Читать книгу Panthertage - Sarah Elise Bischof - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеIch weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, verschwommen geistern die Ereignisse des Vortages wie ein Schattenspiel durch meinen Kopf. Grobe Umrisse ziehen an mir vorbei, es fällt mir schwer, sie als klare Momente zu fassen, während frühlingshafte Sonnenstrahlen, die durch meine weißen Vorhänge dringen, meine Nase kitzeln. Der sprunghafte April scheint uns heute wohlgesonnen zu sein.
Mein Erwachen bleibt nicht unbemerkt. Noch ehe ich die Augen das erste Mal öffne, springt Maja freudig herbei und gibt mir einen innigen Nasenschleck. »Ach Maja«, sage ich leise, »ist ja alles gut. Guten Morgen.« Während ich mich langsam sammle und alle Gliedmaßen testweise leicht bewege, um zu schauen, ob nicht nur alles dran ist, sondern darüber hinaus funktionstüchtig, rechne ich aus, dass jetzt Mittwoch ist. Eigentlich müsste ich heute ins Münchner Übersetzerzentrum in der Innenstadt trudeln und nach neuen Aufträgen schauen. »Im Büro anrufen«, setze ich auf meine innere To-do-Liste. Lena ist bereits verschwunden, doch neben mir finde ich einen Zettel mit ihrer vertrauten kunstvollen Handschrift:
»Guten Morgen, Sötnos. Ich wollte dich nicht wecken. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. War um acht mit Maja draußen. Wenn du etwas brauchst, melde dich, ansonsten komme ich nach der Arbeit vorbei. Kramar«
»Sötnos«, übersetzt Süßnase, so nennt sie mich liebevoll. Und »kramar«, das sind Umarmungen. Wäre dies eine SMS an einem normalen Tag, würde ich scherzhaft die Augen verdrehen, weil ich Spitznamen furchtbar kitschig und schnörkelig finde, doch an Tagen wie diesen lächle ich gerührt in mich hinein. Was würde ich bloß ohne Lena machen? Und während ich nach meinem Wecker schaue, um festzustellen, dass es kurz vor zwölf ist und ich mit Sicherheit an die 16 Stunden geschlafen haben muss, bemerke ich das von Lena sorgsam befüllte Tablett auf meinem Nachtschränkchen, auf dem sich eine Schale mit Obst, Wasser, Magnesiumtabletten und eine Thermoskanne befinden. Ich denke, wie schön das Leben sein kann – vor allem an Tagen und unter Umständen, an denen man am wenigsten damit rechnet. Ich werfe eine Magnesiumtablette ins Wasserglas und während sie sprudelnd gen Boden sinkt, schenke ich mir Kaffee ein. Wer auch immer einst beschlossen hat, dass es doch eine großartige Idee sei, die Früchte von Kaffeesträuchern zu ernten und ihre Bohnen zu rösten, um sie schließlich zu mahlen und zu kochen: meine ewige Lobpreisung sei ihm gewiss. Bereits der erste Duft, der mir beim Öffnen der Thermoskanne entgegenströmt, löst unbeschreibliche Glücksgefühle in mir aus und nach den ersten tiefen Schlucken fließt ein Wohlbehagen durch meinen Körper, das mir das Gefühl vermittelt, für den Tag gewappnet zu sein.
Ich greife nach meinem Telefon und wähle die Nummer meines Hausarztes. Es ist mittlerweile nach zwölf und der Anrufbeantworter spult brav sein Programm ab. Von den Praxiszeiten bis hin zur Nummer des Notdienstes. Ich lege auf und evaluiere kurz meine Situation. Am Ende ringe ich mich durch und rufe Doktor Hagen auf seinem privaten Handy an. Er hat mir die Nummer für Notfälle gegeben. Ich zögere jedes Mal wieder aufs Neue, sie zu nutzen. Ist ein Anfall ein Notfall? Ich brauche Hilfe, ja, und es wäre gut, wenn ein Arzt nach mir sieht. Aber ebenso ist ein Anfall Teil meines Alltags, meiner Normalität.
Doktor Hagen meldet sich und kaum habe ich meinen Namen gesagt, eliminiert er in Windeseile meine Hemmungen: »Frau Bischof, hatten Sie einen Anfall?« Ich erläutere ihm kurz die Geschehnisse des Vortages. »Sind Sie zu Hause? Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.« Doktor Hagen bietet offiziell keine Hausbesuche an. Und dennoch hat er mich noch an keinem Anfallsmorgen im Stich gelassen. Er gehört zu der besonderen Spezies von Ärzten, die ihren Beruf ausüben, um zu helfen; die ein Vertrauensverhältnis aufbauen und über ihre abrechenbaren Leistungen hinaus tätig sind. Er weiß, dass ich in einem gewissen Maße, vor allem nach Anfällen, auf Hilfe angewiesen bin, nicht in der Lage, mich allein zu versorgen oder in seine Praxis zu kommen. Ebenso weiß und schätzt er, dass ich mich nichtsdestotrotz für ein unabhängiges, selbstständiges Leben entschieden habe.
