Читать книгу Oni - Sicherheitslücke Mensch - Samer El Badawi - Страница 10
ОглавлениеSequenz 1: Die Welt, die wir uns schufen
Mein Handywecker klingelt. 11 Uhr morgens, bei meinem Lebensstil wohl nichts Besonderes. Der Handywecker zeigt den 13. April 2238. Die Sonne scheint in meine, schon etwas ältere, sehr grau gehaltene Wohnung. Trist und für eine Renovierung bereit. Löcher in den Wänden und die Dämmung war so gut wie nicht vorhanden. Ich starrte an die Decke und versuchte meine Gedankengänge zu sortieren. Während die Sonne in mein Gesicht schien und ich merkte, dass es doch gar keine schlechte Idee wäre, mir endlich Gardinen zu kaufen, um nicht immer so ungemütlich verschwitzt aufzuwachen, klingelte der Live-Nachrichtenticker meines Handy-Alarms. Mein Handy war schon älter. Meine kleine Schwester schenkt es mir zu meinem 19. Geburtstag. 6 Jahre ist es her. Ich verseuchte es mit Viren aller Art, da ich als Jugendlicher unbedingt hacken lernen wollte. Es funktionierte auch halbwegs. Zwischen Tools und gefährlichem Halbwissen bewegte ich mich in der Szene. Ich kontrollierte im Online-Banking meine Einnahmen, wissend, dass sich an meiner Armut nichts geändert hatte. Die Live-Benachrichtigung ploppte erneut auf.
„Der Konzern und seine verdammten Nachrichten“, flüsterte ich vor mich hin. Eine vorinstallierte App, unmöglich sie zu löschen.
Der Paragraf 17 wurde verabschiedet, Wasser war nun kein Grundrecht des Menschen mehr. Ich starrte zwei bis 3 Sekunden geschockt auf mein Handy. Es machte sich einmal mehr Wut auf das System in mir breit. Doch wie so viele andere, war ich diesen Themen nach Jahrzehnten schon so emotional abgestumpft gegenüber, dass ich mich einfach entschied, mir erst einmal einen Kaffee zu machen.
Als ich das erhitzte Wasser meiner alten, mit Staub bedeckten schwarz-gräulichen Kaffeemaschine in meine Tasse gieße, kommt mir der im ersten Moment sarkastische Gedanke, dass dies doch jetzt ein Luxusgut wäre. Luxus war nichts für einen introvertierten Menschen wie mich. Ich war ruhig, beobachtete die Menschen um mich herum und war außerdem laut System „arbeitsunfähig“. Arbeitsunfähig in einer Welt ohne eine Mittelschicht. Ich bin wohl das, was die Gesellschaft als “Versager” sieht. Ich verwerfe diesen Negativgedanken und blicke in meinen kahlen und leerstehenden Flur.
Langsam wendete ich mich meiner Tür zu. In meiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung war es trotz Sonne sehr kalt. Ich konnte mir die erhöhten Strompreise nicht mehr leisten, also mussten es Decken fürs Erste als Ersatz für meine Heizung tun.
Als ich die Tür im Erdgeschoss meines Hausflures öffnete, sah ich eine belebte Großstadt. Jeder war in Eile, jeder in Hetze, jeder musste seinen Profit machen. Ich fragte mich, wie viele von denen, die ich hier über die breite mit roten Pflastersteinen versehene Straße laufen sah, Betrüger seien. Menschen, denen ihr Geld eigentlich nicht zusteht.
Doch mussten die Menschen hier nicht genau so agieren? Frei nach dem Motto “fressen oder gefressen werden?”. Gleichzeitig fragte ich mich, wie viele hier in meiner Situation sind, ich ließ meinen Blick über die Straße schweifen und entdecke beim genaueren Hinsehen so viele zerstörte Existenzen in den Gossen nach Geld betteln. Es war für mich immer wieder erstaunlich, wie mein Gehirn, selbst in meiner Situation, dass noch größere Leid ausblendete, es als unwichtige Information deklarierte, es waren ja nur “arme Menschen”. Ich hatte das “Glück”, dass meine Eltern, bevor sie uns verließen, um in der oberen Gesellschaftsschicht zu leben, uns diese kargen Räumlichkeiten überließen.
Dann sah ich mir einen Bettler einige Sekunden an, er lächelte mir zu und drehte sich eine Zigarette.
Ich rief einen der Bettler zu mir und gab ihm ein Stück Brot. Er lächelt erneut und sagte: „Wenn ich dir irgendwann mal helfen kann, scheue dich nicht, Bescheid zu sagen. Ich schlafe unter Kartons und Decken dort hinten in der Gasse an der Kreuzung.“
Ich lächelte und nicke ihm zu.
Die Obdachlosen des ersten Bezirkes waren menschlicher als die meisten Kaufleute hier.
”Danke dir mein Freund und tut mir leid falls es dir unangenehm ist, vor so vielen Mittelständlern mit mir zu sprechen...”
Ich war geschockt von dieser Aussage doch ließ ihn weiterziehen, ohne weiter auf diesen Satz einzugehen.
Im 23. Jahrhundert war der Unterschied zwischen Arm und Reich größer als je zuvor. Der Mensch besaß nur noch Angst oder Gier nach Erlebnissen. Doch ich hatte ein Talent, ein Talent, das mir Vorteile gegenüber dieser grausamen Gesellschaft brachte.
Das limbische System. Ich kannte es in- und auswendig. Es ist für das Triebverhalten des Menschen zuständig, auch bearbeitet das limbische System die emotionalen Informationen, die das Gehirn aufnimmt. Ich entdeckte es als Jugendlicher und studierte es aus eigenem Interesse. Die Stadtbibliothek war kostenlos und ich hatte eh nicht viel zu tun. Doch ich lernte durch das Beobachten der Menschen in meinem Umfeld schnell. Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, Intentionen und Emotionen zu lesen.
