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Das erste Leben der Sarah Kern: Von Kindheit an anders gestrickt
ОглавлениеEine gute Geschichte will vom Anfang her erzählt sein, besonders dann, wenn es sich um eine wahre Geschichte handelt. In meinem Fall ist das die behütete Kindheit im Schoße einer gutbürgerlichen, werteorientierten Familie. Entscheidend zu erwähnen ist dabei, dass ich immer schon aus dem Rahmen fiel, meinen ganz eigenen Gedanken auch tatkräftig folgte und damit nicht selten für Kopfschütteln sorgte – vor allem bei meinen Eltern. Bereits damals schien es, als wären Begriffe wie gesellschaftliche Konventionen, Konformität oder Norm nicht unbedingt Teil meiner Lebens-DNA. Nicht, dass es mir einen Heidenspaß gemacht hätte, aufzufallen oder andere vor den Kopf zu stoßen, ganz und gar nicht, ich war einfach nur ich selbst. Astrid Lindgren, die schwedische Kinder- und Jugendbuchautorin, und ihre Pippi Langstrumpf hätten vermutlich ihre helle Freude an mir gehabt, auch wenn ich keine roten Zöpfe, Superkräfte oder die Villa Kunterbunt vorzuweisen hatte. Kecke Strumpfhalter trug ich auch noch nicht, Spielereien dieser Art kamen erst später, wenn auch raffinierter.
‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!‘, soll der große Reformator Martin Luther im Jahr 1521 vor Kaiser Karl V. in Worms zum Besten gegeben haben. – Ich, Sarah, konnte auch nicht anders und wollte es auch nicht. Und was ich tat, geschah ebenfalls in tiefem Glauben zu Gott, denn ich war im Gegensatz zu meinem Vater gläubig, wenn auch nicht religiös.
Was meine Eigenarten angeht, so erinnere ich mich da an ein beispielhaftes Ereignis in der Schildergasse in Köln, unserer damaligen Heimatstadt. Mein Vater, ein deutscher Architekt von stattlicher Statur, hielt mich, die ich noch im Vorschulalter war, an der Hand. Wie auf einer überfüllten Einkaufsmeile üblich, schob sich eine zweigeteilte Menschenmenge von Konsumenten, Touristen und Berufstätigen wie gleichgeschaltet in entgegengesetzten Richtungen zäh voran. Wie gelernt, gingen auch wir beide mit dem Strom, ohne einen Gedanken an derlei Automatismen zu verschwenden. Obwohl, mich beschäftigte es schon. Aber was mich schließlich am Ärmel meines Vaters zupfen ließ, hatte nichts damit zu tun, dass eine schier undurchdringliche Wand aus Erwachsenen auf ein kleines Mädchen überaus bedrohlich wirken konnte. Vielmehr bereitete es mir großes Unbehagen, wie ein Schaf der Herde zu folgen:
»Papa?«
»Ja, mein Kind?«, antwortete er wohlwollend und sah dabei liebevoll zu mir hinunter.
»Können wir da drüben weiterlaufen?«, fragte ich hoffnungsvoll und wies mit ausgestrecktem Finger auf den entgegengesetzt verlaufenden Menschenstrom.
Daraufhin sah mich mein Vater mit schelmischem Grinsen an, so als empfand auch er die eingefahrene Situation als einen Anachronismus, und sprach die magischen Worte, welche mich bis zum heutigen Tag prägen und definieren sollten:
»Ja, meine Tochter. Du hast alles was im Leben relevant ist begriffen. Selbstverständlich können wir gegen den Strom weitergehen.«
Ich sah den Stolz in seinen Augen, hörte ihn in seiner Stimme. Natürlich würden wir mehr Zeit brauchen, doch das war ihm in dem Moment egal. Seine Tochter hatte Charakter bewiesen, darauf kam es ihm an. Ich wiederum erfuhr an der Stelle einen unvergessenen Rückenwind.
