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Chapter One – Back to Hell
ОглавлениеWolfville, Nevada. Ein Provinzkaff mitten in der Pampa, irgendwo vergessen zwischen Bergen und Wüste. Hier lag sozusagen der Wolf begraben: der eine kümmerliche Streuner, der vor der Stadtgründung einmal in der Gegend gesichtet worden war und dem das Städtchen seinen Namen verdankte. Vermutlich war es auch nur ein Kojote gewesen.
Um es auf weniger hinterwäldlerische Weise auszudrücken: Die Zivilisation lag ungefähr einen Tagesmarsch entfernt.
Peinlicherweise war Bea hier aufgewachsen.
Glücklicherweise sollte ihr jetziger Aufenthalt hier nicht lange andauern. Es war schon schlimm genug, mit Mitte Zwanzig wieder zu Hause einziehen zu müssen, das wollte sie bestimmt nicht unnötig in die Länge ziehen. Und das war garantiert auch im Sinne ihrer Mutter.
Schon bei dem Telefonat, in dem Bea sie darum bat, eine Weile lang bei ihr wohnen zu dürfen, weil sie nirgendwo anders hinkonnte, hatte sie mehr gebrummt als gesprochen. Und bei Beas Ankunft hatte sie dann nur gemeint: »Du weißt, wo dein Zimmer ist. Kauf dir dein Zeug selbst und bau nicht wieder irgendwelche Scheiße, klar?«
Nun ja, wenigstens war sie nüchtern gewesen.
Tief seufzend schlug Bea die Haustür hinter sich zu und schaute sich draußen um. Ihr Elternhaus stand inmitten eines gepflegten Wohngebiets, in dem vorwiegend junge Familien mit Kindern wohnten. Vor den Häuschen reihten sich liebevoll angelegte Blumen- und Kräuterbeete aneinander, und an den blütenweißen Gartenzäunen lehnten kleine, bunte Kinderfahrräder. Sehr idyllisch. Bea drehte sich dabei der Magen um.
Nicht, dass sie etwas gegen glückliche Familien mit hübschen Häusern hätte – im Gegenteil. Aber die Umgebung machte ihr nur jedes Mal schmerzlich bewusst, dass das Haus der Kramers, ihr Elternhaus, von jeher ein Schandfleck gewesen war. Mit der krummen Tür, dem halb ausgehängten Fliegengitter, der wild wuchernden Wiese ums Haus und dem Müll, der hier überall herum lag, spiegelte es das Chaos, das in der Familie herrschte, nach außen wider. Doch erst am Nachmittag wurde das Bild in seiner Hässlichkeit abgerundet. Dann, wenn Beas Mutter auf der vergammelten Veranda auf ihrem lädierten orangefarbenen Plastikstuhl saß, ein Bier nach dem anderen kippte und die Kinder anbrüllte, die auf der Straße spielten.
Rosemary Kramer war nie eine dieser Vorzeigemütter gewesen. Es schien jedoch noch schlimmer geworden zu sein, seit Bea fortgegangen war. Sie wunderte sich ernsthaft, warum ihre Mutter hier noch geduldet wurde. Sie wunderte sich ebenso, wie die chronisch abgebrannte Alkoholikerin das Haus halten konnte. Seit Bea wieder hier war, hörte sie eigentlich gar nicht mehr auf, sich zu wundern – auch über den Kellnerjob ihrer Mutter in einer zwielichtigen Bar am Ortsende.
Die Arbeit war sehr gut bezahlt, was bereits ein Widerspruch in sich war. Davon abgesehen, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass Rosemary beim Kellnern zuverlässiger war als in anderen Bereichen ihres Lebens. Was wiederum eben die Frage aufwarf, wieso sie dort noch arbeiten durfte.
Etwas anderes, über das sich Bea nicht weniger wunderte, waren die laut knatternden Geräusche, die ständig durch den Ort hallten. Ungewöhnlich viele Motorräder schienen Wolfville zu passieren.
Bea schüttelte den Kopf. Wieso machte sie sich überhaupt Gedanken über all diesen Kram? Sie blieb ohnehin nicht lange hier. Sobald sie genügend Geld zusammengekratzt hatte, würde sie verschwinden und nur eine Staubwolke zurücklassen. Wie der Roadrunner aus der Zeichentrickserie.
Sie klopfte ihre Hose ab – sie hasste die staubige Luft hier draußen – und begutachtete nochmals ihr Outfit: Schlichte weiße Seidenbluse, schwarze Stoffhose, Lederpumps. Sie war nicht sicher, welche Garderobe für den ersten Arbeitstag im Bürgerbüro des Rathauses angemessen war, aber sie hatte eben nur ihre New Yorker Kleidung. Außerdem verbog sie sich für diese alberne Hiwi-Stelle bestimmt nicht.
