundtot gemacht. Eigentlich war das bisher immer Julians Part gewesen. Wenn auch mit anderen Themen. Natürlich ging es dabei nicht um Sex. Aber ich komme mir richtig erwachsen vor und bin stolz auf mich, dass Thema so cool gemeistert zu haben.
Nach dem Essen will ich meiner Mutter in der Küche zur Hand gehen. Aber sie jagt mich hinaus. „Du brauchst mir nicht zu helfen. Du ruhst dich noch aus.“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und greife nach Marcels Hand.
Der unterhält sich gerade mit meinem Vater über seinen alten Golf, der schon so alt ist wie ich. Das sagt mein Vater zumindest, als Marcel das Baujahr erwähnt.
Marcel sieht zu mir auf und wirkt seltsam verunsichert.
„Komm!“ Ich ziehe ihn vom Stuhl, grinse meinen Vater entschuldigend an und schiebe Marcel vor mich her zur Treppe und hoch zu meinem Zimmer. Oben angekommen schließe ich die Tür, um unliebsame Mithörer auszusperren.
„Alles okay?“, frage ich ihn.
Er stottert ein „Ja!“
„Was ist los?“ Ich werde misstrauisch. Ist Marcel sich plötzlich nicht mehr sicher, was uns betrifft? Er ist seit meiner Aussage beim Essen seltsam zugeknöpft und zurückhaltend.
„Nichts!“, raunt er und sieht mich nicht an.
„Hm, das glaube ich dir nicht.“ Ich will, dass er mit mir redet. Wenn er ein Problem hat, möchte ich das wissen. Er soll nicht genauso mit mir verfahren wie Tim. Das ertrage ich nicht.
Er sieht auf und seine Augen schimmern silbrig. Mit einem Schritt ist er bei mir und ohne Vorwarnung zieht er mich in seine Arme und küsst mich.
Ich fühle mich völlig überrumpelt. Aber gegen seine Küsse und seine starken Arme, die mich umschlingen, bin ich machtlos. Mein Körper beginnt zu kribbeln und mein Blut rauscht im Turbogang durch meine Adern.
„Marcel!“, flüstere ich, als er uns einen Moment zum Luftholen gibt. Aus ihm scheinen alle Gefühle der letzten Wochen zu brechen.
Ich lege meine Hände auf seine Wangen, um ihn einen kurzen Augenblick zu stoppen und sehe ihn an. Seine Augen sprühen vor Leidenschaft und ich spüre förmlich die Energie seiner Liebe zu mir. Es ist anders, als bei Tim. Marcel ist so ehrlich und liebevoll und was sein Blick mir verspricht, schenkt mir Vertrauen. Ich bin selbst von meinen eigenen Gefühlen zu ihm überwältigt.
„Marcel …“, stammele ich, unsicher über das Gefühlschaos, das mich plötzlich auch bei ihm überfällt. Ich möchte ihm sagen, dass ich ihm tiefe Gefühle entgegenbringe, weil ich es in diesem Moment auch wirklich fühle. Aber ich schlucke nur und lasse mich wieder von ihm küssen. Sein Arm legt sich schützend um meinen Nacken und seine Küsse werden drängender. Ich kann ihn nicht halten und falle einen Schritt zurück. Die Tür hält uns auf. Marcel drängt sich an mich und in mir vibriert alles. Ich spüre die Anspannung seines Körpers und fühle, wie meine Beine drohen zu Pudding zu werden. „Marcel!“, hauche ich benommen: „Stopp!“
Als hätte man einen Knopf gedrückt, erstarrt er und sieht mich fragend an.
„Mir ist ganz schummerig“, flüstere ich verlegen.
Seine Hand drückt mein Kinn hoch, damit ich ihn ansehe und er grinst mich frech an. „Das ist gut.“ Seine Stimme hat wieder diese tiefe Nuance, die sie nur in bestimmten Situationen an sich hat und die mich schwach werden lässt, jetzt wo ich erkenne, wann.
Er lässt mich los.
Noch bevor ich das bedauern kann, hebt er mich auf seine Arme und küsst mich wieder. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Ablenkungsmanöver ist. Aber als er mich aus seinen Armen entlässt, gleite ich direkt auf mein Bett.
