Читать книгу Pralinen unter Palmen - Sandra Kudernatsch - Страница 6
2. März
ОглавлениеIch erwachte um zehn Uhr ziemlich gerädert durch das schrille Klingeln meines Handyweckers.
Sofort war die Nervosität wegen der bevorstehenden Reise wieder da. Mein Magen fühlte sich verquer und flau an – so als ob ich seit Tagen nichts gegessen hätte.
Ich rieb mir die schläfrigen Augen und stand mit zerzaustem Haar auf. Barfuß tänzelte ich ins Badezimmer, wo ich mich mit Schlabberpulli und Leggings einigermaßen reisetauglich herrichtete, denn möglichst bequem musste es sein für den langen Flug.
Als ich im Bad fertig war und zum ersten – aber sicher nicht zum letzten – Mal an diesem Tage meine Reisedokumente checkte, kam meine Mutter zur Tür herein. Sie unterbrach heute extra wieder ihre Arbeit, um mich zum Bahnhof zu fahren und war etwas früher dran, als wir verabredet hatten.
„Guten Morgen, du hast wohl bis eben geschlafen“, stellte sie strahlend fest und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Wie toll, sie freute sich für mich und mein bevorstehendes Abenteuer. „Ich weiß, dass ich viel zu früh bin. Willst du noch frühstücken?“
Schnell ließ ich die Dokumente in meiner Tasche verschwinden. „Nein, ich bekomme jetzt nichts runter.“
Sie bemerkte meine zitternden Hände. „Sei nicht so nervös. Was soll schon passieren? Du fliegst schließlich nicht zum ersten Mal“.
Aber zum ersten Mal mutterseelenallein, fügte ich in Gedanken hinzu. Und schon hatte sie die soeben gesammelten Pluspunkte wieder vernichtet.
„Du solltest wirklich etwas essen. Frühstücken ist wichtig.“
Ich folgte ihr schlurfend in die Küche. „Ehrlich, ich möchte nichts. Mir bleibt nachher auf dem Flughafen massig Zeit, um mir etwas zu essen zu holen“, versicherte ich ihr leicht unterkühlt. Ihrem skeptischen Blick zufolge glaubte sie mir das nicht. „Wirklich“, versprach ich ihr, bevor sie mir die Laune vollends verderben konnte.
„Na dann lass uns los.“ Sie streifte sich ihre Jacke über und war schon beinah zur Tür hinaus. „Ich muss ja gleich wieder in die Bank zurück. Hab denen gesagt, ich bin nur ein Stündchen weg.“
Ich sammelte flink meine Handtasche und den Giraffenkoffer ein und verstaute beides im Auto.
Mutter fuhr rasant und setzte mich kurze Zeit später bereits am grauen, zugigen Hauptbahnhof in der nahegelegenen Stadt ab.
Natürlich begleitete sie mich nicht zum Bahnsteig, sondern umarmte mich in Windeseile am Auto, ohne dabei auch nur den Hauch von Körperkontakt zuzulassen. Das sah von außen betrachtet sicherlich komisch aus.
„Ich wünsche dir viel Spaß, Kind.“ Sie öffnete die Fahrertür. „Und lass das ständige Grübeln sein. Das macht nur Falten.“
Ich beobachtete sie beim Einsteigen.
„Es wird schon alles glattgehen. Genieße die Auszeit und schalte ab. Du kannst alles in Ruhe klären, wenn du zurückkommst. Nichts läuft weg“, gab sie mir noch mit auf den Weg.
Das klang zugegebenermaßen wieder recht freundlich. Ich wartete auf weitere Ausführungen.
„Obwohl es sich immer lohnt, sich Gedanken über die Zukunft zu machen“, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen und musste selbst ein bisschen lachen. „Wir holen dich dann in zwei Wochen vom Flughafen ab, vergiss das nicht.“
Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, als sie davonbrauste und zog dann meinen Koffer durch den Bahnhof, auf der Suche nach dem richtigen Gleis. Die Plastikräder klapperten laut auf dem gefliesten Fußboden und das Geräusch hallte in der leeren Halle nach.
Gerade als ich die Treppe zum Bahnsteig mit meinem ungeheuer schweren Koffer hinaufschlich, klingelte mein Handy. Warum hatte ich so viel eingepackt? Und warum gab es hier keinen Fahrstuhl?
Es war Papa. Der musste jetzt kurz warten.
Schwitzend und laut schnaufend, kämpfte ich mich bis zum Ende der Treppe empor, setzte mich auf den Koffer und rief ihn umgehend zurück.
„Hallo Paps, was gibt‘s denn?“ Dafür, dass ich regelmäßig joggen ging, klang ich aufgrund des rasselnden Atems gerade nicht sonderlich fit.