Für diese Entscheidung musste ich harte Kritik einstecken und mich immer wieder rechtfertigen. Als ich 2004 mein Abitur absolvierte, kribbelte es in mir vom Daumen bis in den kleinen Zeh. Ich fühlte mich wie ein Fallschirmspringer kurz vor dem ganz großen Sprung. Die Welt stand mir offen und ich fühlte mich unbesiegbar. Ich könnte die Welt umreisen oder eine beeindruckende Karriere hinlegen. Und auf jeden Fall wollte ich wegziehen. Stockholm, Kopenhagen, Berlin, München, meine Möglichkeiten schienen endlos, alles, was ich tun musste, war, mich zu entscheiden. Meine Lieblingsschriftstellerin Fanny zu Reventlow prägte meine Maxime: Alles möchte ich immer.
Doch noch bevor ich die Konturen meines Lebens klarer zeichnen konnte, fiel ich zum ersten Mal um. Zunächst verlor ich mehrere Male unangekündigt das Bewusstsein, tageszeitunabhängig, grundlos; Absencen, wie ich später erfahren sollte. Da ich ein storchenähnliches Gewächs bin, wurden Herz-Kreislauf-Probleme vermutet, doch der erste Grand-Mal-Krampfanfall ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem ich in zwei Kliniken von Kopf bis Fuß untersucht worden war und beide Male die Ärzte zum gleichen Ergebnis kamen, folgte die große Ernüchterung. Endstation Epilepsie?
Einen Tag vor Weihnachten wurde ich mit einem Berg an Aufklärungen, Auflagen, Medikamenten und deprimierenden Zukunftsaussichten entlassen. Und doch wusste ich mit der Diagnose nicht viel anzufangen. Gehört hatte ich davon, aber so wirklich wusste ich nichts darüber. Das konnte doch nicht einfach so kommen, dachte ich mir. Ich war doch kerngesund, körperlich und geistig topfit. Zwanzig Jahre alt. Epilepsie, da war ich mir sicher, das haben andere, das haben vor allem nicht »normale« jugendliche Menschen wie ich. Vorurteile hallten durch meinen Kopf. Nun gut, dachte ich mir, dann hatte ich halt zwei Anfälle. Nun nehme ich die Medizin und dann passiert das nie wieder. Muss ja auch keiner wissen. Ich wollte die Unruhen so schnell wie möglich abhaken, hinter mir lassen, zu meinem Alltag und meinen Vorhaben zurückkehren. Und vor allem wollte ich eins: mein ganz »normales« zwanzigjähriges Leben wiederhaben, das gerade noch da gewesen war und dessen Zahnrädchen doch eben noch alle so problemlos ineinandergegriffen hatten.
Das ist jetzt zehn Jahre her. Um genau zu sein: zehn Jahre, neun verschiedene Antiepileptika, 24 Klinikaufenthalte in acht Kliniken, sieben ambulante Neurologen, zahllose Anfälle, Nebenwirkungen und EEGs. Ein EEG ist eine Gehirnstrommessung. Mit einer Plastikhaube werden viele kleine Elektroden auf der gesamten Kopfoberfläche angebracht, welche die Gehirnaktivität aufzeichnen. Ein EEG tut nicht weh. Bei Epileptikern wird auch nach der Diagnose mit dem regelmäßigen Schreiben von EEGs geschaut, ob aktuelle Auffälligkeiten vorhanden sind, ob beispielsweise trotz der Medikation Unruhen bestehen. Auch bestimmte Herde können so lokalisiert werden.
Abgesehen von all diesen anfangs furchtbar komplex scheinenden medizinischen Aspekten waren es ferner zehn Jahre mit zahllosen Vorurteilen und unangenehmen Momenten voller Ablehnung und Scham. Und deswegen darf es heute jeder wissen. Soll es jeder wissen. Je mehr darüber gesprochen wird, desto besser. Die Welt soll davon erfahren. Von Epilepsie. Von Epileptikern. Von Anfällen. Und von unserem am Ende doch ganz wunderbaren und meist furchtbar normalen Leben damit. Schließlich waren es dennoch zehn Jahre voller Lebensfreude, Seifenblasen, Einhörnern im Kopf und Luftballons. Und das zwanzigjährige, ängstliche und verlorene Mädchen, das sich für ihre Anfälle schämte und zu Hause verkroch, von vielen Mitmenschen und vor allem einstigen Weggefährten isoliert und ausgegrenzt wurde, wuchs zu einer jungen und stolzen Frau heran, die ihren Magister in Literaturwissenschaften, Skandinavistik und Anglistik absolviert hat und ein beinahe ganz normales Leben führt, durch dieses Leben selten geht, sondern lieber tanzt und bereit ist, sich mit der Unterstützung ihrer Verbündeten allen Hürden zu stellen.
Natürlich gibt es auch diese grauen Tage und Tage wie heute, Post-Anfalls-Tage, so schwarz wie ein Panther; und manchmal überkommen mich Zukunftsängste, die mir beinahe die Luft zum Atmen nehmen. Doch die Diagnose Epilepsie war mitnichten meine Endstation. Sie ist vielmehr eine Weiche gewesen, die den Streckenverlauf meines Lebens änderte. Die Strecke, der mein Leben nun folgt, ist sicherlich wesentlich kurviger. Dennoch ist die Fahrt voller Erlebnisse, die ich nicht missen möchte, und ich empfinde Dankbarkeit für dieses eine zauberschöne Leben, wie ich sie sonst womöglich nie in diesem Maße empfunden hätte. Und so oft es geht, erzähle ich davon. Für all die stummen Epileptiker, die Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung haben, aber auch all diejenigen Menschen, in deren Köpfen die Stimmen der Vorurteile noch allzu laut schreien.