Meine Rechnungen bezahlte das auch nicht, aber ich klammerte mich an die Vorstellung, ihnen geistlich überlegen zu sein, denn auch ich war irgendwo im Narzissmus meiner selbst gefangen.
In einer Zeit in der IT-Sicherheit alles war, gab es eine Variable, die nie wirklich sicher war, die Variable Mensch.
Ich fing meine Gedanken ein und nahm die kostenlose Zeitung, die, wie jeden Morgen vor der Tür lag, auf. Warum kostenlos? Na ja, eine einfache Werbemaßnahme des Großkonzerns. Es ist wie auch schon damals im 21. Jahrhundert vor dem Massenzusammenbruch der Wirtschaft und den Angriff auf die reichsten 3 Prozent, ein einfaches Mittel, um Anhänger dieser Konsumgesellschaft zu werden.
Ich setzte mich wieder in meine kleine Wohnung. Schlug die Zeitung auf, von der ich doch eigentlich so angewidert war, und fing an zu lesen. Ein Gedenkspruch von Karl Marx als Überschrift des Hauptartikels:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Es scheint mir Ironie in seiner Endstufe zu sein, dies von dem größten und mittlerweile einzigen Konzern dieser Welt zu lesen. Nein es ist an Ironie nicht mehr zu übertreffen. Der Konzern hatte die komplette Monopolstellung zu allen Märkten weltweit. Doch um die Konsumgesellschaft gebunden zu halten, agierten sie, als hätte sich irgendetwas zum 21. Jahrhundert geändert und das, obwohl es offensichtlich war, dass das Leid der Mittel und Unterschicht nicht größer hätte sein können.
Ich schüttelte meinen Kopf. „Im Endeffekt bin ich ja nicht anders.“ Ein schlafender Kritiker.
Das Einzige, was mir geblieben ist, ist meine kleine Schwester.
Da meine Eltern, wie so viele erfolgreiche Kaufleute für den Konzern arbeiteten und es aber in unserer Zeit eine Widerlichkeit ist arbeitslos zu sein, hatten sie uns im Stich gelassen. Unter dem Vorwand, für die Familie Geld zu verdienen, ließen sie uns zurück. Als sie hörten,dass ihre Tochter erkrankte, zahlten sie einen Basisplatz im Krankenhaus, besuchen kamen sie die Kleine aber nie. Sie waren so herzlos wie die meisten in dieser Welt. Einnahmen maximieren und Ausgaben minimieren. Mit der Einlieferung meiner kleinen Schwester fiel das Kindergeld weg und so beschlossen sie, die Kosten nicht mehr zu tragen und an mich abzugeben, „denn ich hätte ja eh nichts Besseres zu tun und sollte Verantwortung übernehmen lernen.“
Eine billige Ausrede, um sich der Verantwortung Eltern zu sein zu entziehen. Sie erzählten mir, ich solle das Sorgerecht für ein paar Monate übernehmen, damit sie sich voll und ganz auf die Karriere im Konzern konzentrieren könnten. Gutwillig und naiv wie ich war, willigte ich ein.
Sie kamen nie zu uns zurück.
Ich kann mich noch wie gestern an den Schock und die Realisierung dieses Zustandes erinnern.
„Sie werden nicht zurückkommen, oder?”
Doch es brachte mich nicht voran, sie zu verfluchen. Ich las also die Zeitung weiter und versuchte diese ekelhafte Erinnerung wieder in meinem Unterbewusstsein zu begraben.
Börsenartikel, Technikartikel und einen großen Artikel über emotionale Gesundheit. Ich lachte leise, bis meine Stimme wieder verstummte. Die Gesellschaft schläft, wie sie es auch vor 100 und 200 Jahren tat. Während Feiern, Großveranstaltungen und die Begierde nach einem ereignisreichen Leben im Fokus des Lebens standen, setzten die Regierungen der Welt sich immer wieder zusammen, um Gesetze zur Kontrolle zu erbringen. Dass ich in dieser Zeit geboren wurde, heißt nur, dass ihr Plan aufgegangen ist. Die Reichen wurden noch reicher und die Armen immer ärmer. Bis zum Wirtschaftszusammenbruch 2083. Ein siebenjähriger Bürgerkrieg gegen den Staat und die Reichen begann. Doch die Schlüsselpositionen in diesem Krieg waren von Reichen ohne Herz besetzt. Wenn diese sich damals anders entschieden hätten … sich entschieden hätten, für das Wohl der Allgemeinheit, statt für ihr eigenes zu kämpfen, vielleicht hätten wir dann eine zufriedene Gesellschaft und keine, die sich gegenseitige Zufriedenheit vorgaukelt, um über die wachsenden vorhandenen Probleme hinwegzusehen. Diese Gesellschaft war eine tickende Zeitbombe und ein Massensterben des armen Menschen Ihr Ergebnis.
„Aber Hey, bis das passiert lebe ich ja schon nicht mehr oder?“.
Das 21. Jahrhundert brachte neben Krieg, Extremismus, Wirtschaftskrisen, wachsenden Umweltproblemen und Flüchtlingspolitik auch das Problem der Gier mit sich. Es war zu spüren, dass es viele Menschen gab, die sich die Regierung nicht mehr gefallen lassen wollten, und auch die Regierung wusste zum damaligen Zeitpunkt, worauf es hinauslaufen würde. Es gab keine Lösungsansätze, sondern nur Hass. Hass, der sich in die Herzen der Menschen einbrannte.
Ich merkte, wie mit jedem einzelnen Gedanken mein Kaffee zu sinken begann. Als er leer war, zog ich meine Kleidungsstücke an und machte mich auf den Weg ins lokale Krankenhaus.