„Hallo Spatz, ich wollte dir nur eine gute Reise wünschen.“
„Das ist aber lieb von dir.“
„Hast du alles? Hat Mutti dich schon am Bahnhof rausgeschmissen?“ Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte.
„Ja, ich habe eben den verfluchten Koffer auf den Bahnsteig hochgetragen.“
„Deswegen klingst du, als hättest du Sport gemacht. Das nächste Mal bringe ich dich und nehme dir das Tragen ab.“ Er lachte.
Ich lachte ebenfalls. „Ach, Quark. Mach dir keine Sorgen, ich bin doch schon groß. Mehr oder weniger.“ Ich erhob mich vom Koffer und streckte mich. „Der Zug kommt gleich und ich habe meines Wissens auch nichts vergessen.“
„Alles klärchen. Dann viel Spaß und komm gut hin und zurück“, ermahnte er mich.
„Na sicher doch. Bis in zwei Wochen.“
Als der ICE einige Minuten später in den Bahnhof einfuhr, war ich ein Eiszapfen.
Mein Sitzplatz, pardon unsere Sitzplätze, waren reserviert. Ein netter Mann half mir glücklicherweise mit dem Koffer die drei Stufen hinauf bis in den Zug, wo ich mein Abteil auf Anhieb fand. Hatte ich die sechs Plätze vielleicht für mich allein? Wenn schon nicht in der Liebe und beim Spielen, dann lauerte das Glück möglicherweise hier?
Die mehrstündige Zugfahrt nach Düsseldorf zum Flughafen, die mir bevorstand, war kein Zuckerschlecken. Vor allem, wenn man wusste, dass man danach auch noch eine Ewigkeit im Flieger hocken würde.
Ich wühlte in meiner großen Handtasche herum, fand meinen MP3-Player und stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren, noch bevor der Zug anfuhr. Meine alte Playlist mit Liedern von Britney und den Spice Girls kam mir gerade recht und ich drehte die Lautstärke voll auf.
Aus diesem Grund hörte ich auch den älteren Mann, der in der Abteiltür stand, nicht sofort. Erst als er mit der Hand in meinem Gesichtsfeld herumfuchtelte, bemerkte ich ihn und nahm die Kopfhörer ab.
„Ist hier noch etwas frei, junge Dame“, erkundigte er sich und schaute neugierig in mein Abteil. So viel zum Thema Glück, dachte ich mir, lächelte ihn aber höflich an. Gute Erziehung und so.
„Sie haben freie Platzwahl“, antwortete ich und ließ meine rechte Hand einladend über die Plätze schweifen.
Der Mann setzte sich mir gegenüber ans Fenster und legte seinen grauen Filzhut auf dem Sitzplatz neben sich ab. Dann faltete er seinen hellbraunen Mantel ordentlich zusammen und platzierte ihn neben dem Hut. Als er es sich hinter einer großen Zeitung gemütlich gemacht hatte, stellte ich meine Musik wieder an und sang gedanklich jede Textzeile mit. Die Lautstärke hatte ich natürlich um einiges gedrosselt, um meinen Sitzpartner nicht zu belästigen.
Irgendwann fand ich in meiner Handtasche auch noch eine alte, zerknitterte Klatsch-und-Tratsch-Zeitschrift, die ich eigentlich für die Mittagsruhe im Kindergarten gekauft hatte. Wenn die Kinder tatsächlich mal schliefen, konnte die Ruhezeit im Kindergarten ziemlich langweilig werden. Das Heftchen war mittlerweile ziemlich lädiert, aber ich führte es mir trotzdem zu Gemüte. Die Titelgeschichte befasste sich mit der Scheidungsschlacht eines sehr berühmten Paares, das drei Kinder zusammen hatte. Die Kleinen konnten einem wirklich leidtun.
Plötzlich musste ich an meinen kleinen Moses denken, den ich schrecklich vermisste, und betete, dass Mike ihn gut versorgte während meiner Abwesenheit. Er würde den Kater doch hoffentlich nicht vernachlässigen, um mir noch ein weiteres Mal eins auszuwischen?
Wenn ich so darüber nachdachte, ähnelte unsere Situation der des Hollywood-Paares stark – abgesehen davon, dass wir nicht millionenschwer waren, drei Kinder adoptiert hatten und ein Haus auf jedem Kontinent besaßen. Woher nahmen die Menschen nur die Kraft, so eine Schlammschlacht durchzuziehen und die Scheidung einzureichen?
Aber hey, immerhin würde ich keine Scheidung verlangen müssen. Eigentlich konnte ich von Glück reden, dass die ganze Geschichte mit Mike und Anna vor unserer Hochzeit aufgeflogen war! Das ersparte mir zumindest einen Teil der Schmach und Behördengänge.