Es dauerte fünf Jahre, ehe ich all meinen Mut zusammennahm. Doch dann war es so weit, ich verließ die beruhigende und schützende Nähe meines Elternhauses und ging nach München, um an der Ludwig-Maximilians-Universität mein Literaturstudium zu vollenden.
Für meine Freunde ist es sicher nicht einfach, mir trotz der Epilepsie uneingeschränkt ehrlich zu begegnen. Doch es ist wichtig, dass sie mich ebenso kritisieren wie unterstützen. Gleichzeitig dürfen kranke oder behinderte Menschen niemals entmündigt werden. Entscheidungen, die letztlich ausnahmslos uns betreffen, müssen uns selbst überlassen werden.
Leider können an ebendieser Selbstbestimmung ganze Freundschaften scheitern. Kurz bevor ich meine Heimat verließ, stürzte ich im Treppenhaus meiner Wohnung und verbrachte mehrere Wochen im Krankenhaus. Für einige Freundinnen war das ein gefundenes Fressen. Bereits zuvor prasselte ihr lauter und bedrohlicher Redeschwall auf mich ein, dass es lebensmüde von mir sei, in eine Stadt zu gehen, in der ich vielleicht diese eine Freundin, Lena, habe, aber sonst niemanden. Keine Verwandtschaft, keinen Hausarzt, keinen Neurologen, der meine Geschichte kenne. Ob mir klar sei, was ich meiner Familie und meinen Freunden damit antue, in welchen Dauerzustand aus Angst und Sorge ich sie versetze. Ich sagte immer nur, das sei mein Traum. München. Leben. Allein. Das ist mein Traum. Eigene Spuren an einem selbst gewählten Ort zu hinterlassen. Und ich schaffe das. Ich habe ein Recht dazu, so wie jeder andere Mensch es hat. Und sie wiederholten immer wieder diesen einen Satz, der mir bis heute einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagt, bei dem sich alle Härchen vor Angst und vor allem vor Grausen gegenüber diesen ehemaligen Weggefährtinnen aufstellen: »Du kannst aber nicht träumen wie andere. Finde dich damit ab.«
Meine Familie stieg in diesen Chor glücklicherweise nie ein. Meine gesamte Großfamilie hat immer an mich und meine Träume geglaubt. Sie haben mir das wärmste Nest gegeben, aber ebenso Flügel. Als ich beschloss, allein nach München zu gehen, habe ich ihnen gewiss so einige Sorgen und schlaflose Nächte bereitet. Doch sie haben mich unterstützt und jede meiner Entscheidungen mitgetragen. Wenn ich strauchle, nehmen sie mich immer wieder in ihrem Nest auf, achten aber ebenso darauf, dass ich nicht zu lange verweile.
Es klingelt. Ich krabbele zur Bettkante und werfe meine Beine hinaus. Dann richte ich mich auf und halte kurz inne, ehe ich mit beiden Händen nach der Fensterbank gegenüber greife und mich mit aller Kraft an ihr hochziehe. Durchatmen. Stehen. In meinen Muskeln sticht und beißt es. Die Hände fühlen sich starr an und die Beine kann ich kaum durchstrecken. Ich hangle mich an der Wand entlang. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Ich habe gelernt, nicht zu eilen. Doktor Hagen weiß um meine Situation. Wenn ich mich beeile, laufe ich Gefahr zu stürzen. Und sollte ich stürzen und wie ein Käfer auf dem Rücken liegend mühsam versuchen, einen Halt zu finden, an dem ich mich hochziehen kann, kann Doktor Hagen draußen noch einen Pulli stricken, ehe ich ihm die Tür öffne.
Hand für Hand ziehe ich mich die Wand entlang durch meinen kleinen Flur bis hin zur Haustür. Ein Hoch auf die Münchner Mietpreise, die einen zu bescheidenem Wohnraum nötigen. Ein 27-Quadratmeter-Appartement lässt sich doch leichter durchhangeln als eine großzügige Altbauwohnung mit weiten Wegen. Angekommen, betätige ich den Türsummer. Maja bellt. »Still, Maja«, sage ich viel zu liebevoll, »das ist doch bloß Doktor Hagen, den kennst du doch.« Vergebene Müh’, das weiß ich genau, ich muss erst noch die strenge Erzieherin in mir entdecken, ehe Maja beim Türklingeln nicht mehr anschlägt.
»Sie stehen ja schon beinahe aufrecht, das finde ich klasse«, begrüßt mich Doktor Hagen aufmunternd. »Hallo Maja, ja hallo, du Süße, habe ich dich gar nicht sofort begrüßt, na, das geht natürlich nicht. Hast du fein über deine Mama gewacht?« Maja springt schwanzwedelnd um meinen Hausarzt herum und gibt quiekende Laute von sich, wie sie es bei allen Besuchern zu tun pflegt, die uns schon länger begleiten. Doktor Hagen führt mich zum Bett zurück und untersucht mich.