Sie unterdrückte ein Schnauben und machte sich bewusst, dass sie pleite war und froh über den Job sein sollte. Sie hatte Glück, in diesem Kaff überhaupt anständige Arbeit gefunden zu haben, wenn auch nur, weil der Bürgermeister ihrem Vater einiges verdankte. Sie hatte all die Jahre nicht mehr daran gedacht, aber nachdem Jacob sie rausgeworfen und sie auf der Straße gestanden hatte, ohne Job, ohne Freunde, aber dafür mit einem Berg Schulden und einer Strafanzeige am Hals, war sie wohl verzweifelt genug gewesen, um sich daran zu erinnern.
Als Leiter der städtischen Baubehörde hatte ihr Vater damals ziemlichen Einfluss, den er unter anderem dafür genutzt hatte, dem heutigen Bürgermeister zu seinem Amt zu verhelfen. Bea hatte Mister Cornwall nicht einmal daran erinnern müssen, sie hatte am Telefon lediglich ihren Namen und ihr Anliegen genannt, da versicherte er ihr bereits, sie bei ihm unterzubringen. Er versprach ihr sogar, eine neue Stelle für sie zu schaffen, was aus bürokratischen Gründen jedoch eine Weile dauern konnte. Die Mühlen der Verwaltung … Da würden vorher noch Jahre ins Land gehen.
Deswegen musste sie sich in der Zeit, in der sie hier war, mit einem beschissenen Aushilfsjob abgeben, der eben gerade frei geworden war. Bei der miesen Bezahlung würde sie nie ihre Schulden abstottern und aus Wolfville rauskommen können, doch für den Anfang musste sie sich damit zufriedengeben. In ihrer Lage durfte sie nicht wählerisch sein.
Sie seufzte erneut, dann überwand sie sich schließlich und ging auf den rostigen Pick-up ihrer Mutter zu. Sie wusste nie, ob der Schrotthaufen sie ans Ziel brachte, bevor er auseinanderfiel, aber – sie wiederholte es gedanklich wie ein Mantra – in ihrer Lage durfte sie nicht wählerisch sein.
Bea fuhr aus dem Wohngebiet und auf der Hauptstraße entlang in Richtung Rathaus. Wolfville hatte sich kaum verändert – von wenigen hübschen Wohngebieten abgesehen, war es lediglich eine Ansammlung grauer Betonklötze mit staubigen Dächern. Im Gegensatz zu New York schien die Stadt winzig und die Straßen waren so menschenleer, dass sie erwartete, Strohballen über die Fahrbahn rollen zu sehen. Auf dem Weg kam sie an den denselben kleinen, von Einheimischen geführten Läden vorbei wie früher, und im Hintergrund erhoben sich die vertrauten alten Berge. Ihr fehlte New York mit seinen Hochhäusern, dem Gewimmel auf den Straßen, Taxis, bunte Lichter, schicke Läden und Restaurants … Leider konnte sie sich die Metropole nicht mehr leisten.
Der Auspuff des Pick-ups knallte laut wie ein Pistolenschuss, als Bea auf den Parkplatz vor dem Rathaus abbog. Sie stellte den Wagen ab und stapfte widerwillig auf den Eingang zu. Im Gegensatz zu den anderen winzigen Häusern wirkte das Rathaus mit seinen vier Steinsäulen und dem pompösen Kuppeldach überaus protzig. Selbst die Kirche konnte da nicht mithalten. Bea hatte nie verstanden, wieso das so war.
Sie trat durch die schwere Holztür und meldete sich in Zimmer Dreizehn – bei ihrer neuen Chefin Mrs Sanchez. Es handelte sich um eine dickliche Dame in gehobenem Alter, die allem Anschein nach ein Faible für knallige Farben hatte, ihrer bunten Garderobe und den scharlachrot gefärbten Haaren nach zu urteilen. Dieser fröhliche Look war allerdings ein krasser Gegensatz zu dem strengen und durchdringenden Blick, mit dem sie Bea bedachte.
Mrs Sanchez führte sie in einen langen Flur im Erdgeschoss, wo reihenweise winzige Abteile mit Schreibtischen untergebracht waren, separiert durch dünne Trennwände aus Dämmstoffmaterial. Die Arbeitsplätze erinnerten Bea an Schubladen. Und ihre Schublade schien die kleinste und engste überhaupt zu sein. Als hätte man nicht mit ihr gerechnet und sie nachträglich hinten ins Eck gequetscht.
