Читать книгу Kurzgeschossen - Sabine Walther - Страница 6

1. Tragische Gestalten

Оглавление

Irgendwer

Mochte der Bus auch noch so voll sein, Irgendwer fand einen Sitzplatz, denn wo immer er auftauchte,

zogen sich die anderen Passagiere angewidert zurück. Kaum dass der Bus angefahren war, öffnete er dann

seine Brotdose, um daraus eine nach ranziger Butter riechende Stulle zu entnehmen.

Wir Kinder fürchteten uns vor ihm und sahen ihm doch mit einer Mischung aus Faszination und

Verwunderung zu. Und obwohl die meisten von uns ohne Frühstück zur Schule fuhren, beneideten wir ihn

nicht um das graue fettige Gemisch, das ihm irgendeine wohlwollende Mutter mitgegeben hatte.

Niemand kannte seinen richtigen Namen, niemand wusste, wo er wohnte, woher er kam, wohin er fuhr.

Irgendwas mit Büchern, raunten die Leute, hat sich überstudiert, zu viel gelesen, ist verrückt geworden.

Seine verbogene Lesebrille, der ausgewaschene Anzug, den er tagaus, tagein trug, das wirre, von zahllosen

Fremdwörtern durchmischte Gebrabbel, das zwischen seinen dicken Lippen hervordrang, sprachen ebenso

dafür wie das abgenutzte Buch, in dem er mit seinen Wurstfingern gierig blätterte.

Die Busse wurden moderner, die Leute reicher, sauberer und gebildeter, die Frühstücksdosen füllten sich

mit Äpfeln und Chia-Möhren-Brot. Sein Platz blieb leer. Jahre später blicke ich durch ein Fenster auf

einen Schulhof, auf dem angehende Abiturienten darüber debattieren, wie man die Welt zu einem

besseren Ort machen kann. Irgendwie vermisse ich ihn.

Querdenker

Der Querdenker hat oftmals schwer zu tragen,

muss sich erklären und beständig Kluges sagen,

Gedanken prüfen und auch subsumieren,

das unterscheidet Menschen meistenteils von Tieren.

Doch fischt Kristalle er aus trüber Entengrütze,

entdeckt er Großes noch in jeder kleinen Pfütze,

wird ihn der Kleingeist dennoch prügeln und verbannen,

was schmerzt wie Nierenstein in dichten deutschen Landen,

in denen Hülsen nun den dumpfen Machern zollen,

des Denkens Schwere sich vom Leibe halten wollen.

Fährt drum der Denker wie ein leerer Lift zum Loft,

in dem der Querträger auch diesmal, wie schon oft,

sich zärtlich lockend ihm entgegen reckt und streckt,

wünscht einsam jener sich, er wäre längst verreckt,

gewünscht, getan, verknüpft das Seil, so schied er hin

nie mehr zu denken lag als Letztes ihm im Sinn.

Erbsenhirn

„Was stiert das Erbsenhirn schon wieder vor sich hin“, schimpfte Marita ungehalten, nachdem sie sich

umgekleidet und die schwarze Jogginghose hoffnungsvoll gegen das rote Kleid getauscht hatte, doch ihr

Mann scherte sich nicht darum, würdigte weder sie noch den missratenen Sohn eines Blickes, zündete sich

eine von den Selbstgedrehten aus schwarzem krümeligen Tabak an und schlabberte zwischen den Zügen

an seiner Bierdose.

Gereizt schaute Marita zu ihrem Sohn, dessen lammfrommes Wesen sie ebenso wie sein chronischer

Husten stets in Rage brachte, griff nach einer Zeitung und versuchte, den Staub von der Standuhr zu

schlagen, deren Ticken schon lange ängstlich verstummt war, nicht ohne wie üblich, „ich halte den Dreck

nicht mehr aus, ich bin doch nicht eure Putze!“, zu brüllen.