»In der linken Seite kribbelt es wieder so«, merke ich leise an, »sicher ist das nicht weiter von Bedeutung …«
Doktor Hagen fährt mit einem Holzstab über meine Fußsohlen: »Fühlt sich das auf beiden Seiten gleich an?«
»Links ist es etwas stumpfer.«
»Hat sich da grundlegend etwas geändert an der Gefühlsempfindung?«
Ich verneine.
»Dann warten Sie einfach die nächsten Tage ab. Wissen Sie, wie Sie gefallen sind?«
Ich weiß leider gar nichts über den Anfall. Nur dass er in Hausnähe geschehen sein muss und der Hund bei meinem Nachbarn abgegeben wurde.
»Hatten Sie noch Folgeanfälle?«
Dies kann ich glücklicherweise verneinen. In der Regel habe ich meine Anfälle in einer Art Intervall. Ich habe acht bis zwölf Wochen Ruhe und dann kommt ein Anfall, in neunzig Prozent der Fälle im Schlaf. In derselben Nacht oder der darauffolgenden ereignen sich zumeist noch ein bis zwei Anfälle, ehe wieder für mehrere Wochen Ruhe einkehrt.
»Dann nehmen Sie heute und morgen jeweils eine Tavor, sodass wir weitere Anfälle vermeiden können und Sie sich in Ruhe regenerieren. Haben Sie noch welche da?«
Ich nicke. Tavor ist ein sogenanntes Benzodiazepin. Bei Epileptikern kann es Anfälle unterbrechen und sogar vorbeugend wirken. Bei Patienten wie mir, die zu Anfallsserien neigen, wird es als Notfallmedikament verwendet, um Folgeanfälle zu vermeiden.
»Gut. Die Empfindungsstörungen würde ich einmal abwarten. Wurde Ihnen im Krankenhaus die Wäsche gewechselt?«
Ich nicke erneut.
»Dann nehmen Sie trotzdem die nächsten Tage je zwei Cranberrykapseln statt einer, um einer Blasenentzündung präventiv entgegenzuwirken. Und ansonsten helfen wie immer Magnesium und viel Schlaf. Kommen Sie Montag wie gewohnt zu mir zur wöchentlichen Kontrolle und bei Ihrer Neurologin sollten Sie zusätzlich einen Termin ausmachen. Ich nehme dann noch schnell Blut ab und schaue, ob es dort Auffälligkeiten gibt.«
Nachdem dies erledigt ist, erweist er sich als hilfsbereit wie immer und lässt Maja in den Innenhof, sodass es ausreicht, wenn Lena nach Feierabend eine größere Runde mit ihr geht.
Ich bin wieder allein. Jede Bewegung bedeutet einen immensen Kraftakt für mich. Und dennoch rufe ich mir immer wieder ins Bewusstsein, dass ich es mir so ausgesucht habe. Ich will die Selbstständigkeit, die Unabhängigkeit, die jeder anderen jungen Frau zusteht und so auch mir. Ich bereue diese Entscheidung nicht, nie. Aber manchmal frage ich mich, ob das Selbstbewusstsein und die Lebensqualität, die ich dadurch habe, all die körperliche und seelische Kraft wert sind, die ich dafür investieren muss. Sie sind es. Die Anfälle hätte ich so oder so und die innere Stärke, die ich dadurch gewinne, dass ich selbst über mein Leben bestimme und meinen Alltag gestalte, bedeutet höchste Lebensqualität.
Dies geht mir durch den Kopf, während ich mich zur Toilette schleppe. Im Flur verlässt mich die Kraft und ich sinke auf den Boden, wo ich eine Weile verharre, ehe ich schließlich mein Ziel erreiche. Zurück im Bett schaue ich in meinen Kalender. Meinen üblichen Mittwochnachmittagsbesuch im Büro sage ich per SMS ab. Mein Chef antwortet, dass er mir eine gute Besserung wünsche. Sie hätten einen Auftrag, es ginge um Fernbedienungen elektrischer Jalousien, allerdings müsse der bis Montag fertig sein, ob ich das schaffe. Ich frage, wie viele Seiten der schwedische Text umfasse. Inklusive Garantie-Erklärung und Ähnlichem 14 Seiten. Ich sage zu, ich brauche das Geld und für das Wochenende kann ich aufgrund des Anfalls eh keine anderen Pläne schmieden. Ich sage sämtliche Verabredungen der nächsten Tage ab. Stattdessen mache ich bei meiner Neurologin einen Termin für Montag aus. Und auch meine Physiotherapeutin rufe ich an und sie gibt mir einen kurzfristigen Termin am morgigen Tag.
Ich gehe regelmäßig zu ihr, da ich aufgrund vergangener Anfälle und der damit verbundenen Stürze einige Probleme habe, die regelmäßiger Therapie bedürfen. Nach Anfällen führt sie zudem Muskelentspannungsübungen mit mir durch und massiert Körperstellen, die von den Krämpfen verhärtet sind. Hierfür opfert sie sogar gern einmal ihre Mittagspause, sodass es nach Anfällen schnellstmöglich bergauf geht.
