Читать книгу Lesbische Träume und 11 andere erotische Novellen - Sarah Skov - Страница 5

Der Kartenabreißer

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Im Laufe des Sommers sehe ich Sebastian und seine Freunde mehrmals. Mit einer Gruppe junger, gut gelaunter Menschen verbringen sie die langen Sommerabende am Meer, bis die Sonne untergeht. Mit nacktem Oberkörper und in Badeshorts springt er in die Wellen und im Sand nach dem Ball. Ich betrachte sie aus der Ferne und tue, als würde ich mein Buch lesen. Ich weiß, es ist falsch, aber es ist auch sehr verlockend. Erst als es gegen Ende des Sommers zu kalt für einen Bikini wird, komme ich nicht mehr her. Seitdem habe ich mich auf den Semesterbeginn gefreut, da ich ihn dann wiedersehen werde.

Ich beobachte Sebastian vom ersten Tag an. Er kommt nicht besonders oft zum Unterricht. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Viele Studenten tun das, wenn die Prüfungen für sie keine Herausforderung sind. Mir sind die Abwesenden bloß sonst nie so aufgefallen wie Sebastian. An der Universität herrscht keine Anwesenheitspflicht. Zu Beginn des Studiums werden die Studenten aufgefordert, zum Unterricht zu erscheinen und ihr Studium als Vollzeitjob zu betrachten. Soll heißen, siebenunddreißig Stunden Pensum die Woche. Das trifft aber selten zu. Am Anfang vielleicht häufiger, später immer weniger.

Ich bleibe am Tisch sitzen, während die Studenten ihre Bücher einpacken und nacheinander nach vorne kommen, um ihre Arbeiten auf den kleinen Stapel vor mir zu legen. Das ist der altmodische Weg. Ich lächle, nicke und bedanke mich diskret, während sie vorbeigehen. Manche mit Augenkontakt, manche schon wieder von ihren Mobiltelefonen eingenommen. Die Qualität der Handschriften sinkt. Jedes Mal, wenn ich den Studenten eine handschriftlich auszuführende Aufgabe stelle, beschweren sie sich lauthals. Zwar haben sie alle einen Laptop dabei, aber ich finde, es tut ihnen gut, direkt mit dem Stoff in Berührung zu kommen, ohne Tastatur oder Internetverbindung. Ich finde es wichtig, besonders, wenn sie in Zukunft mit Kunst arbeiten werden. Wenn sie sich beschweren, bekommen sie die gleiche Antwort wie jedes Jahr zu hören. Ich spüre, dass sie sich mehr und mehr auf die Idee einlassen. Ich habe einen Magister in Kunstgeschichte, wo Stoff, Materie und Berührung von Bedeutung sind, und meine Art zu unterrichten orientiert sich daran. Sie steht umso stärker da, je weniger ich mich auf Kompromisse einlasse. Ich kann gut unterrichten. Wenn ich sagen müsste, in welchem meiner Lebensbereiche ich die beste Ausstrahlung habe, wäre es der als Dozentin. Als Privatperson bin ich introvertierter, höre mehr zu.

Sobald die Studenten ihre Blätter bei mir abgegeben haben, verfallen sie wieder in Gespräche und ihr gewohntes Treiben an der Universität. So viel Energie. Sie lassen die Tür offenstehen, sodass ich sie länger im Gang verschwinden hören kann. Sebastian gibt als Letzter ab. Er schaut mich eingehend an. Für einen kurzen Augenblick überlege ich, ob er mich am Strand gesehen hat. Als er aus der Tür ist, sammle ich den Stapel auf, begradige ihn und stecke die Arbeiten in meine Tasche. Es ist Freitag, und ich muss erst montags wieder unterrichten.

Auf dem Weg zu meinem Büro tönen Musik und Gespräche aus dem Raum, wo sich die Studenten immer zum Trinken treffen. Meine hohen Absätze klackern auf dem Boden. Es ist ein angenehmes Geräusch. Ich schwöre auf die hohen Absätze, auch wenn sie in Dänemark hin und wieder zugegebenermaßen unpraktisch sind. Ich passiere zwei junge Männer, die sich auf dem Gang unterhalten. Ich bin fast sicher, dass sie eben noch in meiner Vorlesung saßen, aber wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich außerhalb des Unterrichts nicht besonders gut an Gesichter, mit ein paar Ausnahmen natürlich. Die jungen Männer grüßen mich, ich lächle zurück.

Als ich meine Arbeit als Dozentin begann, war ich überzeugt, mein erster Jahrgang sei etwas ganz Besonderes, weil die jungen Leute so unglaublich jung aussahen. Jetzt muss ich gestehen, dass man mit Anfang Zwanzig einfach so aussieht, und dass auch ich mal so aussah. Ich ging damals tatsächlich nach Hause, schaute mir Fotoalben aus meinen ersten Semestern an, und war verblüfft, wie schnell mich das alles einholte. Nachts hatte ich unruhige Träume. Es fühlte sich an, als wäre ich in eine Kluft zwischen dem, was ich einmal hatte werden wollen, und dem, was ich heute war, gefallen. Nicht, dass ich mit meinem Dasein unzufrieden wäre, denn das bin ich ganz bestimmt nicht, aber ich hatte es mir nicht so vorgestellt. Und die Sache hätte ganz anders aussehen können. Ich entschied mich zum Beispiel, Claus zu heiraten, weil ich spürte, dass eine Ehe mit ihm undramatisch und friedlich verlaufen würde. Andererseits entschied ich mich auch gegen das Lustbetonte, und genau dieses Element begann ich nach einigen Jahren ernsthaft zu vermissen. Nachdem unsere erste Verliebtheit vorüber war, stand für mich fest, dass unsere intime Leidenschaft nie wieder das gleiche Level erreichen würde. Ich sprach mit Freundinnen darüber, aber damals sagte mir das Undramatische, Friedliche mehr zu. Ich glaube, dass ein Teil von mir nach den vorangegangenen wilden Jahren und gewaltigen Eskapaden Ruhe brauchte. Ich versuchte, diese Jahre mit neuer Unterwäsche und Massagen wieder zum Leben zu erwecken, aber meine Mission wurde zu offensichtlich, zu gekünstelt, und ich wurde abgewiesen.

Ich habe den Eindruck, dass mich die Studenten mögen, und das bedeutet viel für mich, besonders weil mein Bekanntenkreis seit der Scheidung klein ist. Die meisten unserer Bekannten waren am Ende auf Claus‘ Seite. Das ist kein wirklicher Verlust. Vielleicht hatte ich auch damit gerechnet, nachdem ich nach zehn Jahren verkündete, etwas anderes, mehr zu wollen. Ich, die sonst keine Meinung über irgendetwas hatte und von Natur aus Konflikten aus dem Weg ging. Nun hatte ich plötzlich genug, und ich brauchte eine lange Zeit, mir zu verzeihen, dass ich mich erst nach zehn Jahren hatte zusammenreißen können. Wenn man derartig endgültige Entscheidungen trifft, beunruhigt das die Freunde. Vielleicht auch, weil es sie dazu zwingt, hinter die Fassade zu blicken.

Studenten, die genauso reflektiert sind wie ich, sind wie ein erweiterter Kreis aus Kollegen. Trotz unseres Schüler-Lehrer-Verhältnisses gibt es auch für mich etwas zu lernen. Sie können in der Tat Fragen stellen, auf die ich spontan keine Antwort finde. Es ist vollkommen in Ordnung, dass wir uns nicht in allen Angelegenheiten einig sind, und es auch nie sein werden. Manchmal ermüden mich die Seminare voller Diskussionen, aber insgesamt bin ich froh darüber. Wie sonst sollte ich mich weiterentwickeln?

