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Die Prophezeiung

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Der Pfad schlängelte sich durch den Wald, gerade breit genug, dass ein Pferd ihn beschreiten konnte. Zweige schlugen Jonatha ins Gesicht, während ihre Stute Martha sich mühsam einen Weg durch Bäume und Gestrüpp bahnte. Zwischen den nackten Baumkronen konnte Jonatha dunkelgrauen Himmel erkennen, der vom bald beginnenden Frühling nichts ahnen ließ.

„Bist du sicher, Nes, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“, fragte Jonatha.

„Aber natürlich“, antwortete ihre Freundin Agnes, die vor ihr ritt. „Auch wenn es nicht so aussieht, wir sind gleich da. Ich kenne mich hier recht gut aus, schließlich war ich schon mit meiner Schwester hier. Und wo ich einmal gewesen bin, da finde ich immer wieder hin.“

Jonatha staunte über Agnes’ guten Orientierungssinn und auch über ihr Selbstbewusstsein. Wie gerne hätte sie mehr davon gehabt. Woher ihre Freundin dieses allerdings nahm, war ihr ein Rätsel. Klein und kurzbeinig stampfte Agnes energisch durchs Leben - wie ein junger General mit dickem Gesicht, in dem die winzigen Äuglein beinahe zu verschwinden drohten. Während Jonatha stets die Augen niederschlug, wenn jemand sie ansprach, lag steter Trotz in Agnes’ Blick, und ihre Stimme war laut und fordernd.

Trotz der Gegensätzlichkeit der beiden verband die Mädchen eine tiefe Freundschaft. Ihre gesamte Kindheit hatten sie bereits miteinander verbracht. Jonatha, die einzige, wohlbehütete Tochter des Grafen und Agnes, ältestes von acht Kindern. Agnes Mutter Irmtraut war Kindfrau auf dem Anwesen des Grafen und zog neben ihren eigenen Söhnen und Töchtern auch Jonatha groß. Irmtraut, die früher als Magd diente, hatte seit jeher gute Dienste für den Grafen geleistet. Als Jonathas Mutter im Kindbett starb, hatte ihr Vater sie gebeten, sich um Jonatha zu kümmern. Irmtraut wurde fast wie eine richtige Mutter für Jonatha, die sich heimlich wünschte, ihr Vater würde Irmtraut ehelichen. Doch es geziemte sich nicht für einen Grafen, eine ehemalige Magd zu heiraten. Obwohl Jonatha den leisen Verdacht hegte, dass sich die beiden gern hatten.

Jonatha hätte gerne öfter mit Irmtauts anderen Kindern gespielt. Doch diese mussten schon im frühen Alter auf dem Gut arbeiten. Während sie Ställe ausmisteten oder auf den Feldern bei der Ernte halfen, bekam Jonatha Musikunterricht.

Die kleineren Kinder jedoch tollten oft auf dem Hof herum. Wenn Jonatha Tonfolgen auf der Harfe zupfte, hörte sie oft ihr Kreischen und Lachen zum offenen Fenster herauf. Wie gerne hätte sie mit ihnen herumgetobt, doch ihr Vater wachte akribisch darüber, dass sie ihre Zeit nicht mit derart unnützen Beschäftigungen verbrachte. Stattdessen bekam sie regelmäßig Unterricht in verschiedensten Fächern. Nur die besten Lehrer, die teilweise von weit her kamen, hatte der Graf dazu angestellt.

Seit kurzem verlangte er von Jonatha sogar, dass sie einen speziellen Unterricht besuchte, der sie auf das Leben als spätere Ehefrau eines Adligen vorbereitete. Etikette, das richtige Benehmen bei Tisch und die Regeln guter Konversation interessierten Jonatha doch nur wenig. Wohl aber der künftige Ehemann. Wer es wohl sein würde? Jonatha hoffte inständig, dass er nicht allzu hässlich und alt sein würde. Und, dass er sie gut behandelte.

Bestimmt würden bald viele Männer um sie werben, sobald sie ins heiratsfähige Altern kam. Und das lag nicht mehr weit entfernt. Nächstes Jahr feierte sie ihren 15. Geburtstag.

Am liebsten hätte sie sich aus mehreren in Frage kommenden Adligen den Richtigen ausgewählt. Aber es konnte durchaus sein, dass ihr Vater ihr bereits den endgültigen Ehemann präsentierte. Mit Schaudern dachte sie an die Berichte von Mädchen, deren Väter ihnen keine Wahl gelassen und sie mit widerlichen Kerlen verheiratet hatten.