In den fünf Jahren, die ich nun in München lebe, ist es mir gelungen, mir ein umfassendes Ärztenetzwerk aufzubauen, das lebenswichtig für mich ist. Ich habe große Ängste, hier keinen Job zu finden und noch einmal in eine ganz neue Stadt ziehen zu müssen. Die einzige Alternative wäre mein Zuhause, Malmö. Überall sonst müsste ich ganz von vorn beginnen. Neue Ärzte, neue Notfallkontakte, Menschen, die auf mich achten, mich im Alltag unterstützen. Nicht überall gibt es einen Hausnotruf. Ich fühle mich einem so großen und komplexen Neuanfang nicht gewachsen, zumal er neben einem Vollzeitjob erfolgen müsste. Neben meiner Neurologin, bei der ich regelmäßig vorstellig werde, gehe ich jeden Montag zu meinem Hausarzt, der mein Blut untersucht und Akupunktur durchführt. Es ist wichtig, im Blut den Medikamentenspiegel zu überprüfen, um zu schauen, ob die richtige Dosis vorhanden ist. Eine zu geringe Dosis bedeutet eine höhere Anfallsgefahr und eine zu hohe Dosis kann stärkere Nebenwirkungen nach sich ziehen. Darüber hinaus werden die normalen Blutwerte überprüft. Mein aktuelles Hauptmedikament heißt Keppra. Nicht besonders wohlklingend. Und sein Wirkstoff hat den grauenvollen Namen Leviteracetam. Mein zweites Medikament heißt Zebinix. Ich mag es um einiges lieber, schließlich klingt es, als ob Obelix es Idefix gegen Anfälle verabreiche. Der ulkige Name ändert allerdings nichts daran, dass es schon einmal meine Nieren angegriffen hat. Meine linke Niere hat davon einen leichten dauerhaften Schaden bekommen und so muss ich regelmäßig zum Nierenspezialisten und täglich Medikamente für meine Niere nehmen. Nun gut, und ich sollte weniger Kaffee trinken. Ich versuche, daran zu arbeiten.
Die regelmäßige Einnahme von derart starken Medikamenten sorgt dafür, dass dem Körper einige Mineralstoffe oder Vitamine fehlen. Und so muss ich aktuell täglich 17 Tabletten nehmen, von denen nur acht gegen die Anfälle sind. Hinzu kommen die Tabletten für die Niere und ein leichtes Antidepressivum. Das restliche bunte Sammelsurium an Pillen und Kapseln beinhaltet zum Beispiel Folsäure oder die Cranberrykapseln für die Blase.
Leichte depressive Verstimmungen habe ich schon seit Jahren. Es ist für die Neurologen schwer zu sagen, ob es sich hierbei um eine Nebenwirkung der Medikamente handelt oder ob sie Teil meiner Epilepsie sind. Besonders morgens fällt mir der Start in den Tag sehr schwer. Aufgrund der Medikamente fühle ich mich trotz ausreichend Schlaf nicht zwingend ausgeruht beim Aufwachen. Oft habe ich das Gefühl, dass mein Kopf unendlich schwer und müde ist, und anstatt munter in den Tag zu starten, fühle ich mich schon vom Gedanken an das Aufstehen überfordert. Vor allem mein letzter Freund Matthias hatte damit zu kämpfen. Es gab Tage, da wollte ich partout nicht aufstehen. Schon die Vorstellung, duschen zu müssen, trieb mir die Tränen in die Augen. Doch am schlimmsten wog die Unausweichlichkeit. Es gab absolut nichts, das meinen Zustand verändern, geschweige denn verbessern konnte. Matthias ist regelrecht verzweifelt. Er fragte mich dann, ob ich dies oder jenes tun wolle: etwas essen, in den Zoo gehen, einen Wes-Anderson-Film oder Die Reise der Pinguine schauen. Doch ich fühlte mich keinem Vorschlag gewachsen, stattdessen setzten mich selbst die wohlmeinendsten Offerten zusätzlich unter Druck, da sie mir das Gefühl vermittelten, nicht genügen zu können. Ich fühlte mich unfähig, unnütz und unendlich traurig. Für unsere Beziehung stellte dies eine große Belastung dar. Obgleich wir eine gemeinsame Wohnung in München hatten, arbeitete Matthias in Berlin und war nur am Wochenende zu Hause. Bei seiner Rückkehr wusste er nie, in welchem Zustand er mich antreffen werde.