Nachdem die Scheidung durch war, verfiel ich in eine unglaubliche Ruhe. Es war, als wäre ich lange Zeit erfolglos auf der Suche nach mir selbst gewesen, und war plötzlich auf einen Schlag da. Ich konnte, umgeben von meinen eigenen Sachen, in meiner Wohnung sitzen, Kleidung tragen, die mir passte, und alles in allem tun und lassen, was ich wollte. Claus ist viel aufgeschlossener als ich, und es war eine Wohltat, nicht mehr jedes Wochenende auf Vernissagen und private Feste rennen zu müssen. Eigentlich befürchtete ich, ich würde genau das vermissen, denn grob gesagt, hatte sich unser ganzes Leben darum gedreht, seit ich Claus kannte. Wir hatten keine Kinder, und es war nie im Gespräch gewesen, welche zu bekommen. Weder Claus, noch ich können besonders gut kochen. Ich sah nicht sonderlich gern fern, und Claus genauso wenig, also blieb nicht viel übrig. Wir bereiteten schnelle Gerichte zu oder aßen auswärts, und besuchten anschließend Freunde oder eine Vernissage.

Jetzt lebe ich ein viel introvertierteres Leben. Es fühlt sich an, als müsste ich das vor anderen rechtfertigen. Nach der Scheidung haben all meine Abende allein zu Hause einige meiner engsten Freundinnen sehr besorgt, aber jetzt verstehe ich, dass es keinen Grund zur Sorge gab. In gewisser Hinsicht führt einen eine Scheidung zu sich selbst zurück, und so war es auch bei mir. Ich lernte mich auf allen Gebieten neu kennen, auch sexuell. Dem verschließt man sich sonst gewissermaßen, wenn man sich gerade scheiden lässt. Während langer Spaziergänge hegte ich wohlige Gedanken daran, jemanden zu treffen, verführt zu werden. Ich versuchte es ein paarmal auf die moderne Art, Onlinedating und so weiter, aber das konnte ich schnell abhaken. Das war nichts für mich. Vielleicht bin ich zu alt geworden, ich weiß es nicht, aber ich glaube eher, mir fehlt dabei die Romantik. Meiner Freundin Birgitte gelang es glücklicherweise gut, mich in der Welt der jungen Leute zu halten. Ich glaube, in Wahrheit sehnten wir uns beide danach. Sie besuchte mich gern mit einem Rotwein und sprach laut und lange über ihre Liebhaber, trotz langer Ehe. Irgendwie fand ich das ein bisschen schade. Auf der anderen Seite diente es mir zu ausgesprochen guter und lebensbejahender Unterhaltung. Ich glaube, sie wünschte sich, ich würde mehr daraus machen, dass ich mich aufraffte, und mit neuen Männern loslegte. Ende des Sommers überlegte ich, ob ich ihr von meinen Beobachtungen von Sebastian am Strand erzählen sollte, aber aus unerfindlichen Gründen, wollte ich es lieber für mich behalten.

Ich schalte meinen Computerbildschirm an. Da es draußen schon dunkel ist, sehe ich die Reflektion des Bildschirms im Fenster hinter mir. Hinter dem Fenster steht eine große Hecke, dahinter liegt eine an einen Bach grenzende größere Grasfläche. Ich kann also sicher sein, dass niemand vorbeikommt, und sieht, was ich tue.

An einem Haken hinter der Tür hängen meine Jacke und für den Fall der Fälle auch eine Regenjacke. Sonst habe ich mein Büro relativ schlicht eingerichtet, ähnlich wie mein Zuhause. Ich habe irgendwo gelesen, dass man sich leichter konzentrieren kann, wenn nicht so viele Dinge herumstehen. Außerdem gefällt es mir so am besten. Als ich gerade an der Universität anfing, konnte ich verstehen, dass ein Konkurrenzkampf um die Büros herrschte. Mein jetziges ist ein sogenanntes Anfängerbüro. Man muss sich eintragen oder besser sich bei der Leitung einschleimen, um mit den Jahren ein größeres Büro zu bekommen. Eines, wie zum Beispiel Flemming es hat. Ich habe ab und zu mal bei ihm vorbeigeschaut, bin aber nicht beeindruckt. Das Büro ist etwas größer, ja, und in den Regalen mehr Platz für Bücher, aber dafür verläuft hinter den Fenstern ein Fußweg, über den die Studenten von Veranstaltung zu Veranstaltung gehen, und die Deckenlampe ist eine Leuchtstoffröhre. Ich bin sicher, dass ich allmählich mein Büro wechseln könnte, wenn ich wollte, aber ehrlich gesagt, schaffe ich das einfach nicht. Man glaubt kaum, wie viel Papier, Aufsätze und Kopien sich um einen herum auftürmen, wenn man forscht.

Während des Unterrichts sind keine neuen E-Mails eingetroffen. Das ist einer der Vorteile an der Arbeit als Dozentin. Ich muss mich bei weitem nicht um so viele Mails kümmern wie auf dem privaten Arbeitsmarkt. Alles läuft langsamer ab. Hauptsächlich denke ich, dass ich meine Arbeit so gründlicher erledige. Ab und zu bin ich zwar auch mal gestresst, aber längst nicht so wie vorher.

Ich schaue auf meine Uhr und nehme die Schlüssel vom Tisch. Danach öffne ich die Bürotür und gehe in die Kantine. Sie schließen nachmittags, und ich ergattere immer die letzte Tasse Kaffee, bevor sie zumachen. Natürlich gibt es Kaffeeautomaten auf dem Flur, aber erstens finde ich, deren Kaffee schmeckt nach Metall, und zweitens unterhalte ich mich gern mit den Damen in der Kantine. Die beiden recht großgewachsenen Frauen sind nicht im Geringsten akademisch angehaucht. Genau das mag ich. Wenn ich komme, wissen sie nahezu im Voraus, was ich möchte und wie ich meinen Kaffee mag. Sie fragen, wie es mir geht. Ich erzähle ein bisschen von meinem Tag, sie tun es mir gleich. Nichts Tiefgehendes, es könnten auch Bemerkungen über das Wetter oder die Jahreszeit sein. Ich glaube, sie arbeiten schon länger an der Universität als ich. Wegen ihres Alters verhalten sie sich mir gegenüber immer etwas mütterlich. Sie möchten, dass ich einen neuen Mann kennenlerne. Die Scheidung können sie gut verstehen, und sie freuen sich so sehr, wenn ich sage, dass es mir trotz allem ziemlich gut geht. Wenn ich wieder gehe, spüre ich immer, dass man sich um mich kümmert. Ich stelle mir vor, dass es so wäre, wenn ich meine Mutter noch hätte. Wir waren uns nie besonders nah, aber trotzdem war ich nie im Zweifel, dass das Beste, was ich ihr sagen konnte, war, dass es mir gut ging. Das ist wohlgemerkt das einzige, was Eltern sich wirklich wünschen. Ich bin so froh darüber, dass Claus und ich keine Kinder bekamen, sonst wäre ich nie davon losgekommen.

Ich balanciere die Kaffeetasse in meiner Hand. Das ist einer der besten Momente des Tages. Der Unterricht ist vorbei, und ich kann mich ins Büro verziehen. Ich wechsle von Arbeit zu Freizeit, und checke wie gewöhnlich, was im Kino läuft. So habe ich einen einigermaßen guten Überblick, wann welcher Film Premiere hat. Ich liebe Kino. Als Ausgebildete im Bereich Kunst und Kultur und als naturscheuer Mensch ist Kino ein Volltreffer. Ist man erstmal drinnen, steht man nicht mehr im Fokus, es ist wie eine Vernissage oder eine Theateraufführung mit langer Pause im Foyer. Im Kino kann man den Kopf abschalten. In dieser Hinsicht fordern die Filme eine andere Art von Aufmerksamkeit.