„Gib nur, Mama“, sagte Erbsenhirn, nahm der nun schon schluchzenden und einmal mehr vergeblich auf

Trost wartenden Marita das Tuch aus der Hand, polierte die Uhr, sammelte die Staubflusen ein und trug

alles, den Hustenanfall so gut als möglich unterdrückend, sorgsam hinaus.

Bis in den späten Abend spielten seine Eltern an der Playstation und Erbsenhirn brachte ihnen, wonach

immer sie verlangten. Bier und Chips, Eis und Schnaps, die Pantoffeln, das Handy, den schwarzen Tabak.

„Erbsenhirn!“ Der Ruf zerbrach die Stille, in der er sich für einen Moment aufgehoben gefühlt hatte,

„komm her und leer den Aschenbecher aus!“

Erbsenhirn tat erneut, wie ihm geheißen, doch selbst die Asche meinte es nicht gut mit ihm, löste den

nächsten Hustenreiz aus, stärker, intensiver, bis er meinte, zu ersticken. „Mama“ krächzte es ein letztes

Mal, doch seine Stimme konnte die Mutter so wenig erreichen wie seine Liebe.

Mit letzter Kraft rappelte er sich auf, öffnete das Fenster einen Spalt und atmete schwer in die

sternenklare Nacht. Staunend erhob er das Gesicht, bis er erschrocken verstand, dass es Zeit war, dieses

Elend zu verlassen. „Flieg, Erbsenhirn, flieg mit uns hinaus“, flüsterten die Sterne und „verdammter Idiot,

mach das Fenster zu“, schrie es im Wohnzimmer.

Es war das erste und das letzte Mal, dass Erbsenhirn sich ihren Anweisungen widersetzte. Den würdigen

Moment begreifend, vertraute er sich einem klitzekleinen Hoffnungsstrahl an und schwebte staunend und

von funkelnden Flügeln getragen dem elenden Krampf, der seinen Tod besiegeln sollte, davon.

Der Blinde

Die einen munkelten, er sei gar nicht blind, so zielstrebig wie er sich bewege; die anderen meinten, er

könne nur hell und dunkel unterscheiden, was ausreiche, um sich zu orientieren. Ganz genau wusste es

niemand, also schlug ich vor, ihn auf die Probe zu stellen.

Pünktlich um 15 Uhr stand er vor der Tür, ertastete vorsichtig mit dem Fuß die Höhe der Türschwelle,

bevor er sie überschritt, streckte den rechten Arm vom Körper ab und tastete sich durch den Flur, ohne

dass die Hände die Blümchentapete berührten. Wie oft mir diese Hände schon aufgefallen waren,

schienen sie doch so viel mehr zu wissen als meine. Manchmal stellte ich mir vor, wie sie … Aber das ist

eine andere Geschichte.

„Lecker, Spaghetti mit Basilikum-Pesto“, sagte er, als wir an der geöffneten Küchentür vorbeigingen, „viel

besser als mit Tomaten, finde ich.“ Entgeistert starrte ich ihn an, hatte ich etwa nicht ausreichend gelüftet?

Ich schloss die Augen, um der Sache auf den Grund zu gehen, aber nichts änderte sich.

„So geht das auch nicht“, lachte er mich aus. „Du musst erst den Gedanken aufgeben, dass es deine Augen

sind, die sehen, oder dass du nur mit den Ohren hörst. Die Augen sind nur das Objektiv, mit dem du einen

Bildausschnitt fokussierst. Leg es zur Seite, wenn du das ganze Bild wahrnehmen willst.

Den dunklen Schuhschrank, aus dem es ein wenig nach Deo und Schuhcreme riecht, zum Beispiel. Die

angelehnte Tür zum Bad, in dem du eben noch geduscht hast, das Wohnzimmer mit dem alten

Staubfänger-Flokati, vor allem aber den Raum zwischen den Dingen. Und natürlich die Rotzlöffel, die sich

hinter dem Vorhang zur Abstellkammer versteckt haben und glauben, ich würde sie nicht bemerken.“

Ihr lautes brutales Gelächter zerriss das zarte Band, das uns verbunden hatte, schuf eine Mauer zwischen uns, so unsichtbar wie unüberwindbar.