Das klappte doch schon ganz gut mit dem positiven Denken, oder?
Aber was hielt die Zukunft nun für mich bereit? Blühte mir der totale Oberstress wegen der Trennung, wenn ich in zwei Wochen aus dem Paradies zurückkam? Was sollte aus unserem gemeinsamen Reihenhäuschen werden? Wer von uns hatte eigentlich den Mietvertrag unterschrieben? Wie so oft war ich damals allein zum Besichtigungstermin erschienen, weil Mike bis spät in den Abend hineingearbeitet hatte.
Über eine Sache war ich mir zumindest zu einhundert Prozent sicher. Mein pelziges Katzenkind Moses wollte ich unbedingt bei mir haben. Unter keinen Umständen würde ich ihn Mike überlassen. Vorsichtshalber sollte ich mein Katerchen direkt nach dem Urlaub zu mir holen. Aber bei meinen Eltern ging das nicht.
Hmm…
À propos Mike. Müsste er sich nicht langsam voller Reue bei mir melden? Auf Knien angekrochen kommen, seinen Fehler zutiefst bedauern, um Vergebung betteln und mir seine tiefe Liebe gestehen? So war das doch immer in romantischen Filmen und Bestseller-Büchern? Dort bemerkten die Männer immer wahnsinnig schnell, welchen Bockmist sie verbrochen hatten. Sie wussten zwar immer erst, was sie verloren hatten, wenn es zu spät war, aber am Ende war trotzdem wieder alles gut.
Aber mal weitergesponnen im Text. Wollte ich ein Happy End? Konnte ich verzeihen, was mir von dem Mann, den ich über alles auf der Welt liebte, angetan worden war? Konnte ein solcher Vertrauensbruch einer fortgesetzten Beziehung nicht schaden?
Ich konnte und mochte mir zumindest in diesem Augenblick nicht vorstellen, dass ich einen Seitensprung vergessen konnte. Würde der nicht bei jedem zukünftigen gemeinsamen Abendessen mit am Tisch sitzen? Würde nicht bei jeder Intimität plötzlich Anna in meine Gedanken schleichen? Würde ich überlegen, wo Mike sie berührt hatte? Würde ich mir womöglich sogar die Frage stellen, ob sie besser im Bett (oder auf dem Esstisch) gewesen war, als ich es je sein würde? So konnte doch keine Beziehung funktionieren?
Gedankenversunken saß ich also im Zug und sinnierte vor mich hin.
Nach einer halben Stunde ermahnte ich mich gedanklich dazu, auf die Pausetaste zu drücken. Das Hin und Her in meinem Kopf führte zu keinem Ergebnis. Es verdunkelte nur meine Laune, aber ich war doch jetzt die neue, positive Kati.
Den guten Vorsatz hielt ich geschlagene fünf Minuten durch, bis ich mein Handy hervorkramte. Der Neugier wegen mal auf das Display zu schauen, konnte nicht schaden, ermutigte ich mich.
Natürlich hatte ich keine einzige Nachricht, keinen Anruf, kein Lebenszeichen. Weder Mike noch Anna hatten sich also seit dem Vorfall auf dem Esstisch gemeldet. Ich musste zugeben, dass es mich traf. Es tat weh. Darauf zu hoffen, dass etwas eintrat, ohne dass es tatsächlich passierte, war doch wirklich hoffnungslos.
Und wenn ich kurz bei Facebook nachsah, ob sie etwas gepostet hatten?
Mein Kopf sagte mir laut und deutlich, dass ich es lassen sollte. Es würde nichts Gutes dabei herumkommen. Mein Bauch war jedoch anderer Meinung. Wider besseres Wissen schwebte mein Finger für lange Sekunden über dem Facebook-Button, bis er ihn schließlich drückte. Rasch tippte ich Mikes Namen in das Suchfeld ein und … nichts passierte. Hatte er mich etwa entfreundet?
Betrogen und entfreundet?
Dann fiel ich beinah vor Schreck in Ohnmacht. Ich dumme Nuss hatte doch wohl tatsächlich den Namen nicht ins Suchfeld sondern in meinen Status eingetippt und gepostet. Mein Puls raste und das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Mein Herz hämmerte wild und mein Gesicht lief dunkelrot an vor Scham. Wie peinlich. Hektisch suchte ich nach dem Löschen-Knopf, den ich ausgerechnet jetzt nicht auf Anhieb fand.
„Mist, Mist, Mist“, jammerte ich. Dann erspähte ich endlich das Gesuchte und setzte dem Spuk ein Ende. Hoffentlich hatte es niemand auf Facebook gelesen.