Mein Vater war und ist eben auch ein bisschen Apo-68er, also Anti-Norm-Mensch und Freigeist, der schon mit uns zweijährigen Kindern auf Augenhöhe über Politik sprach und für den ein Auto von Anfang an ein Auto war und eben kein „Brum-Brum“. Dazu passte meine dänische Mutter, die anfangs noch kein Deutsch sprach, weshalb dänisch zu meiner ersten Muttersprache wurde. Sie war eine elegante nordische Protestantin und als Textilingenieurin eine Akademikerin. Studiert in Kopenhagen, lernte sie dort meinen Vater kennen. Es folgte die Eheschließung und der Umzug nach Deutschland, wo sie meinem zwei Jahre älteren Bruder Niels, meinem Zwillingsbruder Lars und mir das Leben schenkte. Niels, ein dunkelhaariges schönes Kind und ein toller lieber Mensch, der die Schule dank seiner Intelligenz quasi im Vorbeigehen als Klassenprimus gemeistert hat, wurde außerdem schon früh ein passionierter Surfer. Lars hingegen war ein typisch dänischer, weiß-blonder Junge, ansonsten aber von ebenso tollem und liebem Charakter und schön anzuschauen wie Niels.
Während ich in Köln schließlich das Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium besuchte, gingen meine Brüder derweil ins dortige Schiller-Gymnasium. Mittlerweile in der zehnten Klasse angelangt, schickten die Eltern uns zeitversetzt nach Amerika, um unser Englisch aufzupimpen. Das erste Mal so richtig von zuhause weg, das war schon cool. Bei unserer Rückkehr fiel besonders Niels mit seinen in den USA gerade mega-angesagten Schachbrett-Vans auf, was ihn alleine schon zum Star der Schule gemacht hätte. Hinzu kam, dass wir auch ein Haus in Holland hatten und Papa uns zum Wochenendtrip dorthin mit einem großfamilientauglichen Citroën Break direkt vom Gymnasium abholte, inklusive fünf neonfarbenen Surfboards nebst Zubehör auf dem Dach, was uns in den Augen der anderen zu Rockstars machte. Man darf nicht vergessen, Surfen war damals gerade extremst angesagt.
Schule als solches fand ich jetzt nicht so wirklich geil, genoss viel lieber eine wundervolle Kindheit in unserem schönen Haus in Lindenthal, einem linksrheinischen Stadtteil von Köln nahe der Decksteiner Mühle, wo die Oberschicht zuhause war. Tatsächlich hatte jener illustre Biergarten auch ein Mühlrad neben einem Rapunzelchen-Zimmer im märchenhaften Türmchen des Hauses zu bieten – was wollte ein Mädchenherz mehr. Meines einiges mehr und so habe ich Hockey gespielt, Ballett getanzt, bin geritten und anderes mehr. Dank meiner Eltern hatte ich alle Möglichkeiten, mich zu entfalten und mich weiterzuentwickeln. Es war geradezu perfekt.
Oft zu Besuch war mein Großvater, ein renommierter dänischer Maler namens Helge Rasmussen, der insbesondere für seine Schiffsmalerei bekannt ist. Eine sehr angenehme Persönlichkeit, welche für mich die weite grenzenlose Welt repräsentierte. Er lebte in den USA, hatte zeitweise aber auch bei einem Enkel des französischen Malers Paul Gauguin auf Tahiti gelebt. Wir waren uns sehr nahe.
Fakt war aber auch, dass ich aus einem nahezu perfekten Haushalt kam, mit Brüdern, die super in der Schule waren und von denen der ältere Niels – Schwarm aller Mädchen auf dem Schiller-Gymnasium – sein Abitur bereits mit siebzehn Jahren absolvierte, ein Doppelstudium hinlegte, um direkt von der Uni abgeworben zu werden. Und nicht nur er war eine Koryphäe im Surfen, auch mein Zwillingsbruder Lars schaffte es damals bis in den Kader der Weltsurfer neben Stars wie dem 42-fachen dänisch-niederländischen Weltmeister Björn Dunkerbeck oder dem mehrfachen Weltmeister aus den USA, Robby Naish. Natürlich zogen meine erfolgreichen und blendend aussehenden Brüder weitere schöne Menschen an. Genauso wie meine Mutter, die von ebenso kühler wie anmutiger Eleganz geprägt ganz Dame war. Mein Vater, charismatisch und intellektuell wie er war, reihte sich da nahtlos ein. Schönheit und Stilsicherheit spiegelten sich in allen Lebensbereichen wider, bis ins Interieur mit Macumba-Lampen oder den Bauhaus-Einflüssen eines Marcel Breuer. Einfach alles war vom feinsten.
Ich denke schon, dass dieser Sinn für Schönheit, Eleganz und Perfektion einfach auf mich übergehen musste. Auf der anderen Seite kollidierte genau das mit meiner Anti-Norm-Haltung, befeuerte und verstärkte diese wahrscheinlich noch.