Um diesen Gefühlen und Phasen entgegenzuwirken, die wellenartig in meinen Alltag schwappten und immer schlimmer wurden, bekomme ich ein Antidepressivum, das eine leicht aufputschende Wirkung hat, sodass ich morgens die Energie verspüre, die ich nach acht Stunden Schlaf, auf die ich strikt achte, haben sollte. Begleitend dazu bin ich regelmäßig bei einer Psychotherapeutin. Sie hilft mir dabei, mich selbst zu verstehen, mich im rechten Maße auch in schlechten Momenten zu akzeptieren, doch ebenso herauszufinden, wie ich ihnen entgegenwirken kann. Weihnachten vor zwei Jahren suchte ich kurz vor Matthias’ und meiner Abreise im Haus meiner Eltern verzweifelt nach einem Spielzeug von Maja. Der einzig heilige Stoffgefährte von Maja ist ihr »Tigger«. Ich fand ihn nicht. Prinzipiell ist das kein Drama. Dennoch habe ich mich wie in einem Strudel immer mehr in die verzweifelte Suche hineingesteigert, war wütend, habe geweint. Ich sehe noch die hilflosen Augen meiner Eltern, die nicht verstanden, ja, nicht verstehen konnten, wie mir zumute war: dass kleine Unregelmäßigkeiten in meinem sorgfältig strukturierten Alltag mich völlig aus der Bahn werfen können, dass sie Auslöser sind, aber nicht das eigentliche Problem.
Noch in Malmö habe ich meine erste Therapie gemacht. Nach meinem Umzug nach München dauerte es einige Zeit, bis ich wieder eine passende Therapeutin gefunden hatte. Es ist ein langer Prozess, Erstgespräche bei Therapeuten zu bekommen, und ein noch längerer, bis jemand gefunden wird, der zu einem passt. Für mich sind die regelmäßigen Gespräche sehr wichtig. Die Epilepsie und die Umstände, die sie mit sich bringt, wirken sich fast unmerklich auf viele Bereiche und Teilbereiche meines Lebens aus. Daher muss ich vieles erst an die Oberfläche holen, damit ich meine Probleme fokussieren und so an meiner psychischen Stärke arbeiten kann. Das wiederum wirkt sich positiv auf meine Anfallshäufigkeit aus. Zudem ist es einfach eine unglaubliche Bereicherung, eine unbeteiligte Person zu haben, der man sich vollständig öffnen kann. Das Gefühl, dass Menschen, die ich liebe – meine Familie und Freunde –, unentwegt in Sorge um mich sind, ist bedrückend und aus der Liebe zu ihnen wächst das Bedürfnis, ihnen sämtliche Ängste zu nehmen. Und so versichere ich ihnen, dass es mir gut gehe und ich mit allem zurechtkomme – selbst dann, wenn meine Seele nach Hilfe schreit und ich nicht weiß, wie ich die aktuelle Situation meistern soll. An dieser Stelle kann mich inzwischen meine Therapeutin auffangen.
Inzwischen ist es Abend und ich liege mit Maja im Arm im Bett. Meine Blicke schweifen aus dem Fenster hinaus in unseren großen, grünen Innenhof. Der Wind spielt mit den Zweigen der Bäume und Sträucher und erzeugt gemeinsam mit dem Lachen spielender Kinder eine ganz eigene Musik, die er Tag für Tag in meine Wohnung trägt. Im Vorderhaus fällt das schwere Tor ins Schloss und spätestens, als ich das Tippeln ihrer Absätze im Treppenhaus vernehme, weiß ich, dass Lena angerauscht kommt. Zeitgleich guckt unter der Decke eine kleine schwarze Ledernase hervor und Maja spitzt die Ohren, ehe sie freudig vom Bett springt und mit großen Sätzen zur Tür rennt, wo sie mit innigster Hundeliebe auch ihre liebste Freundin Lena begrüßt.
Kurz darauf schaut Lena um die Ecke und fragt, ob ich okay sei. Nachdem ich dies bejaht habe, greift sie nach Majas Leine und fragt, ob ich einen Essenswunsch hätte. Ich wünsche mir Burger und die beiden verschwinden in die Abenddämmerung. Als sie zurückkommen, knurrt mein Magen bereits gewaltig und ich beiße voll Glück in den Cheeseburger von einem Bio-Restaurant in meiner Nachbarschaft. Lena erzählt von ihrem Tag im Büro und ich von Doktor Hagen. An diesen Anfallstagen, ich nenne sie Panthertage, könnten unsere Welten kaum unterschiedlicher sein. Während ich im fleckigen Hemd mit ungewaschenen Haaren, ungeschminkt, mit schweren Augenringen und einer Haltung wie ein Schlachtlamm halbwegs aufrecht hocke und sicherlich noch ein, zwei Tage Regeneration vor mir habe, sitzt neben mir die wunderschöne, ausstaffierte Lena, die inmitten einer aufregenden Woche der Modebranche steckt und sich dennoch um mich sorgt, ohne mir das Gefühl zu vermitteln, Arbeit oder gar Belastung für sie zu sein. Panthertage, diesen Namen habe ich einmal gewählt, da die Tage nach Anfällen so tiefschwarz sind wie ein Panther. Gleichzeitig steht die geheimnisvolle Raubkatze ebenso für eine ungeahnte Stärke und Würde. Und so versuche ich von jeder einzelnen Anfallsserie so stark wie möglich zurückzukommen und aus jedem Rückschlag, den ich hinnehmen muss, neue Kraft zu gewinnen. »Lass den Kopf nicht hängen, sonst fällt das Krönchen runter«, sagt mein Papa immer. Und so versuche ich auch die schwärzesten Tage nicht an meinem Stolz und meiner Würde kratzen zu lassen, was mir nicht immer gelingt.