Mrs Sanchez warf einen Stapel Papier auf Beas Miniatur eines Schreibtisches und deutete auf den Drehstuhl.
»Dies ist Ihr Reich, Miss Kramer«, sagte sie schnippisch. »Ein so schlaues Köpfchen wie Sie wird sich bestimmt allein zurechtfinden. Immerhin haben Sie Betriebswirtschaft studiert, oder nicht?«
Sie zog die Nase kraus und schaute Bea von oben bis unten missfällig an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und ohne weitere Erklärung davonrauschte. Was für ein Empfang …
Entweder hielt sie Bea für ein Yuppie-Püppchen und dachte, dass sie ihre Zeit hier lediglich absaß, bis sie einen besserbezahlten Job fand. Oder – die viel schlimmere Variante – sie war schon hier gewesen, als Beas Vater noch im Rathaus gearbeitet hatte. In diesem Fall wäre ihr Verhalten sogar nachvollziehbar. Unbestreitbar kompetent in seinem Job, war ihr Vater in sozialer Hinsicht schlicht unfähig gewesen. Frank Kramer, der frauenverachtende Säufer, war bekannt und berüchtigt für seine Pedanterie, Launenhaftigkeit und seinen Jähzorn. Bestimmt waren einige dieser Leute hier sehr froh über den frühen Tod ihres Kollegen.
Bea schlüpfte in ihre Schublade, ließ sich auf den Stuhl plumpsen und beäugte den Papierstapel.
»Sie sind also die Neue.« Das Grinsen war unüberhörbar.
Sie drehte sich um und musterte den Kerl, der ihr mit seiner Kaffeetasse zuprostete. Von seiner gestylten schwarzen Tolle über den lachsfarbenen Schal bis hin zu der viel zu engen Jeans war ihm deutlich anzusehen, dass er sich offensichtlich für unwiderstehlich hielt. Bea unterdrückte ein Augenrollen.
»Ähm, ja, ich –« Sie erhob sich halb und streckte ihm die Hand entgegen, um sich vorzustellen, aber er drückte ihr nur seine Tasse in die Finger.
»Kommen Sie doch gleich in mein Büro und bringen Sie mir einen frischen Kaffee mit. Ich habe einige aufgelaufene Kopieraufträge, derer Sie sich annehmen müssten.« Er grinste sie derart dreist an, dass es ihr die Sprache verschlug. »Milch und Süßstoff«, fügte er hinzu, dann rauschte er davon.
Wo war sie hier nur gelandet?
Bea umklammerte die Kaffeetasse und schaute dem Mann irritiert hinterher. Nachdem er um die Ecke gebogen war, ließ sie den Blick auf der Suche nach einer Kaffeemaschine durch den Raum schweifen, konnte jedoch nichts entdecken.
Seufzend ließ sie sich auf den Bürostuhl fallen, stellte die Tasse ab, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. »Allmählich müsste ich doch den Höhepunkt der Scheiße-Skala erreicht haben«, murmelte sie.
»Nicht, wenn du länger hier arbeitest«, erwiderte da eine Frau und kicherte.
Bea hob den Kopf und sah ein Gesicht, das sich aus der Nachbarschublade über die Trennwand schob. Die Frau musste ungefähr in Beas Alter sein. Ihre dunkle Lockenmähne hatte sie am Hinterkopf festgezurrt; nur eine widerspenstige Strähne fiel ihr vor die großen, grünen Augen, mit denen sie Bea neugierig musterte.
»Beatrice Kramer.«
Bea runzelte die Stirn. »Ja?«
»Maya Prince. Wir waren zusammen auf der High School. Aber du erinnerst dich anscheinend nicht an mich. Na ja, ich war auch ganz schön fett damals und außerdem eine Stufe unter dir.«
Maya Prince? Nie gehört.
»Maya«, erwiderte sie dennoch freudig. »Was für eine Überraschung.«
Die Frau legte den Kopf schief und schmunzelte mit wissendem Blick. »Du erinnerst dich nicht.«
Das Gesicht verschwand hinter der Trennwand und Bea wollte bereits nach Maya rufen, da kam sie lässig in ihre Schublade geschlendert. Sie war eine ausgesprochen kleine Frau. Vielleicht war sie deswegen nicht gerade schlank; ihre Kurven saßen jedoch an den richtigen Stellen, und sie war sehr hübsch, denn sie besaß diese freche Kleinstadtmädchen-Ausstrahlung. Bea fiel auf, dass sie, wie viele andere hier, Jeans und T-Shirt trug, wodurch sie sich einmal mehr total overdressed vorkam.