Auch dazu gab mein Vater mir eine Lebensweisheit mit auf den Weg, die ich niemals vergessen sollte, weil sie meine eigene Wesensart so vortrefflich rechtfertigen sollte:
»Sarah, neunzig Prozent der Menschen sind Arschlöcher, Schubladendenker und Herdentiere.«
Tausend Dank für diese Worte, Papa, an die ich mich seither immer wieder gerne erinnert habe. Dank deiner Worte habe ich mich bestätigt und selbstsicher in meinem Anderssein fühlen dürfen.
Ich muss gestehen, dass meine Entscheidungen auf dem Weg zur Selbstfindung mitunter harte Belastungsproben für meine Eltern mit sich brachten. Den Vogel schoss ich wohl mit meinem ersten festen Freund ab, dem Bassisten einer Rockband – ich war erst vierzehn Jahre alt, er hatte schon sechzehn Jahre auf dem Buckel. Ästhetisch betrachtet war er der genaue Gegenentwurf zu meinem gewohnten Umfeld. Davon durfte sich als erste meine arme Mutter überzeugen, als es eines schönen Tages an der Haustür schellte.
Wie sich das für eine liebende Tochter gehört, tat ich natürlich mein Bestes, um ihr den größten Kulturschock zu ersparen und bereitete sie zuckersüß auf das nun Folgende vor:
»Mama, nicht erschrecken, da kommt gleich einer. Bitte fall‘ nicht um und lass die Teller nicht fallen. Der sieht ein bisschen krass aus, aber der ist voll nett …«
Vermutlich hätte ich sagen können, was ich wollte, der nahen Katastrophe hätte ich rein gar nichts entgegensetzen können. Was meiner an sich hartgesottenen Mama dann gegenüberstand, sah aus, wie der zerfledderte Zwillingsbruder von Billy Idol – weißblond gefärbte Matte, spitze Stiefeletten im London-Style, enge schwarze Jeans und schwarze Lederjacke, Kippe im Maul. Zu allem Überfluss gesellte sich zum Outfit noch eine lässig formlose Frage, wobei sich der Besucher nicht einmal jetzt die Mühe machte, seine Zigarette aus dem Mund zu nehmen:
»Ist die Sarah da? Hi.«
Wie nicht anders zu erwarten, entglitten meiner Mutter die Gesichtszüge, sprachlos und gelähmt vor Entsetzen. Nur gut, dass sie kein Geschirr in der Hand hielt.
Und das sollte erst der Anfang der Odyssee sein. Weitere Experimente nahmen ihren rasanten Lauf, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, wie man sich vorstellen kann. Ich ließ mir einen „Undercut“ schneiden, bürstete hoch und sprayte was das Zeug hielt, trug Fischnetz-Stockings und hing nur im Proberaum der spätpubertierenden Band ab. Das alles war für mich neu, aufregend und sexy. Mein Freund entsprach keiner Norm, er lass Bücher von Bukowski, war selbst seinen Altersgenossen intellektuell voraus. Derweil herrschte bei meinen Eltern Alarmstufe Rot. Für sie waren Musiker gleichbedeutend mit Drogen. Und sie hatten allen Grund, besorgt zu sein. Kaum hatte ich den Billy-Idol-Verschnitt als meinen Freund präsentiert, machte es auch schon ding-dong an der Haustür, und Vertreter der Staatsmacht nahmen die geliebte Tochter für eine Aussage mit aufs Revier. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Vor diesem Umfeld musste ich unter allen Umständen geschützt werden, auch gegen meinen Willen. Schlussendlich zogen meine Eltern die Reißleine, indem sie mich gleich ganz aus Deutschland evakuierten.
Mit fünfzehn Jahren wurde ich kurzerhand zu meinem Onkel und meiner Tante nach Daytona Beach, Florida ausgeflogen. Sie eine wunderschöne temperamentvolle Latina aus Kolumbien, er ein US-Marine und entsprechend streng. Fortan ging ich also auf die Seabreeze High School, was genauso cool klingt, wie es dann auch war. Nichtsdestotrotz ließ ich unverändert die Pippi Langstrumpf heraushängen, machte mir die Welt, wie sie mir gefiel. Der Schule blieb ich gerne auch mal fern, sonnte mich lieber mit Freunden am Meer, genoss das unbeschwerte Leben. – Klasse war bei alldem außerdem, dass auch mein geliebter Opa während der Zeit in Übersee dort lebte.
