Читать книгу Erschütterung - Sarah Haberkern - Страница 3

Kapitel 1

Оглавление

An einem sonnigen Maimorgen umarmte Mike Flinders seine Kinder und seine Frau und trat eine seiner regelmäßigen Geschäftsreisen an. Mike Flinders stammte aus Chiswick London und war Vertreter einer Telefongesellschaft, die ihre Netze auch im Ausland etabliert hatte und derzeit den türkischen Mobilfunkmarkt im Visier hatte. Mike, der in den weniger spektakulären Vierteln Londons groß geworden war, hatte schon als Jugendlicher türkische Freunde gehabt und war daher besser als andere mit der Sprache vertraut. Daher hatte ihn seine Firma ausgesucht, um regelmäßig nach Istanbul zu fliegen, Kontaktpersonen zu treffen und nach Immobilien für erste Filialen Ausschau zu halten. Mike war schon zuvor rund zwanzig mal in Istanbul gewesen. Er kannte die Vertreter vor Ort, kurz, er machte sich wenig Gedanken. Das passte nicht zu ihm.

Er hatte immer getan, was er für notwendig hielt, hatte sein Fähnchen geschickt nach dem Wind ausgerichtet und es so doch zumindest etwas aus seinen ursprünglichen Verhältnissen heraus geschafft. Sein Interesse galt seinem Aufstieg, den Moden seiner Peer-Group und auch seine Frau hätte den geringfügigen Aufstieg nicht biederer und konservativer verfolgen können. Doch Mike war damit eigentlich ja fast zufrieden. Er hatte sich oder das, was er einmal gewesen war, so oft verleugnet und kompromitiert, dass er vergessen hatte, wer er eigentlich war und was er wollen könnte. Geblieben war eine Leere, die er gekonnt mit gesellschaftlichen Ereignissen, Geschäftsessen, momentanen Wünschen, neuster Mode, neusten Filmen, neustes Theaterstück, neues Lokal und dergleichen mehr zu füllen wusste.

Ja, es erweckte den Anschein, er und seine Frau stünden mitten im Leben, hätten unzählige Interessen, kleine Sorgen, Beschäftigungen, ja er hatte immer zu tun. Er war in Bewegung, glitt von Ereignis zu Ereignis, was er verpasste war, dass er in Wirklichkeit unfähig war, innezuhalten und zu rasten, da ein Moment zuviel Reflextion, eine Stunde auf sich selbst zurückgeworfener Zeit, genau das war, dem er seit nunmehr Jahrzehnten konsequent aus dem Weg ging.

Doch da er, wie gesagt, sehr beschäftigt war, fiel Mike diese eine kleine, doch so elementare Trübung der Hauptfacette seiner Persönlichkeit kaum ins Auge. Im Gegenteil er war, wie immer in Bewegung, voll von leerer Begeisterung, und vor allem etwas Hektik, was er liebte, da es alles, nicht aufs kurzfristige Ziel ausgerichtete Denken verbat.

So begab er sich mit dem Minicab zum Flughafen, vertrieb sich die Zeit in den Boutiquen, bestieg die Maschiene und trank einen Whiskey-Soda. Cool und erfahren im Jetset-Leben schlief er ein und verschlief den Flug inklusive Absacker kurz vor Istanbul, bei denen nur die Touristen Angst hatten. Alle Vielflieger wie er kannten sie schon.

Er verbrachte vier lebhafte Tage in Istanbul, besichtigte potentielle Läden, traf Bekannte, ging mit Telefonvertretern vor Ort Raki trinken, Billard spielen und lief angetrunken durch Taxim. Kurz, er verbrachte seine Zeit, wie er meinte, weltmännisch gewandt mit genau dem, was er geplant hatte. Er war auch mit dem Spagat als Europäer im Orient schon vertraut und nichts konnte ihn verwirren, er fühlte sich wohl in seiner Haut und seinem Leben und hätte sich zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellen können, was im Folgenden geschah.