Kurz packt mich die Panik.
Marcel schiebt sich neben mich, nur in Windeseile die Schuhe abstreifend, die polternd zu Boden fallen. Sein Mund sucht meinen und ich lasse mich einfach fallen, während ich mich einen Moment lang an Tim und mich im Krankenhausbett erinnert sehe.
Meine Arme um Marcel schlingend, ziehe ich ihn ganz dicht an mich heran. Der Gedanke an Tim und mich ist wie ein Kick. Ich will Marcel jetzt und hier. Bei ihm fühlt es sich richtig an.
Unsere Lippen verschmelzen und unsere Zungen vereinigen sich in einem sinnlichen Spiel. Ich lasse meine Hand unter sein T-Shirt gleiten und spüre seine heiße Haut und seine Muskeln. Seine Hand läuft über meinem Bauch und ich fühle, wie sie mich sanft streichelt.
Tim ist vergessen.
Es ist Marcel, der mein T-Shirt wieder an seinen Platz zieht und sich aufsetzt. „Jetzt ist Schluss! Wir müssen auch ein bisschen an deinen Zustand denken.“ Er lächelt mich an und seine Stimme hat wieder diesen Unterton, den ich mittlerweile liebe.
Ich bin völlig verwirrt davon, dass er dem Ganzen ein Ende setzt und sich Gedanken um meinen Zustand macht. Ich hatte den völlig vergessen und Marcel zu stoppen war mir auch keine Sekunde in den Sinn gekommen.
Er zieht mich aus dem Bett und gibt mir einen schnellen Kuss. „Wir gehen jetzt an die frische Luft, um wieder etwas klarzuwerden.“
Ich muss lachen. „Zum Klarwerden oder zum Abkühlen?“
Aus meinem Schrank fische ich eine kurze Hose und tausche sie gegen meine lange, ohne Marcel anzusehen, der sich irgendwann abgewandt haben muss und aus dem Fenster sieht.
„Fertig!“, rufe ich und er dreht sich zu mir um.
„Gehen wir.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Raum, die Treppe hinunter und aus der Eingangstür hinaus in den Sonnenschein. Es ist warm und strahlend blauer Himmel lässt alles klar und wunderschön aussehen.
Mir kommt in den Sinn, dass ich das alles fast nicht mehr hätte sehen können, wenn der Schnitt mit dem Messer nur ein wenig tiefer gegangen wäre.
Wir gehen über den Hof, an dem Speicher vorbei, in den Garten. Ohne zu zögern, ziehe ich Marcel über den Rasen zu der Stelle, an der Kurt Gräblers Labor war. Der Rasen weist Reifenspuren auf, die sich quer durch unseren Garten ziehen.
Mein Vater muss uns gesehen haben und folgt uns. „Sie haben gestern Erde in das Loch geschüttet. Es war wohl einsturzgefährdet. Nun ist alles vorbei.“ Er klingt erleichtert.
Ich sehe auf die dunkle Erde, die das Viereck ausfüllt, das vorher mal der Eingang mit der Pelikantür gewesen war. Vielleicht ist wirklich alles vorbei. Ich habe keine Albträume mehr. Ist die alchemistische Macht gebrochen?
Als wenn es mich für den Wunsch strafen will, fällt mir Tim ein. Er hat vielleicht mittlerweile auf meine SMS geantwortet.
„Ich gehe mal auf die Toilette. Ich bin gleich wieder da“, raune ich Marcel zu, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen.
Er hält mich fest und gibt mir einen Kuss.
Vor meinem Vater habe ich damit immer noch ein kleines Problem und der Blick meines Vaters sagt mir, dass er auch eins damit hat.
Marcel hingegen lächelt mich nur an und zwinkert mir zu. Ihm scheint völlig bewusst zu sein, was er meinem Vater damit antut, jetzt, wo wir nicht mehr im Krankenhaus sind, sondern als wirkliches Paar das normale Leben meistern wollen.