Es war Zeit, meine Schwester zu besuchen. Auf dem Weg sah ich überall die Marken der Unternehmensgruppe an Straßenschildern, in der Bahn; überall Impulse in dieser Stadt, die doch so gerne noch futuristischer wäre, um dem schlafenden Kritiker, der ich bin zu zeigen, dass sie alles richtig gemacht hatte.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster, zeigte mir den lokalen Bezirkspark, den Ort, den ich am liebsten mit meiner kleinen Schwester besuchen würde.
In der Bahn wurde ich mit schamhaften Blicken der Kaufleute und Karrierejäger begrüßt. Ich setzte mich in die hinterste Reihe und versuchte mich, mit Piano-Musik aus vergangenen Tagen, zu beruhigen. Kunst war ein seltenes aber nie vergangenes Gut. Aber die Mainstream Medien und ihre Musik haben mir nie wirklich zugesagt. Außerdem wurden ja auch sie, die „Künstler“, vom Konzern ausgewählt und publiziert.
Ich entspannte mich und ließ meine Gedanken, nachdem ich einen Timer auf 15 Minuten gestellt hatte, erneut in die Leere gleiten.
„Überall diese Impulse, psychologische Schlagwörter soweit das Auge reicht, die absolute Reizüberflutung.“
Bei der Zielstation angekommen, richtete ich meine Klamotten, soweit man eine schwarze Jeans und ein dunkelgraues T-Shirt richten konnte. Auch mein Mantel hatte schon bessere Zeiten gesehen. Ich ging auf das Krankenhaus zu. Wie in jedem Laden des Konzerns wurde ich zuvor auf meine Identität überprüft. ID Karten mit elektronischer Identifikationskontrolle und Tracker. Ein Gesetz, das über den Konzern und die Lobby-Gesellschaften durch die Politik des Systems ermöglicht wurde.
Auch hier war der Aufschrei groß, doch getan hat am Ende niemand was. Das Stadium der Akzeptanz war auch in diesem Punkt schnell erreicht.
Die Massenmanipulation hatte seinen Auftrag erfüllt und die Oberschicht wachte zufrieden über alles andere.
„Genug davon“, dachte ich mir und freute mich, meine kleine Schwester wiederzusehen. Auch für meine emotionale Gesundheit war es schön, einen Menschen zu haben, mit dem ich mich austauschen konnte.
Ich betrat nach meinem Identitätsscan ihr Zimmer. Ein junges blondhaariges Mädchen. Ihr gesundheitlicher Zustand war nicht gut, das sah man ihr an. Aber ihre Freude war echt, und genauso war es meine. 12 Jahre alt. Es war eine Schande für mich, dass ich ihr nicht die Hilfe geben konnte, die ich geben wollte.
Das System gab mir keine Arbeit. Ich war „Emotional unzurechnungsfähig“. Das Social-Ranking-System des Staates hatte mich so eingestuft, und was die Analyse dieser verdammten Maschinen, die sich Regierung nannte, sagten, das war hier Fakt.
Das, was ich an Sozialhilfe bekam, floss zu 55 % in die Behandlung meiner Schwester, so lebe ich zwar in Armut, aber glücklich. Ich hoffte, meine Schwester hätte ein schönes Leben vor sich, nicht wie der Nichtsnutz, der ich war.
Sie lernte fleißig jeden Tag und sie bekam eine staatliche Förderung für Kranke, die nachweisen konnten, dass sie überdurchschnittlich intelligent sind. Ich dachte nicht, dass ich trotz meines Talentes für das limbische System, noch großartig was in dieser Welt ändern würde. Aber meine überdurchschnittlich intelligente kleine Schwester könnte es. Sie interessierte sich auch schon in ihren jungen Jahren für die Politik und ich dachte, dass sie eine realistische Chance hätte, etwas zu bewegen. Deshalb, und weil ich sie liebte, lebte ich mit Stolz in Armut, um ihr eine Zukunft zu ermöglichen, die besser war als meine eigene.
Ich habe ein Dach über dem Kopf und führe ein glückliches Leben.
Als ich den Raum betrat, schrie sie: „Super-Hobbs“, ein Spitzname, den sie mir gab. Ich erzählte ihr als kleines Kind, Super-Hobbs wäre der große Held unserer Familie, der sie immer vor allen Monstern beschützen würde, wenn es dunkel ist und sie allein Angst im Krankenhaus hätte. Einige Wochen später dann fing sie an, mir diesen Spitznamen zu geben. Sie sagte: „Du beschützt mich, also bist du auch Super-Hobbs!“
”Eigentlich habe ich so einen Namen doch gar nicht verdient...”
Wir sprachen eine Weile über ihr Lieblingsessen. Ich werde nie verstehen, was sie so an Waffeln mit Sahne hatte. Auch sprachen wir über die kulinarischen Dinge, die sie in ihrem Leben noch essen würde.
Wir redeten über Politik und über Moral. Aber irgendwo musste auch Platz dafür sein, ein Kind zu sein. Ich nahm sie huckepack und wir liefen lachend durch das Krankenzimmer.
Wir sprachen über ihren ersten „Brief-Freund” und über die Boyband, die sie so mochte.
Als ich sie zurück ins Bett legte, flüsterte sie mir „Ich habe dich lieb, großer Bruder“ ins Ohr.
„Ich dich auch, aber ich muss los, zum Amt“, erwiderte ich.
Ich sprach noch kurz mit ihrem Psychologen und stempelte mich aus.
Ich verließ das Krankenhaus. Auf dem Weg zum Amt kaufte ich mir ein Frühstücksbrötchen.
Ich war in Trance auf meinen Termin beim Amt fixiert. Ich ging im Kopf alle Unterlagen durch und wie meine Wortwahl gleich auszusehen hätte. Welche Argumente musste ich hervorbringen, wie mussten meine Tonlage und meine Körpersprache in welcher Situation aussehen, um das gewünschte Ziel zu erreichen, was wusste ich über mein Gegenüber?