Doch Jonatha kannte ihren Vater. Er war zwar streng, aber er liebte seine Tochter sehr, sodass er bestimmt nur einen Mann akzeptieren würde, den Jonatha guthieß. Das hoffte sie zumindest. Bald würde der Graf die ersten Werber einladen, dessen war sie sich sicher. Womöglich hatte er bereits eine Vorauswahl getroffen, doch bislang hielt er sich bedeckt. Sobald die Sprache auf dieses Thema kam, schwieg sich ihr Vater aus. Sie bekam nichts aus ihm heraus, und auch Irmtraut wusste angeblich nicht darüber Bescheid.

„Sieh’ nur, da vorne ist es!“, rief Agnes.

Durch die Äste schimmerten die Mauern eines kleinen Lehmhauses. Agnes trieb ihr Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Während es die letzten Meter bis zu dem Haus trabte, wippte Agnes langer dicker Zopf wie ein Kuhschwanz hin und her.

„Warte doch auf mich, nicht so schnell“, rief ihr Jonatha hinterher, die Angst hatte, dass ihr Pferd auf dem unwegsamen Pfad über eine Wurzel stolperte.

Doch Agnes war zu aufgeregt, um auf ihre Freundin zu warten.

Das winzige Häuschen besaß ein einziges Fenster, dessen Scheibe jedoch blind und stark verschmutzt war, sodass man nicht ins Innere blicken konnte.

Als Jonatha ihre Freundin einholte, hatte Agnes bereits ihr Pferd an einem Baumstamm festgebunden.

„Vielleicht ist gar niemand da“, mutmaßte Jonatha.

Sie bereute für einen kurzen Moment, dass sie diesem Ausflug zugestimmt hatte. Natürlich war es Agnes Idee gewesen, hierher zu kommen. Ihre Freundin hatte so lange auf sie eingeredet, bis sie schließlich eingewilligte. Es koste auch nur wenige Groschen, hatte ihr Agnes danach noch kurz zugeraunt. Das hatte Jonatha bis dahin nicht bedacht, jedoch schob ihr Vater ihr oft ein paar Münzen zu, sodass sie stets über etwas Geld verfügte.

Agnes wusste dies natürlich und hatte auf ihre Bereitschaft spekuliert, ihr Vorhaben zu finanzieren.

Auch Jonatha hatte nun ihr Pferd angebunden. Bevor sie sich dem Häuschen zuwandte, tätschelte sie die Stute noch einmal.

„Brave Martha“, lobte sie. Es war wirklich ein gutes Pferd. Daheim würde sie Zacharias bitten, dem Tier eine extra Portion Futter zu geben.

„Nun komm’ doch endlich“, drängte Agnes, die bereits vor der Tür des kleinen Häuschens stand und schon die Hand erhoben hatte, um anzuklopfen.

Kurz zögerte Jonatha, bevor sie hinzutrat. Die beiden Mädchen sahen sich an. Agnes blickte verschwörerisch, Jonatha eher ängstlich. Ob es wirklich richtig war, was sie hier taten?

Agatha klopfte energisch an die Tür.

Alles blieb still. Kein Ton drang aus der ärmlichen Hütte. Doch plötzlich öffnete sich die Tür weit, sodass Jonatha vor Schreck beinahe geschrien hätte.

Vor ihnen stand eine schlanke Frau mit langem braunen Haar, in das sich erste graue Strähnen mischten. Auf bloßen zierlichen Füßen stand sie vor ihnen. Ein Kälberstrick, dessen Enden bis fast zum Boden herabhingen, hielt ihr einfaches braunes Gewand in der Taille zusammen.

Jonatha staunte, denn sie hatte sich die Frau älter vorgestellt und irgendwie auffälliger. Sie strahlte völlige Ruhe aus und ihr Blick wirkte, als wisse sie bereits über die beiden Freundinnen Bescheid. Zumindest kam Jonatha das so vor.

Eine Weile sprach niemand ein Wort. Selbst Agnes schien zu ehrfürchtig, um sofort loszuplappern, wie es sonst ihre Art war. Schließlich überwand sie sich doch und ergriff das Wort: „Gott zum Gruße, werte Dame Eva“, sagte sie und versuchte ein Lächeln.

„Gott zum Gruße“, wisperte auch Jonatha und sah nur kurz auf.

