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EINS

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Als ich zwölf war, bin ich sitzengeblieben, weil mein Vater mir n Baby gemacht hat. Das war 1983. Ein Jahr bin ich nich zur Schule gegangen. Dass jetzt mein zweites Baby. Meine erste Tochter is Mongolin. Sie is zurückgeblieben. Ich bin auch schon inner zweiten Klasse sitzengeblieben, da war ich sieben, weil ich nich lesen konnte (und immer noch inne Hose gemacht hab). Ich müsst inner elften sein und inne zwölfte kommen, damit ich n Abschluss machen kann. Bin ich aber nich. Ich bin inner neunten.

Ich bin vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil ich schwanger bin. Was, find ich, nich fair is. Ich hab nix gemacht!

Ich heisse Claireece Precious Jones. Weiss nich, warum ich euch das erzähl. Vielleicht, weil ich nich genau weiss, wie weit ich mit dieser Geschichte komm, obs überhaupt ne Geschichte is, oder warum ich eigentlich rede; ob ichs von Anfang an erzähl oder mit heute anfang oder was in zwei Wochen is. Klar, wenn du redest oder schreibst, kannst alles machen, nich wie wenn du lebst, wo du nur machen kannst, was du machst. Manche Leute erzählen dir was, und es stimmt gar nich oder macht kein Sinn. Aber ich will versuchen, dass alles stimmt und Sinn macht, sonst kann mans doch gleich vergessen. Gibts nich schon genug Lügen und Scheiss auffer Welt?

Also, okay, heute is heute. Donnerstag, der dreiundzwanzigste September 1987, und ich geh grade den Gang runter. Gut seh ich aus, und riechen tu ich auch gut – frischgewaschen und sauber. Heiss isses, aber ich zieh meine Lederjacke nich aus, obwohls heiss is, sie könnt sonst wegkommen oder geklaut werden. Altweibersommer, sagt Mr. Wicher. Weiss nich, wieso er so was sagt. Wasser meint, is, dasses heiss is, über dreissig Grad, wie im Sommer. Und wir haben keine, ich meine null, absolut null Klimaanlage in dem gottverdammten Bau. Der Bau, von dem ich spreche, is natürlich LS. 146, die Junior Highschool. Hundertvierunddreissigste zwischen Lenox Avenue und Adam Clayton Powell Boulevard. Ich geh also den Gang runter vom Aufenthaltsraum zum Grundkurs Matte. Wozu die so Quatsch wie Grundkurs Matte brauchen, keine Ahnung. Vielleicht, damit mans hinter sich hat. Eigentlich is Matte nich so schlimm, wie ich dachte. Ich setz mich einfach in Mr. Wichers Klasse. Wir haben keine festen Plätze. In Mr. Wichers Klasse können wir sitzen, wo wir wollen. Sitz immer auffem selben Platz, ganz hinten, letzte Reihe direkt neben der Tür. Auch wenn ich weiss, dass die immer abgeschlossen is. Ich meld mich nich, er ruft mich nich auf. Nich mehr. Am ersten Tag hat er gesagt, «Schlagt eure Bücher auf, Seite 122.» Ich rühr mich nich. Er sagt, «Precious Jones, ich habe gesagt, schlagt Seite 122 auf.» Ich sag, «Bin nich taub, Mr. Wichser!» Die ganze Klasse lacht. Er wird ganz rot. Er klatscht mitter Hand auf sein Buch und sagt, «Reisst euch zusammen.» Ers n kleiner dünner Weisser, grad vielleicht einsfünfundsechzig. Ne arme Mehlnase, wie meine Mutter sagen würd. Ich kuck ihn an und sag, «Ich kanns auch klatschen lassen. Wollen wers klatschen lassen?» Und nehm mein Buch und lasses voll auffen Tisch klatschen. Die Klasse lacht lauter. Er sagt, «Precious Jones, ich muss dich bitten, auf der Stelle den Raum zu verlassen.» Ich sag, «Bevors nich klingelt, geh ich nirgendwo hin, Sie Wichser. Ich bin hier, damit ich Matte lern, und zwar von Ihnen.» Er kuckt wie n Flittchen, was grad von nem Dutzend Macker durchgefickt worden is. Weiss nich, wasser machen soll. Versucht sich zusammenzureissen, will cool sein und sagt, «Gut, wenn du was lernen willst, dann beruhig dich.» – «Ich bin ruhig», sag ich ihm. Er sagt, «Wenn du was lernen willst, dann sei still und schlag dein Buch auf.» Sein Gesicht is ganz rot, und er zittert. Ich lass gut sein. Hab gewonnen. Schätz ich.

Ich wollt ihn gar nich vorführen oder verletzen. Aber er soll nich, niemand soll merken, dass Seite 122 für mich aussieht wie Seite 152, 22, 3, 6, 5 – alle Seiten sehn gleich aus für mich. Und ich will wirklich was lernen. Jeden Tag sag ich mir, heut passiert was, so was wie inner Glotze. Ich fang an durchzublicken, oder jemand blickt durch mich durch – ich lern was, hol auf, bin normal und setz mich in die vorderste Reihe. Aber heut is wieder nich der Tag.

Aber der erste Tag, von dem ich euch erzähl. Heut is also nich der erste Tag, und wie gesagt war ich auffem Weg in Mattekurs, als Mrs. Lichenstein mich im Gang abfängt und in ihr Büro zieht. Bin echt sauer, weil ich Matte wirklich mag, auch wenn ich nix mach, noch nich mal mein Buch aufschlag und nur fünfzig Minuten rumsitz. Ich mach kein Ärger. Im Gegenteil. Wenn paar von den andern Homies dumm rumquatschen, hau ich dazwischen. Ich sag, «Halts Maul, ihr Säcke, ich will was lernen.» Erst lachen sie, wollen, dass ich Mr. Wicher verarsche und den Unterricht stör. Dann steh ich auf und sag, «Halts Maul, ihr Säcke, ich will was lernen.» Die blöden Eierkohlen kucken dumm ausser Wäsche. Mr. Wicher kuckt dumm ausser Wäsche. Ich bin nämlich gross, einssiebenundsiebzig-achtundsiebzig, und wieg über neunzig Kilo. Die haben Schiss vor mir. «He Kohlenkopp», sag ich zu nem Knaben, der aufgesprungen is, «setz dich und hampel nich rum.» Mr. Wicher kuckt blöd, aber dankbar. Ich bin für Mr. Wicher so was wie seine Polizei. Sorg für Recht und Ordnung. Ich mag ihn und stell mir vor, wir sind verheiratet und wohnen in Wesschesser, wo immer das liegt.

Ich sehs an sein Augen, dass Mr. Wicher mich auch mag. Würd ihm gern sagen, dass für mich alle Seiten gleich aussehn, aber ich kanns nich. Ich krieg trotzdem ziemlich gute Noten. Eigentlich immer. Will bloss schleunigst raus ausser verdammten LS. 146, auf die Highschool und mein Abschluss machen.

Egal, jetzt bin ich in Mrs. Lichensteins Büro. Sie kuckt mich an, ich kuck sie an. Ich sag nix. Endlich sagt sie, «Nun Claireece, wir kriegen also Zuwachs.» Aber sie sagts nich wie ne Frage, sie sagts, wie wenn ich nich Bescheid wüsste. Ich sag immer noch nix. Sie sitzt hinter ihrem breiten Holzpult, hat die Hände auffer Platte gefaltet und glotzt mich an.

«Claireece.»

Alle nennen mich Precious. Ich hab drei Namen – Claireece Precious Jones. Nur Wichser, die ich hasse, nennen mich Claireece.

«Wie alt bist du, Claireece?»

Die weisse Votze hat meine Akte vor sich liegen. Seh ich doch. Bin doch nich belämmert. Die Schlampe weiss, wie alt ich bin.

«Sechzehn ist, ähh», sie räuspert sich, «ziemlich, äh, alt für die Junior Highschool.»