Nicht weit von mir entfernt, gibt es außerdem ein kleineres Kino, wo man an der alten Tugend festhält. Bar und gemusterter Boden im Foyer, lange, schwere Samtvorhänge, Noir-Plakate und Spiegel an den Wänden. Es fühlt sich an, als gehörte ich dorthin, und als wäre ich weit vom Alltag entfernt. Wie ein Ort, an dem ich ich selbst sein kann und keine Rolle einzunehmen brauche, ein bisschen wie eine Traumwelt. In erster Linie sehe ich gerne Sozialrealismus auf der großen Leinwand. Die Idee darüber, dass dort ein anderes Leben abläuft, ein dramatisches Leben, an dem man für eine Weile teilhaben kann, ehe man zurück in sein eigenes kehren muss, gefällt mir. Meistens ziehe ich allein los, hin und wieder direkt von der Arbeit, da ich nicht zuerst nach Hause muss, um mich zurechtzumachen. Ich habe kein Problem damit, allein zu gehen. Ich gehe im Keller auf die Toilette, wo ich roten Lippenstift auftrage. Das allein verwandelt mein Gesicht von Alltag zu Wochenende. Die anderen Frauen auf der Toilette tummeln sich an den Waschbecken. Ich habe mich schon immer darüber geärgert, dass es in Dänemark nicht akzeptiert wird, wenn man etwas aus sich macht. Dass Lippenstift aufzutragen unanfechtbar als Zeitverschwendung oder Bedrohung einer schönen Frau betrachtet wird. Wir sind so schlecht darin, unsere gegenseitige Schönheit zu bewundern.

Das Kino wurde auch zu einer Form von Übergangsritual, als ich mich scheiden ließ. Als es mir wichtig wurde, etwas Eigenes zu haben. Claus wollte nie mit ins Kino. Ich wollte etwas finden, auf das ich Lust hatte, und wo ich nicht an andere denken musste. Ich liebe Kunst, mein Zuhause ist von oben bis unten voll davon, aber meistens bestehen Vernissagen daraus, dass man sich über das Erlebnis unterhält. Ich finde Gefallen daran, allein ins Kunstmuseum zu gehen, aber Vernissagen ertrage ich nicht wirklich, es sei denn ich habe Kollegen oder eine Freundin dabei. Ich will nicht ständig in der Gegend herumstehen, Smalltalk betreiben und meine Eindrücke teilen, egal was ich von der ganzen Sache halte.

Ich setze mich mit einem Glas Wein in die Lounge des Kinos, nachdem ich mir eine Karte für die Abendvorstellung gekauft habe. Es kommt selten vor, dass ich jemanden treffe, den ich kenne. Die meisten Menschen haben mit sich selbst zu tun. Ich blättere gern im Programm für den kommenden Monat, lese bei Bedarf ein bisschen, habe aber in erster Linie kein Problem damit, einfach nur dazusitzen und die anderen zu beobachten. Ich nehme selten Blickkontakt auf. Meistens bin ich die einzige, die allein hier ist. Das kann tausende Gründe haben.

Ich reibe die Lippen aneinander. Auf dem Rand des Glases sehe ich den blassen Abdruck meines Lippenstifts. Ich schaue kurz auf mein altes Handy, dann schalte ich es aus und stecke es zurück in die Tasche.

Genau da bleibt eine Person direkt neben meinem Stuhl stehen, so nah, dass es wohl ihr Ziel gewesen sein muss, meine Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Hey“, sagt Sebastian mit einem breiten Lächeln.

Ich begrüße ihn. Keine Umarmung, er ist schließlich einer meiner Studenten. Er trägt eine Uniform und sieht ganz anders als sonst aus.

„Dachte ich mir doch, dass Sie es sind“, grinst er.

Ich streiche mein Haar hinter das Ohr.

„Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?“, fragt er und zeigt mit seiner Handfläche auf den leeren Stuhl mir gegenüber.

„Natürlich“, antworte ich und ziehe mein Weinglas etwas näher zu mir, um zu signalisieren, dass dort frei ist. Die Unterseite des Glases kratzt über die Tischplatte.

Im Licht des Kinos sieht Sebastian anders aus. Für einen Moment überlege ich, ob das am Wein liegen könnte. Ich habe heute nicht sehr viel gegessen. Es kommt so selten vor, dass ich meine Studenten außerhalb der Universität treffe. Die meisten grüßen mich, wenn ich ihnen über den Weg laufe, aber ich habe es noch nie erlebt, dass einer ein Gespräch begonnen und sich zu mir gesetzt hat. Vorsichtig trinke ich von dem Wein. Er ist eigentlich nicht besonders gut. Nur wenige trinken Wein im Kino. Das ist aus der Kunstszene an mir hängengeblieben.

„Was werden Sie sich ansehen?“, fragt Sebastian und nickt zu meiner Karte.

Ich halte sie ihm hin.

Er liest und nickt. Es ist sicherlich kein Film, den er schon gesehen hat, denn er gibt keine Kritik oder ein Zeichen von sich, dass ich mich darauf freuen kann.

„Sind Sie allein hier?“, fragt er.

Ich erzähle, dass ich gern allein ins Kino gehe, vor allem freitags nach dem Unterricht.

„Cool“, sagt Sebastian.

Gott, wie jung er ist!

„Du hast einen Nebenjob hier“, bemerke ich und nicke zu seiner Uniform.

Sebastian lässt die Hände über seine Brust gleiten, wie ein Kind, das sein Kostüm präsentiert.

„Ja. Ist ziemlich gut mit ein bisschen Geld über die Beihilfe hinaus“, sagt er und zwinkert. Ich nicke. Er lächelt mir zu. Ich merke, dass meine Wangen ein wenig erröten.

In der Uniform ist sein Oberkörper stattlicher und maskuliner als im gewohnten T-Shirt. In Gedanken nehme ich ihn unter die Lupe. Er hat ein Auge für Kunst und Kultur. Ich bin sicher, dass er es in der Branche zu etwas bringen wird. Seine Hände wandern über den Tisch, als suchte er nach Halt. Ich sollte ihn etwas fragen, aber was mir auch einfällt, ich bin im Zweifel, ob es eine Grenze überschreitet.

„Ich muss los“, sagt er bestimmt und schaut auf seine Armbanduhr. „Schön, dass Sie hier sind.“

Ich betrachte ihn, während er die Treppe hinter mir zu seiner Kollegin herunterläuft, die ihn gerade gerufen hat. Wenn sie miteinander sprechen, lehnt er sein Gesicht zu ihrem Ohr. Allmählich herrscht Betrieb. Ein Mann fragt, ob er den Stuhl nehmen dürfe, auf dem Sebastian eben noch gesessen hat.

„Klar“, sage ich.

Als ich in die Dunkelheit des Kinos trete, reißt Sebastian meine Karte ab.

„Viel Spaß“, sagt er und zwinkert wieder.