Am letzten Abend war er in seinem Stammlokal, aß Shepperd Salad und Dorade und trank mit Freunden Bier. Peter, ein Bekannter, der mit Teppichen handelte, erwähnte am Rande, dass seine Mutter heute aus Kanada eingeflogen sei, dass sie nun schon im Bus von Sabia Görkin nach Taxim unterwegs sei. Er war froh, dass sie da war, weil irgendein Vulkan ausgebrochen war.

Ein Unterhaltungsfetzen in der abendlichen biergeschwängerten Konversation. Mike war zu sehr mit letzten geschäftlichen Instruktionen, zuprosten und seiner Art, sich nur mit dem Nächstliegenden zu befassen, beschäftigt, als dass er sich hätte vorstellen können, dass ihn das betreffen könnte.

Er würde noch ein Bier trinken, dann halb dicht einschlafen, Punkt vier aufstehen und seine fertig gepackten Koffer nehmen. Das Taxi zum Attatürk Airport war schon bestellt, es dauerte 35 Minuten, er würde einchecken, nach Hause fliegen und so weiter.

Der Anfang begann auch so: Er erwachte halb verkatert, nahm seine Sachen, fand sein Taxi wie bestellt und fuhr zum Flughafen. Doch am Flughafen erwartete ihn das totale Chaos, nichts ging mehr, kein einziger Flug.

Der Vulkan, von dem Peter beiläufig gesprochen hatte war ausgebrochen und alle Flüge Richtung Europa waren gestrichen. Mike wurde schnell klar, dass hier nichts zu machen war. Verwirrt und wie benommen nahm er wieder ein Taxi und fuhr zurück nach Sultanahmet. Es war erst kurz nach sechs, als er dort ankam und alles lag still und verlassen in der Morgendämmerung. Er hämmerte wie ein Verrückter an die Tür des Lokals seiner Bekannten, bis schließlich ein Fenster geöffnet wurde.

"Hast du den Flug verpasst, Abi ?", fragte ihn Yasar der verschlafene Kellner, während er die Tür öffnete. Doch so einfach fiel es Mike gar nicht, das Geschehene zu erklären, ja, es war nur ein gesperrter Flug, aber dies alles lief seinen Plänen zuwider, er hatte jetzt bald in England sein wollen, er hatte schon hundert Ideen für den heutigen Tag, aber in London. All dies schien ihn doch über die Maßen zu verwirren: dieser Verlust seiner Herrschaft über das Geschehen. Aber er konnte sich jetzt auch nicht vor Yasar wie ein verwirrtes Kind benehmen, so mache er einen auf cool.

Yasar entging derweil nicht, wie aufgelöst Mike zu sein schien, und lud ihn zu einem Frühstück nach Taxim ein, um dort in die Hauptniederlassung von Mikes Fluggesellschaft zu gehen.

Das Frühstück mit viel türkischem Weichkäse, Honig, Tomaten, Ei und Oliven tat ihnen gut nach der durchzechten Nacht und Mike redete schon vom Umbuchen und davon morgen oder übermorgen heimzufliegen, als sie sich auf den Weg zum Flugbüro machten.

Doch dort erwartete sie ein recht verstörender Anblick, der Mike an die verdrängten Erlebnisse vom Flughafen erinnerte. Chaos, das absolute Durcheinander, Leute drängten sich sich um die Schalter, vergaßen jede Höflichkeit, schubsten und stießen sich.

Elegante Damen, die sonst kaum aus der Contenance zu bringen waren, schrien und weinten. Menschen beschimpften sich in vielen Sprachen. Andere standen apathisch umher. Es war eine ganz besondere Stimmung von Verzweiflung und Verwunderung in der Luft und von der Airline schien auch keiner etwas tun zu können. Der gesamte Luftraum Türkei - Europa war bis auf Weiteres gesperrt und so wie es ausah, zog die Wolke in Richtung Türkei. Und er erführ, es könne sogar sein, dass in zwei, drei Wochen, wenn der europäische Luftraum frei sei, der Luftraum über der Türkei gesperrt werden könne. Kurz keiner wusste irgendetwas mit Sicherheit, aber weg würde hier erst einmal keiner kommen.

Erschütterung

Подняться наверх