Nach dem Essen verabschiedet sich Lena von mir und ich rufe meine Familie an. Meine Schwester Mathilda lebt mit ihrem Mann Daniel und ihren drei Kindern in der Nähe von Hamburg, wo Daniel Professor für BWL ist und meine Schwester eine kleine Kindertagesstätte betreibt. Sie ist fünf Jahre älter als ich und uns verbindet, seit ich denken kann, eine innige Schwesternliebe miteinander. Sie hat mit mir noch gespielt, als sie für Kinderspiele eigentlich schon zu alt war; wenn ich krank war, las sie mir vor; und in ihrer Jugend schlich ich mich nachts heimlich in ihr Bett, um dort zu warten, bis sie aus der Disco nach Hause kam und von ihren für mich kleinen Zwerg unvorstellbar abenteuerlichen Abenden berichtete. Dann schliefen wir nebeneinander auf neunzig Zentimetern. Jedes Paar, das sich jenseits der dreißig noch ein 1,40 Meter breites Bett teilt, weiß, wie groß unsere Liebe gewesen sein muss.
Mathilda klingt besorgt am Telefon und ist wie immer zumindest gespielt wütend, dass ich nicht sofort angerufen habe. Sie versteht, dass Anfälle zu meinem Alltag gehören und ich nicht jedes Mal eine Telefonkette starten kann, um alle davon in Kenntnis zu setzen. Je weniger Aufheben, desto besser, empfinde ich, denn so kann ich am schnellsten wieder zur Normalität zurückfinden. Dennoch verstehe ich ihre Bedenken. Die Entfernung ist für meine Familie oft besorgniserregend genug. Wenn sie dann noch mitbekommt, dass ich schon vor einem oder mehreren Tagen einen Anfall hatte, fühlen sie sich hilflos und ausgeschlossen und haben das Gefühl, mir nicht in dem Maß die Unterstützung vermitteln zu können, wie sie es sich wünschen. Natürlich sind diese Sorgen Humbug. Ich weiß, dass sie innerlich immer an meiner Seite sind und ich sie jederzeit anrufen kann. Noch nie haben meine Schwester oder meine Eltern gesagt, dass sie keine Zeit hätten oder es derzeit unpassend sei. Und wenn es die Situation erforderte, zum Beispiel bei längeren Krankenhausaufenthalten oder schwereren Unfällen, sind sie auch die vielen Hundert oder im Falle meiner Eltern Tausend Kilometer angereist, um an meiner Seite zu sein und mir wieder aufzuhelfen.
Ich erzähle meiner Schwester von dem Arzt im Krankenhaus und der angsteinflößenden Schwester. »Er war wie so ein devoter Hobby-Triathlet, der online seine Laufstatistiken postet und sich abends asketisch ein paar Gemüsesticks mit Magerquark als Dip gönnt, und sie ein richtiges Dragonerweib, wie Oma sie nennen würde, das zu Hause ihren zierlichen, verängstigten Mann triezt«, beschreibe ich die Begegnung und Mathilda lacht herzlich. Sie weiß genau, was ich meine, und wäre sie dabei gewesen, hätte sie sich mit in mein Krankenhausbett gelegt und wir hätten mit präzisen Mutmaßungen über das Privatleben des Krankenhauspersonals ein ganzes Bild um sie herumgesponnen. Ich frage nach den Zwillingen Mattis und Henrik sowie der kleinen Emma, die gerade einmal ein Jahr alt ist und deren Patentante ich bin. Mattis und Henrik sind fünf und die liebenswertesten kleinen Lausbuben, die ich mir vorstellen kann. Bei Besuchen und Familienfeiern unterhalten sie die ganze Großfamilie. Das Herz der beiden wiederum schlägt vor allem für die kleine Maja, die mit ihren vier Kilogramm die ideale Größe hat, selbst von den beiden winzigen Männern herumgeführt zu werden.
Am Ende des Gesprächs lasse ich Grüße an alle ausrichten und vor allem dicke Tantenküsse für die Zwerge und verspreche im Gegenzug, Lena ganz fest zu drücken, wenn ich sie wiedersehe. Auch Mama seufzt im Folgetelefonat tief und drückt ihre Dankbarkeit aus, Lena in meiner Nähe zu wissen. Mich überkommt ein schlechtes Gewissen. Ich habe bei meinem Wegzug vor fünf Jahren nur an meine Wünsche gedacht und nie evaluiert, welche Sorgen dies für meine Familie mit sich bringt. Ich weiß, dass sie hinter mir stehen und gewollt haben, dass ich diesen Schritt gehe. Wenn ich strauchle und bei ihnen auf das Sofa gekuschelt darüber nachsinne, ob ich nicht doch besser näher an meiner Heimat leben sollte, schubsen sie mich sogar beinahe wieder hinaus in die Ferne und verdeutlichen mir, dass es ganz wichtig ist, dass ich auf eigenen Beinen stehe, und sie stolz auf mich sind, wie ich die Situation meistere.