Ich bedanke mich und erröte abermals. Die anderen Leute in der Schlange merken es nicht. Ob es Sebastian wohl aufgefallen ist? Ich nehme meinen gewohnten Platz ein. Wenn ich meine Karte am Schalter kaufe, bitte ich immer um diesen. In der Mitte, wo die anderen Zuschauer sowohl vor, als auch hinter mir sitzen. Es ist am besten, wenn man nicht zu nah aneinander sitzt. Auf der großen Leinwand läuft noch Werbung, die Beleuchtung ist gedämpft. Ich orientiere mich im Saal. Nach der Werbung öffnet sich der Vorhang ganz, und das Wort „Zentropa“ erscheint in großen Buchstaben auf der Leinwand. Dann beginnt der Film. Im Licht der Notausgangsschilder kann ich Sebastian an der Tür herumhantieren sehen, die er anschließend von außen schließt. Ich versinke in der Handlung des Films und vergesse mich selbst.

Als das Licht wieder angeht, geht Sebastian zügig durch den Saal. Er öffnet die Ausgangstür, die direkt in den Hinterhof des Kinos führt. Wie die anderen Gäste erhebe ich mich, und ziehe meine Jacke an. Ohne, dass es jemand merkt, steige ich vorsichtig wieder in meine hohen Schuhe. Nach einem langen Tag tut es gut, die Füße zu entspannen, natürlich nur, wenn man genug Abstand zu den anderen Zuschauern hat. Es hat etwas, den Teppich durch die Nylonstrümpfe zu spüren.

Die Zuschauer strömen in Richtung Ausgang. Sebastian verabschiedet sich von ihnen, wünscht ihnen noch einen netten Abend oder ein schönes Wochenende. Er lächelt strahlend. Ich fühle die kalte Luft von draußen, ehe ich mich der Tür nähere. Ich sorge dafür, dass ich den Saal als Letzte verlasse. Sebastian wünscht auch mir noch einen schönen Abend. Ich nicke und wünsche ihm noch viel Spaß bei der Arbeit.

„War schön, Sie zu sehen“, sagt er, als ich gerade an ihm vorbeigelaufen bin.

Ich drehe mich um.

„Ebenso.“

„Wir sehen uns bald wieder.“

War das eine Aufforderung? Ein Wunsch von seiner Seite, mir in diesem Rahmen wieder zu begegnen?

Auf dem Heimweg habe ich eine ungewohnte Energie. Die Fahrradtour fühlt sich kürzer an als sonst. Es nieselt, aber es macht mir nichts aus. Ich grüße alle mir entgegenkommenden Fahrradfahrer, und lasse andere vor, wenn ich die Straße überqueren muss. Mein Rock sitzt stramm, was mich normalerweise nervt, heute aber nicht. Als ich zu Hause ankomme, lasse ich mir ein heißes Bad ein. Das ist eigentlich nichts Neues, das mache ich oft am Wochenende. Während das Wasser aus dem Hahn sprudelt, hole ich Kerzen aus dem Wohnzimmer und Wein aus dem Kühlschrank. Ich überprüfe ein letztes Mal, ob ich die Tür zugeschlossen habe, und begebe mich ins Badezimmer. Bevor ich in die Wanne steige, sehe ich meinen Körper im Spiegel. Ich bekomme oft zu hören, dass ich mich gut gehalten habe, und heute sehe ich es selbst.

Wenn Sebastian zwischen den anderen Studenten sitzt, verweilt mein Blick länger als gewöhnlich auf ihm. Sein Verhalten an der Universität unterscheidet sich markant von der Autorität, mit der er mir im Kino begegnet ist. T-Shirt und Jeans. Flache Schuhe und verwuscheltes Haar. Aus den Reihen schenkt er mir ein anderes, verheißungsvolleres Lächeln.

Ich werde unruhig, wenn ich an ihn denke. Das liegt nicht nur an der überschüssigen Energie des Kinoabends. Immer häufiger sehe ich sein Gesicht vor mir, wenn ich allein im Büro bin. Ich sehe ihn mit anderen Augen. In meinen Gedanken betrachte ich mich nicht länger als seine Dozentin. Dennoch spreche ich an der Universität nicht mit ihm. Er ist immer von Freunden umgeben. Er ist beliebt, und ich verstehe, warum. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass er mich häufiger als sonst ansieht, wenn er sich mit seinen Freunden unterhält, auch wenn ich mir nicht sicher sein kann. Diese Unsicherheit ist merkwürdig. Ich bin eine ganze Ecke älter als er. Ich bin Dozentin. Er ist Student. Ich war verheiratet. Das war er ganz sicher nicht. Ich habe noch nie die Grenze zu einem jungen Mann überschritten, erst recht nicht zu einem Studenten. Früher habe ich so etwas keinen Gedanken geschenkt.

Mir fällt auf, dass Sebastian jeden Freitag Schicht hat. Wenn ich ihm im Foyer begegne, grüßt er mich, ab und zu wechseln wir ein paar Worte. Er ist immer gut gelaunt, als ließe er sich von nichts und niemandem aus dem Konzept bringen. Seine Fragen drehen sich meistens um das Hier und Jetzt. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft. Keine Universität. Wenn ich mich für den Weg zum Kino auf mein Fahrrad schwinge, merke ich, dass ich mich genauso auf Sebastian freue wie auf den Film. Ich bilde mir meine Gefühle nicht länger nur ein.

Vor der Vorstellung bestelle ich mir immer ein Glas Wein. Wenn Sebastian keine Zeit hat, sich zu mir zu setzen, nutze ich die Zeit zu beobachten, wie er sich verhält, wie er mit anderen umgeht. Wie er sein Haar zurechtstreicht, an seinem Gürtel zupft, während er sich unterhält. Immer ganz diskret. Seine Uniform ist verhältnismäßig schlicht. Schwarz von oben bis unten, nur mit dem kleinen Logo des Kinos auf der rechten Brust.

Ich glaube, es gibt ein System. Freitags, wenn die Filme Premiere feiern, tragen sämtliche Kartenabreißer ein Jackett, damit das ganze Szenario authentischer, formeller wirkt. Sebastian steht das Jackett unglaublich gut. Er hat einen geraden Rücken und er überspielt die sprunghaften Bewegungen, die ihm im T-Shirt manchmal unterlaufen. Seine Kolleginnen betrachten ihn mit großen Augen, wenn sie miteinander reden. Er ist eindeutig ein begehrter Mann. Das ist er auch an der Universität. Da schmeichelt es mir umso mehr, wenn er sich an meinen Tisch setzt und einen Teil seiner Zeit opfert, um sich mit mir zu unterhalten. Nach einer Weile kann ich die Diskretion nicht länger einhalten. Wenn Sebastian herschaut, wende ich den Blick nicht mehr ab. Ich halte den Augenkontakt lange aufrecht.

Eines Nachmittags klopft es an meiner Bürotür. Ich habe keine Sprechstundentermine. Es kommt manchmal vor, dass ein Student anklopft, weil er Hilfe bei einem Projekt benötigt.

Ich rechne mit einem Kollegen, also schaue ich vom Computer auf und sage Herein. Sebastian steckt den Kopf durch die Tür. Er fragt, ob er störe, und ob ich ein paar Minuten Zeit hätte. Ich ahne nicht, worum es geht. Er sieht etwas beklommen aus.

Ich setze meine Lesebrille ab und zupfe meine Bluse zurecht, während er eintritt. Er lässt sich viel Zeit. Er schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. Es ist still. Hin und wieder hören wir andere Studenten draußen den Gang entlanggehen, sonst nichts. Ich neige den Kopf ein wenig und lächle leicht, um ihm klarzumachen, dass er an der Reihe ist, etwas zu sagen.