Als ich an der Kasse war, wollte ich mein Portemonnaie aus meiner Jackentasche ziehen, als ich ungefähr 10 Meter von mir entfernt einen Polizisten einer dunkel gekleideten Person Handschellen anlegen sah. Im nächsten Moment realisierte ich, dass mein Portemonnaie von diesem Jemand geklaut worden war.
Wie konnte ich diesen Typen übersehen? Das wäre mein letztes Geld gewesen.
Der Polizist brachte mir das Portemonnaie und fragte mich in höflichem Ton, ob ich Anzeige erstatten möchte.
Er sieht sehr jung aus, und ich vernehme durch seine Dienstkleidung, dass er wohl zu einer IT-Einheit gehören muss und nur zufällig vor Ort war.
Ich antwortete: „Nein, aber Danke für die Rettung meines Geldes, keiner hat es heutzutage wirklich leicht, oder?“ Er lächelte und entgegnete: „Das ist keine Rechtfertigung für eine Straftat, ich wünsche einen schönen Tag der Herr.“
”Und achten sie auf Ihr Portemonnaie.” Er lächelte erneut und zwinkerte mir zu.
Ich erwidere das Lächeln, nicke und ging mein Frühstück bezahlen. Beim Amt angekommen, setzte ich mich in den Wartebereich und schärfte mein Gehör.
Als meine Sachbearbeiterin die Tür öffnete, vernahm ich eine gestresste Tonlage.
Ich wies sie darauf hin, dass ich ihren Stress verstehen könne, und dass ich mich bemühen würde, den Termin kurz zu halten.
Ihre Körpersprache war mir wie meist, sehr offen und zugeneigt gegenüber. Als sie jedoch ihre Fußposition unterbewusst von mir lenkte, ging ich in meinem Kopf kurz und knapp die schlimmsten Szenarien durch, ich veränderte dabei mein Gesichtsausdruck nicht. Ich nahm Mikroausdrücke des unwohl Befindens bei ihr wahr und analysierte den Schreibtisch nach Unterlagen, die auf Leistungsdruck von oben hinwiesen. Ich entdeckte anhand der vorliegenden Unterlagen, dass sie wohl zu vielen Menschen Sozialhilfe zubilligte und das gegen ihren Willen ändern musste.
In ihrem Gesicht bildete sich Ernsthaftigkeit, doch ich kam ihr zuvor und machte ein sarkastisch gehaltenes Kompliment, um die Stimmung zu lockern. Ich verwies darauf, dass mir bewusst war, dass sie sich an gewisse Zahlen von oben zu halten hatte.
„Sie können mich und meine Schwester doch jetzt nicht hängen lassen.”
Gleichzeitig erkläre ich ihr die Situation von mir und meiner Schwester, das Unwohl befinden in ihr musste größer werden als ihr Leistungsdruck. Die Variable Mensch war auch nach Tausenden von Jahren immer noch der einzige wirklich angreifbare Punkt im System.
Nach kurzem Gespräch sicherte sie mir die Leistung mit einer kleinen Kürzung zu. Ein zufriedenstellender Kompromiss, wenn wir die Ausgangssituation betrachten.
Mir war bewusst, dass unter dieser Entscheidung ein anderer keine Sozialleistungen mehr erhalten wird. Aber das ist nun mal das System, es ist ekelhaft und unfair.
Ich kam zu Hause an und öffnete meine Post. Rechnungen und Mahnungen.
Doch dann trifft es mich wie ein Schlag in die Milz. Mir wird übel. Ich fing mich am alten Holztisch meiner Küche.
Sehr geehrter Herr Hobbs,
es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Leistungsbeiträge durch den § 17 um 8 % steigen. Bitte richten sie jetzt einen Dauerauftrag per Identifikationsscan ein, um die Patientin Frau Hobbs weiter unter ihrer Rechnung laufen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Die Konzernmedizin
Meine Leistungen wurden vom Amt doch gerade erst um 10 % verringert. Ich gab doch schon 55 % meines Geldes an die Konzernmedizin und nun sollte ich auch noch 8 % mehr an die Konzernmedizin zahlen?
Doch ich fasste mich bei dem Gedanken an das Lächeln meiner Schwester. Ich würde nur noch die Miete bezahlen und den restlichen Tag mit Schuhe putzen und Betteln an die Kaufmänner meiner Stadt verbringen. Ein nicht zufriedenstellendes Leben führte ich ja jetzt schon, da konnte ich auch noch weiter sinken, ohne mich zu schämen.
Meine Schwester war mir das Wichtigste und ich wollte dieser Welt nicht einige der wenigen Hoffnungen auf Besserung nehmen, selbst wenn es heißen würde, dass ich von nun an hungern müsste.
Beim Putzen der Schuhe ließen mich die Menschen spüren, dass ich der unterste Rang ihres Systems war. Ich weinte abends vor Schmerz in der Brust über meine Situation und über den Hass auf das System, aber ändern konnte ich ja doch nichts.
„Verdammter Mist, ich muss doch irgendetwas tun können!”
Letztendlich war ich doch nicht mehr als ein schlafender Kritiker, jemand der sich beschwerte, ohne etwas zu unternehmen. Ich nahm die Welt hin so, wie sie war, da ich so in sie hineingeboren wurde.
Um ein Beispiel zu nennen. Das Konformitätsexperiment von Asch. Der Versuchsaufbau sah folgendermaßen aus: Mehrere Personen saßen an einem großen Konferenztisch. Der Versuchsperson, die diesen Raum betrat, wurde gesagt, es handle sich um andere freiwillige Teilnehmer an diesem Verhaltensexperiment. Die Wahrheit jedoch war, dass alle Anwesenden außer der Versuchsperson Vertraute des Versuchsleiters waren.