»Nimm es nicht persönlich. Die Sanchez ist eine frigide alte Schachtel, die niemanden leiden kann und nur noch auf die Rente wartet. Und der Peters ist ein arroganter Sesselfurzer, der daheim nichts zu sagen hat und deshalb hier den Obermacker raushängen lässt.« Maya zuckte mit den Schultern. »Ich erkläre und zeige dir alles. Dann musst du dich nicht mit den Idioten rumschlagen.«
Bea ging sprichwörtlich das Herz auf. Am liebsten hätte sie diese kleine Frau aus Dankbarkeit geküsst.
Als erriet Maya ihre Gedanken, wich sie zurück. »Wieso schaust du mich so irre an?«
»Du bist seit einer Ewigkeit der erste Mensch, der grundlos nett zu mir ist«, gab sie zu.
Maya grinste sie frech an. »Bild dir nichts ein, Bea – das ist nicht grundlos. Wenn du hier versagst, muss ich die Arbeit ganz allein machen.«
Bea erwiderte ihr Lächeln unwillkürlich. Sie liebte diese Frau jetzt schon.
*
»Und da drüben bekommst du alle möglichen Haushaltswaren und Werkzeuge.« Maya deutete auf einen Laden gegenüber. »Vor Kurzem hat Mike sein Angebot durch weitere ›Haushaltsgegenstände‹ erweitert. Ich habe gehört, er bietet jetzt die größte Auswahl an Sexspielzeugen im ganzen County.«
Sie kicherten beide, bevor sie unisono in ihre Burritos bissen. Sie hatten ihren Lunch in Al’s Cake-Town gekauft, und Bea musste zugeben, dass Al für einen Kuchenbäcker verdammt gute Burritos wickelte. Maya meinte, es seien die Besten in ganz Nevada.
Sie hatte darauf bestanden, dass Bea mit ihr und ihrem Kollegen Daniel Mittagessen ging. Die beiden wollten der ›neuen Alten‹ dabei das Städtchen zeigen, denn Maya war der festen Überzeugung, dass sich Bea nach so langer Zeit nicht mehr in Wolfville auskannte. Es hatte sich zwar nichts verändert und man benötigte lediglich vier Schritte, um die Stadt zu erkunden, aber Bea war ihr derart dankbar, dass sie sogar freudig zugestimmt hätte, wenn sie mit ihr in der Wüste auf Kojotenjagd hätte gehen wollen.
Was für ein Glück, dass Mayas Schublade an ihre grenzte. Die quirlige Frau hatte sich den gesamten Morgen Zeit für Bea genommen, ihr alles erklärt und sie herumgeführt. Dabei stellte sie ihr auch ihren Freund Daniel aus der Personalabteilung vor. Sie hatte mehrmals betont, dass der große, schlaksige und schweigsame Kerl – witzigerweise das ultimative Gegenteil von ihr selbst – nur ein Freund war.
Bea warf einen verstohlenen Blick zu Daniel, der hinter ihnen her trabte, durch die Gegend schaute und an seinem Burrito knabberte. So wie er jedoch Maya ansah, war Bea nicht sicher, ob er nur ein Freund sein wollte. Aber sie mischte sich garantiert nicht ein. Immerhin hatte Maya ebenfalls genügend Taktgefühl bewiesen und sie nicht einmal gefragt, warum sie nach Wolfville zurückgekommen war.
Nein, Maya und Daniel hatten sie freundlich aufgenommen, ohne Fragen zu stellen. Es musste ja auch endlich etwas Gutes passieren, schließlich konnte ein einzelnes Leben nicht ständig nur in Scheiße versinken. Oder?
Bea beschloss, zur Abwechslung optimistisch zu denken. Mit ihren zwei neuen unaufdringlichen Freunden versprach die Übergangszeit in Wolfville angenehmer zu werden als erwartet.
»Ich zeige dir, wo ich zum Frisör gehe. Ich fürchte, deiner schicken New Yorker Trendfrisur musst du bald auf Wiedersehen sagen«, meinte Maya, fuhr mit den Fingern über Beas schulterlanges, gewelltes Haar und nickte anerkennend. »Das ist sowas von weich, meine Güte. Hast du Strähnchen drin?«
»Nein, das ist Natur«, antwortete sie und klemmte sich automatisch eine Strähne hinters Ohr. »Ich glaube, meine Haare können sich zwischen blond und braun nicht entscheiden.«
»Gut. Ich denke, Tara wird auch ohne Farbe bereits überfordert sein.«
»Sie ist schon mit meinem Schnitt überfordert.« Daniel fuhr sich mit den Fingern durch seinen Topfhaarschnitt aus den 90ern und brachte Maya und Bea damit zum Lachen.