Mit beinahe sechzehn stand dann die Führerscheinprüfung an, was in den Staaten, zumindest im Florida jener Zeit, recht stressfrei ablief. Mit meinem Onkel auf dem Beifahrersitz war ich am Steuer seines Cadillacs einige Male um die Ecke gefahren, anschließend ging es mit eben diesem Cadillac auch zur Fahrprüfung, wo sich eine schwarze „Big Mama“ meiner in aller Seelenruhe annahm.
»Okay, well, now make your three-point-turn«, hieß es schließlich.
Aus der Drei-Punkt-Wende wurde zwar eine Acht-Punkt-Wende, aber die erhofften Worte fielen dennoch: »You got it, babe.«
Natürlich musste man auch in Daytona Beach für die Theorie büffeln, aber dafür tat ich es gerne, schließlich hatte ich ein persönliches Ziel vor Augen. – Zwanzig Dollar und der Lappen war meiner. Ihr Streets, Avenues und Highways, von nun an würdet ihr nicht mehr vor mir sicher sein. Meine Welt war wieder ein ganzes Stück größer geworden. Es zeigte sich einmal mehr, dass ich leistungswillig und erfolgreich sein konnte, wann immer ich es wollte.
Mit meiner Zielstrebigkeit sollte ich zukünftig souverän Contests als Model oder Auswahltests als Moderatorin für mich entscheiden. Zu Ehren meiner Eltern muss ich aber ausdrücklich feststellen, dass sie die Weichen für mein späteres berufliches Leben gestellt haben, einfach durch ihre künstlerische Kreativität im allgemeinen, Sinn und Fertigkeiten in Mode und Design im Besonderen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Kind begeistert in Prinzessinnen-tütü-Kleidern im Sturmwind flaniert bin und mein Vater dann mantraartig Partei für mich ergriff:
»Na dann lass sie doch!«
Ich war nie angezogen wie andere Kinder meines Alters, sondern immer mit deutlich mehr Chic und Esprit. Auch die Begeisterung für Schmuck setzte früh ein. Mit vierzehn gehörten Lippenstift und Eyeliner bereits zu meinem unentbehrlichen Handwerkszeug.
Auf einem Elternabend bekam meine Mutter vom Klassenlehrer dann auch prompt folgenden Satz zu hören: »Also, Frau Reismann, wenn Ihre Tochter so viel Zeit ins Lernen investieren würde, wie sie morgens für‘s Stylen, Make-Up und Klamotten aufwendet, dann wäre sie eine Einser-Schülerin.«
Meine Mutter wiederum, ihrerseits nicht auf den Mund gefallen, antwortete darauf schnippisch: »Also das glaube ich nicht so ganz, meine Tochter braucht nie länger als zehn Minuten dafür.«
Und wirklich, bis zum heutigen Tag geht es bei mir ratzfatz. Auch bei Kleidung bin ich keine Frau, die viel Zeit aufwendet. Kurzer Blick, zugegriffen und gut is‘. Damals mit vierzehn war der geringe Zeitaufwand allerdings eine größere Leistung. Da war Edel-Punk angesagt, in etwa wie Madonna in „Like a virgin“, mit Unmengen an umgehängten Kruzifixen und stylisch zerfetzten Klamotten. Angesichts schwarz gefärbter Haare und selbst gestochener Ohrlöcher war die Toleranz meiner sich für mich schämenden Eltern irgendwann nicht nur arg strapaziert, sondern deutlich überstrapaziert. Von meiner Mutter, die selbst aus einer sehr konservativen Familie stammte, setzte es eine schallende Ohrfeige. Aber ein Nein akzeptierte ich grundsätzlich nicht mehr. Zur Strafe in meinem Zimmer arrestiert zu werden, bedeutete für mich lediglich, alternativ aus dem Fenster zu klettern.
Es kam, wie schon geschildert, zu meinem verordneten Exil in Florida. Wenn ich zu der Zeit schon gewusst hätte, was das für mich bedeuten würde, ich hätte meine Eltern noch mehr geliebt – obwohl, noch mehr als ich es eh schon tat, das wäre gar nicht möglich gewesen. Mit ihrer ganz individuellen Art waren sie schon immer meine strahlenden Helden gewesen und sie blieben es auch.