Erde, bitte tu dich auf!
Mein Abteilnachbar sah kurz von seiner Lektüre auf. Über den Zeitungsrand lugte die dunkle Hornbrille hervor, bevor der grauhaarige Kopf wieder aus meinem Blickfeld verschwand. Ich sank tiefer in meinen Sitz und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Schrieb mir jemand, warum ich seinen Namen gepostet hatte? Doch wieder passierte nichts.
Als ich den Schrecken langsam verdaut hatte, entspannte ich mich merklich. Deshalb startete ich einen zweiten Versuch auf Annas Profil. Dieses Mal achtete ich penibel darauf, dass ich keinen weiteren Fehler beging.
Anna hatte keine neuen Fotos hochgeladen, aber ich entdeckte eine Statusmeldung, die da lautete: Schaut Fifty Shades Darker – mit Mike König.
Wie bitte? Was? Anstatt sich bei mir zu entschuldigen, verbrachten die zusammen versexte Filmabende? Mit mir wollte Mike die Filme nie anschauen, hatte er sie doch immer als Quatsch und langweiligen Frauenkram abgetan. Dabei war er selbst nicht der Dominanteste, weder im normalen Leben noch unter der Bettdecke. Blümchensex war eine gute Bezeichnung für unsere Aktionen in der Waagerechten.
„Dieser Scheißkerl“, konnte ich mir nicht verkneifen und schloss die App.
Mein Kopf hatte Recht gehabt. Es war eine beschissene Idee gewesen, die beiden zu stalken. Warum machte man sowas, wenn man wusste, was dabei herumkam? War ich Masochistin? Wollte ich noch mehr leiden, als ich es bereits tat?
Heule jetzt bloß nicht, Kati. Das war deine alleinige Schuld. Du hättest einfach nicht nachsehen sollen. Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß... oder in dem Falle traurig.
Verzweifelt versuchte ich, die Emotionen weg zu atmen wie eine Schwangere den Wehenschmerz.
Der alte Mann gegenüber faltete seelenruhig seine Zeitung zusammen und legte sie säuberlich nebst Hut und Mantel. Amüsiert beobachtete er mich und bemerkte dabei nicht, dass ich mir dessen auf unangenehme Weise bewusst war.
Meine Augen brannten und ich schaltete das traurige Lied, das gerade anlief, rasch weiter.
Wie lange ging die Heimlichkeit zwischen Anna und Mike schon? Ich dachte angestrengt nach, ob Mike in letzter Zeit anders gewesen war. Hatte er sich mir gegenüber anders verhalten? Hatte ich Anzeichen übersehen? Wie oft hatten sich Anna und Mike schon hinter meinem Rücken getroffen? Inwieweit hatte ich zu dem Ganzen beigetragen? War ich nicht mehr gut genug, nicht hübsch genug, nicht fleißig genug, nicht liebevoll genug gewesen? Hatte ich mich verändert in den Jahren unserer Beziehung?
Meine Gedankengänge mussten in meinem Gesicht genau zu verfolgen gewesen sein, denn der ältere Herr ließ mich nicht aus den Augen. Irgendwann deutete er mit seiner von Altersflecken übersäten Hand auf meinen Koffer und fragte: „Sie verreisen? Wo soll‘s denn hingehen?“
Ich rang mir ein gezwungenes Lächeln ab. Merkte er denn nicht, dass ich jetzt keine Lust auf Smalltalk hatte? Scheinbar nicht, denn er wartete neugierig auf meine Antwort.
Meine Musik war leider so leise gestellt, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Es schien ihn nicht zu stören, dass er einige Augenblicke warten musste, bis ich meinen MP3-Player ausgestellt hatte. Rentner hatten bekanntlich viel Zeit.
„Seychellen“, rang ich mir heiser ab.
Er blickte mich weiterhin aufmerksam durch seine Brille hinweg an. Seine Augen wirkten ganz verkümmert und unscheinbar hinter den dicken Gläsern. Er trug die Brille bestimmt schon jahrelang mit sich herum.
„Aber da müssten Sie sich doch freuen und voller Elan sein“, stellte er fest. „Mir scheint eher, dass das Gegenteil der Fall ist und Sie traurig sind“.
Der Mann hatte eine gute Auffassungsgabe und lag vollkommen richtig.
Mit ruhigen Bewegungen erhob er sich, legte sich den Mantel über den Arm, setzte seinen Hut auf und griff nach der Zeitung. „Wissen Sie, dort im Paradies haben sich schon so manche Probleme in Luft aufgelöst. Grüßen Sie die Flughunde von mir“, zwinkerte er mir zu.
Dann schob er die Tür unseres Abteils auf und ließ mich allein zurück.