Langsam schlendere ich durch den Sonnenschein zum Haus zurück. Zwei unserer Katzen liegen auf der Terrasse im Schatten der Engelstrompete, die etwas durstig aussieht. Am Abend wird mein Vater sie gießen müssen. Es ist sowieso verwunderlich, dass sie die Urlaubszeit meiner Eltern überlebte. Ich hatte sie nicht einmal gegossen. Aber es hat auch ein paar Mal geregnet, was wohl ihr Leben rettete.
Als ich außer Sichtweite bin, werden meine Schritte unweigerlich schneller und als ich in meinem Zimmer stehe und das Handy in meiner Hand spüre, werde ich richtig nervös.
Aber es ist doch nur eine SMS, die mich erwartet. Mehr nicht.
Ich schalte das Handy an und gebe den Pin ein. Dann warte ich. Aber es tut sich nichts.
Ich lege es nachdenklich zur Seite. Vielleicht dauert es nur etwas länger bis eine Datenübertragung stattfindet, beruhige ich mich. Vielleicht sollte ich erst ins Badezimmer gehen und danach noch mal schauen.
Meine Füße tragen mich ins Badezimmer, aber in meinem Kopf rotieren die Gedanken. Aus dem Spiegel sieht mich eine Gestalt an, die mich erschreckt. Meine Haare hängen kraftlos an meinem Kopf herunter und der Verband wirkt wie eine graue Halskrause. Meine Stimmung sinkt ins Bodenlose.
Nach einem Handtuch greifend, muss ich dem Abhilfe schaffen.
Ich wickele es über den Verband und stelle mich ans Waschbecken, mit dem Kopf unter den Wasserhahn gebeugt. Vorsichtig lasse ich Wasser über meine Haare rieseln und wasche sie eilig mit Schampon, um es wieder abzuspülen, bevor jemand mich bei der Aktion überraschen kann. Der Verband wird trotzdem nass. Aber ich fühle mich schon besser.
Schnell kämme ich mich und föhne grob die Haare durch. Den Rest wird die Sonne erledigen müssen. Aber ich schwöre mir, dass am Abend eine Dusche fällig ist.
Nun kehre ich in mein Zimmer zurück. Aber ich habe Angst. Wenn ich von Tim immer noch keine SMS bekommen habe, wird das meine Stimmung wieder in Untiefen fallen lassen. Das darf nicht sein. Es muss jetzt eine Antwort auf mich warten.
Aber als ich das Handy in die Hand nehme, ist immer noch keine Nachricht von ihm drauf.
Ich schalte es aus und werfe es auf den Schreibtisch. Vielleicht ist er auch nur zu sehr mit seinem Vater beschäftigt? Das wäre doch eigentlich gut. Sie haben schließlich viel nachzuholen.
Aber ich muss zugeben, dass ich wütend bin. Draußen wartet Marcel auf mich und ich hänge am Handy, wie ein Junkie, und warte auf eine SMS von Tim, wie auf meine Droge. Wie dumm ist das? Wie blöd bin ich eigentlich?
Ich schüttele den Kopf und gehe in den Garten zurück.
Marcel hat uns zwei Liegestühle in den Schatten der Pflaumenbäume gestellt und liegt ausgestreckt und seine Kappe tief ins Gesicht gezogen wie schlafend da.
Ich gehe zu ihm und lege mich in den anderen Liegestuhl.
Er wendet mir den Kopf zu und lugt unter seiner Kappe hervor. „Alles okay?“
Ich nicke und schließe die Augen.
„Deine Haare sind nass“, stellt Marcel fest.
„Ich habe sie gewaschen. Sie sahen schrecklich aus“, antworte ich ein wenig zu barsch und spüre Marcels verunsicherten Blick. Ich kann mir denken, dass er meinen Stimmungswechsel gar nichts versteht. Wie soll er auch?
Aber er lässt es auf sich beruhen und ich bin froh, mich einfach meinen Gedanken hingeben zu können, die sich ausschließlich um Tim drehen.
Am Abend holt uns Marcel eine Pizza. Meine Eltern sind bei den Nachbarn, die einen Geburtstag feiern, auf dem sie nicht fehlen können. Das Ganze ist seit Monaten geplant gewesen.