Ich sag immer noch nix. Wenn die so schlau is, soll sie sich ihr Maul fusslig reden.

«Nun komm schon, Claireece, du bist schwanger, Claireece, nicht wahr?»

Jetzt fragt die Alte. Grade hat sies noch genau gewusst.

«Claireece?»

Jetzt versucht sies auf die sanfte Tour.

«Claireece, ich rede mit dir.»

Ich sag immer noch nix. Die Nutte bringt mich um mein Mattekurs. Ich geh gern in Mattekurs. Mr. Wicher siehts gern, wenn ich da bin und die grölenden Nigger in Schach halt. Ers nett, hat jeden Tag n coolen Anzug an. Der läuft nich rum inner Schule wie n Feudel, wie die andern Lehrer.

«Will nich noch mehr von meinem Mattekurs verpassen», sag ich zu Mrs. Arschgesicht.

Sie glotzt mich an, als hätt ich gesagt, ich wollt nem Hund ein blasen. Was hat sie bloss, die Schlabbervotze. (Das sagt meine Mutter zu Frauen, die sie nich ab kann, Schlabbervotze. Ich kapier irgendwie, was sie damit meint, und irgendwie doch nich ganz, aber wie sichs anhört, gefällts mir, also sag ichs auch.)

Ich steh auf, aber Mrs. Lichenstein sagt, ich soll mich hinsetzen, sies noch nich fertig mit mir. Aber ich bin fertig mit ihr, das kapiert sie einfach nich.

«Ist das nicht dein zweites Baby?» sagt sie. Ich frag mich, was sonst noch in der Akte steht, wo mein Name drauf is. Ich hasse sie.

«Du und deine Mutter solltet zu mir in die Sprechstunde kommen.»

«Wegen was?» frag ich. «Ich hab nix gemacht. Ich mach meine Aufgaben. Ich hab keine Probleme. Meine Noten sind gut.»

Mrs. Lichenstein glotzt mich an, als würd ich drei Arme haben und ausser Möse stinken.

Was hat meine Mutter damit zu tun, will ich fragen. Was hat die damit zu tun? Sags aber nich. Sag bloss: «Meine Mutter hat zu tun.»

«Nun, vielleicht könnte ich es einrichten, zu dir nach Hause zu kommen ...»

Mein Gesicht muss ihr gelangt haben, und ich hätt ihr eine gelangt, wenn sie noch ein Ton gesagt hätt. Zu mir nach Hause kommen! Naseweisse Schlampe! Wir kommen ja auch nich zu dir nach Wesschesser oder wo Clowns wie du wohnen. Mann, mir reichts, ich hab genug gehört, die weisse Schlampe will mich besuchen kommen.

«Nun dann, Claireece, fürchte ich, muss ich dich vom Unterricht ausschliessen ...»

«Wegen was!»

«Du bist schwanger ...»

«Dass kein Grund, jemand auszuschliessen! Ich kenn meine Rechte!»

«Dein Benehmen, Claireece, ist überaus unkooperativ ...»

Ich hab übers Pult gelangt und wollt ihren fetten Arsch übern Tisch ziehn. Sie wollt mir ausweichen, is nach hinten geflogen und hat angefangen, «WACHSCHUTZ WACHSCHUTZ!» zu brüllen.

Vor der Tür, auffer Strasse, hab ich immer noch gehört, wie das Arschgesicht gebrüllt hat: «WACHSCHUTZ WACHSCHUTZ!»

«Precious!» Dass jetzt meine Mutter, die nach mir ruft.

Ich sag nix. Sie hat mein Bauch angeglotzt. Ich weiss, was kommt. Ich wasch weiter ab. Wir hatten Brathühnchen, Kartoffelmus mit Sosse, grüne Bohnen und Weissbrot zum Abendessen. Weiss nich, in welchem Monat ich bin. Hab keine Lust, hier rumzustehen und mir anzuhören, wie Mama mich ne Schlampe nennt. Brüllt und schreit mich den ganzen Tag an, wie beim letzten Mal. Schlampe! Fettes Flittchen. Was denkst dir eigentlich! Wer! Wär! Wäääär! Wie die Ziege in dem Märchenfilm, den ich mal gesehn hab. Wäääär? Du willst wissen, wer ...

«Claireece Precious Jones! Ich red mit dir!»

Ich geb immer noch keine Antwort. Letztes Mal, als ich schwanger war, hab ich auch an diesem Spülbecken gestanden. Als der Schmerz zugetreten hat. Wupp! Ahh Wupp! Hab ich noch nie erlebt, so was. Meine Stirn is klatschnass vor Schweiss, der Schmerz brennt in mir wie Feuer. Bin bloss dagestanden, als der Schmerz zugetreten hat. Dann hat sich der Schmerz gesetzt, dann isser wieder hochgesprungen und hat wieder zugetreten. Und sie steht da und brüllt mich an, «Schlampe! Gottverdammte Schlampe! Du verfickte Sau! Ich fasses nich – direkt vor meiner Nase. Treibts direkt vor meiner Nase.» Wieder tritt mich der Schmerz. Dann tritt sie mich. Ich lieg auffem Boden und stöhn, «Mami bitte, Mami bitte, bitte Mami, Mami! Mami! MAMI!» Dann TRITT sie mir gegen Kopf! «Nutte! Nutte!» brüllt sie. Dann donnert Miz West von nebenan gegen die Tür und brüllt, «Mary! Mary! Spinnst du! Du bringst das Kind ja um! Sie braucht Hilfe, Mary, keine Prügel. Bist noch ganz bei Trost!»

Mama sagt, «Die hätt mir sagen müssen, dass sie schwanger ist!»

«Himmel, Mary, du hasts nich gewusst? Ich habs gewusst. Das ganze Haus hats gewusst. Bist du wahnsinnig ...»

«Sag du mir nich, wie ich mein Kind aufzieh ...»

Miz West schreit «Hilfe! Polizei! 911! 911!» Sie nennt Mama ne Irre.

Der Schmerz marschiert jetzt. Trampelt einfach auf mir rum. Ich seh und hör nix mehr, schrei bloss noch «Mami! Mami!»

Männer, Notarzt-Männer, hab nich gesehen, wie sie reingekommen sind, gehört auch nich. Ich mach die Augen auf, und da isser. Hispano im Notarzt-Kittel. Schiebt mich auffen Kissen. Hab mich ganz zusammengerollt vor Schmerzen. «Entspann dich», sagt er. Der Schmerz sticht mich mit Messern, und der Spic redet von entspannen!

Er legt die Hand auf meine Stirn und die andre an mein Bauch. «Wie heisst du», fragt er. «Hä?» sag ich. «Wie du heisst?» – «Precious», sag ich. Er sagt, «Precious, gleich isses geschafft. Ich will, dass du presst, hörst du, Kleines, wenn die Scheiss-Schmerzen wieder anfangen, dann musst du die Nerven behalten und pressen. Push, Precita, push

Und das hab ich gemacht.

Seitdem kuck ich immer, wenn ich Hispanos seh, nach jemand mit seinem Gesicht und sein Augen. Er hat ne Milchkaffeehaut, hübsche Haare. Hab ich mir gemerkt. Gott. Ich glaub, er war Gott. Noch nie war n Mann zu mir so nett. Im Krankenhaus frag ich nach ihm. «Wos der Mann, der mir geholfen hat?» Sie sagen mir, «Ruhig, Kleines, du hast grad n Baby gekriegt.»

Ich krieg aber keine Ruhe, weil sie mich ausfragen. Wie ich heisse? Precious Jones. Claireece Precious Jones, um genau zu sein. Geboren am 4. November 1970. Wo? «Hier», sag ich, «genau hier im Harlem Hospital.» «Neunzehnhundertsiebzig?» fragt die Schwester verwirrt. Dann fragt sie, «Wie alt bist du?» Ich sag, «Zwölf.» Hab schon mit zwölf Übergewicht gehabt, keiner denkt, dass ich erst zwölf bin, wenn ichs ihnen nich sag. Ich bin gross. Ich weiss, dass ich über neunzig wieg, aber nich genau, weil der Zeiger auffer Waage im Bad nich mehr anzeigt. Als sie mich das letzte Mal wiegen wollten, inner Schule, hab ich nee gesagt. Wozu, ich weiss, dass ich fett bin. Na und. Der Nächste, bitte.