Man sah mir meine Probleme also an der Nasenspitze an.
Aber was sollte seine Aussage bedeuten? War er selbst schon auf den Seychellen gewesen? War er auch dorthin geflohen, um Entscheidungen aufzuschieben? Oder war das nur der Rat eines weisen Mannes gewesen?
Ratlos ging ich also meinem neuen Hobby nach – ich grübelte angestrengt weiter und ehe ich mich versah, waren die Stunden im Zug auch schon vergangen.
An der Haltstelle für den Düsseldorfer Flughafen hievte ich meinen schweren Koffer allein aus dem Zug, da es hier jeder eilig hatte, sich um sein eigenes Gepäck zu kümmern. Mein Magen knurrte und erst jetzt nahm ich den Hunger wahr. Nachdenken verbrannte scheinbar viel Energie!
Ich folgte den Schildern, die den Weg zum Flughafen auswiesen und landete an einer Station für eine kleine Schwebebahn. Brav reihte ich mich in die Reihe der Wartenden ein und fand schließlich in der dritten Bahn einen Stehplatz.
Die Schwebebahn düste los und brachte ihre Passagiere rasch ans Ziel. Da ich zeitlich gut kalkuliert hatte, war ich anderthalb Stunden zu früh dran. Darüber war ich immens froh, denn in dem riesigen Flughafen brauchte ich eine halbe Stunde, um mich zurecht zu finden und den korrekten Check-In-Schalter ausfindig zu machen. Kein Wunder, dass die Flughafen-Polizisten bei den langen Wegen hier mit Segways unterwegs waren.
Der Check-In verlief völlig reibungslos. Kein Übergepäck, keine terroristischen Absichten – ergo kein Grund, die Reise nicht anzutreten.
Als ich meine Bordkarte in den Händen hielt und um einen Koffer leichter war, fiel mir der erste große Felsen von Herzen. Schritt eins hatte ich erfolgreich hinter mich gebracht. Nun konnte ich mich den wichtigen Dingen widmen.
Ohne fieses Gepäck begab ich mich zuallererst auf Nahrungssuche. Es gab unzählige Möglichkeiten, aber meine schwachen Nerven lotsten mich natürlich zum Bäcker.
„Ich bekomme einen Schokomuffin, ein Stück Käsekuchen und 2 Donuts“, verlangte ich und die Verkäuferin reichte mir die köstlichen Sachen über die Theke.
Ich verspeiste die süßen Leckereien auf einer Bank. Mein knurrender Magen gab augenblicklich Ruhe und ich fühlte mich besser. Gestärkt und beruhigt bahnte ich mir dann, durch die Menschenmassen hindurch, einen Weg in Richtung Sicherheitskontrolle. Es dauerte ewig, denn die Schlange war sehr lang und bis alle, die vor mir an der Reihe waren, ihre Klunker abgelegt und sämtliche Kosmetiktäschchen ausgeräumt hatten, verstrichen die Minuten. Warum behängte man sich für einen Flug so sehr? Man wusste doch, dass man den größten Teil bei der Kontrolle ablegen musste?
Ich trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und versuchte, ruhig zu bleiben. Ich war früh genug am Flughafen gewesen und würde meinen Flug auf keinen Fall verpassen.
Irgendwann war ich endlich an der Reihe. Ich wurde in einen kurzen Schreckensmoment versetzt, als ich beim Durchqueren des Scanners piepte. Nach einer weiteren manuellen Kontrolle durch einen Sicherheitsbeamten sprach jedoch nichts für etwas Verdächtiges in meinen Taschen und demzufolge weiterhin nichts gegen den Antritt meiner Reise. Schritt zwei lag also auch hinter mir.
Danach kam ich in den Einkaufsbereich, in dem sich die Menschenmassen lichteten. Sofort ging ich in den Schlendermodus über. Die verbleibende Zeit bis zum Boarding verbrachte ich damit, durch die Duty-free-Abteilung zu bummeln und an sämtlichen Parfümflacons zu schnuppern. Als ich die Düfte nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, kaufte ich noch etwas Schokolade für den langen Flug. „Sie naschen wohl gern“, wurde ich gefragt.
Ups, ich hatte wieder zu viel Süßkram erbeutet und antwortete beschämt mit einem kurzen Nicken.
Schließlich suchte ich mein Gate auf. Ich war die erste Person weit und breit, stellte mich aber vorsichtshalber schon an. Wieder wartete ich geduldig, bis wir endlich einsteigen durften. Die Zeit verging rasch und bald wurde die Schlange hinter mir immer länger und länger. Als die Stewardess begann, die Bordkarten zu kontrollieren, wurde ich in meine Schulzeit zurückversetzt. Die Menschen hinter mir drängelten wie verrückt. Jeder wollte der erste beim Einsteigen sein. Genauso war das früher beim Schulbus. Zum Glück stand ich ganz vorne und konnte das Gedränge bald hinter mir lassen.