Auf einem kleinen Zettel wurde der Gruppe eine Linie dargestellt. Neben dieser Hauptlinie wurden drei weitere Linien gezeigt und es war die Aufgabe der Personen, einzuschätzen, welche dieser drei Vergleichslinien gleich lang wie die Hauptlinie war.
Bei jedem Durchgang war eine der Linien deutlich erkennbar gleich lang wie die Hauptlinie. In der Kontrollgruppe sollten die Vertrauten des Versuchsleiters ihre wahre Einschätzung in der Gruppe äußern, welche Linie die gleich lange sei. Erwartungsgemäß macht die Versuchsperson, die mit den heimlichen Vertrauten am Tisch sitzt, unter dieser Bedingung keinen einzigen Fehler. Das eigene gesunde Menschenverständnis war das gleiche der Gruppe, also wozu die Meinung auch ändern?
In der Experimentalgruppe fanden jeweils 18 Schätzungen statt. Während sechs dieser Durchgänge waren die heimlichen Vertrauten instruiert, ein richtiges Urteil abzugeben, damit diese 6 vertrauenswürdig für die Versuchsperson sind. Während der verbliebenen zwölf Durchgänge, die zufällig unter die 6 anderen Durchgänge gemischt wurden, sollten die Vertrauten einstimmig ein falsches Urteil abgeben. Sie sollten bewusst lügen.
Die Testpersonen passten sich bei einem Drittel der Durchgänge trotz offensichtlicher Fehlentscheidung der Mehrheit an. Man sollte meinen, eine Lüge bleibt eine Lüge. Auch, wenn sie von Tausenden geglaubt wird. Dem ist aber leider Gottes in dieser Gesellschaft nicht so. Wir schlafen alle, genauso wie die Testpersonen des Konformitätsexperiments von Asch, die das Unrecht hinnahmen; genauso taten wir es doch auch. Die Lüge, wir würden unter einem Monopol, das alle Gesetze und die Wirtschaft reguliert, frei leben. Es war offensichtlich, doch wir nahmen es alle einfach so hin.
Auch das Nichtstun hatte klare Konsequenzen. Einige Wochen vergingen und ich erhielt weitere Mahnungen für Rechnungen, die ich mit meiner Sozialhilfe nicht alle bezahlen konnte.
Auch das Geld, was ich beim Putzen und Betteln sammelte, sollte nicht reichen.
Ich bekam einen Anruf meiner Bank. Ich wusste, was dieser Anruf zu bedeuten hatte. Ich rief die Unternehmen an, denen ich Geld schuldete und versuchte mit aller Kraft, verzweifelt kleinste Ratenbeiträge auszuhandeln. Doch das System nahm mir auch den letzten Funken an Hoffnung, den ich in mir trug. Manipulation gelingt nur bei Menschen, Systeme lassen sich leider nicht durch Steuerung emotionaler Elemente nach eigenem Belieben richten.
Ich konnte die Rechnungen nicht bezahlen, weil ich zu wenig Leistung vom System erhielt. Ich konnte die Rechnungen nicht bezahlen, weil mir das System keine Arbeit gab, und würde ich kriminell werden wie viele vor mir, würde es, sobald ich ins Gefängnis gehen würde, niemanden mehr geben, der die Rechnungen meiner kleinen Schwester zahlen würde.
Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Weinend und schreiend. Mir hatte das System alles genommen und die Konzernmedizin würde es ohne mit der Wimper zu zucken übers Herz bringen, meine Schwester ohne Behandlung in den sicheren Tod zu schicken. Das Gefühl, etwas ändern zu wollen, aber es nicht zu können. Wer kennt es nicht? Es zerreißt einem langsam und schmerzhaft das Herz.
Ich suchte meinen Laptop raus. Mein rot-schwarzer Laptop mit der blauen LED Maus. Er wurde mir als Kind von meinen Eltern geschenkt. Ich war 12. Ich sollte lernen, mit der Technik umzugehen, um später ein guter Mitarbeiter im Konzern zu werden. Doch daraus wurde nichts. In dieser Zeitepoche eine hohe emotionale Intelligenz zu besitzen bedeutet, psychisch labil zu sein. Daraus folgend wurde ich durch das System arbeitsunfähig.
Es musste sich was tun. Mein Kopf arbeitete nun auf Hochtouren. Meine Schwester durfte nicht sterben, ich ging Wahrscheinlichkeitsrechnungen in meinem Kopf durch, durchsuchte Kriminalstatistiken und schmiedete einen Plan.
Durch meine schnelle Auffassungsgabe und mein Verständnis für Technik hatte ich mir in kleinen Schritten das Hacken mit bestimmten Tools beigebracht und diese Tools waren nun meine letzte Hoffnung, um meine Schwester vor dem sicheren Tot zu bewahren.
Über verschiedenste Tricks und Fakes erschuf ich eine Mehrzahl an für Profis leicht zu durchschauenden Fake Identitäten. Ich freundete mich in Bars und sozial beliebten Treffpunkten mit Menschen an, die ich über eine Vielzahl kleiner Hackerangriffe um ihre Vermögen brachte. Da ich immer Fake Identitäten nutze und keiner mich als Freund in Verdacht hatte, würde ich ziemlich abgesichert sein und könnte möglicherweise sogar Rücklagen für die Zukunft bilden. Vielleicht war ich nun nicht besser als das System, das mir jede Möglichkeit nahm, aber ich konnte beschützen, was mir lieb war.
„Ich habe doch gar keine andere Wahl als die Kriminalität!” schrie ich mir selber zu.