Mich würde interessieren, wie weit unsere Nachbarn über die Geschehnisse bei uns Bescheid wissen. Aber ich denke, sie wissen nichts von Julians Urlaub hinter Gittern. Ich kenne meine Eltern zu gut und kann mir nicht denken, dass sie jemanden hinter das wacklige Gerüst unserer Familie schauen lassen.
Marcel und ich machen nach dem Essen, das wir draußen auf der Terrasse genossen haben, einen Spaziergang durch den kleinen Wald, der an das Feld angrenzt, das wiederum unseren Garten begrenzt.
Marcel hatte mir am Nachmittag viel von seiner Arbeit als Werkzeugmechatroniker erzählt und wie das mit dem Schichtbetrieb abläuft. So erfuhr ich, dass er in der nächsten Woche Frühschicht hat. Wir hatten uns auch über die neue Schule unterhalten, die ich nun besuchen werde und was ich für einen beruflichen Werdegang einschlagen möchte. Mir wurde da das erste Mal klar, dass ich nun, ohne Kurt Gräbler und seinem Fluch im Nacken, mich auf das wirkliche Leben konzentrieren muss. Ich habe keinerlei Ausreden mehr.
Während wir Hand in Hand durch das Waldstück schlendern, erzählt mir Marcel von seinen Zukunftsplänen. Es gibt so viele Orte, an die er reisen will und er will eine eigene Wohnung mit einem schönen Balkon oder einem kleinen Garten haben und einen Hund.
Alle seine Ausführungen tragen kein „ich“ mehr, sondern nur noch ein „wir“.
Es ist schön, so klar in seinem Leben bestand zu haben. Es beruhigt mich und gibt mir ein Gefühl von Ewigkeit. Zumindest von seiner Seite.
Aber in meinem tiefsten Inneren tobt noch ein kleiner Sturm wegen Tim und weil er sich bis zum Abend immer noch nicht gemeldet hat. Ich bin wütend auf ihn, und das öffnet mich voll und ganz Marcel. Was soll ich mit einem unzuverlässigen, treulosen, verlogenen Tim, wo ich Marcel an meiner Seite habe?
Der bleibt plötzlich stehen und dreht mich zu sich um, damit er mir in die Augen sehen kann. „Stimmt irgendwas nicht? Du bist manchmal gar nicht anwesend.“
Ich erschrecke. Merkt man mir das so an oder ist Marcel einfach nur extrem aufmerksam?
„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin vielleicht etwas irritiert, weil du mich so lieb in dein Leben einbaust, als wären wir schon ewig zusammen.“
Das ist nicht gelogen. Wenn es auch nicht der wirkliche Grund ist, warum sich meine Gedanken so oft auf Wanderschaft begeben.
Marcel sieht mich groß an. Seine Hände halten meine Oberarme umfasst, als hätte er Angst, ich könnte ihm davonlaufen. „Oh! Ähm! Dir ist das vielleicht nicht klar, aber du bist auch schon lange in meinem Leben präsent. Nur ich war es nicht in deinem. Und das vergesse ich manchmal. Tut mir leid.“ Ein Schleier zieht sich über sein Gesicht und ich spüre durch seine warmen Hände seine Anspannung. „Wenn ich dir zu schnell bin, sag es mir. Hau mir eins drüber. Sag mir, ich soll die Schnauze halten oder sonst was“, braust er plötzlich auf. „Ich bin nur so froh, dass wir endlich zusammen sind und du mir auch etwas Zuneigung entgegenbringst, dass ich am liebsten alles auf einmal tun möchte, um dich auch ein wenig glücklich zu machen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann.“
Den letzten Satz presst er leise und resigniert zwischen den Lippen hervor.
Mir war natürlich nicht klar, wie es in ihm aussieht. Ich bin immer viel zu beschäftigt mit meinem Gefühlsleben und Tim.
Verdammt! Ich verabscheue mich dafür und mein Blick in Marcels Augen verstärkt das Gefühl noch.