Aber dass jetzt nich die Schulschwester, dass das Harlem Hospital, wo ich geboren worden bin, wo sie mein Baby hingebracht haben, nachdems auffem Küchenboden inner Lenox Avenue Nummer 444 geboren worden is. Die Schwester hier is schlank und hat butterfarbene Haut. Sies heller, sogar als die meisten Hispano-Frauen, aber ich seh, dass sie schwarz is. Sehs einfach. Nigger haben immer was an sich, was nix mitter Farbe zu tun hat. Die Schwester is nix andres wie ich. Ne Menge Schwarze, mit Schwesternhaube, nem dicken Auto oder ner hellen Haut, sind nix andres wie ich, sie wissens bloss nich. Bin so müde, würd mich am liebsten in Luft auflösen. Miss Butter soll mich in Ruhe lassen, aber sie glotzt mich bloss an und kriegt immer grössere Augen. Sie sagt, sie brauch noch mehr Information für die Geburtsurkunde.

Ich raffs immer noch nich, dass ich n Baby gekriegt hab. Ich mein, ich weiss, dass ich schwanger war und wie ichs geworden bin. Weiss, dass du schwanger werden kannst, wenn n Mann sein Schwanz in dich reinsteckt und sein weisses Zeug in deine Möse reinspritzt. Bin jetzt zwölf, und das weiss ich, seit ich fünf oder sechs bin, habs vielleicht schon immer gewusst, was Sache is mit Schwanz und Möse. Erinner mich jedenfalls nich, nich zu wissen, was Sache is. Nee, ich kann mich absolut nich dran erinnern, nich zu wissen, was Sache is. Aber mehr wusst ich nich. Hab nich gewusst, wie langs dauert, was da drin passiert, nix, gar nix hab ich gewusst.

Die Schwester sagt was, aber ich hör sie nich. Ich hör die Jungs vonner Schule. N Junge sagt, ich wär potthässlich. Sagt, «Claireece is zum Brüllen hässlich.» Und sein Kumpel sagt, «Nee, die fette Schlampe is zum Kotzen hässlich.» Hahaha. Wieso ich jetzt an die blöden Jungs denken muss, keine Ahnung.

«Deine Mutter», sagt sie, «wie heisst deine Mutter?» Ich sag, «Mary L. Johnston.» (Das L steht für Lee, aber meine Mutter kann Lee nich ausstehn, klingt so nach Provinzkaff.) «Wo is deine Mutter geboren?» fragt sie. Ich sag, «Greenwood, Mississippi.» Die Schwester fragt, «Bist du schon mal dagewesen?» Ich sag, «Nee, ich war noch nirgends.» Sie sagt, sie fragt, weil sie selber aus Greenwood, Mississippi, is. Ich sag, «Oh», weil irgendwas muss ich ja sagen.

«Dein Vater», fragt sie, «wie heisst dein Vater?»

«Carl Kenwood Jones, von ausser Bronx.»

Sie fragt, «Wie heisst der Vater von dem Baby?»

Ich sag, «Carl Kenwood Jones, von ausser Bronx.»

Da wird sie ganz, ganz still. Sagt bloss, «Schande, das is ne Schande. Mit zwölf, mit zwölf», sagt sie immer und immer wieder, als wär sie nich ganz dicht (oder hätt n Schock oder was). Dann kuckt sie mich an, mit ihrer hellen Haut und ihren blauen Augen – weiss schon, dass die Jungs auf sie abfahren. Sie sagt, «Hattest du jemals eine ..., ich mein, bist du jemals ein Kind gewesen?» Dass ne blöde Frage, bin ich jemals n Kind gewesen. Ich bin n Kind.

Bin ganz durcheinander, müde. Ich sag ihr, ich will schlafen. Sie lässt das Bett runter, und ich schlaf ein.

Als ich aufwach, is jemand anders da. Sehn aus wie Bullen oder so. Wollen mich ausfragen. Ich frag, «Wos mein Baby? Ich weiss, das ich eins gekriegt hab. Ich weiss.» Die Neue mit der Schwesternhaube lächelt mich nett an und sagt, «Aber sicher, Miss Jones, Sie haben ein Kind gekriegt.» Sie schiebt die Männer mit den Uniformen weg vom Bett. Sie sagt, mein Baby is auffer Intensivstation und ich kanns bald sehn und ob ich nich den netten Männern ihre Fragen beantworten würd. Das sind aber keine netten Männer. Das sind Bullenschweine. Bin doch nich blöd. Denen sag ich gar nix.

Die ganzen Sachen von damals, 1983, als ich mein erstes Baby gekriegt hab, gehn mir durch n Kopf. «Precious! Precious!» Meine Mutter brüllt mich jetzt an. Aber mit den Gedanken bin ich bei meinem Baby, damals vor vier Jahren. Hab an diesem Spülbecken gestanden, als der Schmerz mich getreten hat und sie mich getreten hat.

Meine Hand taucht ins Spülwasser und schnappt das Fleischermesser.

«Precious! Precious!»

Sie lässt besser die Finger von mir. Wenn sie mich weiter anbrüllt und wieder tritt, stech ich sie ab. Ich schwörs.

«Precious, hast den Verstand verloren? Steht da wie n Ölgötz. Ich red mit dir.»

Ach nee.

«Hab überlegt.»

«Du überlegst rum, wenn ich mit dir rede?»

Das sagt sie, als würd ich Hundert-Dollar-Scheine abfackeln.

Anner Tür klingelts. Ich frag mich, wer das is. Bei uns klingelt niemand, bloss Cracksüchtige, die ins Haus wollen. Ich hasse Cracksüchtige. Werfen schlechtes Licht auf uns Schwarze.

«Los, sag diesen Arschlöchern, sie sollen aufhören mit dem Gebimmel», sagt sie. Sies näher anner Tür, aber meine Mutter bewegt ihren Arsch nur, wenn sie muss. Is wahr. Ich geh zur Tür und merk, dass ich noch immer das Messer inner Hand hab. Manchmal hass ich meine Mutter. Manchmal denk ich, sies hässlich.

Ich drück auf SPRECHEN und brüll: «Hör mit dem Gebimmel auf, du gottverdammter Flachwichser.» Und geh wieder inne Küche, um den Abwasch fertigzumachen.

Klingelt weiter. Ich geh wieder hin und brüll, «Hör mit dem Scheißgebimmel auf.» Der Wichser klingelt weiter. «Hör auf.» Es klingelt weiter. «AUFHÖREN!» brüll ich. Es hört nich auf. Meine Mutter kommt rausgestürzt und sagt, «Drück HÖREN, Dummkopf.» Würd am liebsten sagen, bin nich dumm, aber ich weiss, dass ichs bin, also sag ich nix, und ausserdem will ich nich, dass sie mich tritt, weil, seit ich das Messer aussem Spülwasser geschnappt hab, weiss ich, dass ich mich die längste Zeit hab treten lassen. Ich stech sie ab, wenn sie Precious Jones auch nur noch n einziges Mal tritt. Ich drück HÖREN. «Hallo, hier ist Sondra Lichenstein. Ich will mit Claireece Jones und Ms. Mary Johnston sprechen.» Mrs. Lichenstein! Was will die alte Nutte? Will sie diesmal richtig was vors Maul?

«Wer isses, Precious?» fragt meine Mutter. Ich sag, «Die weisse Schlampe ausser Schule.» – «Was will die?» «Keine Ahnung.» «Frag sie.» Ich drück SPRECHEN und sag, «Was wollen Sie?» Dann drück ich HÖREN, und Mrs. Lichenstein sagt, «Ich will mit dir über die Schule reden.» Die Votze hat n Knall.