„Tut mir leid“, stotterte ich.

„Schon gut“, sagte er und tastete sich mit ausgestreckten Armen, aber ohne dass seine wissenden Hände

die Wände berührten, zurück zum Ausgang. Ich sah nicht, wie traurig er war, ich fühlte es.

Platzhalter

„Steh doch endlich auf“, sagst du, „geh doch mal raus, mach doch mal was aus deinem Leben. Sei doch

vernünftig, du kannst dich doch nicht für immer hier verstecken“, fügst du hinzu. Mein Herz verkrampft

sich, mein Mund will entgegnen, doch die Worte wollen sich nicht fügen, wie sollten sie auch, ahne ich

doch nur die Dinge und die Menschen, aber ich kenne nicht ihre Namen und weiß sie nicht zu gebrauchen.

Ach, Ihr nützlichen, nutzbaren Menschen, ein Abgrund ist Euch meine Seele, ein wenig verlässlicher Ort,

Projektion versteinerter Ängste, bespielt und bewacht vom Dämon Eurer Sehnsucht, in all den Momenten,

in denen Ihr verständnislos schaut, was ein anderer leidet für Euch, um Euch, an Eurer Stelle.

Vor meinen Füßen ladet Ihr es ab, Euer Nichtgewolltsein, Euer Unvertrauen, Euer anstrengendes Als-Ob,

das Euch zwingt, immer zu wissen, was zu tun ist, geschäftig und verständig und so überaus optimiert.

Und so nehme ich Eure heimliche Qual, schlucke, kaue, verdaue sie, kauere und verharre, richte mich auf,

nur um zu bitten, kein Blitz möge Euch treffen, kein Feind Euch zerschmettern, kein Gott Euch

zerquetschen wie lästiges Lügengewürm.

„Steh doch endlich auf“, sagst du. „Mach doch mal was aus deinem Leben!“ Wohl denn, der Platz ist frei.

Du hast es nicht anders gewollt. Nimm ihn, fülle ihn, ertrage ihn.

Das falsche Wort

„Mannloch, Mannloch, Mannloch“, wiederholte sie ein ums andere Mal, denn der Sinn des Wortes

erschloss sich ihr nicht. Böse klang das Wort, es erinnerte sie an etwas, was sie einmal gehört, aber rasch

und für immer vergraben hatte. Doch war es wohl nicht dasselbe?

Aber sie verstand ohnehin nicht, wozu das gut sein sollte, all diese Wörter, die sich zu einem ellenlangen

steinernen Band aneinanderreihten, ihr Vorwürfe machten, tagein, tagaus, sie in den Schmutz zerrten,

hättest du den Rock nicht getragen, sich an ihr vergingen mit brutalen Händen und erigiertem Glied, das

ihr Schmerz bereitete, wo man ihr Lust verheißen hatte.

Hättest du den Rock nicht getragen, mein Lieb, die Lippen nicht geschminkt, nicht gelächelt und brav

meine Küsse ertragen, wie sollte ich dem auch widerstehen?

Seit jenem Tag, an dem die Worte von Liebesschwüren in bestialisches Schnaufen übergegangen waren,

seit er sie unterworfen, gefoltert, ausgelöscht hatte, verstand sie keines der Worte mehr, kein Leichtes, kein

Schönes, keines das störrisch wie ein Krug wiederkehrte, der einfach nicht brechen wollte, so oft man ihn

auch zum Brunnen zerrte.

„Mannloch, Mannloch“, flüsterte sie noch mehrmals, bevor sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug, nur

um die Stimme zu übertönen, die ihr einflüstern wollte, es sei nicht, was sie denke, alles sei in Ordnung

und nichts Böses werde ihr geschehen.

Kleine Helden

„Bin ein kleiner König, gib mir nicht so wenig, lass mich nicht im Regen stehn, denn ich muss noch

weitergehn“, sangen die Kinder in ihren himmlisch schönen Gewändern, durch die sie sich für das

diesjährige Nikolauslaufen in ehrenwerte Edelmänner, glitzernde Prinzessinnen oder hurtige Hexen

verwandelt hatten.