„Hör mal“, beginne ich mit einem schlechten Gewissen zu erklären. „Du weißt ja, was ich alles hinter mir habe und ich denke, das zerrt noch an mir. Tief in meinem Inneren. Aber wenn ich einen Streif am Horizont sehe, dann bist du der. Wenn ich wieder Hoffnung auf ein normales Leben habe, dann mit dir. Und wenn ich wieder innerlich zur Ruhe komme und mich nicht mehr so abgewrackt fühle, dann durch dich. Ich habe mich wirklich in dich verliebt und wenn ich manchmal auch etwas komisch bin, dann ignorier das bitte“, sage ich leise.
Manometer! Mittlerweile bin ich doch überrascht, was ich so hervorbringen kann. Da könnte man ja meinen, ich hätte eine romantische Ader. Christiane würde sich vor Lache nicht mehr einkriegen und sich fragen, wo die alte Carolin geblieben ist.
Marcels Augen fangen zu leuchten an und sein Gesicht verliert alle Traurigkeit und Wut, die es in seinem Leben jemals gespeichert hatte. Ich erschrecke fast vor diesem Wandel. Er zieht mich in seine Arme und haucht ein: „Ich liebe dich auch. Mehr als alles auf der Welt“, und küsst mich mit einer Leidenschaft, die mir die Beine wegschmilzt und mein Herz bleischwer werden lässt. Denn durch meine Gedanken schiebt sich das Gesicht von Tim wie ein Mahnmal.
Ich schlinge meine Arme um Marcel und erwidere seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die Tim hoffentlich ein für alle Male aus meinem Kopf verbannt. Um noch eins draufzusetzen, flüstere ich: „Und wir werden heute Nacht nicht nur nebeneinander schlafen, …“ und in mir bebt alles vor Aufregung, „sondern auch miteinander.“
Zu meiner Überraschung verschwindet Tim wirklich. Er löst sich in Nebel auf, als wäre ein Fluch gebrochen. Marcel hingegen drückt mich an sich und stammelt nur „Ja?!“
Ich kann nur hoffen, dass ich das auch wirklich bringe und nicke nur.
Als wir nach Hause kommen, setzen wir uns auf die Bank vor dem Speicher und besehen uns den Sonnenuntergang über dem Feld, das sich zwischen zwei Waldstücken erstreckt.
Marcel zieht mich an sich und ich schmiege mich an ihn.
Mir ist doch etwas mulmig wegen dem, was ich angekündigt habe und ich bereue es, meine Klappe so weit aufgerissen zu haben. Aber Marcel hat eine Art mir über den Arm zu streicheln, dass es mir ein Kribbeln im Bauch verursacht und mir eine Gänsehaut über die Haut jagt. Dazu die letzten rötlichen Sonnenstrahlen am Horizont und man kann sich nicht mehr wünschen.
Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, dass ich heute Nacht meine Jungfräulichkeit opfern werde. Aber ich will Tim verletzen, wie er mich verletzt. Dass er sich nicht bei mir meldet, sitzt wie ein Stachel in meinem Herzen.
So hocken Marcel und ich dichtgedrängt nebeneinander und ich gebe mich weiter Marcels Streicheleinheiten hin, den Blick fest auf die sinkende Sonne gerichtet. Eigentlich geht es mir gut und ich bin am Leben und werde noch viele solche Sonnenuntergänge genießen können. Meine Zukunft kann jetzt richtig beginnen und ich habe einen unglaublich netten, jungen Mann an meiner Seite, der mir ehrliche Gefühle entgegenbringt. Was will ich mehr?
Plötzlich rückt Marcel von mir ab, steht auf, nimmt mich an die Hand und raunt mit seiner tiefen Stimme: „Komm!“
Ahhhh! Ich würde lieber noch ein wenig auf der Bank bleiben. Aber Marcel zieht mich mit und ich bin froh, dass er mich nicht ansieht. Er hätte unweigerlich die Panik in meinen Augen sehen müssen.
Er zieht mich ins Haus und zur Treppe, als ich mit einem letzten Blick durch die Eingangstür in die Freiheit registriere, dass die Sonne ganz untergeht.
Mir wird etwas übel und ich schimpfe mich in Gedanken eine dumme Kuh und reiße mich zusammen. Vor mir geht Marcel, mich immer noch an der Hand haltend und ich habe keinen Grund, panisch zu sein. Er wird nichts wollen, was ich nicht auch will. Egal, was ich vorher großspurig verkündet hatte.