Es war ein großes Flugzeug mit drei mal drei Sitzplätzen, die jeweils durch einen schmalen Gang voneinander getrennt waren.
Plötzlich war ich über Mikes Abwesenheit ganz froh, denn ich eroberte den Fensterplatz und ließ den Sitz neben mir absichtlich frei. So hatte ich die Armlehne für mich und musste keine Rücksicht nehmen, um meinen Sitznachbarn nicht zu stören.
Ich beobachtete gebannt, wie die kleinen Männchen in ihren neonfarbenen Warnwesten auf dem Rollfeld umherliefen und die unzähligen Koffer einluden. Das Flugzeug füllte sich zusehends, der Geräuschpegel stieg an und die Gepäckfächer wurden auf- und zugeklappt.
Als so gut wie kein Platz mehr unbesetzt war (außer natürlich der neben mir), startete der Motor. Langsam wurde es ernst!
Der Pilot meldete sich zu Wort. Er hieß Ben und klang viel zu jung, um schon Pilot zu sein, als er uns den Reiseverlauf zusammenfasste. Angst vor dem Fliegen hatte ich wahrlich keine, aber besonders vertrauenserweckend wirkte die jungenhafte Stimme nicht. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Ich hoffte, dass wir heil am Ziel ankommen werden.
Wenn wir abstürzen sollten, dachte ich, dann bitte nicht über dem Meer. Ich hatte höllische Angst vor Haien. Und sollte ich einen Flugzeugabsturz über dem Ozean überleben, wollte ich mit Sicherheit nicht von einem Meeresräuber gefressen werden.
Die gefuchtelte Aufführung der Flugbegleiter zur Lage der Notausgänge und zum Verhalten im Notfall blendete ich irgendwann aus. So viel zum Thema Absturz.
Als der Flieger langsam losrollte, steckte ich mir vorsorglich ein Kaugummi in den Mund. Druck auf den Ohren mochte bestimmt niemand. Wir fuhren zur Startbahn und als wir die richtige Position erreicht hatten, wurde die Fahrt immer schneller und schneller, bis wir schließlich abhoben. Ich vernahm das bekannte Kribbeln in meinem Bauch, das immer mit dem Start des Fluges einherging. Jetzt wurde mir erst richtig bewusst, worauf ich mich eingelassen hatte.
Nämlich auf einen Traumurlaub am anderen Ende der Welt!
Immer höher stiegen wir, bis ich durch die dichten Wolken unter mir kein Land mehr sehen konnte. Wenn alles glatt lief, würden wir in sechseinhalb Stunden in Abu Dhabi ankommen. Von dort ging es dann für mich noch weiter bis nach Mahé, der größten Seychellen-Insel im Indischen Ozean.
Während der nächsten sechs Stunden bekam ich kein Auge zu, ganz im Gegensatz zu dem jungen Mann neben mir. Er war schon während des Starts eingenickt und schnarchte laut. Ich dagegen schaute drei Spielfilme am Stück, verputzte jeden Krümel meiner Schokoladenriegel und bestellte den obligatorischen Tomatensaft.
Als ich mir nach der Hälfte der Strecke meine brennenden Augen rieb und ungeduldig auf meinem Sitz hin und her zappelte, kam die freundliche Stewardess zu mir.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen“, erkundigte sie sich. „Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?“
Ich blickte zu der hübschen Frau mit dem strengen blonden Dutt auf und versicherte ihr leise, um meinen Nachbarn nicht zu wecken: „Alles okay. Ich kann nur nicht mehr sitzen“.
Sie lachte kurz, weil sie das bestimmt nicht zum ersten Mal hörte und sagte dann verschwörerisch: „Dabei haben Sie Glück, dass Sie nicht allzu lang gewachsen sind.“ Sie nickte mir zu. „Wenn Sie etwas benötigen, lassen Sie es mich jederzeit wissen.“ Damit drehte sie sich um und kümmerte sich um den nächsten Reisegast.
Die Mahlzeit, die auf dem Flug serviert wurde, rührte ich kaum an, weil ich vor dem Wechsel in das zweite Flugzeug zu nervös war. Zum Glück landeten wir beinahe pünktlich auf die Minute in Abu Dhabi und niemand klatschte. Das war wohl doch nur auf den Reisen nach Mallorca so.
Als ich aus dem Flugzeug stieg, wehte mir sofort die kühle Wüstenluft um die Ohren. Trotzdem war es deutlich wärmer als zuhause. Wie herrlich es doch war, den Winter hinter sich zu lassen im kalten, weit entfernten Deutschland.