Bin jeden Tag inner Schule gewesen, bis der weisse Mehlarsch mich im Gang abgefangen und so vollgesülzt hat, dass ich sie inne Fresse hauen wollte. Hat mich vom Unterricht ausgeschlossen, bloss weil ich schwanger bin – und zack war Schluss mit Schule. Jetzt hat sie ihren weissen Arsch auf die Lenox rübergeschoben und erzählt mir, dass sie mit mir über die Schule reden will. Mein Gott, wo stecken bloss die Cracksüchtigen, wenn man sie mal brauch.

«Was soll das, Precious?» fragt meine Mutter. Meine Mutter will nich, dass so ne weissen Wichser wie die Sozialarbeiterlehrerin Mrs. Lichenstein hier rumschnüffeln. Meine Mutter will nämlich nich rausfallen, ausser Stütze, mein ich. Dazu kommts nämlich, wenn so weisse Wichser wie Mrs. Lichenstein ein besuchen kommen. Wenn ich nich schwanger wär, würd ich glatt die Treppen runterrennen und der Schlampe in Arsch treten. Meine Mutter sagt, «Sieh zu, dass sie verschwindet.» Also brüll ich in die Sprechanlage: «Hasta la vista, baby.» Dass Spanisch für ‹Auf Wiedersehn›, aber wenns Nigger sagen, klingts wie ‹Leck mich am Arsch›. Drrring, klingelts schon wieder. Nich zu fassen, diese zurückgebliebene Schlampe. Ich drück SPRECHEN und sag, «Verschwinde, Mrs. Lichenstein, sonst polier ich Ihnen die Fresse.» Drrrrring. Ich drück HÖREN, «Claireece, es tut mir wirklich leid wegen Donnerstag. Ich wollte dir doch nur helfen. Ich ... Mr. Wicher sagt, du seist eine seiner besten Schülerinnen ...» Sie macht ne Pause, als wollt sie überlegen, was sie als nächstes sagt, und sagt dann, «Ich habe eine Ms. McKnight angerufen, vom Alternativen Schulprojekt ‹Lernen Für Alle›. Das ist eine alternative Schule.» Sie macht wieder ne Pause, dann sagt sie, «Claireece, hörst du mir zu?» Ich drück SPRECHEN und sag, «Ja.» – «Also gut, ich habe also Ms. McKnight vom Alternativen Schulprojekt ‹Lernen Für Alle› angerufen. Die Schule befindet sich im Theresa Hotel, im neunzehnten Stock. Das ist auf der Hundertfünfundzwanzigsten, nicht weit von hier.» Ich drück SPRECHEN, «Ich weiss, wo das Theresa Hotel is», sag ich. Schlampe, sag ich zu mir selber, die Mehlnasen denken, man is blöd. Ich drück wieder HÖREN, sie sagt, «Die Nummer ist 755-0831. Ich hab ihnen von dir erzählt.» Dann is Pause. «Ruf an oder geh hin, neunzehnter Stock –» Ich drück SPRECHEN und sag ihr, dass ich sie schon beim ersten Mal verstanden hab. Mir wirds ganz warm ums Herz – um die eine Hälfte jedenfalls –, wenn ich dran denk, dass Mr. Wicher gesagt hat, ich wär ne gute Schülerin. Die andre Hälfte würd am liebsten explodieren und Mrs. Lichenstein in Arsch treten. Kein Gebimmel mehr – schätze, das heisst, sie hats begriffen.

Ich geh schlafen und denk an den neunzehnten Stock vom Theresa Hotel, ne Alternative. Ich weiss nich, was ne Alternative is, aber ich glaub, ich wills rauskriegen. Neunzehnter Stock, dass das letzte, was mir durch n Kopf geht, bevor ich einschlaf. Ich träum, ich bin innem Aufzug, der so hoch rauffährt, dass ich denk, ich überlebs nich. Der Aufzug geht auf, und da steht der milchkaffeebraune Mann, der spanisch kann. Ich erkenn ihn wieder, von damals, als ich mein Baby gekriegt und n Küchenboden vollgeblutet hab. Er legt die Hand auf meine Stirn und flüstert, push, Precious, push, du musst ganz fest pressen.

Als Precious erwachte, erinnerte sie nicht den Traum, sondern wie sie das letzte Mal gepresst hatte. Es dauerte zwei ganze Tage, ehe man ihr das Kind brachte und sie sehen konnte, was mit «ein bisschen Atemschwierigkeiten» gemeint war. Sie versuchte, ihre Arme auszustrecken, doch sie war erschöpfter als je zuvor in ihrem Leben. Die butterhäutige Schwester und eine zierliche schwarze Schwester standen an ihrem Bett. Die zierliche schwarze Schwester hielt das Baby. Schwester Butter steckte die Hand unter die Decke, ergriff Precious’ zu Fäusten geballte Hände, öffnete sie sanft und strich mit den Fingern beruhigend über Precious’ Handflächen. Dann schaute sie die andere Schwester an. Die Zierliche wollte Precious das Baby geben, aber Schwester Butter fiel ihr in den Arm und nahm es ihr ab.

«Mit deinem Baby ist etwas nicht in Ordnung», flüsterte sie, «aber es lebt, es ist deins.» Schwester Butter legte das in Decken gehüllte Kind in Precious’ Arme. Precious betrachtete eindringlich die schrägen Augen, das flache Gesicht und die zuckende Zunge.

«Mongoloid», sagte die andere Schwester. Schwester Butter sah sie scharf an.

«Wass passiert?» fragte Precious betäubt.

«Nun, einiges. Der Doktor wird es dir genau erklären. Dein Kind hat möglicherweise das Down Syndrom und litt während der Geburt unter Sauerstoffmangel. Dazu kommt, dass du so jung bist, sehr junge Mütter sind anfälliger ...» Ihre Stimme verlor sich für einen Augenblick. «Warst du während der Schwangerschaft jemals beim Arzt?»

Precious antwortete nicht. Sie streckte die Arme aus und hielt Schwester Butter das Baby hin. Schwester Butter nickte, und auf ihr Zeichen nahm die zierliche schwarze Schwester das Baby in Empfang. Schwester Butter setzte sich auf die Bettkante. Sie versuchte, ihre Arme um Precious zu legen, und strich ihr sanft über die Stirn. «Es tut mir leid, Precious, es tut mir ja so leid.»

Precious versuchte sich herauszuwinden, doch die butterhäutige Schwester aus Greenwood, Mississippi, zog Precious an sich und schloss sie fest in die Arme. Precious konnte den von Creme und Deo durchtränkten Duft ihres Kittels riechen und den schwachen Geruch von Juicy-Fruit-Kaugummi, und sie spürte eine Wärme von Schwester Butter ausgehen, die sie bei ihrer Mutter niemals empfunden hatte. Sie begann zu schluchzen. Ganz leise nur, zuerst, dann immer heftiger, und alles schmerzte – die blutig klaffende Wunde zwischen ihren Beinen, die blaugeschwollene Beule an ihrem Kopf, wo ihre Mutter sie getreten hatte und die Schwester Butter nicht sehen konnte, weil sie sie an sich drückte. Selbst ihr Vater, der nachts zu ihr kam, hatte sie nie umarmt, hatte sie nur immer von sich gestoßen und ihr sein stinkiges, nach Pisse riechendes Ding erst in den Mund und dann in die Vagina gesteckt. Jahre und Jahre und Jahre. Am ersten Schultag trug sie ein schmuddeliges rosa Kleid, an dem sein Geruch klebte. Zweite Klasse. Dritte Klasse. Vierte Klasse. Es schien, als gehörte ihm die Nacht, und sie war ein Teil von ihr. Unsichtbar, dunkel, aufgelöst. Es war so dunkel, dass sie einfach aufhörte – aufhörte zu sprechen, Ball zu spielen, die gepunkteten Linien zu verbinden. Farben und Formen zu unterscheiden. Was machte es für einen Unterschied, ob der lila Fleck quadratisch oder rund war. Ob er blau oder lila oder gelb war. Was machte es für einen Unterschied, wohin die Buchstaben auf dem Blatt zeigten, ob die Spitze des Lebkuchenhauses nach oben oder nach unten ragte. Still und leise versenkte Precious, als sie sechs Jahre alt war, Buch, Puppe, Springseil, ihren Kopf, ihr Ich im hintersten Winkel des Klassenzimmers und tauchte erst wieder auf, als sie zwölf war und der Notarzt ihr sagte, sie solle ihn anschauen, nachdem er sie stöhnend auf dem Küchenboden in der Lenox Avenue Nummer 444 vorgefunden hatte. Und jetzt hielt diese Schwester ihr Gesicht in den Händen und sagte, «Schau mich an, Schatz, du wirst damit fertig Das schaffst du.»