»Es ist gleich hier.«
Maya führte sie um die Ecke, wo sie sich urplötzlich einem gigantischen Tumult gegenüber sahen. Bea wunderte sich, dass sie nicht eher gehört hatte, was sie erwartete. Sie, Maya und Daniel blieben gleichzeitig stehen und starrten auf die andere Straßenseite.
Ein Mann, der einem tobenden Grizzly Konkurrenz machte, brüllte wie am Spieß. Bea verstand nicht mehr als Schimpfwörter und zwischendurch das Wort ›Schwester‹. Er wurde von hinten von zwei Männern, die fast ebenso massig waren wie er selbst und auf ihn einredeten, an den Armen festgehalten. Vor dem wilden Kerl lag jemand am Boden und bewegte sich nicht. Ein anderer kniete neben ihm und beugte sich über den Bewusstlosen, sodass man nichts weiter erkennen konnte. Zu beiden Seiten standen jeweils eine Reihe Männer, die die Szene grimmig beobachteten.
Und ganz hinten vor der Ladentür des Frisörs, derart unscheinbar, dass Bea sie fast übersehen hätte, befanden sich zwei weitere Männer. Einer davon trug Polizeiuniform. Er wirkte nervös, umklammerte den Griff seiner Waffe und fuchtelte mit der anderen Hand vor dem Gesicht seines Gegenübers herum. Der andere Mann schien die Ruhe selbst zu sein. Er machte besänftigende Gesten, als spreche er mit einem verstörten Tier, und er schmunzelte sogar leicht. Es war verrückt. Dieser gelassene Mann inmitten all des Chaos’ faszinierte Bea so sehr, dass sie nur noch ihn ansehen konnte.
Als hätte er ihr Starren gespürt, drehte er auf einmal den Kopf in ihre Richtung, und in dem Moment, da sich ihre Blicke trafen, setzte Beas Herz einen Schlag aus. Sie hatte vergessen zu blinzeln. Tränen, verursacht von der staubigen Luft, füllten ihre Augen und für einen kurzen Moment sah sie alles nur noch verschwommen. Trotzdem wusste sie, dass die kurzen Haare des ruhigen Mannes blond waren. Sie wusste, dass seine Augen mandelförmig und seine Iris silbergrau waren. Sie wusste sogar, dass er ein rundes Muttermal hinten am Kiefer, direkt unter dem linken Ohr hatte.
Bea räusperte sich, zwang sich, zu blinzeln, konnte den Blick jedoch nach wie vor nicht von ihm losreißen.
»Ist das … Charlie?«, fragte sie heiser.
»Nein«, antwortete Maya leise. »Das ist nicht mehr Charlie. Er nennt sich Blaze und ist der Vizepräsident des Clubs.«
Bea runzelte verwirrt die Stirn. Erst jetzt fielen ihr die Motorräder auf, allesamt schwarze Harleys, die ordentlich in einer Reihe am Straßenrand parkten. Und sie bemerkte nun ebenfalls die Lederkutten, die einige der Männer trugen. Sie erkannte das Color auf dem Rücken nicht, aber die Buchstaben: Satan’s Advocates, MC, Nevada.
Charlie war ein krimineller Rocker geworden? Sein Anblick erinnerte Bea schlagartig daran, wieso sie aus diesem verdammten Kaff abgehauen war.
Er schien seine Verhandlungen abgeschlossen zu haben, klopfte dem Officer übertrieben freundlich auf die Schulter und schlenderte daraufhin zu dem tobenden Kerl, der sich zwar nicht mehr wehrte, aber nach wie vor laustark wütete. Charlie packte seinen Kumpel am Arm, fixierte ihn eisern und sagte ein paar Worte – dann herrschte Stille.
Die Biker marschierten zu ihren Maschinen, schwangen sich auf die Sitze und setzten die Helme auf. Charlie schaute erneut zu Bea herüber, bevor er sein Motorrad startete, und ihr Herz stolperte einmal mehr.
Der Mann war logischerweise größer, breiter und auch kantiger. Aber er hatte denselben Ausdruck in den Augen, dasselbe Schmunzeln auf den Lippen und dieselben Grübchen in den Wangen wie damals.
Wie aus weiter Ferne drang das Motorengeräusch der Bikes zu Bea durch. Charlie wandte nach einer gefühlten Ewigkeit den Blick von ihr ab und fuhr als Erster los. Als sie ihm nachschaute, fragte sie sich unwillkürlich, ob in diesem Mann, diesem Outlaw, noch etwas von dem Jungen steckte, in den sie während ihrer gesamten Schulzeit verliebt gewesen war.