Über die Zeit wurde ich im Untergrund der Hacker-Szene immer bekannter und die Medien nannten mich „Oni“, da der einzige Hinweis auf mich von der Einsatz-Abteilung der IT-Polizei ausging und die mich nur bis zu einem Proxy-Server in Japan zurückverfolgen konnten, dachte sich irgendein Witzbold, dass dieser Name wohl zu mir passen würde.
Mir war es relativ, wie sie mich nannten, ich konnte nun meine Rechnungen zahlen und mir blieb am Ende des Monats sogar ein wenig Geld übrig, warum sollte ich nicht die beklauen, die mehr als genug besaßen?
Den Medien war bekannt, dass das Synonym „Oni“ besonders reichen Geschäftsleuten Kleinbeträge abnimmt und die allgemeine Meinung von meiner Hacker-Identität war sehr negativ. Um nicht zu sagen: Die Menschen hassten mich, und das leider Gottes mit Recht. Doch interessieren tat es mich nicht wirklich. Ich nutzte meine Mittel. Ich war besser als jeder von ihnen. Ich wollte beschützen, sie nur reich werden, und wenn was für mich übrigblieb, nahm ich es. Immerhin hatte ich ja auch dafür gearbeitet, diese reichen Kaufleute auszunehmen.
Doch ich hatte nach Wochen des Diebstahls jetzt viel größere Probleme als die öffentliche Meinung meiner selbst.
Ein Mitarbeiter der IT-Polizei gab ein öffentliches Statement per Schreiben, dass sie auf bestem Wege, sind mich zu verhaften.
Das Gesicht der Pressekonferenz kam mir bekannt vor:
“Lass dir eins gesagt sein “Oni”, das, was du tust, tust du ohne Recht, und wir von der IT-Polizei werden dich dafür belangen!”.
Mir lief es kalt den Rücken runter. Hatte ich einen Fehler begangen? Wo habe ich nicht aufgepasst, waren meine Tools und meine Software fehlerhaft?
Ich musste die Schuld von mir weisen. Es gab zwei Dinge, die nicht passieren durften:
Nummer 1: Mein Konto würde gesperrt werden,
Nummer 2: Ich würde ins Gefängnis gehen.
Ich schlich mich in derselben Nacht raus. Ich machte mich auf den Weg zum Finanzdistrikt. Den am besten verdienenden Mann meines Bezirks, diesen würde ich verantwortlich machen. Er würde sich freikaufen und keiner hätte ein Problem. Geld regelt alles in dieser Welt, oder nicht?
Ich kopierte einen Sicherheitsausweis für Besucher in einem Internetshop auf dem Weg und laminierte diesen nach dem Online-Vorbild des aktuellen Besucherausweises. Ich sehe für mein Alter glücklicherweise sehr jung aus. In einer Gasse fing ich an, mich selbst zu verletzen. Ich schlug mir mit aller Kraft einen Ziegelstein auf die Hand und biss dabei in meine Jacke, damit niemand mein Leiden mitbekommen würde.
Mit gebrochener Hand und einigen kleinen blauen Flecken im Gesicht ging ich nun ans Sicherheitstor und sagte, dass ich mein Handy vergessen hätte. Ich hatte den folgenden Trick zwar aus einem Film, aber mir war klar, dass er funktionieren würde.
Auf die erste Absage des Sicherheitsdienstes, mich reinzulassen, erfand ich die Lüge, dass ich doch von einer Gang misshandelt werden würde. Ich hätte Schulden und würde es an sie abgeben. Ich erzählte weinend davon, wie sie mir die Hand brachen, und dass die Polizei nichts unternehmen würde.
Der Sicherheitsdienst sah meine gebrochene Hand und die blauen Flecke, sah sich meinen Besucherausweis ein paar Sekunden an.
Ich sagte wehleidig: „Bitte helfen Sie mir …“
„Mein Gesichtsausdruck gegenüber meinem wahren ich könnte keine größere Differenz tragen.” sagte ich mir selber in Gedanken.
Mit dieser Aussage gab ich ihm aus psychologischer Sicht die Verantwortung für alle Konsequenzen, die diese imaginäre Gang mir antun würde, wenn er nicht Partei für mich ergreifen würde. Es war wichtig, ihn als Menschen anzusprechen und nicht als Sicherheitsdienstes des Finanzdistrikts.
Ich wandte mich nach drei Sekunden der Nichtreaktion von ihm ab, um ihn unter Zeitdruck zu setzen. Er reagierte und ließ mich kurz mein Handy suchen. Zu allem Überfluss begleitete er mich nicht einmal. Er gab mir einfach nur ein Zeitfenster von 15 Minuten, um mein Handy zu suchen und zu verschwinden.
Ich ging zum Serverraum und installierte einen Keylogger. Ein Programm, das die Tastatureingaben mitschreiben konnte. Als Vorgabe gab ich bei den Servern, die alphabetisch sortiert waren, meinen Bezirksserver und den Benutzer mit den höchsten Einnahmen an. Mir war, wie erwähnt relativ egal, wer dieser Mann war, ich wusste nur, ich musste meine kleine Schwester retten.
Ihr Zustand hatte sich seit meinem letzten Besuch verschlechtert und ich würde sie auf jeden Fall wieder öfters besuchen kommen, wenn das hier vorbei war.
Ich verließ den Raum und meldete meine falsche Identität beim Wachmann mit einem breiten zufriedenen Lächeln und einem riesigen Dankeschön mit Umarmung ab. Ich zeigte ihm beim Umdrehen zufrieden das Handy und sicherte mir das Vertrauen.
Nun hieß es nur noch, bis zum nächsten Tag warten, wenn sich der Mitarbeiter des Finanzamtes einloggen würde, um seine Steuerabgaben an den reichsten Mann meines Bezirkes abzugeben, würde der Keylogger greifen, und ich würde seine Identitätsnummer verwenden, um meine Datenströme auf seine Internetadresse umzuleiten. Mein Plan erfolgte automatisiert und erfolgreich.