An meiner Zimmertür dreht er sich zu mir um und sieht mich an. Mein ängstlicher Dackelblick entgeht ihm natürlich nicht. Er grinst mich an, schüttelte den Kopf fast unmerklich und zieht mich ins Zimmer. Hinter mir lässt er die Tür laut ins Schloss fallen.
Ich zucke zusammen.
„Poor, Schatz! Ich werde dich bestimmt hier jetzt nicht vergewaltigen“, sagt er und lacht auf. „Und wir werden nicht miteinander schlafen.“
Statt Erleichterung macht sich Enttäuschung breit. „Warum nicht?“, raune ich, meine Stimme noch nicht ganz wiederfindend. Ich dachte, er liebt mich und jetzt will er mich nicht mal.
Er wird ernst. „Weil du noch nicht so weit bist. Ich weiß nicht genau, was los ist, aber ich spüre deinen Widerstand. Und das geht nicht.“
Ich starre ihn an wie den Weihnachtsmann. Womit habe ich den überhaupt verdient?
„Vielleicht liegt es an mir oder an den Umständen oder an deinem Alter. Ich kann warten“, sagt er und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Kein Mädchen lässt sich gerne sagen, dass sie noch zu jung für etwas ist. Und die drei oder vier Jahre, die er älter ist …
„Soso! Und du erfahrener und alter Mann weißt also, wozu ich bereit bin?“, antworte ich ihm übertrieben belustigt.
Er sieht mich nur mit diesem ernsten Blick an. Dann winkt er ab. „Okay! Lassen wir das. Ich werde uns noch was zu trinken holen“, beendet er das Thema gnadenlos und gibt mir einen Schmatzer auf die Wange.
Ich nicke nur, etwas irritiert.
Als Marcel die Treppe hinunterläuft, gehe ich zu meinem Schreibtisch. Wie von einem Magnet angezogen nehme ich das Handy. Ich mache es an und gebe die Pinnummer ein. Es tut sich nichts.
Ich stecke es in die Hosentasche und greife nach meinem Bademantel und meinem Rüschenshirt mit Rüschenhöschen, das ich diese Nacht als mein Schlafutensil erdacht habe. Es ist süß und ich habe doch noch genug an. Damit begebe ich mich zum Badezimmer. Ich muss duschen. Unbedingt!
Marcel kommt mir auf dem Weg zum Bad entgegen. „Wo willst du hin?“, fragt er.
Ich zeige auf meinen Bademantel: „Ich gehe eben duschen.“
Er sieht mich seltsam an. Meint er, ich werde jetzt aus dem Fenster klettern und weglaufen?
„Okay!“ Er lässt mich vorbei und ich gehe schnell weiter. Im Badezimmer stelle ich das Wasser der Dusche an und nehme das Handy aus der Tasche. Tim hat immer noch nicht geschrieben. Dafür Christiane, was mich aber im Moment gar nicht interessiert.
Warum antwortet er nicht? Hat er meine SMS nicht erhalten?
Ich beschließe, ihm erneut zu schreiben. „Hallo Tim, ist alles bei dir in Ordnung? Mir geht es gut. Melde dich bitte.“ So, nun hat er Zeit, mir zurückzuschreiben. Zumindest solange ich dusche.
Und das tue ich ausgiebig. Da mein Handy keinen Mucks von sich gibt, lasse ich mir alle Zeit der Welt. Ich rasiere mir die Beine und Creme mich nach dem Duschen ein. Nur der Verband um meinen Hals ist unschön. Aber mir ist klar, dass es darunter noch viel unschöner aussieht. Als ich in meinen Schlafdress steige und den Bademantel überziehe, denke ich mir, dass ich Marcel nicht länger warten lassen kann.