„Ich grüße euch, Kinder“, erwiderte die Frau. Ihre Stimme glich einem sanften Grollen. „Was führt euch denn zu mir?“

Jonatha überließ die Antwort nur zu gerne Agnes, schließlich war es ihre Idee gewesen.

„Wir wollen eure Dienste gern in Anspruch nehmen und bitten euch darum, uns die Zukunft zu lesen.“

Die Dame Eva runzelte die Stirn.

„Euch beiden?“

Agnes und Jonatha nickten ehrfürchtig.

„Könnt ihr das auch bezahlen?“

Jetzt kehrte wieder Leben in Agnes.

„Aber natürlich! Seht nur, wir haben genügend Geld dabei.“

Sie stieß ihrer Freundin leicht in die Rippen als Aufforderung, ihre Groschen herzuzeigen. Jonatha kramte in ihrer Geldkatze, legte sich ein paar Münzen in die flache Hand und streckte sie der Frau entgegen, über deren Gesicht sich nun ein Lächeln legte.

„Also gut“, sagte sie. „Dann kommt herein.“

Im Innern der Hütte war es sehr düster. Sie bestand aus einem einzigen Raum, in dessen Mitte sich ein hölzerner Tisch befand. Ein pompöser silberner Kerzenleuchter stand darauf. Er wirkte in dem ansonsten eher spartanisch eingerichteten Zimmer wie ein Fremdkörper. Die Kerze, die darin steckte, war schon ziemlich heruntergebrannt und verbreitete nur wenig Licht.

„Nehmt Platz!“, bot Eva den Mädchen an, die sich daraufhin auf den grob behauenen Holzklötzen niederließen, die als Stuhlersatz dienten.

Jonatha, die sich nur selten in anderer Leute Häuser aufhielt, fand dies alles fremd und aufregend. Gut, dass ihr Vater nichts von diesem Besuch wusste. Er wäre entsetzt gewesen, wenn er gesehen hätte, in welche Umgebung sich seine Tochter begeben hatte.

Ohnehin war es schwierig gewesen, sich davonzustehlen. Der Unterricht nahm fast Jonathas gesamte Zeit in Anspruch. Doch da der Lehrer, der sie in Mathematik unterrichtete, krank geworden war und gleichzeitig auch die Frau, die ihr Etikette beibrachte, das Bett hüten musste, hatte sie unverhofft den ganzen Nachmittag frei.

Agnes war eigentlich zum Stalldienst eingeteilt und sollte Zacharias helfen, doch Agnes hatte ihn überredet, ihr für zwei Stunden frei zu geben. Der gutmütige alte Pferdeknecht hatte ein Herz für die jungen Mädchen und ließ sie lächelnd ziehen. Er würde sie auch nicht verraten, dessen waren sie sich sicher.

Jonatha hatte allerlei Geschichten über Wahrsagerinnen und Zukunftsdeuter gehört. Manche arbeiteten mit Kristallkugeln, andere mit Karten oder beschäftigten sich mit Traumdeutung. Von Agnes wusste sie jedoch, dass die Dame Eva schlicht aus den Händen der Betroffenen las. Daheim hatte sie bereits die feinen Linien ihrer Hand inspiziert und darüber sinniert, welche Bedeutung wohl in ihnen lag.

Die Dame Eva musterte die beiden Mädchen und sprach schließlich Agnes an:

„Kenne ich dich irgendwoher?“

Agnes nickte.

„Ich war bereits mit meiner Schwester hier. Ihr habt nur ihr die Zukunft gedeutet, aber ich saß daneben. Damals war ich sehr skeptisch, muss ich zugeben.“

Jonatha hielt den Atem an. Wie konnte sie es wagen so ungehörig zu sein und die Wahrsagerin zu kritisieren? Sie rechnete bereits damit, dass sie von ihr des Hauses verwiesen, zumindest aber eine Rüge erhalten würden.

Doch Eva blieb gelassen. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

„So?“, fragte sie nur nach.

Agnes merkte anscheinend jetzt erst, wie dreist sie gewesen war. Doch es gehörte zu ihrem Wesen, dass sie schnell das aussprach, was sie dachte. Oft merkte sie erst im Nachhinein, dass es klüger gewesen wäre zu schweigen. Aber nun ließ ihr die Wahrsagerin Gelegenheit, weitere Erklärungen abzugeben.