Sebastian sagt, ich solle ihn unterbrechen, wenn sein Vorschlag verrückt sei, aber es habe sich da etwas ergeben, und er wolle mich gern dazu einladen. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie es sich anfühlt, wenn man etwas Schwieriges sagen muss, etwas, das abgelehnt werden könnte. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Sebastian schaut mir nicht in die Augen. Er beginnt die Geschichte an anderer Stelle, holt etwas weiter aus. Er erzählt, er habe manchmal Schlussschicht im Kino, und dann die Möglichkeit, einen Gast einzuladen, um einen beliebigen Film zu sehen, wenn er am Ende sowieso alles zumacht. Er hat inzwischen so viel Erfahrung als Kartenabreißer, dass man ihm diese Verantwortung zutraut. Das sei zwar keine Riesensache, aber doch ein bemerkenswertes Erlebnis, so ganz allein einen Film in einem leeren Kino zu sehen. Als er das zum ersten Mal erlebte, sei es jedenfalls magisch gewesen, und jetzt habe er selbst die Möglichkeit, jemanden einzuladen. Er dürfe auch mehrere Gäste mitnehmen, lade aber nur mich ein.

Er hört auf zu sprechen. Einen Augenblick sitzen wir schweigend da. Jetzt liegt es an mir. Sebastian schaut nicht auf, stattdessen betrachtet er die Blätter, die zwischen uns liegen.

„Mich?“, frage ich, ohne zu wissen, wie ich reagieren soll, als mir einleuchtet, dass er mich hiermit um ein Date gebeten hat.

Ich schweige viel zu lange, und das beunruhigt ihn. Er fährt fort:

„Ich habe Sie jetzt schon so oft dort gesehen. Es sieht also so aus, als würden wir unsere Leidenschaft fürs Kino teilen. Tatsächlich kann ich mir keinen besseren Gast als Sie vorstellen. Ich weiß schließlich, dass Sie gute Filme wertschätzen.“

Sebastians Wangen sind rot. Er zieht einen Fetzen Papier aus seiner Hosentasche und liest zwei Filmvorschläge vor. Es sind gute Filme, gute Vorschläge. Filme, die ich gerne einmal sehen würde, die nicht zu Mainstream sind. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, und denke aus unerfindlichen Gründen, dass ich meine offenkundige Freude nicht herausschreien sollte. Ich räuspere mich.

„Wann wäre das?“, sage ich und tue so, als würde ich meinen Terminkalender checken.

„Freitag“, sagt Sebastian. „Oder wann auch immer es Ihnen passt, wirklich. Ich weiß ja nur zufälligerweise, dass Sie freitags gern ins Kino gehen.“

Er unterbricht sich selbst, peinlich berührt von seinem Eifer. Ich lächle.

„Okay“, sage ich.

Unser Verhältnis entspricht immer noch dem einer Dozentin und ihrem Studenten. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, was Flirten angeht. Ich tue so, als notierte ich den Termin in meinem Kalender am Computer, was ich bei privaten Verabredungen nie mache.

„Cool“, sagt Sebastian und steht gleichzeitig auf.

Bevor er das Büro verlässt, dreht er sich noch einmal um.

„Ich freue mich“, sagt er und verschwindet durch die Tür, ehe ich antworten kann.

Er hat den Zettel mit den Filmvorschlägen auf dem Tisch liegenlassen. Ich nehme ihn in die Hand. Sebastians Schrift ist eine konfuse Mischung großer und kleiner Buchstaben, ohne erkennbares System. Er hat außerdem die Namen der Regisseure auf den Zettel geschrieben.

Es wird Freitag, und ich warte darauf, dass das Kino schließt. Wir treffen uns dort nach Mitternacht. Als ich ankomme, ist die Außenbeleuchtung gedämpft, die Türen fest verschlossen. Sebastian steht in der Lounge. Ich sehe durch das Fenster in der Tür, dass er auf mich wartet. Ich habe mich absichtlich nicht zu sehr herausgeputzt, obwohl ich große Lust darauf hatte. Nur ein kleines bisschen Lippenstift. Nur ein kleines bisschen Parfum. Als Sebastian mich vor der Tür erblickt, drückt er die Klinke herunter, und öffnet die Tür. Ich nehme die magische Stimmung wahr, die im Kino herrscht, wenn keine anderen Menschen da sind. Er trägt seine Premierenuniform. Sein Haar ist mit Gel nach hinten gekämmt, und wir lachen, als mir auffällt, dass er zudem weiße Handschuhe anhat.

„Ein bisschen wie im Spielzeugladen mitten in der Nacht“, sagt Sebastian, als er mich hereinbittet. Jetzt wünsche ich mir doch, ich hätte mehr aus mir gemacht.

Wir gehen zur Bar, wo Sebastian zwei Gläser Wein bereitgestellt hat. Die Deckenbeleuchtung ist aus, er hat mehrere Kerzen angezündet. Durch die Spiegel erhellen sie den Raum ausreichend.

„Wir haben hier zwar nicht den besten Wein, aber das weißt du ja“, sagt er.

Wir stoßen vorsichtig an. Hinter dem Tresen holt er einen kleinen Hut hervor.

„So, das musst du gesehen haben“, sagt er.

Er zieht den Gummi unter das Kinn und präsentiert sich in dem ganzen Outfit. Er ähnelt einem Piccolo.

„Ist das nicht cool?“, fragt er. „Eigentlich gehört der Hut auch zur Uniform, aber die anderen wollen ihn nicht aufsetzen. Sie finden ihn albern.“

„Aber du blühst richtig darin auf“, lächle ich.

Er könnte sich alles auf den Kopf setzen und sähe immer noch fantastisch aus. Er nimmt den Hut wieder ab und zieht die Handschuhe aus.

Während wir uns unterhalten, merke ich, dass sein Blick immer wieder zu meinem Ausschnitt wandert. Ich habe eine lockere Bluse angezogen. Mir ist bewusst, dass sich die Lücken zwischen den Knöpfen so bewegen, dass man manchmal freie Aussicht auf meinen BH erhält. Auch die Halskette stoppt kurz vor dem ersten Knopf. Ich denke an den Strand zurück. Ich weiß, wie er unter der Uniform aussieht. Gebräunte Haut und angespannte Bauchmuskeln.

Wir machen die Kerzen aus. Sebastian bittet mich in den Vorführraum. Es ist ein ganz kleines Zimmer und nicht so romantisch, wie ich es mir vorgestellt habe. Er müht sich mit dem Film ab. Der Kinosaal vor uns ist dunkel, aber vollkommen leer. Die klassischen Notausgangsschilder leuchten immer noch. Ich betrachte Sebastians Arme, während er den Film abspielbereit macht. Er blinzelt, konzentriert sich. Ich trinke von meinem Wein und lasse ein paar Worte fallen, wie faszinierend es hier ist.

„Sollen wir in den Saal gehen?“, fragt er.

Als wir den Vorführraum verlassen, legt er ganz leicht seine Hand auf meinen Rücken. Ich beginne unter der Bluse zu schwitzen.

„Wo willst du sitzen?“, fragt er, als wir in den Saal kommen. Auf der Leinwand läuft Werbung. Ich denke, Sebastian lässt sie laufen, damit wir genug Zeit haben, unsere Plätze einzunehmen. Eigentlich braucht man sie nicht, wenn es nur er und ich sind.

„In der Mitte“, sage ich und steuere die auserwählte Reihe an.