Am nächsten Tag saß ich zufrieden in meiner Küche. Ich wusste, durch die Bestätigung des Keyloggers, dass alles geklappt hatte. Dieser löschte sich nach Übertragung selbst. Es gab nichts, was zu mir zurückführen könnte, und alles, was den reichsten Mann meines Bezirkes für die Verhaftung belasten sollte, war nun auch bei ihm angekommen.
„Er bekommt meine gestohlenen Einnahmen, Ich sein Reichtum, ich habe gewonnen.” sagte ich mir selbst.
Wie jeden Morgen machte ich mir einen Kaffee und machte mich auf den Weg in den Hausflur, um meine Zeitung abzuholen.
Als ich nun vor meiner Tür stand, mit dem schon fast kalten Kaffee in der Hand, sah ich zu Boden und entdeckte, dass wohl diesmal auch ein Lokalextra meines Bezirkes dabei war.
Ich wusste, dass die Verhaftung doch noch nicht durch sein konnte. Also fragte ich mich, was es so Interessantes zu lesen geben würde.
„Lokale Extraausgabe für Ihren Bezirk!“
Der Umsatz des Konzernkrankenhauses schießt in die Höhe und der jetzige Chefarzt kaufte die absolute Mehrheit der Marktanteile an dem Krankenhaus. Er möchte die medizinische Versorgung verbessern und zu einem gesünderen Bezirk für uns alle beitragen!
Im Interview mit der Konzernzeitung sagte der Chefarzt und nun auch Eigentümer des Krankenhauses:
Es gibt so viel Leid an jeder Ecke, man muss nur genau hinsehen. Durch meine Familie im Vorstand des Konzerns der Stadt erbte ich letzte Woche ein kleines Vermögen und ich wollte nicht nur als der reichste Mann des Bezirkes bekannt sein. Nein, ich möchte als jemand bekannt sein, der etwas für die Menschen getan hat. Deshalb habe ich mein Vermögen heute um 16 Uhr genutzt, um das Krankenhaus privat aufzukaufen und medizinische Verbesserungen in jeglicher Hinsicht vorzunehmen.
Beeindruckende Leistung des Chefs und neuen Inhabers des Bezirkskrankenhauses. Sie können stolz auf sich sein!
Und dann dämmerte es mir. Der zum gestrigen Abend reichste Mann des Bezirkes war der Eigentümer und Chefarzt des Krankenhauses. Der Mann würde nach der Verhaftung seine Lizenz und sein Eigentum an den Bezirk verlieren. Die IT-Polizei würde den Schluss ziehen, dass er durch die gestohlenen Gelder immer mehr Anteile am Konzernkrankenhaus kaufen konnte.
„Verdammt!“ schrie ich aufgebracht auf.
Diejenigen, die es sich leisten können, würden versetzt werden, und diejenigen, die es sich nicht leisten können, würden entlassen werden.
Würde ich mich stellen, würde ich ins Gefängnis gehen, und mein Konto würde staatlich eingefroren werden.
Ich hatte mir die letzte Möglichkeit auf Besserung genommen. Ich und das System wir waren beide Abschaum.
Ich hatte den Tod meiner kleinen Schwester herbeigeführt. Ich war verantwortlich für den Tod des letzten Menschen, den ich wirklich aufrichtig liebte
Ich brach in meiner Küche zusammen. Ich weinte und schrie. Mein eigener Fehler, und ich konnte ihn nicht wiedergutmachen.
Sie würde morgen nach der Verhaftung von der Polizei zu mir gebracht werden, da ich ihr Notfallkontakt war. Sie würde mit ihrer lieblichen Art, immer wieder betonen, dass es nicht meine Schuld sei das sie nun sterben würde.
Dass sie im Unrecht damit liegen würde zerriss mir mein Herz, ich konnte nicht atmen, schnappte nach Luft und wurde bewusstlos.
„Du musst doch nicht viel mehr tun, als die Reichen erneut zu beklauen, vergiss nicht, du bist Oni!” Ich musste Träumen, diese schwarze Maske war wie ein Ebenbild meiner verzerrten Gelüste, nach Geld.
Dann wurde es wieder schwarz um mich herum.
„Was war das bloß?” fragte ich mich selber.
Die Tasse mit Kaffee lag auf dem Boden, der Kaffee verschüttet und die Tasse zerbrochen. Ich fing mich und meine Gedanken ein. Es kommt, wie es kommen musste, am Abend ist es in allen möglichen Nachrichtenkanälen, die Verhaftung des Mannes, den ich seiner Existenz beraubt hatte, um meine eigene aufrechtzuerhalten.
Nun hatte ich den Namen „Oni“, den mir der Untergrund und die Medien gaben wirklich verdient. „Oni“, ein Dämon, ein Verursacher von Unheil, dessen einziger Lebensinhalt die Zerstörung ist.
Ich stand an meinem Küchenfenster und drehte mir eine Zigarette aus Resttabak.
Es klingelte an der Tür, und meine Schwester stand mit Angst in den Augen und zwei Beamten hinter sich vor der Tür.
Ich bat sie herein und erledigte mit den Beamten den Papierkram. Sie waren wie Roboter, kein Mitgefühl oder sonstiges. Die Hauptsache war für sie, dass sie nichts mit so einer Situation zu tun haben. Ich merkte der Tonlage an, dass sie sich über den Zustand meiner Wohnung lustig machten.
„Was für Arschlöcher“, ging es mir durch den Kopf. Ich hatte nicht die Kraft, um mit ihnen zu diskutieren.
Ich nahm meine kleine Schwester in den Arm und sagte ihr, dass alles gut werden würde.
Die Beamten verließen meine Wohnung.