Die fröhliche Schar wollte eben weiterziehen, als ihnen die bedrohlich anschwellenden Rufe des

Schlachters entgegenschallten, der den schon oft der Tür verwiesenen bettelnden Obdachlosen mit

Leberwurstresten und gemeinen Ausdrücken bewarf und wohl drauf und dran war, ihn zu Tode zu

prügeln.

„Los, kommt“, flüsterte eine kleine Hexe und als hätten sie sich abgesprochen, liefen die Kinder schnell

zum Eingang, umringten schützend den Bettler und begannen ihr fröhliches Singspiel erneut, sodass der

Schlachter gar nicht anders konnte, als den armen Mann seines Weges ziehen zu lassen.

Und ewig schreit die Lerche

Es war der 21. Juni 1916, die in blau-weiß-rote Trachten gekleideten Mädchen tanzten fröhlich zum

Gesang der Knaben, die teils noch fiepsend, teils schon brummend „Alouette“ angestimmt hatten, und

gemeinsam zogen sie zum Dorfanger, an dessen Wegessaum aus längst verstreuten Samen bunt blühende

Sommerboten gewachsen waren, die nun darauf warteten, von wilden wie zaghaften Burschen gepflückt

und an die Mädchen verschenkt zu werden.

Keine Mutter konnte sich schützend vor sie werfen, kein Vater sie bewahren, als das Stakkato der

feindlichen Artillerie ihre Fröhlichkeit zerbrach. Zufrieden lehnte sich deren Oberbefehlshaber zurück,

nicht ahnend, dass der entsetzte Schrei der Feldlerche ihn zeit seines Lebens in furchtbaren Albträumen

verfolgen würde.

Ein Feuer, das nichts erhellt

Vom tiefen Feuer des Widerstandes entfacht, im festen Glauben, dies sei der Moment, in dem sie mit

jeglicher Deutschtümelei, mit der Wurstbrotmentalität einer auf dem rechten Auge blinden Gesellschaft

und einer sich zusammenrottenden Meute aufräumen konnte, haute Aphrodite von Stolzenfels in die

Tasten, entwarf flammende Reden gegen das Wiedererstarken dessen, was doch für immer verbannt sein

sollte.

Tränen der Rührung purzelten zu Boden, als sie ergriffen von ihrer zutiefst antifaschistischen Haltung die

soeben geschriebenen Zeilen überflog, bis ein lautes Türenschlagen sie erschreckte. Kam man schon, sie

zu holen? Schwadronierten bereits Fackelzüge vor ihrem Haus? War der Tag der Machtübernahme erneut

gekommen?

Aber nein, lediglich der Nachbar hatte seinen SUV mal wieder in ihrer Einfahrt geparkt. Enttäuscht und

gelangweilt griff sie zu dem Schüsselchen mit Karamellbonbons, um kauend zu konstatieren, dass sich

nichts, aber auch gar nichts durch ihre flammende Rede verändern würde.

Mit den Augen der Dunkelheit blickte Schmuel Rosenherz ins Antlitz seiner Vorfahren, von denen keiner

die Deportation und das unendliche Grauen überlebt hatte. Keine beflissentlich wiederholte

Glückskeksmoral und kein im Armsessel zurückgelehntes Fraternisieren brachten sie zurück.

Umso mehr musste es ihn empören, dass all diese Sonntagsredner es sich anmaßten, ihr Schicksal auch

nur zu erwähnen, einen dieser aufgeregten Vergleiche zu ihrem lächerlich ereignislosen Heute zu ziehen,

um sich fern jeglicher Gefahr von einer Schuld reinzuwaschen, die niemals, niemals, enden konnte, weil

sich in ihr das jeglicher Erhabenheit trotzende Alltägliche mit dem Ungeheuerlichen verbündet hatte.

Kurzgeschossen

Подняться наверх