Precious blickte in ohnmächtiger Bestürzung zu ihr auf, erinnerte sich, wie der Schuh ihrer Mutter wie eine Kugel auf sie zugeschossen kam, wie der Penis ihres Vaters ihr ins Gesicht baumelte, und nun das plattgesichtige Baby mit den Koreaner-Augen.

«Wie denn?» schluchzte sie. «Wie?»

Das Baby kam zur Grossmutter, der Mutter von Precious’ Mutter, auf die 150ste Ecke St. Nicholas, obwohl ihre Mutter auf dem Sozialamt gesagt hatte, dass das Baby bei ihr und bei Precious leben würde und dass sie drauf aufpassen würde, wenn Precious in der Schule war.

Drei Monate nach der Geburt des Babys, Precious war noch immer zwölf, schlug Precious’ Mutter auf sie ein. FEST. Dann nahm sie die gusseiserne Pfanne, zum Glück war kein heisses Fett drin, und schlug Precious damit so heftig ins Kreuz, dass sie fiel. Dann trat sie Precious in die Rippen. Dann sagte sie: «Vielen Dank, Miz Claireece Precious Jones, dass du meinen Mann gefickt hast, du miese kleine Schlampe!» Precious dachte, sie müsse sterben. Sie konnte nicht mehr atmen. Da, wo sie das Baby gekriegt hatte, tat es weh.

«Du fette Schlabbervotze! Niggersau! Ers mir abgehaun! Was hast du den Drecksäcken in dem Krankenhaus erzählt? Umbringen sollt ich dich.»

Precious lag zitternd und schluchzend am Boden und fürchtete, ihre Mutter würde sie umbringen. «Steh auf, Fräulein Hochnäsig», brüllte ihre Mutter. «Setz dein hintervotzigen Arsch in Bewegung und mach mir was zu essen, sonst hast du gleich was zum Plärren.»

Precious stand auf und machte Essen. Schweinshaxen mit Wirsing, Maisfladen, Apfelkrapfen und Makkaroni mit Käsesoße. Zwei Stunden stand sie in der Küche. Precious wusste, dass zwei Stunden vergangen waren, auch wenn sie die Uhr nicht lesen konnte. Der Mann im Radio hatte vier Uhr gesagt, Nachrichten verlesen, dann kam Musik, und als sie den Teller ihrer Mutter auffüllte, sagte der Mann sechs Uhr. Nacken, Schulter und Rücken schmerzten, als wenn ein Auto sie überrollt hätte. Sie brachte ihrer Mutter den Teller und stellte ihn vor sie auf ein Tablett.

«Wos deiner?» wollte ihre Mutter wissen.

«Hab kein Hunger.»

Die Augen ihrer Mutter funkelten höllenrot, die breite Falte auf ihrer Stirn wurde tiefer.

«Ich ... meine Schulter tut weh ... ich will mich hinlegen.»

«Deiner Schulter fehlt nix. Hab dich ja kaum angerührt! Los, hol dein Teller und hör auf mit dem Blödsinn, sonst tut deine Schulter gleich richtig weh.»

Precious ging in die Küche zurück und füllte sich einen Teller auf.

«Margarine», polterte ihre Mutter. «Bring die Margarine und Tabasco.»

Precious brachte ihr die Margarine und Tabasco, ging wieder in die Küche und häufte dunkle süß-saure Kohlblätter, Schweinshaxe, Makkaroni mit Käsesoße, Apfelkrapfen und vor Margarine triefende Maisfladen auf ihren Teller. Schweigend schlang sie das Essen in sich hinein, unfähig, etwas zu schmecken, weil es dumpf in ihrer Schulter pochte und ihr ein gleißender Schmerz durch den Nacken fuhr.

Die Weißen im Fernsehen lachten und küssten sich.

«Isser nich niedlich!» seufzte ihre Mutter, als ein schwarzer Schauspieler in einer Bierreklame auftauchte. Sie schob Precious ihren Teller hin. «Mach mir noch ein, mach dir ...»

«Ich will nich mehr.»

«Hast mich verstanden?»

Precious stand auf und trug beide Teller in die Küche. Sie war so voll, sie dachte, sie würde gleich platzen. Sie schaute zu ihrer Mutter hinüber, sah die fettigen Lippen, das braune Gesicht, aufgedunsen wie ein unförmiger Kürbis, den zerrissenen geblümten Hauskittel, die dunkelbraunen gespreizten Schenkel, die aus dem zerschlissenen Unterrock ragten. Der Anblick machte ihr angst. Wenn Precious fett war, gab es kein Wort, das ihre Mutter beschreiben würde, die die halbe Couch einnahm und deren Arme wie riesige Tiere aussahen. Sie stellte ihrer Mutter den Teller hin. «Krapfen alle?»

«Sind noch welche da», antwortete Precious.

«Dann bring mir welche, wenn du dein Teller holst, und beeil dich, bevor ich dir Beine mach.»

Precious schlurfte zurück ins Wohnzimmer, den Teller noch voller als vorher, denn sie wusste, dass ihre Mutter sie sonst nur wieder in die Küche zurückschicken würde, um mehr zu holen. Sie stellte eine Schüssel mit den restlichen Krapfen aufs Tablett ihrer Mutter, setzte sich und ass. Ass und sah zu, wie ihrer Mutter das Fett übers Kinn lief. Ass und sah zu, wie ihre Mutter eine ganze Haxe zum Mund schwang, sah zu, wie sie es ihr nachtat, spürte, wie das glitschige, fette Fleisch seinen salzig-lüsternen Geschmack verströmte, sich mit den Käse-Makkaroni und den Wirsingblättern vermischte. Sie ass stur, zielstrebig arbeitete sie sich vom Fleisch über die Makkaroni und den Kohl zu den Krapfen vor. Das dumpfe Pochen in Rücken und Schulter verschwand nicht, auch nicht der gleißende Schmerz, der durch ihren Nacken fuhr, aber es war egal. Sie hatte den Punkt kurz vor dem Ertrinken erreicht, wenn das Wasser die Lungen füllt, das Ringen um Luft zu Ende ist und der Tod nur noch Sekunden entfernt. Benommen sank sie gegen die Sofalehne, doch der Schmerz in ihrer Schulter hielt sie davon ab, sofort einzuschlafen, wie sonst, wenn ihre Mutter ihr das Essen aufgezwungen hatte. Sie schloss die Augen. Sie spürte die Hände ihrer Mutter zwischen den Schenkeln. Sie regte sich, fühlte, wie ihre Mutter sie mit Daumen und Zeigefinger zwickte. Sie rührte sich nicht mehr und sank noch tiefer in das Sofa, als würde sie schlafen. Sie brauchte die Augen nicht zu öffnen, der Geruch, der sich im Zimmer ausbreitete, sagte ihr, dass ihre Mutter die andere Hand zwischen den eigenen Schenkeln hatte. Ihre Mutter passte schon lange in keine Badewanne mehr. Die Hand ihrer Mutter kroch Precious’ Schenkel hinauf in die feuchte Öffnung ihrer Vagina. Nun fiel Precious wirklich in den Schlaf, den sie nur vorgetäuscht hatte.