Ich drehe mich um, um zu fragen, wo er sitzen will, aber da Sebastian direkt hinter mir ist, stoße ich mit ihm zusammen. Ich reiße die Arme hoch. Sebastian legt seine Hände an meine Hüften und hält mich fest. Wir finden die Balance wieder, lachen leise, aber er nimmt seine Hände nicht weg. Er beugt sich ein Stück vor, dann küssen wir uns. Lange und feucht. Er lässt die Hände in meinen Nacken und in mein Haar wandern. Ich rieche, wie sich mein Parfum mit Sebastians mischt. Lust und die Fantasien der letzten Zeit entflammen in meinem Körper. Durch seine Jacke fühle ich, wie durchtrainiert und jung er ist. Wie warm seine Haut ist. In seinem Eifer liegt so viel Jugendlichkeit. Seine Bewegungen werden von seiner Lust gesteuert. Ich überlasse ihm, wie schnell und wohin wir uns bewegen.

Mitten im Saal bleiben wir stehen. Obwohl wir allein und die Türen verschlossen sind, fühlt sich diese Art von Intimität an solchem Ort verboten an. Uns umgibt die Atmosphäre anderer Menschen, obwohl wir allein sind. Eine Atmosphäre, die man unter anderen Umständen als die Seele eines Ortes bezeichnen würde.

Sebastian umklammert meinen Rock, sodass sich der Saum über meine Hüfte hebt. Er bewegt seine Hand unter meine Strumpfhose, fährt mit den Fingern den Saum meines Slips entlang, der Feuchtigkeit entgegen. Der ganze Aufzug hat mich vorbereitet. In seinen Bewegungen liegt starker Wille. Das hier ist etwas, was er wirklich will. Die ganze Zeit überlege ich, ob ich ihn stoppen soll, aber ich bringe kein einziges Wort über die Lippen. Ich drehe den Rücken und spreize die Beine ein wenig. Sebastians Atemzüge werden schwerer. Sein Nacken ist feucht. Wärme schießt in unsere Wangen. Seine eine Hand hält meinen Po, während die andere unter meiner Unterwäsche spielt. Er rollt die Strumpfhose nach unten. Seine Hand wird feucht und hinterlässt kleine, kalte Abdrücke auf meinen Schenkeln, wenn er die Hand umdreht oder an meinem Gummibund zieht.

Er sieht mir in die Augen. Zieht mir den Slip aus, während er in die Knie geht. Er greift um mich herum und klappt einen Sitz herunter. Ich setze mich. Unter mir spüre ich den dunklen Samt, der leicht an meinen Schenkeln klebt. Sebastian hebt eines meiner Beine und platziert es auf dem Getränkehalter. Das gleiche wiederholt er mit dem anderen Bein. Ich sitze ein bisschen unbequem, protestiere aber nicht. Während er mir in die Augen starrt, klappe ich den Rock über den Bauchnabel. Ich sehe meinen unteren Bauch. Er leckt in langen Zügen.

Der Ton des Films ist laut. Ich kann die Geräusche von Sebastians Seufzern und seiner Erregung nur erahnen, als er sich festsaugt. Meine Hände liegen mal auf den Knien, mal sanft in seinem Haar. Das Licht der Leinwand fällt in einem blauen Schein über uns. Sebastian fummelt an seinem Gürtel herum. In einer schnellen Bewegung zieht er meine Beine nach vorn, sodass ich flacher sitze, jedoch immer noch mit dem Rücken an der Lehne. Meine Beine liegen immer noch zu beiden Seiten auf den Armlehnen. Mit der rechten Hand bringt er seinen Penis auf die gleiche Höhe wie meinen Körper. Er dringt unglaublich leicht ein, während er seine Knie auf dem Teppich platziert, um sich in die beste Ausgangslage zu bringen. Er zieht Jackett und Oberteil aus, während er den Rhythmus hält. Sein Körper ist nun bis zu seinen Schienbeinen nackt, wo Hose, Unterhose, Gürtel, Socken und Schuhe auf einem Haufen liegen. Er zieht meine Bluse und anschließend den BH herunter, sodass meine Brüste entblößt werden, durch den Rand des BHs aufgeplustert. Sebastian saugt an ihnen, beißt, und massiert sie fest mit den Fingern. Wir bleiben im Takt. Er nimmt meine Hand und führt sie zwischen meine Beine. Das Blut pumpt. Sebastian spielt mit den Fingern am Perineum, und führt im Takt unserer Körper vorsichtig einen Finger in meinen Po ein. Ich öffne den Mund, schließe die Augen und umschließe den Finger.

Ich bin so angeheitert, dass es sich angenehm anfühlt. Sebastians Wangen sind rot. Sein Körper angespannt. Hinter ihm dröhnt der Film. Der laute Ton macht unsere eigenen Geräusche fast unhörbar, aber ich kann spüren, wie er wächst. Die Bewegungen nehmen zu, und in zwei kräftigen Stößen umklammert er meinen ganzen Körper, bevor er erschlafft. Er schaut mich an. Wir grinsen.

„Wow“, sagt er.

Das nehme ich als Kompliment, von jemandem, der so jung ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal so intim mit einem anderen Menschen geworden bin. Hier sind auf jeden Fall mehr Funken geflogen als jemals mit Claus. Sebastian steht auf, zieht seine Boxershorts und seine Hose hoch. Er betrachtet mich, während er den Gürtel schließt. Ich hole meine Beine zu mir und beginne, meinen BH zurechtzuziehen und die Bluse wieder zuzuknöpfen. Ich greife hinter ihn, um an Slip und Strumpfhose zu gelangen. Den Slip habe ich schnell wieder an, mit der Strumpfhose ist es schwieriger, und ich werde verlegen, weil ich es irgendwie schaffen muss, meinen Hintern hineinzuhieven. Sebastian lobt meinen Körper. Er erzählt, er habe schon lange Fantasien über mich gehabt, tatsächlich seit unserer ersten Begegnung im Kino. Als ich angezogen bin, küsst er mich wieder, dann steht er auf und holt die Flasche Wein aus der Bar. Als er zurückkommt, schaut er auf die Leinwand.

„Und, was ist in der Zwischenzeit passiert?“, fragt er.

Ich kann mich nicht auf den Film konzentrieren. Mein Schoß brennt, und es dauert nicht lange, bis ich wieder Lust auf ihn verspüre. Ich schlage die Beine übereinander und versuche, nicht die ganze Zeit zu hinterfragen, was ich da am Laufen habe. Sebastian trinkt von seinem Wein und hält meine Hand. Zwischendurch bringt ihn der Film zum Lächeln, und er wirft einen Blick zu mir, um zu schauen, ob es mir genauso geht.

Ich warte auf der Straße, während Sebastian die letzten Lichter löscht und die Alarmanlage einschaltet. Schließlich kommt er hinaus und schließt die große Fenstertür zu, während die Alarmanlage immer noch piept. Wir warten einen Augenblick, bis sie aufhört.

Die Straße ist dunkel. Nun, wo im Kino kein Licht mehr brennt, verbleiben nur die Straßenlaternen. Ich tänzle leicht, friere in meiner Jacke. Wenn all das vorher unwirklich war, ist es das jetzt umso mehr.

„Alles okay?“, fragt Sebastian, ehe er sich mir zuwendet.

Vielleicht ist ihm aufgefallen, dass ich nicht lächle. Ich nicke.

„Mir ist nur ein bisschen kalt“, sage ich.

Wir gehen los. Ich schiebe mein Fahrrad neben Sebastian her. Am Ende der Straße bleiben wir stehen. Einen Moment herrscht peinliche Stille. Sebastian sagt, er wohne ein gutes Stück von hier entfernt und sei mit dem Bus gekommen. Ohne darüber nachzudenken, frage ich, ob er mit zu mir will. Er lächelt sofort. Nimmt dankend an. Wir gehen weiter.