Ich bin wütend. Warum meldet sich Tim nicht? Erneut greife ich nach dem Handy und wähle mit bis zum Hals schlagenden Herzen seine Nummer. Es klingelt und klingelt und klingelt, bis die Mailbox anspringt. Erst will ich auflegen. Doch dann spreche ich doch nach dem Piepton eine Nachricht auf das Band. „Hallo Tim, ich bin es, Carolin. Warum meldest du dich nicht? Ist alles in Ordnung?“
Ich lege auf. Doch irgendetwas in mir tobt wie ein lavasprühender Vulkan und ich drücke erneut die Anruftaste. Mir ist klar, dass das an Telefonterror grenzt. Aber wenn ich das Badezimmer verlasse, werde ich das Handy wieder ausmachen müssen. Also muss ich ihn hier und jetzt erreichen.
Der Anruf wird unterbrochen und ich starre auf das Display. Bin ich weggedrückt worden? Verdammt!
„Dann leck mich doch!“, fauche ich und mache das Handy aus. „So ein blöder Mistkerl!“
Ich bin dermaßen geladen, dass ich mich erst beruhigen muss, bevor ich zu Marcel zurückkehre. Tim ist in diesem Moment für mich gestorben. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Ich nehme meine Sachen mit und gehe in mein Zimmer zurück. Hatte ich irgendwie erwartet, Marcel sich halb nackt auf meinem Bett rekelnd vorzufinden, so habe ich mich getäuscht. Meine Musik läuft und er sitzt auf dem Sofa, in irgendwelche Hefte vertieft. Als ich hereinkomme, sieht er auf. „Was ist das?“, fragt er mit unergründlichem Blick und ohne Umschweife.
Verdammt, die Hefte von Kurt Gräbler. Wo hat er die denn aufgestöbert?
„Ach nichts“, raune ich und gehe zu ihm. Will er das wirklich durchziehen … mir nicht nahekommen zu wollen?
Ich nehme ihm die Hefte aus der Hand und lege sie zwischen meine Schulsachen. Langsam ziehe ich den Gürtel meines Bademantels auf. Ich muss Marcel schnell auf andere Gedanken bringen. Die Hefte von Kurt Gräbler haben in unserem Leben nichts mehr zu suchen und ich sehe nicht ein, dass er jetzt kneift. Ich bin wegen Tim geladen genug, um alles durchzuziehen, was ihn ärgern könnte.
Marcel steht auf und sieht mir forschend ins Gesicht, als wäre er sich nicht sicher, dass ich auch wirklich ich bin. Ohne meinen Bademantelgürtel öffnet sich der weiche Stoff mit dem Schritt, den ich auf Marcel zugehe. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände, recke mich ihm entgegen und küsse ihn.
Er nimmt mich vorsichtig in den Arm und erwidert den Kuss zurückhaltend. Dann schiebt er mich sachte etwas von sich ab und sieht mir in die Augen.
Ich denke, er fragt jetzt wieder nach den Heften. Aber Marcel raunt leise: „Du musst das nicht tun. Ich schlafe auch wieder auf dem Sofa, wenn dir das alles zu viel wird.“
Was? War ich noch nicht deutlich genug?
Diesmal bin ich es, die ihn an die Hand nimmt und zum Bett zieht. Marcels Blick sagt mir, dass er sich immer noch nicht sicher ist, was das werden soll.
Ich lasse meinen Bademantel fallen und ziehe unbeholfen an seinem T-Shirt.
Er hilft mir, es auszuziehen und einen Moment später folgt seine Jeans.
Ich nutze die Zeit und bestaune seinen schönen Oberkörper. Er ist schlank, aber nicht dünn und er ist sportlich. Seine Muskeln sind deutlich zu erkennen und ich spüre das Verlangen in mir aufkeimen, ihn berühren zu wollen.
Langsam krabbele ich auf das Bett, ohne ihn aus den Augen zu lassen und ziehe ihn an der Hand hinterher. Er wirkt plötzlich so verunsichert, dass ich ihn einfach in die Arme nehmen muss und ihn küssen will. Sein Gesicht ist wie ein offenes Buch und mir kommt der Gedanke, dass er deshalb immer eine Kappe tief im Gesicht trägt. Er ist unglaublich.