Sie ist zwölf. Nein, war zwölf. Jetzt ist sie sechzehn. In den letzten Wochen, seitdem die weiße Ratte Lichenstein sie von der Schule geschmissen hatte, waren 1983 und 1987, zwölf und sechzehn, das erste Kind und das kommende in ihrem Kopf durcheinandergeraten. Hatte ihre Mutter sie eben mit der gusseisernen Pfanne geschlagen? War der Schmerz in ihrer Schulter alt oder neu? Das Baby, neugeboren und in weiße Decken gehüllt, oder mit leblosen Augen bei ihrer Großmutter in der Wiege? Die Zeit wirbelte umher wie Kleider in einer Wäschetrommel – immer im Kreis. Gerade noch war sie das kleine zwölfjährige Mädchen, das von ihrer Mutter getreten wurde, im nächsten Moment sprang sie über den Schreibtisch Mrs. Lichenstein in die Fresse. Precious hievte sich aus dem Sofa und betrachtete ihre schlafende Mutter. Es war Freitag, der 16. Oktober 1987. Sie musste Samstag und Sonntag überstehen, dann kam der Montag: die Alternative.

Schule? Aufs Sozialamt solle sie gehen, hatte ihre Mutter gesagt, die Schule würde ihr nun nicht mehr helfen. Precious schlüpfte in ein Paar neongelber Leggins und in ihr beiges X-Sweatshirt. Sie zog ihre weissen Reeboks an, schnappte sich zwei Dollar-Scheine, steckte sie in den BH, cremte sich das Gesicht mit Vaseline ein, klatschte ihr Haar an und schwor sich, sobald sie ein paar Dollar übrig hätte, würde sie sich Zöpfe flechten lassen. Ihr Blick wanderte von dem Spiegel, der auf einer weißen Kommode stand, zu dem schmalen Bett, das aus demselben weißlackierten Holz gemacht war. Beides, Kommode und Bett, hatte sie schon als kleines Mädchen gehabt. An der Wand über dem Fußende des Bettes hing ein großes Poster von Louis Farrakhan, auf dem in großen schwarzen Lettern stand: DIE ZEIT DES SCHWARZEN MANNES IST GEKOMMEN. Der Radiowecker sagte: 8:30. Ihre Mutter schlief noch. Sie würde nicht lange weg sein. Precious würde rechtzeitig zurück sein, um sauberzumachen und das Frühstück zu richten. Einmal hatte Precious ihre Mutter gefragt, wie kommts, dass du nie was machst? Als sie wieder aufstehen konnte, hatte ihre Mutter gesagt, weils dich dafür gibt.

Ich geh in den neunzehnten Stock vom Theresa Hotel, zur Alternative, sagte sie sich, während sie die Schnürsenkel ihrer Reeboks zuband. Sie zog ihre grüne Lederjacke an und steckte die Hausschlüssel in die Jackentasche. Bin bereit. Sie ging von ihrem Zimmer zur Wohnungstür.

«Wo willst du hin?» dröhnte die Stimme ihrer Mutter aus dem Schlafzimmer.

Warum schlief die fette Schlampe nicht? Precious gab keine Antwort. «Hörst du nich? Ich red mit dir!» Precious begann die vier Schlösser zu entriegeln. «Precious!» Fick dich, Schlampe! Ich bin weg! Kichernd rannte sie, so schnell es ihr dicker Bauch erlaubte, die Stufen runter. Das Treppenhaus war so eng, dass sie ständig irgendwo anstieß. Vielleicht nehm ich ab, wenn das Baby da is. Vielleicht krieg ich dann meine eigene Wohnung.

Als sie aus dem Haus trat, brummte die morgendliche Lenox Avenue vom Lärm der Autos, Taxen und Busse. Trucks standen vor dem Supermarkt und vor McDonald’s auf der 132sten. Männer, Frauen und Kinder drängten sich an der Haltestelle und warteten auf den Bus, der sie nach Downtown zur Arbeit oder zur Schule bringen würde. Wo die wohl alle arbeiten, rätselte sie, als sie die Lenox Avenue runterging. Wo ich wohl mal arbeite. Wie ich aus IHRER Wohnung rauskomm? Ich hasse sie. Precious wartete an der Ampel auf der 126sten und blickte über die Straße zu Sylvia’s, dann auf die afrikanischen Straßenhändler, die den nächsten Block säumten und Kente-Gewänder, Ledergürtel, Handtaschen, Kauri-Schmuck verkauften.

Sie ging jetzt sehr sehr langsam. Niemand sprach sie an. Die Jungs und Männer, die ihr sonst hinterhergebrüllt oder nachgepfiffen hätten, «Hey, Baby! So viel Fleisch und keine Kartoffeln!» oder «Hey, fette Mama», schwiegen jetzt, da ihr Bauch sich so mächtig nach vorne wölbte. Sie war sicher. Sicher vor den Männern auf der Straße, dachte sie, aber war sie auch sicher vor Carl Jones? Dass das zweite Kind von meinem Vater, is das dann auch zurückgeblieben?

Diesmal wusste sie, dass Mama wusste. Hm hm, sie wusste Bescheid. Die hat ihn zu mir reingelassen. Ich spinn doch nich, die dreckige Nutte hat ihn an mich rangelassen. Das hat er verlangt, damit er sie fickt, n Stück von mir. Nach ner Weile is er einfach nur noch auf sie draufgestiegen. «Halts Maul», sagt er, «bist ja offen wie die Mississippimündung», röhrt er und klatscht ihr auf den Arsch. «Erzähl mir nich, dass so bisschen poppen dir weh tut, fette Kuh. Besser, gewöhnst dich dran.» Dann lacht er. «Die is ja schon dran gewöhnt.» Precious liegt auf dem Rücken im Bett, während er über sie drübersteigt. Sie sieht sich tanzen in Video-Clips, in Filmen, sie wird ausbrechen, davonfliegen, bloß tanzen, vielleicht, nein! nicht vielleicht – da ist sie, da draußen! Heizt das Apollo auf für Dough E. Fresh oder Al B. Shure. Die finden sie toll, sagen, sie ist eine der besten Tänzerinnen, kein Zweifel drüber oder dran.

Ich heirate dich, hat er immer gesagt. Beeil dich, Nigger, und halts Maul! Macht ihren Traum kaputt mit seinem Gestöhne und Gequatsche. Erst macht er ihr Leben kaputt mit seinem Geficke, dann versaut er den Fick mit seinem dämlichen Gequatsche. Die Fickerei war ihr peinlich. Mann, halts Maul, Nigger! Wie willst mich denn heiraten, wo du mein Daddy bist, will sie schreien. Bin deine Tochter, is verboten, mich zu ficken. Aber sie hält den Mund, damit die Fickerei nicht in Prügel endet. Dann fühlte es sich gut an, irgendwann. Ihr Körper hörte auf zu tanzen und fing an zu kommen. Sie wollte sich zurückzappen in den Video-Clip, doch jetzt rockt sie unter Carl, zuckend feucht ihre Möse, fühlt sich gut an. Sie schämt sich. Siehste, siehste, schlug er ihr auf die Schenkel wie die Cowboys im Fernsehen auf ihre Gäule, dann quetschte er, biss er ihren Nippel. Sie kam noch mal. Schlug ihr auf die Schenkel, Siehste, das GEFÄLLT dir: Du bist wie deine Mutter, würdest alles tun! Er zog seinen Schwanz aus ihr raus, die warme weiße Ladung floss aus ihrem Loch und nässte das Laken.

Sie lehnt sich gegen die Glasscheibe des Wartehäuschens auf der 125sten.

«Wollen Sie diesen Bus nehmen, junge Frau?»