„Willst du Fahrradfahren?“, fragt er.

Ich habe keine Lust darauf, wenn er dabei neben mir her joggen muss. So meint er das aber nicht. Er nimmt mir den Lenker ab.

„Steig auf“, sagt er und nickt in Richtung Gepäckträger.

Erst weiche ich aus, aber wir sind allein auf der Straße. Also zupfe ich meinen Rock zurecht und sinke auf den Gepäckträger, genau wie ich es als Kind hunderte Male getan habe. Ich lache in den Himmel. Ich glaube, dass ich wirklich seit meiner Kindheit auf keinem Gepäckträger mehr gesessen habe.

Erst wackelt das Fahrrad ein bisschen. Aufgrund des Gewichts fällt es Sebastian schwer, die Balance zu halten, doch innerhalb kurzer Zeit haben wir Fahrt aufgenommen, und es geht einfacher.

Ich diktiere ihm von hinten, wo wir lang müssen, wann er abbiegen muss. Meine Hände lasse ich auf seinen Hüften weilen. Wenn er in die Pedale tritt, fährt ein kleiner Ruck durch seine Jacke. Ich sorge dafür, meine Beine weit genug hinten zu halten, damit er sie nicht mit den Pedalen trifft. Es muss schon schwer genug sein, überhaupt das Gleichgewicht zu halten. Das Metall des Gepäckträgers fühlt sich kalt an meinen Schenkeln an. Das macht nichts. Auf dem Fahrradweg lehne ich mein Gesicht vorsichtig an Sebastians Rücken. Ich rieche die Wolle seiner Jacke. Höre den Klang der Reifen auf dem Asphalt. Wir begegnen verblüffend wenigen Menschen auf dem Weg. Ich fühle mich erobert. Jung und begehrt.

„Jetzt sind wir fast da“, sage ich und signalisiere Sebastian, er solle anhalten.

Das letzte Stück gehen wir zu Fuß. Nach der Fahrradtour sind seine Wangen errötet. Weil ich fast den ganzen Weg die Luft angehalten habe, bin ich beinahe genauso außer Puste. Sebastian schiebt das Fahrrad neben mir her. Die letzten Schritte schweigen wir. Einzig das Klackern der Zahnräder ist zu hören.

Ich schließe die Tür zum Treppenhaus auf und gehe in die Wohnung. Sebastian folgt mir schweigend. Als ich das Licht einschalte, schaue ich mich hastig um, um zu sehen, ob irgendetwas zu durcheinander ist, aber zum Glück bin ich ein verhältnismäßig ordentlicher Mensch mit Sinn für Ästhetik, es sollte also alles gut sein.

„Cool“, sagt Sebastian und schaut sich um.

Er geht an den Wänden entlang und betrachtet meine Kunst. Währenddessen murmelt er vor sich hin, und ich habe den Eindruck, dass sie ihn beeindruckt und zufrieden stimmt. Die meisten Kunstwerke habe ich mir nach der Scheidung zugelegt. Claus wollte die Bilder, die wir zusammen gekauft hatten, nicht aus der Hand geben, und schließlich trennte ich mich von nahezu allen, um ein noch größeres Drama zu vermeiden.

Ich schalte mehrere kleine Lampen an, was für ein gemütliches Licht sorgt. Sebastian zieht seine Jacke aus, legt sie auf einen Stuhl und setzt sich auf das Sofa. In Windeseile hat er sich über die Bücher auf dem Couchtisch hergemacht und die Klappentexte gelesen. Wenn wir nicht reden, wirkt alles etwas unbeholfen. Er ist der erste Student, der privat bei mir ist. Zum Glück deutet alles darauf hin, dass er beeindruckt ist.

Ich hole einen Wein aus der Küche. Für einen Moment bleibe ich stehen, lege zwei Finger an die Lippen. Ich höre, dass Sebastian im Wohnzimmer Musik angemacht hat. Nichts, was ich normalerweise höre. Sie läuft ganz leise, als ich zurückkomme. Ich will ihn alles Mögliche fragen, aber auf irgendeine Art fürchte ich, dass jede Frage mich wie seine Betreuerin und nicht wie seine Geliebte klingen lassen wird. Gemeinsam mit zwei Gläsern stelle ich den Wein auf den Couchtisch. Kurz bezweifle ich, dass unsere Liebeleien jetzt von vorn beginnen werden, doch sobald ich mich hinsetze, beginnt Sebastian, mich wieder zu küssen. Derartige Küsse bin ich nicht gewohnt, sie sind ausgedehnt und gierig. Seine Hand wandert schon wieder über meinen Oberschenkel. Vorsichtig ziehe ich die Füße aus meinen Schuhen. Sebastian verlagert sein Gewicht auf mich. Er beißt in mein Ohr. Ich kann seinen harten Penis an meinem Schoß spüren. Er zieht sein Hemd wieder aus und zieht meine Bluse aus dem Rock.

„Ich will dich nackt sehen“, sagt er.

Ich räuspere mich und richte mich auf. Langsam knöpfe ich die Bluse auf. Meine Brust ist gerötet. Sebastian berührt sie. Ich fühle mich, als wäre ich frisch verliebt. Danach öffne ich den Rock, schlüpfe so weiblich wie möglich heraus. Die Strumpfhose ist eng. Ich stehe auf. Sebastian küsst meinen Bauch und meine Schenkel. Nach jedem Kuss schaut er mir in die Augen. Dann zieht er die Nylonstrümpfe herunter, wie aus einer zweiten Haut steige ich aus ihnen heraus.

Neben dem Kino ist meine Wohnung klein und privat. Ich fühle, dass ich hier sicherer bin, und es schmeichelt mir, dass Sebastian anscheinend Lust auf mehr hat. Er wirkt aufrichtig begierig. Er zieht mir den Slip aus. Nackt setze ich mich rittlings auf ihn. Seine Hände sind groß. Sie wandern über meinen Körper, und während seine Lippen leicht in meinen Hals und meine Brüste beißen, bewegt er den Unterleib vor und zurück. Ich lehne mich ein Stück nach hinten, während er seine Hose aufknöpft. Der Sex hier ist genauso intensiv wie im Kino. Sebastian hat ganz bestimmt nicht seine Potenz verloren. Die Hände leicht an meinen Hüften, führt er mich auf und nieder. Ich höre, wie meine Seufzer mit dem gewohnten Summen des Kühlschranks verschmelzen. Ich verlagere das Gewicht auf die Fußsohlen, sodass ich das Tempo selbst steuern kann. Sebastians Hände wandern auf meinen Hintern und folgen den Bewegungen. Meine Brüste schaukeln vor seinem Gesicht. Er betrachtet sie, stößt mit steigender Geschwindigkeit zu. Er umfasst meinen Leib, stößt noch ein paarmal vor, und sinkt nieder. Schon jetzt, nachdem wir erst zweimal miteinander geschlafen haben, erkenne ich seine Laute wieder. Er zieht sich heraus und lehnt sich so zurück, dass ich auf ihm liege.

„Ich will, dass du auch kommst“, sagt er und küsst meinen Haaransatz.

Es schmeichelt mir ungemein, dass er mich befriedigen will. Er ist reifer als meine früheren Männer, denen es ausnahmslos um den eigenen Orgasmus ging.

„Zeig mir wie“, sagt Sebastian und führt meine Hand zwischen meine Beine, hält sie weiterhin fest.