Als er mich nun in seinen Arm zieht und mit seiner unverkennbar vor Verlangen dunklen Stimme stammelt, dass ich ausgesprochen gut dufte und er mich unglaublich liebt, gibt es für mich kein Zurück mehr. Mit den leidenschaftlichen Küssen, dem innigen aneinanderdrängen unserer Körper und heißen Berührungen, verlieren wir alle Hemmungen und irgendwann ist mir alles andere egal.
Nach und nach fallen alle Kleidungsstücke und ich ziehe ihn auf mich, von meinen Gefühlen getrieben, die seine Hände und seine Lippen auf meinem Körper auslösen.
„Hey!“, stammelt er leise und sieht mich unsicher an: „Bist du dir sicher?“
Ich nicke nur, weil ich glaube, keine gängige Stimme mehr zu haben.
Er greift nach seiner Hose und hebt sie vom Fußboden hoch.
Ich bin etwas irritiert. Erst als ich das Kondom in seiner Hand sehe, weiß ich, was er vorhat und bin ihm unendlich dankbar. Ich hatte keine Sekunde daran verschwendet.
Komisch. Bei Tim war das immer ein alles beherrschender Gedanke. Aber Tim wollte auch nichts anderes, als mit mir schlafen, und das am besten sofort.
Marcel schiebt sich neben mich, vorsichtig, als müsse er erneut meine Gefühle ausloten.
Ich dränge mich in seinen Arm und er küsst mich so sanft und so voller Liebe, dass ich denke, ich muss auf der Stelle sterben, wenn er aufhört. Er lässt sich erneut Zeit und ist so liebevoll, dass ich wirklich alle Angst und Anspannung verliere. Ich bin nur noch verwirrt, was für ein aufregendes Gefühlschaos er in mir auslöst und wie schön das mit ihm ist, als er sich langsam auf mich schiebt und seine Küsse drängender werden. Völlig bereit zu allem lasse ich ihn zwischen meine Beine gleiten. Ich bin mir sicher, dass selbst Tim, Kurt Gräbler und Julian zusammen uns nicht mehr aufhalten können …
Ich liege an Marcel gekuschelt und schlafe bereits, als er mich sanft wachrüttelt.
„Hey, Schatz! Wach auf! Du musst dir dein Oberteil anziehen“, flüstert er.
Was? Warum das denn?
Er klettert aus dem Bett, zieht sich seine Boxershorts an und wirft seine Hose und sein T-Shirt über den Schreibtischstuhl. Meinen Bademantel hängt er an den Haken an der Tür. Dann kommt er wieder zum Bett.
„Bitte Schatz! Komm! Du musst dir das eben überziehen.“
Ich setze mich müde auf und lasse mir von ihm das Oberteil überstreifen. Dabei frage ich verwirrt: „Was ist denn los?“
Marcel lässt mich wieder in das Kissen sinken und deckt mich zu. Mein Verstand registriert das und Alarmglocken schrillen auf.
„Wo willst du hin?“, flüstere ich und will mich wieder aufsetzen.
„Deine Eltern sind gerade nach Hause gekommen. Ich wette, dein Vater kommt gleich hoch, um nach uns zu sehen und da ist es besser, wenn ich auf dem Sofa bin.“
Ich höre sein leises, amüsiertes Lachen und drehe mich zur Seite. „Okay! Aber dann kommst du wieder zu mir“, murmele ich und lasse mich schon wieder in den Schlaf sinken.
„Versprochen“, raunt Marcel mir ins Ohr und küsst mich auf die Wange.
Auch mir entgeht das Poltern auf der Treppe nicht und Marcel wirft sich mit meiner Überdecke, die eigentlich immer zusammengefaltet auf der Lehne des Sofas ihr Dasein fristet, auf das Sofa. Ich bin zu erschöpft, um mich länger wachzuhalten. Aber die Stimme meines Vaters, die irgendetwas flüstert, höre ich noch und nehme sie mit in meine Traumwelt. Er klang zufrieden.
Marcels Stimme höre ich auch, als sie mich wieder an die Oberfläche holt: „Ich bin wieder da.“
Er legt seinen Arm um mich und schiebt sich ganz dicht an mich heran. Nun kann ich mich vollends in den Schlaf sinken lassen. Alles ist gut.