Nach einigen Minuten Stille sagte meine kleine Schwester „Ich weiß, dass ich sterben werde.“
Ich fing an zu weinen, ich konnte diesem unfairen Druck nicht mehr standhalten, warum sollte das alles uns passieren? Warum bekamen wir Leid und andere badeten in Geld? Warum konnte mir das System nicht die Möglichkeit geben zu arbeiten?
Sie redete weiter: „Ich weiß, dass du alles versucht hast, aber ich habe dem Arzt zugehört und auch er sagte, selbst bei erfolgreicher Behandlung würde ich niemals das Alter von 15 überschreiten.“
Ich drückte sie fest an mich.
Sie fuhr fort: „Weißt du großer Bruder, eine Krankenschwester kam zu mir und sagte mir, dass ich dir bei deinem nächsten Besuch meine Ziele und Wünsche erzählen soll.“
Ich unterbrach sie und gestand lautstark, dass es alles meine Schuld war.
Sie fragte mich, was ich meinen würde, und ich erklärte ihr alles, so gut es nur möglich war. Dass ich Oni war, die Umschuldungen, die Kürzungen meines Geldes, das Putzen und Betteln und den größten meiner Fehler, die Schuld jemandem in die Schuhe zu schieben, der die Welt ein kleines Bisschen besser machen wollte und damit den sicheren Tod für sie zu besiegeln.
Sie weinte nun auch und nahm mich in den Arm, sie sagte, es würde alles gut werden und ihre Wünsche seien, dass ich was gegen die Ungerechtigkeit des Systems unternehmen sollte, dass ich ein glückliches Leben führe, so als wäre sie noch an meiner Seite und dass wir irgendwann im Himmel zusammen Waffeln essen.
Bei dem letzten Wunsch wussten wir beide nicht mehr, ob wir lachen oder weinen sollten. Bevor sie einschlief, sagte sie noch, dass sie mich lieb habe und ich erwiderte. Es hörte sich mehr wie eine Verabschiedung an als wie eine Begrüßung im neuen Heim. Ich wusste, das Ende für sie würde früher kommen, als der Arzt es diagnostiziert hätte.
In dieser Nacht starb meine kleine Schwester in meinen Armen.
Es vergingen Tage und Wochen, in denen ich das Haus nicht verlassen konnte. Ich wurde schwer depressiv, hasste mich selbst für die zuletzt geschehenen Ereignisse. Ich wollte nicht essen und konnte nicht schlafen.
Auch bei zukünftigen Systemchecks zur Arbeitsvermittlung sah meine psychologische Auswertung nicht vor, mir eine Arbeitserlaubnis zu erteilen. Dieses System war krank. Es war genauso krank wie ich, der dachte, er könnte was ändern. Mit der Intention Böses zu tun, nur um sein eigenes Leben zu nähren. Ich glaubte schon lange nicht mehr daran, dass die Menschen ihre Augen öffnen würden, indem man ihnen positive Impulse geben würde. Denn das tat der Konzern ja schon seit einem halben Jahrhundert als Werbemaßnahme, um die Masse still zu hallten.
War es überhaupt möglich, die Welt zu ändern? Die Welt zu einem besseren Ort zu machen, so, wie es meine kleine Schwester vor ihrem Tot wollte? Wollen die Menschen nicht lieber schlafen?
Konsum gesteuert und blind gemacht von den Problemen, die unsere Welt hat. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, die fehlende Menschlichkeit lässt diejenigen, die von Hilfe abhängig sind langsam aber mit Sicherheit in die Armut rutschen. Das Wort Menschlichkeit scheint ersetzt durch „finanzielle Freiheit“ und diejenigen die ein Problem mit dieser Welt haben wie ich?
Wir sind nur schlafende Kritiker, die nicht die Macht haben was zu unternehmen und ich muss mich ehrlich fragen: Wäre ich auf der Sonnenseite des Systems aufgewachsen, ohne die Probleme, die diese Welt hat, wirklich zu realisieren, würden sie mich überhaupt interessieren?
Korruption und Elend sind der Spiegel des Reichtums. Wo einer gewinnt verlieren zwei andere das, das ist das System, auf dem der Sieg des Konzerns sich ausruht. In Monopolstellung weltweite Nummer 1. Wie denn auch anders, jedes andere Unternehmen wurde aufgekauft, erpresst oder durch gezielte Medienberichte in den Ruin getrieben. Bildung basiert nur noch darauf für die Monopolstellung des Konzerns zu arbeiten.
Kreativität in allen ihren Formen ist schon lange kein fester Bestandteil dieser Gesellschaft, sie ist nur noch ein Stilmittel für die sogenannte „finanzielle Freiheit“ nach der sich der Mensch immer noch so sehnt.
Nächstenliebe ist schon lange ein Traum. Der Hass, der sich im 21. Jahrhundert aufgestaut hat, dieser hat sein Misstrauen auch bis heute nach sich gezogen. Wir Menschen haben uns unsere eigenen Mauern geschaffen und uns entschieden diese nie wieder einzureißen.
Vertrauen gibt es nur noch als Sicherheit und ist im Endeffekt auch nur ein Mittel, um die emotionale Gesundheit seiner selbst aufrechtzuerhalten, um immer weiterzuarbeiten und mit der Illusion zu leben, da wäre jemand, der einen auffängt, wenn ich falle. Doch die traurige Wahrheit ist, wir als Menschen haben versagt.
Wir wollten immer und immer mehr. Immer höher, immer schneller und immer reicher werden. Geführt hat uns das in Umweltkatastrophen, Armut, Hass und Spaltung. Aber lobpreisten den technischen Fortschritt wie die Götter, für die wir uns selbst hielten.
Gier, Neid, Armut, Hass und Spaltung.
Die Gesellschaft, ein Wrack der vorgegaukelten Emotionen.
Das ist die Welt, die wir schufen.