Precious blinzelt den Busfahrer an und schüttelt den Kopf. Verwirrt schaut sie dem davonfahrenden 101er nach. Sie erinnert sich nicht, wie sie zur Haltestelle gekommen ist, unter das Dach des Wartehäuschens. Sie erinnert sich nicht mal, was sie hier draussen macht, auf der Straße, bis sie auf ihre neongelben Leggins und die weißen Reeboks blickt, natürlich! Alternative. Sie ist ... war auf dem Weg die Lenox runter, kurz vor der 125sten, da kamen die schlimmen Gedanken und haben sie entführt.

«Alles in Ordnung?» fragt ein Typ in einer Art Tankstellen-Montur.

«Ja ja, alles in Ordnung», versichert sie und schiebt die Leute weg, die um sie herumdrängen, um zu helfen.

«Die hat n Knall, Mann!» sagt ein schmächtiger Kerl in weiten Hosen ganz laut zu einem großen Typen neben ihm.

«Fick dich in dein dürres Knie, du Flachwichser! Kümmer dich um dein eignen Scheiß!» brüllt Precious, als sie die 125ste runter auf das Theresa Hotel zuwalzt, das am Adam Clayton Powell Boulevard aufragt wie ein riesiges Elfenbeingesicht mit Hunderten von dunklen quadratischen Fenstern anstelle von Augen. Sie überquert die 125ste und marschiert Richtung Hotel. Hundertmal ist sie dran vorbeigegangen, aber nie drin gewesen. Sie geht durch die Eingangstür, an einem Mann am Empfang vorbei, zu den schwarzen Türen der beiden Fahrstühle. Die Türen öffnen sich. Sie betritt den Fahrstuhl und ist allein. Der Fahrstuhl rührt sich nicht. Oh, sie drückt den Knopf.

Precious tritt aus dem Fahrstuhl und sieht eine hellbraune Frau mit Brille und geflochtenen Haaren, die sich wie Mais am Kolben an ihre Kopfhaut schmiegen. Die Frau sitzt hinter einem schwarzen Schreibtisch, neben einer Tür mit einer schwarzen Aufschrift.

«Dass die Alternative?» fragte Precious.

«Die was?» Die Frau runzelte die Stirn und schaute Precious über den Rand ihrer Brillengläser hinweg an.

«Dass die Alternative?» wiederholte sie gereizt – die Schlampe hatte sie doch verstanden.

«Wonach genau suchen Sie?» fragte die Frau besänftigend.

«Na, wass das hier?»

«Hier ist das Alternative Schulprojekt ‹Lernen Für Alle›.»

«Ich such die alternative Schule.»

«Nun», die Frau musterte sie noch ein wenig eingehender, «dies ist eine alternative Schule.»

Precious hatte noch nie Zöpfe gesehen, die nicht frei vom Kopf baumelten. Wozu flechten, wenn man keine Haarteile dran macht?

«Was is Alternative?» Kann genausogut die Schlampe da fragen und rauskriegen, was das für ne Schule is.

«Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Frage verstanden habe.»

«Alternative – die Frau von meiner andern Schule hat gesagt, ich soll hierherkommen, zum Theresa Hotel, neunzehnter Stock, das wär ne alternative Schule.»

«Okay, okay», sagte die Frau, «‹Lernen Für Alle› ist eine alternative Schule, und alternativ ist, wenn man die Wahl hat, eine andere Möglichkeit, etwas zu tun.»

«Oh.»

«Von welcher Schule kommen Sie?»

«I.S. 146.»

«Das ist eine Junior Highschool, nicht wahr?»

«Ich bin sechzehn.»

«Sie brauchen die Entlassungspapiere von Ihrer alten Schule, da muss drinstehen, dass Sie offiziell entlassen worden sind, sonst können wir Sie nicht in unser Projekt aufnehmen.»

«Die haben mich rausgeschmissen, weil ich schwanger bin ...»

«Schon gut, ich verstehe, dennoch brauchen wir ordentliche Entlassungspapiere, sonst können wir Sie nicht aufnehmen. So sind die Vorschriften.»

«Davon hat Mrs. Lichenstein nie was gesagt.»

«Oh, Sie sind diejenige, wegen der Mrs. Lichenstein angerufen hat.»

«Sie hat angerufen?» Precious war überrascht.

«Ja, ja», murmelte die Frau, «sie sagte, wir sollten nach Ihnen Ausschau halten. Könnte sein, dass Sie auftauchen.»

Sie kramte in ihren Unterlagen. «Claireece P.Jones?»

«Das bin ich.» Precious fühlte sich geschmeichelt. Sie konnte sich an niemanden erinnern, der je nach ihr Ausschau gehalten hätte. Ja schon, ob sie was klaut oder so, aber nicht, ob sie vorbeikommt. Das war nett.

«Gut, die Rektorin der LS. 146 hat bereits Ihre Entlassungspapiere und die anderen Unterlagen hergeschickt.»

«Was für Unterlagen?»

«Ihre Zeugnisse ...», die Frau bemerkte Precious’ Gesichtsausdruck und hielt befremdet inne. «Ist alles in Ordnung?»

«Die haben meine Akte geschickt!» spuckte Precious aus.

«Nun ja, wir mussten gewisse, eh, Informationen einholen, ehe wir Sie in unser Projekt aufnehmen. Unsere Schüler müssen bestimmte Kriterien bezüglich Einkommen, Wohnort und schulischen Leistungen erfüllen, bevor wir sie zulassen. Sie haben Ihre Unterlagen nur hergeschickt, damit es schneller geht.»

Precious fragte sich, was in der Akte stand. Sie wusste, in der Akte stand, dass sie ein Baby hatte. Stand da auch, wer der Vater war? Was für ein Kind sie hatte? Stand in der Akte, dass Buchstaben ihr nichts sagten, wieviel sie wog, wie oft sie sich geprügelt hatte? Sie konnte die Akte nicht lesen, aber sie wusste, jedesmal, wenn die sie am Arsch kriegen wollten oder über ihr Leben bestimmen, kamen sie mit der Scheißakte an. Egal, bringen wirs hinter uns.

«Kann ich heut schon anfangen?» fragte, nein, verlangte sie. Wenn die so viel wussten, konnte sie es genausogut verlangen.

«Sicher, natürlich», sagte Ms. Maiskolben, «ich meine, es gibt zwar eine Reihe von Aufnahmeformalitäten, aber das meiste davon ist ja bereits für Sie erledigt worden. Das einzige, was wir noch brauchen, ist eine Einkommensbescheinigung. Beziehen Sie gegenwärtig Sozialhilfe?»

«Nein.»

Ms. Maiskolben runzelte die Stirn.

«Meine Mutter kriegt Sozialhilfe für mich und meine Tochter.»

«Oh, haben Sie sich Ihre Schwangerschaft bereits bescheinigen lassen?» fragte die Frau und betrachtete über den Rand ihrer Brillengläser hinweg Precious’ Bauch.

«Hm?»

«Sie sagten, Ihre Mutter erhalte einen Scheck für Sie und Ihre Tochter?» Sie deutete auf Precious’ Bauch.

«Nich das Baby! Ausser dem da hab ich noch n Baby.»

«Oh, ich verstehe. Ihre Mutter hat also das Sorgerecht für Sie und Ihre Tochter. Mit anderen Worten, sie bezieht Unterhalt für Sie?»

«Mmmhmm.» Precious nickte. Die Schlampe war nich von gestern.

«Okay, also was ich brauche, ist eine Einkommensbescheinigung Ihrer Mutter und eine aktuelle Telefon- oder Stromrechnung, in Ordnung?»

«Okay.» Precious starrte sie an. «Muss ich das alles jetzt holen?»

«Nein, nein, nur keine Panik. Sie müssen ein paar Fragebogen ausfüllen, wir müssen Ihre Fähigkeiten im Rechnen und Lesen einstufen, feststellen, ob Sie in den Prä-GED oder den GED-Kurs kommen.»

«Wass der Unterschied?»

«Nun, GED-Kurse sind für Schüler, deren Fähigkeiten den Anforderungen entsprechen, die so weit sind, dass sie direkt den Unterricht besuchen und auf ihren Abschluss hinarbeiten können, der einem Highschool-Abschluss entspricht. Prä-GED bedeutet, dass der Schüler oder die Schülerin noch daran arbeiten muss, die Anforderungen der Abschlussklasse zu erfüllen.»

