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EINLEITUNG

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In den letzten eineinhalb Jahren bin ich kaum gereist. Ich habe nahezu jeden Tag in meiner Wohnung verbracht, mit Ausnahme von ein paar Tagen im Sommer 2020, als ich mich mit zahllosen anderen auf der Straße versammelte, in einem weltweiten Kampf gegen Staatsgewalt, antischwarzen Rassismus, Kapitalismus, das monumentale Erbe von Sklaverei und Kolonialismus und den Mord an (cis und trans) Frauen. Die brutale Einsamkeit des letzten Jahres ist noch nicht beendet. Die Pandemie liegt noch nicht hinter uns. Die weltweite Zahl der Todesopfer überschreitet fünf Millionen. Die Erfahrung kollektiven Zusammenlebens, zufällige Treffen mit Fremden, die Fähigkeit, sich über die Grenzen des eigenen Zuhauses hinauszuwagen und zu einer Besucherin oder Ausländerin oder Touristin oder Reisenden an einem unbekannten Ort zu werden, zufrieden, auch ohne jemanden zu kennen, sind die unerreichbaren Vergnügen der vorpandemischen Welt. Tausende versammeln sich täglich an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten und haben keine andere Wahl, als sich der Gefahr einer Ansteckung und des Todes auszusetzen und die Bestrafung durch la migra zu ertragen.1 Millionen Menschen bleiben eingesperrt und isoliert in Gefängniszellen und sterben in noch nie dagewesenen Zahlen. In diesem Kontext ist die Arbeit der Übersetzung und die Fähigkeit von Ideen und Worten zu reisen ein notwendiges und lebenserhaltendes Geschenk. Wenn ich nur bei euch wäre – in einem globalen Lockdown ein unmöglicher Wunsch, eine vergebliche Sehnsucht, jedoch eine, die ihre Erfüllung findet in der spekulativen Arbeit der Übersetzung, die den Flieger oder die Brücke darstellt, die diese Zusammenkunft ermöglichen.

Mit großer Freude stelle ich diese Sammlung von Essays neuen Leser*innen vor. Die meisten Texte sind in den Jahren zwischen 2016 und 2020 entstanden, ein Zeitraum, der durch extreme Polizeigewalt, um sich greifenden Faschismus und die massiven Mobilisierungen und Proteste der Bewegung für schwarzes Leben gekennzeichnet ist. Diese Essays waren Reflexionen über die lange Geschichte der Unfreiheit und Experimente, die zu einer anderen Art und Weise führen sollten, schwarzes Leben zu schreiben und zu kennen. Gemeinsam ringen sie mit den Fragen: Wie ist schwarzes Leben im Kontext von Tod und Enteignung möglich? Wie kann man trauern oder wie trauert man tatsächlich in diesem unaufhörlichen Zustand verfrühten Todes? Welche Vision eines anderweitig könnte uns befähigen, zu leben und zu gedeihen? Wie können wir Freiheit auf dem Papier verfassen, sie auf den Straßen oder bei unserer Zusammenkunft am Fluss einstudieren? Angesichts der willkürlichen Gewalt der weißen Vorherrschaft, der Todesrate der Akkumulation, der Extraktion unserer Fähigkeiten zum Nutzen und Profit anderer, der Einfriedungen, die uns einsperren und festhalten, der Algorithmen und Taxonomien des Werts, die unsere Leben überflüssig machen, der „systemrelevanten“ Arbeit, die erschöpft und auszehrt, während sie die Welt am Laufen hält, angesichts all dessen, wie können wir uns da umeinander kümmern? Wie könnten wir dieser Welt ein Ende setzen und neue Regeln aufstellen? Gleicht diese unermüdliche Bemühung, eine neue Form der Existenz zu imaginieren, der Liebe? Oder ist Liebe schlicht ein Synonym für Abschaffung?2 Wie könnte gegenseitige Unterstützung eine neue Blaupause für das Mögliche liefern?