Nachdem mir zu guter Letzt Papa rasch eine gute und schnelle Besserung gewünscht und scherzhaft mit auf den Weg gegeben hat, dass er mir doch verboten habe, Anfälle zu haben, putze ich mir die Zähne, betreibe flüchtige Katzenwäsche und schaue im Bett noch einmal auf mein Handy. Es teilt mir elektronisch-herzlos mit, dass ich zwei neue Nachrichten bei Facebook habe. Eine ist von Jakob, der bei mir in der Nähe ein Atelier hat. Er war in seiner Jugend ein leidenschaftlicher Graffiti-Künstler und bringt seine Ideen nun legal auf Leinwände, Holz, Blech oder welche Materialien ihm eben in die Hände fallen. Oft sammeln wir bei gemeinsamen Spaziergängen an der Isar sonderbare Flussfunde, die er weiterverarbeitet, ehe sie vollkommen verfremdet in seinen Kunstwerken zu neuem Leben erwachen. Da er davon nicht leben kann, hat er darüber hinaus Kunst und Sport studiert und unterrichtet an einer Grundschule. Kennengelernt haben wir uns bei meinem Einzug. Beim Ausladen des Umzugswagens bewunderte er im Vorbeischlendern die Anzahl meiner Bücherkartons. Nur wenige Tage später traf ich ihn zufällig im kleinen italienischen Café an der Ecke, wo ich mir seit meinem Einzug für gewöhnlich bei meiner morgendlichen Hunderunde einen Kaffee hole. Wir kamen ins Gespräch. Ich war infolge einer Trennung neu ins Viertel gezogen und auch er befand sich in künstlerisch tiefgehendem Liebeskummer. Er lud mich direkt ein, ihn doch einmal in seinem Atelier zu besuchen.
Auch wenn er stets in mit Farbklecksen versehenen, ausgetragenen Jeans und wahllos wirkenden T-Shirts, die ihre besten Zeiten noch vor diesem Jahrzehnt hatten, anzutreffen ist, kann ich die einnehmende Attraktivität, die er ausstrahlt, nicht verleugnen. So waren es keine rein freundschaftlichen Intentionen, die ich hatte, als ich einige Tage später mit schwitzenden Händen bei ihm klopfte. Obgleich wir voreinander unseren Herzschmerz ausbreiteten und dieser wie ein gemeinsames Hobby unmittelbar eine Verbindung herstellte, war die Atmosphäre durchaus neckend und zwitschernd zwischen uns. Wir zogen uns gegenseitig wegen unserer Eigenarten und Formulierungen auf und gerieten in einen Strudel, der eine sexuelle Spannung mit sich brachte. Doch wir beschlossen, dass unsere keimende Freundschaft zu wertvoll sei, um sie mit unbedachter körperlicher Nähe zu zerstören, und wir waren zu frisch getrennt, um eine ernsthafte Verbindung in Betracht zu ziehen. Und so verstrich mit der Zeit das Prickeln, doch auf die ungewöhnliche platonische Bindung zweier geschlechtsreifer Menschen, die sich erst so spät kennenlernten, bin ich stolz.
Anders als Lena, die wie eine Löwenmutter für mich einstehen würde, zwingt mich Jakob immer wieder zur Selbstreflexion. Inzwischen ist es für mich zur Gewohnheit geworden, Jakob regelmäßig in seinem Atelier zu besuchen. In seiner Nachricht ist ein Link zu einem niedlichen Tiervideo mit kleinen Faultieren. »Ach, wie süß«, gluckse ich auf, schäme mich angesichts von Majas vorwurfsvollem Blick prompt und versichere ihr meine alleinige tierische Liebe. Ich sehe, dass Jakob noch online ist, und frage ihn, ob er am nächsten Tag im Atelier ist. Wir verabreden uns für den frühen Nachmittag. Die zweite Nachricht ist von einem Stefan, der mir unbekannt ist. »Sarah Elise. Welch schöne Frau mit schönem Namen«, schreibt er. Ich stutze und ziehe die Stirn kraus. Selbst eine Freundschaftsanfrage hat er mir direkt geschickt. »Psycho«, denke ich. Aufgrund der Ereignislosigkeit meines Tages klicke ich sein Profil dennoch an und schaue mich um. Augenblicklich erhellt sich meine Miene und mein Mund verzieht sich zu einem süffisanten Grinsen. »Heißer Psycho«, entfährt es mir und ich klicke auf »Freundschaft bestätigen«. So viel also zu den regelmäßigen Beteuerungen vor meinen Eltern, dass ich doch nun wahrlich niemals in einem dieser sozialen Netzwerke Kontakt zu einem Fremden aufnehmen würde. »Sieben gemeinsame Freunde«, rechtfertige ich mich vor mir selbst, »und darunter die Exfreundin meines Nachbarn. Er ist also höchstens halbfremd.« Und wahnsinnig heiß. Beinahe Samu-Haber-, Ryan-Gosling- oder Orlando-Bloom-heiß. Es ist also absolut nicht verwerflich, wenn ich mal ein kurzes »Vielen Dank für das Kompliment. Ich hoffe, du hast einen schönen Abend« zurückschicke.
Damit mich beim Einschlafen keine dunklen Ängste vor Anfällen oder der Zukunft mit der Epilepsie überkommen, schalte ich mir zum Einschlafen noch den aktuellen Podcast meiner Lieblingsradiosendung Sanft & Sorgfältig mit Olli Schulz und Jan Böhmermann ein und bin kurz darauf sicher im Traumland angekommen.