Der Flughafen in Abu Dhabi haute mich noch mehr um als der Düsseldorfsche. Dieser hier war in meinen Augen so groß und hektisch wie eine Kleinstadt. Überall liefen Menschen in langen, fließenden Gewändern umher und jeder zweite Duty-free-Laden war ein Gold- und Klunkergeschäft. Ich war froh, als ich ganz außer Atem mein Gate erreichte. Natürlich war ich auch hier wieder viel zu früh dran, aber sicher war sicher.
Das zweite Flugzeug, in das ich an diesem Tag stieg, war bedeutend kleiner als das, das mich hierhergebracht hatte. Das Szenario auf diesem Flug glich dem ersten. Ich verbrachte die nächsten vier bis fünf Stunden wieder damit, Filme zu schauen. Der einzige Unterschied war, dass der kleine Bildschirm, der in den Vordersitz eingelassen war, aufgrund mangelnder Auflösung völlig verpixelt war. Meine Augen brannten nach kurzer Zeit und waren rot unterlaufen. Als ich bei einem Toilettengang in den Spiegel sah, sehnte ich mich unglaublich danach, endlich anzukommen.
Ich war eindeutig zu alt für durchwachte Nächte.
Die ersten Blicke aus dem Fenster zeigten nur den rabenschwarzen Nachthimmel. Bald jedoch dämmerte es und ich erhaschte die Weite des endlosen Ozeans. Es sah traumhaft aus.
Die stecknadelkopfgroßen Inselkleckse schwollen an, je näher wir dem Boden kamen. Der strahlend blaue Himmel spiegelte sich auf der türkisfarbenen Wasseroberfläche. Es sah aus wie in einem TV-Werbespot. In meinem Bauch starteten tausend Schmetterlinge ihren Flug, so verdammt aufgeregt war ich. Oder das Gefühl stammte von der Kombination aus Schlafmangel und Hunger. Wer wusste das schon so genau? In diesem Augenblick jedenfalls vergaß ich alle Sorgen.
Das Flugzeug setzte mit einem Ruck auf und ich war froh, mich endlich wieder auf festem Boden zu befinden. Alle Passagiere stiegen wie Entenküken brav in Reih und Glied aus dem Flieger aus. Die Luft war angenehm warm und die Sonne war mittlerweile fast vollständig aufgegangen. Auf dem übersichtlichen Flughafen wurden wir keiner Sicherheitskontrolle unterzogen. Das Gebäude war aufgeheizt, weil keine Klimaanlage vorhanden war. Vor dem Eingang zur Toilette saß eine kleine runzelige Frau und gewährte Einlass. Zählte sie etwa für jeden das Toilettenpapier ab?
In dem überfüllten Wartebereich vor dem Kofferband angekommen, knotete ich mein Shirt am Bauch zusammen. Die dicken Wintersachen waren in Äquatornähe nicht angebracht und ich schwitzte um mein Leben.
Mein auffälliger Giraffenkoffer fuhr im Mittelfeld über das Kofferband. Gott sei Dank war er angekommen. So machte ich mich schwer bepackt auf den Weg zu dem Bus, der mich zum Hotel bringen sollte. Die kleinen Busse standen aufgereiht vor dem Flughafengebäude und sahen richtig hübsch aus. Sie waren übersät mit Aufklebern, die große gelbe und weiße Blüten zeigten.
Als meine Mitreisenden und ich gerade den Bus verlassen hatten, ging es sofort weiter auf die Fähre. Die Fähre war ein riesiges Teil, sehr imposant. Sie sollte mich von der Hauptinsel Mahé auf die kleinere Insel Praslin bringen, wo sich mein Hotel befand. Da das Wetter es zuließ, nahm ich die Treppe nach oben und setzte mich auf das Sonnendeck. Als wir ablegten, war ich froh, dass ich weder Sonnenbrille noch Kopfbedeckung trug, denn es war richtig stürmisch. Das Basecap eines Passagiers vor mir wurde vom Wind erfasst, hob ab und landete auf der Wasseroberfläche, wo es sacht hin und her baumelte.
Als ich zurückblickte, sah ich den kleinen Hafen, den wir bald hinter uns ließen. Danach umgab uns nur noch scheinbar endloses Wasser. Die Oberfläche des Ozeans erstrahlte in tiefem Blau, es sah unheimlich aus. Ich wollte mir nicht vorstellen, was gerade alles unter uns schwamm. An einigen Stellen wirkte die Wasseroberfläche deutlich heller, im Sonnenlicht glitzerte es türkis.