„Venus in zwei Akten“ ist der älteste dieser Essays. Er markiert den Beginn ausgedehnter Überlegungen zu Narration, Gegengeschichte, spekulativer Methode und kritischer Fabulation. Er war mein erster expliziter Versuch, die Themen von schwarzem Leben und sozialem Tod, Sklaverei und Freiheit gemeinsam mit formalen Fragen zu Plot, Zeitform, Dauer, Genre, Stimme, Narration und Methode zu behandeln. Die formalen und substanziellen Themen waren nicht voneinander zu trennen. Ich suchte nach einer Methode, die es Randfiguren, fühlenden Objekten und austauschbaren Personen erlauben würde, jene Einzäunungen des Denkens infrage zu stellen, die dieses Leben zum Rohmaterial der kapitalistischen Moderne machten, sie durch Beschreibung verdammten oder in erzwungenen Biografien und statistischen Tabellen entstellten, oder sie dazu nötigten, als Untertanen aufzutreten.

Seit der Veröffentlichung von Scenes of Subjection im Jahr 1997 bin ich besessen von Fragen des Archivs, des Schweigens, der Intransparenz, der Abwesenheit und des Nachlebens der Sklaverei sowie von der Arbeit der Erzählung und der Poesie, der Performance und der tagtäglichen Praxis, um diese Situation zu überwinden und ihr zu entkommen, um einen freien Zustand vorwegzunehmen und in ihm zu frohlocken. Kritische Fabulation hat mir einen Weg geboten, die Gewalt des Archivs zur Sprache zu bringen und seine Beschränkungen zu überschreiten. Diese Arbeit der imaginativen Rekonstruktion, der archivarischen Montage und Umstellung, des rekombinanten Narrativs, der spekulativen Geschichte und des personalen Erzählens sind zentral für meine Beschäftigung mit diesen Angelegenheiten und für meine Praxis als Autorin und Wissenschaftlerin.

Im Mittelpunkt der brutalen Geschichte der Welterschaffung stehen bei dem Gedankenexperiment, das sich über diese Essays hinweg entfaltet, die schwarze Frau* und ihre besondere Ungeschütztheit gegenüber den Zerstörungen der kapitalistischen Moderne, gegenüber der Erfahrung, als Fracht verschifft und geerntet, gezüchtet und gehandelt, ungeschlechtlich gemacht und ausgebeutet zu werden. Es widmet sich aber auch ihrer Fähigkeit, sich der auf geraubtem Land und geraubtem Leben errichteten Welt zu verweigern, ihr zu entkommen, sie zu zerstören und neu aufzubauen. Die Sammlung überschreitet die Grenzen der Genres, die Trennlinien zwischen Essay und Erzählung, Manifest und Fabel, Analyse und spekulativer Fiktion. Im Kern dieser wiederholten Beschäftigung steckt die Bemühung, die Position der Unbedachten, der Ur-Sklavin, des Inkubators zukünftigen Wachstums, des Eigentums des Herrn, des Werkzeugs des Arbeiters, der Aushilfe der Hausdame, des Maulesels der Welt, der verehrten und erniedrigten Schlampe zu artikulieren und alles wiederzugeben, was dem entkommt und darüber hinausgeht. Denn diese „sie“ ist die Matrix der Erschaffung und Zerstörung der Welt.

Saidiya Hartman, Herbst 2021

1La migra: Bezeichnung für die Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit der Vereinigten Staaten (ICE) (Anm. d. Übers.).

2Ich verwende hier Abschaffung für das englische abolition, was die vollständige Abschaffung eines Gesetzes oder einer Sitte bezeichnet. Im amerikanischen Kontext ist der Begriff eng verbunden mit der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, dem Abolitionismus, und findet Verwendung in politischer Theorie und im Aktivismus. (Anm. d. Übers.)

Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)

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