«Was für Anforderungen?»

«Nun, für diese Kurse sollte ein Schüler oder eine Schülerin die Anforderungen der achten Klasse erfüllen. Sie sollten einen Lesetest mit 8,0 oder besser bestehen.»

«Ich war inner Neunten auffer LS. 146.»

«Dann sollte es für Sie kein Problem sein», sagte die Frau mit den festgezurrten Zöpfen und lächelte.

«Wos das Problem?» frag ich die dicke dunkle Frau, die über meine Schulter auf mein Fragebogen starrt. Sie hat Leggins an, wie ich, nur sind ihre schwarz. Und ne blaue Bluse, sieht hübsch aus, wie Seide. Ich schätze, sie sieht okay aus. Mag sonst mehr hellhäutige Menschen, die sind nett. Und schlanke Menschen. Mama is schwarz und fett. Wenn ich neunzig wieg, wiegt sie hundertvierzig. Die dicke Lady kuckt mich an. Ich kuck zurück, die hat meine Frage nich beantwortet.

«Wos das Problem?» frag ich wieder.

«Nun, vielleicht solltest du den Test noch mal machen.»

«Sind Sie die Lehrerin?»

«Eine der Lehrerinnen.»

«Was lernen Sie?»

«Ich unterrichte den Abschlusskurs.»

«Wer sind die andern Lehrerinnen?»

«Ms. Rain.»

«Was lernt die?»

«Ms. Rain unterrichtet die Vorstufe.»

Ich weiss, da gehör ich hin. «Da gehör ich hin», sag ich.

«Hm», macht die fette Kuh und glotzt mich an. Glaub nich, dass die ne Lehrerin is.

«Willst du den Test wiederholen?»

«Nein.»

Is nix Neues für mich. Immer hat was mit den Tests nich gestimmt. In den Tests siehts aus, als hätt ich null Grips. In den Tests siehts aus, als wär ich und meine Mutter – meine ganze Familie, blöd, noch mehr, unsichtbar. Einmal hab ich uns inner Glotze gesehn. So Gespensterzeug mit Schlössern, wos spukt, so was. Und die Leute da drin, also manche von den waren echte Leute, und manche waren so Vampire. Aber die echten Leute, die habens nich gewusst, nich, bis es rund ging. So Mehlnasen eben, die Truthahnbraten fressen, Champus saufen und all so was. Da sind also fünf Typen auffer Couch, einer von den steht auf und macht n Foto. Kapiert? Foto is fertig (Polaroid), sitzt da nur ein Typ auffer Couch. Die andern Leute, die gabs gar nich. Waren Vampire. Die essen, trinken, sind angezogen, reden, ficken und alles, aber im Grunde gibts die gar nich.

Ich bin gross und kräftig, ich ess, ich koch, ich lach, ich kuck fern, mach, was meine Mutter sagt. Aber ich weiss, wenn das Bild fertig is, gibts mich nich. Keiner will mich. Keiner brauch mich. Ich weiss, wer ich bin. Ich weiss, was die über mich sagen – bin n Vampir, der das System aussaugt. Schmieriger schwarzer Fettfleck, den man wegwischt, einsperrt, umbringt, umerzieht, Job besorgt.

Ich bin aber jemand. Will ich rausschreien. Inner U-Bahn, im Fernsehn, im Kino, RAUSSCHREIEN.

Ich seh sie genau, die feinen Ferkel mit ihren Anzügen, wie sie durch mich durch glotzen. Sehs, wie ich in ihren Augen verschwinde, in ihren Tests. Ich red ganz laut, aber trotzdem gibts mich nich.

Ich sehs andauernd, die echten Leute, die Leute, die da sind, wenns Bild fertig is, die feinen Ferkel, kleine weisse Mädels mit spitzen kleinen Titten und langen weissen Beinen. Sehn alle weissen Leute aus wie aussern Foto? Nee, weil inner Schule die Weissen, die sind fett und hässlich und eklig, wie die Hexen aussen Märchen, aber immerhin, es gibt sie. Weil sie weiss sind? Wenn Mrs. Lichenstein, die n Fettbauch hat und ausser Möse stinkt, wenns die gibt, warum mich nich? Wieso seh ich mich nich, fühl nich, wo ich anfang und wo ich aufhör? Manchmal kuck ich ihnen in die Augen, den feinen Ferkeln mit ihren Anzügen, den hohen Tieren, und die kucken durch mich durch, als wär da bloss Luft. Mein Vater kuckt auch durch mich durch. Wenn er mich ankucken würd, würd er wissen, dass ich bin wie n weisses Mädel, n richtiger Mensch, in drin. Dann würd er nich über mich drübersteigen, immer auf mich draufsteigen und sein Schwanz in mich reinstecken und mich heiss machen, dass ich blute. Wenn ich blute, schlägt er mich. Merkt der nich, dass ich n Mädchen bin mit Zöpfen und schlanken Beinen und nem Platz auffem Bild? Bin da schon so lang nich mehr drauf, bin dran gewöhnt. Tut trotzdem weh. Manchmal geh ich an Schaufenstern vorbei, und was fettes Schwarzes, alt, wie meine Mutter, glotzt mich ausser Scheibe an. Ich weiss aber, dasses nich meine Mutter sein kann, meine Mutter is zu Hause. Is nich mehr rausgegangen, seit Little Mongo auf die Welt gekommen is. Wen seh ich dann? Manchmal steh ich inner Badewanne und kuck mir mein Körper an, Orangenhaut und Fettfalten. Dann will ich mich verstecken, und dann will ich mich zeigen. Bitte meine Mutter um Geld, fürn Friseur, Kleider. Ich weiss, dass sie Geld für mich kriegt, für mein Baby. Früher hat sie mir Geld gegeben; aber jetzt, wenn ich sie um Geld bitte, sagt sie jedesmal, dass ich ihren Mann weggenommen hab. Ihr Mann? Ehrlich! Dass mein verfickter Vater! Hab gehört, wie sie am Telefon erzählt, ich bin ne kleine Votze, lass nix anbrennen, hab ihren Mann weggenommen. Was muss ich denn machen, dass meine Mutter mich sieht? Manchmal wär ich lieber tot. Aber ich weiss nich, wie man stirbt. Kein Stöpsel dran, um ihn rauszuziehn. Egal, wie dreckig es mir geht, mein Herz will nich aufhören zu schlagen, und morgens gehn meine Augen auf. Seit sie n kleines Baby war, hab ich meine Tochter kaum noch gesehn. Hab nie meine Brust in ihren kleinen Mund gesteckt. Meine Mutter sagt, wozu auch. Wär ausser Mode. Sagt, mit mir hat sies auch nie gemacht. Wozu soll dein Kind deine Titten brauchen? Is doch zurückgeblieben. Mongolin. Daun Sindriom.

Wie sieht der Test aus? Mir doch scheissegal. Ich kuck der Lehrerschlampe in die Augen, versuch rauszukriegen, ob sie mich sieht oder bloss den Test. Aber mir is jetzt egal, was die Leute sehn. Ich seh was, jemand. Hab n Kind. Na und. Bin stolz drauf. Ausser dass das Kind von meinem Vater is und ich nich auffem Bild bin, mal wieder.

«Wiederholen?»

Hat sie was gesagt? Doch, die Lehrerin sagt: «Willst du den Test wiederholen?»

Ich schüttel mit dem Kopf. Nein. Wozu auch, würd nix ändern, hab mich nich geändert. Bin immer noch ich, Precious. Sie sagt, ich bin inner ersten Klasse, die is Montag, Mittwoch, Freitag von neun bis zwölf. Ich sag, «Bin sonst immer den ganzen Tag inner Schule gewesen.» Sie fragt, ob ich mich an was andres gewöhnen kann. Ich sag gar nix, dann laut: «JA.»

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