Ich liege rücklings auf ihm. Spreize die Beine und schließe die Augen. Die Haut unter unseren Fingern ist geschwollen und warm. Ich befriedige mich mit Sebastians Zeige- und Mittelfinger. Beide Beine liegen auf dem Sofatisch. Ich schwebe. Unter mir ist Sebastian ein lebendiges Fundament. Eine warme und starke Erde, zwei kräftige Arme, die mich tragen. Er hält mich fest, während ich mich dem Höhepunkt nähere. Ich halte mich nicht zurück, die Krämpfe strömen durch meinen Körper, während ich ihn an mich drücke.

„Sowas Verrücktes habe ich noch nie erlebt“, sagt er anschließend.

Wir schenken Wein in die Gläser. Ich mache Anstalten, mich wieder anzuziehen, aber davon hält Sebastian nichts. Stattdessen greift er nach der Decke auf der Armlehne und wickelt uns darin ein.

Am nächsten Morgen werde ich von Sebastian wach, der sich anzieht. Ich sage erst einmal nichts, sondern schaue ihn nur an. Er sieht ernst aus. Ich sehe, wie er sich auf dem Sofa die Schuhe bindet. Dabei fällt sein Blick auf mich, und er merkt, dass ich wach bin.

„Ich muss gehen“, sagt er.

Meistens heißt das, dass man sich nicht wiedersieht, aber ohne verletzte Gefühle. Mein Körper ist bleich in der Morgensonne, die durchs Fenster scheint. Ich frage ihn nicht, was er vorhat. Er darf jederzeit gehen, Ausrede oder nicht.

Sobald ich auf den Beinen bin, ziehe ich meinen Morgenmantel an. Ich habe einen Kater. So ist das, wenn man in die Jahre kommt. Auch wenn ich nur ein kleines bisschen trinke, spüre ich es am nächsten Tag garantiert. Die Weinflasche und die zwei sauberen Gläser stehen immer noch neben Sebastian auf dem Couchtisch. Ich halte mich am Türrahmen fest.

„Es war superschön gestern“, sagt Sebastian und wirft sich die Jacke über die Schulter.

Ich lächle und antworte mit einem leisen Geräusch. Ich halte Abstand, bleibe in der Türöffnung stehen.

„Willst du was frühstücken?“, frage ich.

„Schaffe ich nicht mehr“, sagt er und schaut auf seinem Handy nach der Uhrzeit.

Er macht die Jacke zu und kommt zu mir. Er beugt sich vor und küsst mich flüchtig auf den Mund.

„Danke für gestern“, sagt er.

„Schönes Wochenende.“

Im Gehen dreht er sich noch einmal um und fragt, welche Transportmöglichkeiten es in der Nähe gibt. Ich beschreibe ihm die Wege zum Bus und zur nächsten U-Bahn. Er sagt nicht, welchen er nimmt, bevor er in den Flur verschwindet und die Haustür hinter sich schließt.

Nachdem er gegangen ist, ist es still in der Wohnung. Nur der Kühlschrank brummt. Ich schalte das Radio an. Frühstücke im Morgenmantel. Nach einem Bad versuche ich zu lesen, kann mich aber nicht konzentrieren. Ständig wandert mein Blick zum Fenster, zum Sofa oder zum gestrigen Tag.

Das Wochenende verbringe ich wie immer. Ich ziehe meine schweren Stiefel und warme Kleidung an, und mache einen langen Spaziergang in der Natur. Ich folge dem Fahrradweg, den wir gestern gekommen sind, bis zur Küste, wo ich den Deich entlanggehe. Der Wind ist kalt, und ich schaudere in meiner Jacke. Nach kurzer Zeit muss ich mich wieder zwischen die Häuser begeben, weil meine Ohren zu kalt werden. Es ist, als nahte der Winter. Der frische Wind klärt auch meine Gedanken. Als ich wieder nach Hause komme, habe ich einen gewissen Abstand zum Vortag gewonnen. Die Gedanken kreisen nun hauptsächlich darum, was Sebastian von mir will. Er ist toll. Ich glaube kaum, dass es eine Herausforderung für ihn ist, an andere Frauen heranzukommen, Frauen in seinem Alter. Ich bin älter als er, aber nun auch wieder nicht so alt, um seine Mutter sein zu können. Ich bin mit niemandem vertraut genug, um von den jüngsten Ereignissen erzählen zu können, erst recht nicht, was gestern anbelangt. Für einen Moment gerate ich in Panik und frage mich, ob das ein Entlassungsgrund sein könnte, beruhige mich dann aber damit, dass er erwachsen ist, und ich von anderen Verhältnissen zwischen Dozenten und Studenten weiß.

Es wird Montag. Ich stehe auf und mache mich fertig, um an die Universität zu fahren. Es wird wieder eine lockere Bluse mit engem Rock. Ein Outfit, das ich schon unzählige Male getragen habe. Ich ziehe die Strumpfhose über Beine und Hintern, und kann dabei ununterbrochen Sebastians Seufzer hören, seinen Blick vor dem inneren Auge sehen, als ich mich am Freitag vor ihm ausgezogen habe.

Den ganzen Tag lang sitze ich ungestört im Büro. Nachmittags hole ich meinen Kaffee aus der Kantine, genau wie immer. Die beiden Frauen unterhalten sich freundlich mit mir. Ich komme gerade zurück ins Büro, da klopft es an der Tür. Sebastian steckt den Kopf herein.

„Hey“, sagt er.

Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl umher. Er kommt herein und schließt die Tür hinter sich.

„Wie geht’s?“, fragt er.

Der warme Kaffee dampft auf dem Tisch.

„Ich habe mir gerade einen Kaffee geholt“, sage ich. „Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich dir einen mitgebracht.“

Wir lachen. Sebastian steuert den Stuhl auf der anderen Schreibtischseite an. Ich biete ihm an, sich zu setzen.

„Mir ist eingefallen, dass ich deine Nummer gar nicht habe“, sagt er und lässt sich nieder.

Er wippt mit einem Bein.

„Die hätte ich schon sehr gerne“, sagt er. „Es war doch nett letztens, oder…“

Er unterbricht sich, muss lachen. Vielleicht wegen des Wortes „nett“, vielleicht wegen der unbeholfenen Situation. Ich nehme ein Blatt Papier aus der Schublade und schreibe meine Handynummer in eine Ecke, die ich anschließend abreiße und ihm gebe. Er betrachtet sie einen Augenblick.

„Wann machst du normalerweise Feierabend?“, fragt er.

Ich schaue auf meine Uhr. Es ist halb fünf.

„Eigentlich ungefähr um diese Zeit“, sage ich.

„Also hast du praktisch jetzt frei“, stellt Sebastian spielerisch fest.

Ich weiß nicht ganz, worauf er hinauswill.

„Komm“, sagt er und nickt.

Er nimmt meine Jacke vom Haken hinter der Tür und hält sie mir hin, sodass ich mit Leichtigkeit hineinschlüpfen kann. Genauso reicht er mir meinen Schal und wartet geduldig, während ich ihn anziehe. Ich lasse den Kaffee auf dem Tisch zurück, mache das Licht aus, schließe die Tür hinter uns zu.

„Ich weiß schließlich ganz gut, welche Filme du magst.“

Meine Wangen erröten, und meine Gedanken wandern zu unserem Abend im Kino. Ich glaube, ich weiß, was auf mich zukommt.

„Jetzt musst du mir nur noch verraten, wo du gerne essen gehst“, sagt Sebastian.

Seite an Seite gehen wir durch den Gang. Sebastian öffnet mir die Tür und legt eine Hand auf meinen Rücken, als ich an ihm vorbeigehe. Es fühlt sich gut an, dass er mich in der Öffentlichkeit berührt. Auf dem Weg zu den Fahrradständern nimmt er meine Hand.

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