„Bitte verzeiht mir, denn ich habe meine Meinung geändert. Als ihr meiner Schwester zu jener Zeit weissagtet, alles werde sich bald für sie zum Guten wenden, traf sie nur eine Woche später ihren zukünftigen Ehemann, in den sie sich gleich unsterblich verliebte. Das hat mich von Euren Fähigkeiten überzeugt. Und nun sitze ich selbst hier und möchte eure Dienste in Anspruch nehmen.“

Eva sah Agnes nun ernst an.

„Was möchtet ihr denn von mir wissen?“

Jonatha und Agnes blickten sich an. Agnes rutschte auf dem Holzklotz herum, als fühle sie sich nicht recht wohl. Schließlich gab sie mit für sie ungewohnt leiser Stimme zu: „Wir möchten gerne wissen, wie es mit der Liebe um uns steht. Von meiner Freundin wird eine baldige Hochzeit erwartet, und ich weiß noch überhaupt nicht, wie es in Liebesdingen um mich bestellt ist. Wird es auch jemanden für mich geben?“

Eva nickte verständnisvoll.

„Also gut. Wir werden mit dir beginnen.“

Ohne, dass sie dazu aufgefordert worden wäre, streckte Agnes ihre Hand aus - eine Hand mit kurzen, dicken Fingern, die von der Arbeit auf der Burg gerötet war. Eva lächelte und nahm die Hand in die ihre. Sie führte sie dicht an das Kerzenlicht, um besser sehen zu können. Mit ihren grazilen Fingern fuhr sie die feinen Linien nach und bewegte dabei lautlos ihre Lippen, so als spräche sie ohne Ton.

Dann hörte sie unvermittelt damit auf und sah Agnes an, die vor Neugierde schier zu platzen schien.

„Und, was seht ihr?“, wollte sie begierig wissen.

„Ich sehe etwas. Ganz eindeutig.“

„Was ist es?“

Eva wandte sich abrupt von ihr ab und sah plötzlich Jonatha ins Gesicht.

„Zuerst das Geld!“, forderte sie ihre Kundinnen auf.

Jonatha legte zaghaft die Groschen auf den Tisch. Die Wahrsagerin nahm das Geld auf und verstaute es in den Taschen ihres Kleides.

„Also“, murmelte sie und blickte dabei wieder Agnes an. „Ich sehe einen Mann, der dich begehrt.“

„Wirklich?“, fragte Agnes ungläubig woraufhin Eva nickte.

„Wann werde ich ihn treffen?“

Eva nahm noch einmal ihre Hand und starrte konzentriert darauf.

„Schon bald, schon bald“, prophezeite sie ihr. „Es wird sich einiges ändern für dich. Ein großes Abenteuer steht dir bevor.“

„Wahrhaftig? Das wird bestimmt aufregend. Hast du gehört Jonatha?“

Jonatha nickte benommen, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprudelte Agnes hervor: „Könnt ihr mir noch mehr zu dem Mann sagen? Werde ich seine Liebe erwidern? Werde ich ihn heiraten?“

Doch Eva schüttelte bedauernd den Kopf.

„Das ist alles, was ich herauslesen kann. Tut mir leid, mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Doch jetzt zu deiner Freundin. Reiche mir deine Hand!“, forderte sie Jonatha auf.

Jonathas Hand besah sie sich ein wenig länger. Beinahe zärtlich fuhr sie mit ihren Fingern die Herzlinie entlang, und in ihr Gesicht stahl sich ein Lächeln.

„Du Glückliche“, raunte sie. „Du wirst die ganz große Liebe erleben. Schon bald.“

Jonatha schluckte. Sollte das wirklich wahr sein? Sie, das vierzehnjährige Mädchen, das noch nie einen Mann auch nur flüchtig berührt hatte?

„Ja und, weiter?“, drängte Agnes unhöflich. „Ihr müsst doch noch mehr sehen. Das kann doch nicht alles sein.“

„Nein, tut mir Leid. Ach was, es tut mir nicht Leid. Wisst ihr wie selten es ist, dass die Herzlinie bei jemandem eine so große Liebe anzeigt? Das ist etwas sehr, sehr besonderes. Deine Freundin ist vom Schicksal gesegnet.“

Dann stand Eva auf - anscheinend ein Zeichen, dass die Mädchen genug ihre Zeit strapaziert hatten.

„Ich wünsche euch beiden nur das beste“, sagte sie und geleitete Jonatha und Agnes hinaus.

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