Ich genoss die Stille und Anonymität. Hier wusste niemand, warum ich hier war… warum ich allein hier war.
Es vergingen ungefähr fünfzig Minuten, bis ich endlich Land am Horizont entdeckte.
Nach gut einer Stunde waren wir da und stiegen abermals in einen winzigen Bus ein. Das war die letzte Etappe zum Hotel.
Mittlerweile war ich hundemüde. Es war anstrengend, die Augen offen zu halten. Aber ich wollte mir doch die hohen Palmen an den weißen Sandstränden, die früchtetragenden Bananenbäume am Straßenrand, die tiefhängenden Elektroleitungen und die spärlich bekleideten Menschen einprägen. Und den Ozean, immer wieder den Ozean.
Als der Busfahrer endlich den Namen meines Hotels verkündete, war ich die einzige Person, die ausstieg. Die Sonne brannte gleich unerbittlich auf meinen weißen Nacken herab. Ein Hoch auf die starke Sonnencreme, die in meinem Gepäck schlummerte!
Ich schleppte mich und meinen Koffer um die nächste Ecke und dann stockte mir einfach der Atem. Der Empfangsbereich des Hotels war auf der einen Seite komplett offen, der Fußboden marmoriert und noble Sessel luden vor der Rezeption zum Verweilen ein. Direkt neben dem Empfangsbereich bemerkte ich eine bunt dekorierte Bar. Unmittelbar daran schlossen sich im Kreis angeordnete Bungalows an. Inmitten der Unterkünfte glitzerte das klare Wasser eines kleinen Pools, neben dem die exotische Poolbar bunte Cocktails anpries.
Die Sonne und ich strahlten um die Wette.
Erst als ich den Blick der Rezeptionistin auf mir spürte, wurde mir bewusst, dass ich seit einer kleinen Ewigkeit mit offenem Mund meine Umgebung angestarrt hatte. Die junge Frau hinter dem hohen Tresen hatte sehr dunkle Haut, ihre Haare trug sie zu einem stylischen, hell gefärbten Bob geschnitten und unter ihrer Uniform blitzten unzählige Tattoos hervor. Mit ihren langen, rot lackierten Acrylnägeln nahm sie meine Unterlagen entgegen und checkte mich ein.
„Sind Sie allein“, prüfte sie die Buchung mit irritiertem Blick. „Ich sehe, dass zwei Personen angemeldet sind.“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Meine Begleitung konnte die Reise nicht antreten“, erklärte ich ihr. Die Umstände hatten sie nicht zu interessieren.
„Gut, dann vermerke ich das so.“ Sie tippte mit den langen Nägeln auf der Tastatur herum. „Bitte folgen Sie mir“, sprach sie, als sie hinter dem Tresen hervorkam und mir meinen Koffer abnahm. „Wir haben um diese Jahreszeit wenig Gäste, deshalb kann ich Ihnen ein besseres Zimmer anbieten, als Sie eigentlich gebucht haben“, erklärte mir die junge Frau auf dem Weg zu meinem Bungalow.
Wenn das mal keine guten Nachrichten waren. So konnte mein neues Leben beginnen.
Auf der Terrasse des weißen Bungalows verabschiedete sie sich von mir. „Genießen Sie den Aufenthalt und zögern Sie nicht, mich oder meine Kollegen anzusprechen. Wir helfen gern“.
Wenn sie lächelte, bestand ihr freundliches Gesicht zu einem großen Teil aus zwei Reihen makelloser, weißer Zähne.
Auf der gefliesten Terrasse standen zwei gemütliche Holzstühle. Hier konnte man die Abende gut ausklingen lassen, ging mir durch den Kopf, als ich die Tür aufschloss.
Der Raum war überraschend groß. Rechts von mir entdeckte ich einen Schrank und eine Kommode. Links von mir stand das Bett und davor ein großer Flachbildfernseher. Es roch frisch und auf dem Bett lagen verstreute Hibiskusblüten. Auch das geräumige Bad war sehr sauber. Alles war geschmackvoll in Beige gefliest und die Dusche durch eine Wand vom Raum abgetrennt.
Es sah ziemlich edel aus, deswegen erschrak ich umso mehr, als ich mein Gesicht in dem prunkvollen Spiegel erhaschte. Meine Augen waren rot unterlaufen und dick angeschwollen, die Wimperntusche klebte überall, nur nicht da, wo sie sein sollte. Zudem war bin noch blasser als sonst.
Was soll’s.
Ohne meinen Koffer zu geöffnet zu haben, riss ich mir die verschwitzten Klamotten vom Leib und legte mich nackt in die angenehm kühlen Laken.
Ich fiel augenblicklich in einem tiefen und traumlosen Schlaf.